Wagner H. - Burkhardt Schmidt - E-Book

Wagner H. E-Book

Burkhardt Schmidt

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Beschreibung

Die Nachricht, sein jugendlicher Freund Wagner Hollmann sei an übermäßigem Drogenkonsum gestorben, erreicht den Hamburger Krimiautor Thomas Sagnier, 40, genau in dem Moment, als er sich anschickt, seinen Serienhelden Kommissar Fröhlich in ein Säurebad werfen zu lassen. Sagnier ist seiner überdrüssig. Die Kritiken an den Romanen fallen immer schlechter aus und - entgegen den Beteuerungen seines Verlegers - die Auflagen sinken. Drei Jahre zuvor macht Sagnier im Supermarkt die Bekanntschaft des rätselhaften Jungen Wagner. Der behauptet, sein Vater habe ihm, durch seine Tätigkeit in Brasilien inspiriert, diesen ungewöhnlichen Vornamen verliehen. Der Bengel klaut ein Päckchen Würfelzucker. Entgegen seiner Überzeugung, geleitet von einer Laune, verhilft Sagnier ihm zur Flucht. Die Begegnung mit Wagner bestimmt fortan das Schicksal des Autors. Der Junge entpuppt sich als Rassist, wettert gegen Farbige, Schwule und Juden. Trotzdem ist Sagnier fasziniert von dem Halbwüchsigen und versucht herauszufinden, woher der hochintelligente Knabe seine Aversionen hat. Die Mitteilung von Wagners Tod kommt zwei Jahre später von einer Sachbearbeiterin der Frankfurter Jugend- und Sozialbehörde. In einem beiliegenden Brief schildert Wagners Schwester Anna, von der ihr Bruder nie erzählt hat, dass sie wünscht, Sagnier kennen zu lernen. Die junge Frau, die am Grab ihres Bruders steht, ist Sagnier auf Anhieb sympathisch. Er, der außer dem täglichen Umgang mit seinen zwei Töchtern wenig Interesse an Kindern hat, stößt bei dieser Gelegenheit auf Gräber von Frühgeborenen. Von Corinna Neubert, der Sachbearbeiterin, erfährt Sagnier zum ersten Mal in seinem Leben etwas über Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Auf Bitten Annas begeben sich beide auf die Suche nach Wagners Leben. Sie kommen in ein Internat, an dem der Junge einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hat und machen mit Erschrecken die Feststellung, dass er dort ein schreckliches Martyrium erlebt hat. Sie unternehmen alles, die Täter dingfest zu machen. Dann aber beginnt Wagners Schwester, sich zu verändern.

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Seitenzahl: 524

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Statt eines Klappentextes

»Wieso hast du mir nie etwas gesagt? Warum hast du dich mir nicht anvertraut? Nach allem, was wir zusammen er lebt haben, hättest du Grund gehabt, mir zu vertrauen.«

»Anfangs wollte ich es. Mir war lange nicht bewusst, warum ich es doch vorgezogen habe, zu schweigen. Ich dachte zuerst, aus Scham. Aber hier drinnen habe ich viel Zeit, nachzudenken. Und irgendwann wurde mir klar: Auch wenn du dich mir gegenüber immer anständig verhalten hast – du bist nicht anders als die beiden. Nicht viel anders.«

»Aber ... das ist doch absurd! Ich habe niemals ...«

»Nein, das hast du nicht. Das nicht! Aber du hast mit derselben Respektlosigkeit gehandelt wie sie. Mit demselben Machttrieb. Du hast die Kleine ausgenutzt.«

»Du solltest nicht über mich urteilen. Was du getan hast, ist schlimmer. Viel schlimmer!«

»Er hat es verdient! Dabei bleibe ich.«

»Mag sein. Aber dein Handeln war berechnend. Zu deinem Vorteil! An den schrecklichen Ereignissen auf Schloss Wallstein hattest du kein Interesse mehr. Und die waren für deinen Bruder die Hölle! – Auch du hast ihn missbraucht!«

»Wir alle haben versagt, Tom! Wir alle müssen büßen! Die Lebenden wie die Toten. Für alle Ewigkeit!«

»Die Zeit ist um, Frau Hollmann. Sie sollten sich jetzt von Ihrem Besucher verabschieden.«

Autor

Burkhardt Schmidt wurde 1954 in Puttgarden auf Fehmarn geboren, ging auf das Gymnasium in Burg und lebte lange Jahre in Hamburg.

Seit einiger Zeit ist der gelernte Schriftsetzer zurück auf der Insel.

»Wagner H. – Spuren eines verbrannten Lebens« ist sein fünfter Roman.

Missbrauch ist Menschen zertreten wie Gras.

Else Pannek

(1932 - 2010), deutsche Lyrikerin

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Hamburg. Mittwoch, 26. August 2015

Kapitel 2: Hamburg. Donnerstag, 25. Oktober 2012

Kapitel 3: Frankfurt. Freitag, 28. August 2015

Kapitel 4: Hamburg. Samstag, 24. November 2012

Kapitel 5: Frankfurt. Samstag, 29. August 2015

Kapitel 6: Hamburg. Freitag, 18. Januar 2013

Kapitel 7: Hamburg. Donnerstag, 3. September 2015

Kapitel 8: Hamburg. Freitag, 18. Januar 2013

Kapitel 9: Hamburg. Donnerstag, 7. März 2013

Kapitel 10: Aarhus. Mittwoch, 9. September 2015

Kapitel 11: Hamburg. Donnerstag, 28. März 2013

Kapitel 12: Klanzow. Montag 14. September 2015

Kapitel 13: Klanzow. Dienstag, 15. September 2015

Kapitel 14: Berlin. Donnerstag, 17. September 2015

Kapitel 15: Berlin. Freitag, 25. September 2015

Kapitel 16: Hamburg. Samstag, 8. Juni 2013

Kapitel 17: Klanzow. Donnerstag, 1. Oktober 2015

Kapitel 18: Hamburg. Samstag, 10. Oktober 2015

Kapitel 19: Hamburg. Dienstag, 2. Juli 2013

Kapitel 20: Eberswalde. Dienstag, 20. Oktober 2015

Kapitel 21: Frankfurt. Freitag, 4. Oktober 2013

Kapitel 22: Hamburg. Mittwoch, 11. November 2015

Kapitel 23: Hamburg. Mittwoch, 6. April 2016

Kapitel 24: Hamburg. Mittwoch, 6. April 2016

Kapitel 25: Berlin. Dienstag, 13. Juni 2017

Kapitel 26: Hamburg. Donnerstag, 10. August 2017

Kapitel 27: Hamburg. Dienstag, 26. Dezember 2017

1

Hamburg. Mittwoch, 26. August 2015

Sehen Sie es positiv, Herr Kommissar!«, gluckste Quentin Pompur. »Wenn dies vorbei ist, werden Sie nie wieder Todesangst verspüren!« Hämisches Lachen ließ seinen feisten Bauch unter der Weste erbeben wie einen gestreiften Wackelpudding mit Hirschhornknöpfen. Er stand in respektvollem Abstand neben der Kunststoffwanne und schaute gebannt in die blubbernde, zischende Flüssigkeit, bevor er die Augen wieder auf Max Fröhlich richtete.

(Notiz: Unbedingt klären, ob Fluorwasserstoffsäure vergleichbare Geräusche von sich gibt.)

Wie Schraubstöcke umklammerten vier kräftige Hände die Arme Fröhlichs und zerrten ihn immer näher an den Polyethylenbehälter, der sein Grab werden sollte. Die Säure würde ihn von innen her zersetzen, seine Knochen auflösen und bizarrerweise die Haut erst zum Schluss in Mitleidenschaft ziehen.

Dieser Rotwein würde meine Leber zersetzen.

Stünde nicht sein eigenes Leben auf dem Spiel, hätte sich Kriminalhauptkommissar Max Fröhlich über die erregten Debatten der Männer amüsiert, als es um die Wahl der bestgeeigneten Chemikalie ging. Gegenvorschläge wurden gemacht, angefangen von Natriumhydroxid, das zunächst das Fleisch vom Knochen löst, bis hin zu handelsüblichem Rohrreiniger (Bestandteile: Natronlauge und Aluminiumspäne. Dauert länger, ist aber ebenso wirkungsvoll).

Als ich mich zurücksinken ließ und trank, gab die Lehne meines Bürostuhls ächzend nach. Vor ein paar Jahren noch hätte sie mir freudig federnd den Rücken gestärkt. Ich dachte an Quentin Pompur, vermied einen Blick auf die deutlich gewölbte untere Partie meines Hemdes und las das Getippte noch einmal.

Es war soweit! Ich war im Begriff, Kommissar Fröhlich aus dem Leben zu verabschieden. Schweren Herzens zwar, dafür wirkungsvoll. Nicht auf die sanfte Tour. Nein, es sollte ein Abgang werden, der seiner würdig war!

Und er würde, da war ich sicher, mir und meinen – seinen! – Lesern vom Grund der wabernden, dampfenden Hexenbrühe (macht Fluorwasserstoffsäure so was?) mit der rechten Hand, während sie sich langsam in ihre Bestandteile auflöste, ein letztes herzliches Lebewohl zuwinken.

Ich prostete dem Kommissar zu.

Ein Mann des Gesetzes, der stets seine Pflicht erfüllt und unzählige Verbrecher überführt hatte, würde sein Leben beenden. Qualvoll, sicher! Aber welch ein Tod wäre denn angemessener? Eine profane Pistolenkugel etwa? Ein schnöder Messerstich?

Nein! Es musste ein Ende mit Knalleffekt sein. Zack, Schluss und keine Folgen. (Seine Frau Margret war versorgt. Die Voraussetzungen für die Witwenpension waren erfüllt, denn Fröhlichs Tod dürfte zweifelsfrei als unverschuldeter Betriebsunfall geltend gemacht werden können. – Ob er noch zu identifizieren sein würde, war fraglich, aber das Risiko ging ich ein.)

Fröhlich würde verschwinden und im wahrsten Sinne des Wortes keine Spuren hinterlassen.

Im Geiste hörte ich Clausen schon toben. Sind Sie verrückt, Tom? Man schlachtet nicht die Kuh, die man melkt! (Als Verleger würde ich ebenso reagieren.)

Ich leerte das Glas. Leck mich am Arsch, Fred Clausen! Dankbarkeit ist eine gute Sache, aber irgendwann hat sie sich erschöpft.

Einen Orden vielleicht noch? Welches Abzeichen steht einem verdienstvollen Polizeibeamten zu? Und: wo festmachen?

Als ich meinen Schreibblock heranzog, um diesen Gedanken zu notieren, sah ich, halb darunter verborgen, einen weißen A5-Umschlag, den ich am vorigen Tag noch nicht bemerkt hatte. Frau Schuster würde ihn während meiner Abwesenheit auf den Schreibtisch gelegt haben. Warum unter den Notizblock? Vermutlich, um sich Fragen zu ersparen. Was für Fragen?

Der Umschlag trug einen Absender aus Frankfurt.

Frankfurt.

Ich ahnte, was der Brief beinhalten würde. Ich füllte das Glas und öffnete die Sendung mit dem Korkenzieher.

Mein Instinkt hatte nicht getrogen. Außer einem Anschreiben und einem weiteren, kleineren Umschlag lag eine sauber ausgeschnittene, schwarz umrandete Anzeige aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei.

Unter dem Namen des Verstorbenen standen seine Geburtsund Sterbedaten. 14. Juni 1997 und 20. August 2015.

Ich trank noch einen Schluck, und um ein Haar wäre mir das Trinkgefäß aus der Hand gerutscht. Ich stellte die Flasche und das Glas hinter den Monitor.

Die ganze Zeit hatte ich es befürchtet und trotzdem versetzte mir die Meldung einen Stich.

Ein Vers der Autorin Julie Fritsch begleitete die Zeile »In Liebe. Deine Mutter Elke und deine Schwester Anna.«

Deine Hand, meine Hand.

Du berührst mich, ich berühre dich.

Auch wenn wir getrennt sind,

sind wir für immer eins.

Der Vers bewegte mich tief, noch mehr überraschte mich die Tatsache, dass Wagner tatsächlich eine Schwester hatte. Mit keiner Silbe hatte er sie erwähnt.

Wagner. Mein junger Freund. Er war tot. Gestorben mit achtzehn. In einem Alter, in dem ein Mensch zu leben beginnt.

Der Monitor bekundete sein Mitgefühl und tauchte in ein tiefes Schwarz.

Ich zog ein nachlässig gefaltetes DIN-A4-Blatt aus dem Kuvert; der Text war in einer sehr präzisen Handschrift gehalten.

Sehr geehrter Herr Sagnier!

Ich schreibe Ihnen diese Zeilen mit Wissen und Zustimmung von Anna Hollmann. Von ihr ist auch der beiliegende Brief.

Sie sind Annas (und meiner) Kenntnis nach einer der Letzten, die Kontakt zu ihrem Bruder hatten.

Der Junge wird am kommenden Freitag um elf Uhr zur letzten Ruhe gebettet.

Sie wundern sich sicher, dass nicht Wagners Angehörige, sondern das Ordnungsamt Frankfurt die Beerdigung veranlasst hat. Die Erklärung ist so erschreckend wie einfach. Anna Hollmann hatte keine Ahnung, wo ihr Bruder geblieben war, bis ich mich mit der traurigen Nachricht von seinem Tod bei ihr meldete.

Ich selbst hatte den Jungen, den ich lange Zeit in Hamburg betreut habe, aus den Augen verloren. Durch einen Zufall bekam ich Kenntnis von Wagners Ableben und verständigte das Ordnungsamt.

Wagner Hollmann scheint keinen Versuch unternommen zu haben, seine Schwester und seine Mutter über seinen Verbleib aufzuklären. Wir gehen davon aus, dass Sie über den Zustand seiner Mutter unterrichtet sind und sich nicht wundern, dass sie keine aktive Rolle bei der Suche nach ihrem Sohn gespielt hat.

Vom Ordnungsamt kam auch die Nachricht, dass seine Leiche eingeäschert und auf dem Waldfriedhof Oberrad hier in Frankfurt beigesetzt wird. Man hat natürlich versucht, seine Angehörigen zu finden. Er hatte einen Ausweis mit aktuellem Datum bei sich, nach dem er – ganz seltsam! – erst dreizehn Jahre alt sein sollte! Unter der angegebenen Wohnadresse in Hamburg kannte ihn niemand.

In meinem Elend musste ich lachen. Nicht jeder wusste von Wagners Marotte, mit gefälschten Papieren durch die Gegend zu laufen.

Der Versuch, ihn bei den Meldeämtern und über seine auffällige Tätowierung am linken Arm ausfindig zu machen, führte zu keinem Erfolg.

Zur Todesursache kann ich Ihnen nur sagen, dass der Junge vollkommen entkräftet und abgemagert in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Sein Kreislauf war zusammengebrochen und er fantasierte. Es ging ihm von Tag zu Tag schlechter. Untersuchungen ergaben, dass sein Drogenkonsum in den letzten Monaten ausufernde Maße angenommen haben musste. Die Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma, aus dem er nicht wieder aufwachte.

Vor fünf Tagen wurden die Geräte abgeschaltet.

Eine Schwester sagte mir, dass Wagner während seiner Fieberschübe mehrfach Ihren Namen rief. Das hat uns bewogen Sie aufzuspüren und von Wagners Tod in Kenntnis zu setzen. Ihr Verlag war so freundlich, uns Ihre Adresse mitzuteilen.

Mit freundlichen Grüßen

Corinna Neubert, Jugend- und Sozialamt Frankfurt.

Ich legte den Brief zur Seite, ging zur Hausbar und schenkte mir ein Glas Cognac ein. Nach einem kräftigen Schluck las ich den Brief noch einmal.

Zwei Jahre waren vergangen. Zwei Jahre, in denen ich kein Lebenszeichen von Wagner vernommen hatte. Aber sein Bild wurde mir sofort wieder gegenwärtig. Das Gesicht eines Jungen. Augen aber, die die Reife eines Erwachsenen ausdrückten. Sein unerhörtes Talent. Die hohe Intelligenz und der Sarkasmus, der ihn befähigte, anderen Menschen das Leben zur Hölle zu machen. So wie er mein Leben zur Hölle gemacht hatte. Wagner hatte mich aus der Bahn geworfen, mich aus meinem komfortablen Dasein gerissen. Vielleicht ist Hölle ein zu großes Wort.

Wagner, der Knabe. Wagner, der infantile Rassist. Trotz seiner jungen Jahre zu reif, um tumben, menschenverachtenden Ideen hinterherzulaufen. Er hatte es dennoch getan.

Anna. Anna Hollmann. Seine Schwester! Was ich für eine Finte von ihm gehalten hatte, ein Täuschungsmanöver – es bewahrheitete sich jetzt. Er hatte wirklich eine Schwester gehabt! Dass er sie mir verschwiegen hatte, erstaunte mich nicht – so vieles hatte er mir verschwiegen, so vieles, das ich gern gewusst hätte, um ihn zu verstehen.

Ich dachte zurück an den Moment, als Hans, der Leibwächter Ricks, hoch oben über den Dächern von Frankfurt, auf uns zugelaufen kam. Chef, ich glaube, wir haben ihn! Aus Hamburg kommt die Nachricht, dass er eine Schwester in Berlin hat.

Da hatte ich noch innerlich gelacht. Typisch Wagner, hatte ich gedacht. Das sieht ihm ähnlich! Er führt sie alle an der Nase herum. Eine Schwester! Ha, ha!

Lieber Herr Sagnier!

Ein schwacher Parfümgeruch wehte mir entgegen, als ich das zweite Schreiben aus dem Umschlag zog. Auf dem war kein Absender vermerkt, nur mein Name auf der Vorderseite. Im Unterschied zum sorgfältig gewählten Stil des Textes hatte die Schrift einen jugendlichen, fast kindlichen Charakter.

Wir kennen uns nicht persönlich, aber mir kommt es so vor, als wären Sie mir lange vertraut. Wagner hat mir von Ihnen erzählt und auch, dass er es zutiefst bereut hat, Ihnen für alles, was Sie für ihn taten, nicht gedankt zu haben. Ihnen und Ihrer Frau.

Aber Sie kannten meinen Bruder zur Genüge – Dankbarkeit war Wagners Sache nicht. Genau gesagt, hatte er Schwierigkeiten, Dank zu bekunden. Er hätte es sich als Schwäche ausgelegt. Und er wollte nie – nie! – schwach sein oder so erscheinen.

Sie kannten meinen Bruder, ja. Aber es gibt vieles, was Sie nicht wissen können. Sie haben ihn vermutlich erlebt als jemanden, der Ihnen und seinem Umfeld fortwährend Probleme bereitet hat.

Aber es gab sein Leben vorher, Jahre, bevor Sie ihn kannten.

Er war – und das wird Sie vielleicht überraschen zu erfahren – ein aufgewecktes und fröhliches Kind. Er war mein kleiner Bruder, mein Sonnenschein. Und alles, was er später tat, ändert nichts an meiner tief empfundenen Liebe zu ihm.

Ich weiß nicht, Herr Sagnier, wie Sie mit der Nachricht von seinem Tod umgehen. Ich würde mir wünschen, Sie kämen zu seiner Bestattung, denn ich habe Ihnen so viel zu erzählen. Ich möchte, dass Sie lernen, dass wir beide lernen, ihn zu verstehen, und ich wünschte mir, dass ich Ihnen das vor seinem Tod angeboten hätte.

Die Anzahl der Trauergäste – das wird Sie nicht erstaunen – ist recht überschaubar. Ich bin Frau Neubert dankbar, dass sie teilnimmt. Das ist sicher nicht selbstverständlich für eine Amtsperson. Aber aus mir unerfindlichen Gründen war sie Wagner immer sehr zugetan – und er ihr! Und nur dem glücklichen Umstand, dass Frau Neubert beruflich von Hamburg nach Frankfurt gewechselt ist, verdanke ich es, dass mein Bruder hier nicht verscharrt wird wie ein namenloser Hund.

Ansonsten glaube ich nicht, dass Wagner viele Freunde hatte, dass er überhaupt Freunde hatte.

Wie Frau Neubert gehe auch ich davon aus, dass Sie wissen, warum unsere Mutter nicht an der Beisetzung teilnehmen kann. Sie weiß nicht, dass ihr Sohn tot ist und vermutlich würde sie es nicht verstehen. Nicht begreifen. Ihr Verstand kennt den Unterschied zwischen Leben und Tod nicht mehr; hat ihn schon nach Vaters Tod nicht mehr gekannt.

Ich selbst muss mir den Vorwurf machen, mich zu wenig um meinen Bruder gekümmert zu haben. Ich hatte seit langer Zeit keinen Kontakt mehr zu Wagner, und das beschämt mich sehr. Es wäre mir sicher nicht unmöglich gewesen, ihn zu finden, wenn ich wirklich gewollt hätte!

Ich schließe diesen Brief und hoffe, Herr Sagnier, Sie in Kürze persönlich kennenzulernen.

Mit freundlichen Grüßen

Anna Hollmann

Bei einem weiteren Glas Cognac las ich auch diesen Brief noch einmal. Und noch einmal. Ich saß da, die Briefe in den Händen, sah wieder auf die Anzeige, sah hinaus in den Garten. Ob die Zeit verging, wusste ich nicht. Sie schien still zu stehen.

Ich nahm nicht wahr, ob sich Frau Schuster verabschiedet hatte. Sie erledigte ihre Arbeit, bereitete mein Essen vor und ging. Meist ohne etwas zu sagen. Kam, blieb und ging ohne ein Wort.

Wieder sah ich auf die Zeilen, die Anna geschrieben hatte. Ansonsten glaube ich nicht, dass Wagner viele Freunde hatte, dass er überhaupt Freunde hatte. Sie hatte ihren Bruder offenbar nicht so gut gekannt, nicht so intensiv erlebt wie ich, sonst hätte sie wissen müssen, dass er sehr wohl Freunde hatte. Gute Freunde sogar! Und ich zählte mich dazu. Oder – irrte ich mich? Auch nächste Nähe zu ihm bot keine Gewissheit, ihn wirklich verstanden zu haben.

Josefine! Kein Wort hatte Anna über Josefine geschrieben. Kam sie nicht zu Wagners Beerdigung? Wusste Anna nichts von ihr? Konnte es sein, dass Josefine nicht an Wagners Grab stehen würde, weil sie keine Ahnung vom Tod ihres Freundes hatte?

Nein, sie hatten sich sicher schon vorher aus den Augen verloren. Sie waren fast noch Kinder gewesen. Kinder mit einer erstaunlich langlebigen Beziehung. So würde es sein!

Ich schloss die Augen und dachte zurück an die Tage mit Josefine und Wagner. An die verrückte, aber schmerzhafte Zeit mit beiden. An die Tage, die mich meiner Familie nach und nach entfremdet hatten.

Nach all dem, was ich während meiner Zeit mit Wagner erlebt hatte, konnte ich Katja verstehen. Selbst in meinem tiefsten Nebel aus unzähligen Joints, Tabletten und Unmengen an Alkohol hatte ich inzwischen zu lernen vermocht, mit der Wahrheit umzugehen, mit der unumstößlichen Tatsache, dass ich meine Familie verloren hatte.

Meine Frau und die Kinder hatten die Koffer gepackt und mir die riesige Wohnung nahezu leer hinterlassen. Ihre Kleider fehlten, ihre Schuhe, die iPads und iPhones und Tablets und Schminktäschchen, die Sachen, die junge Mädchen in ihren Zimmern herumliegen haben. Alles war fort. Selbst ihre Starposter hatten sie sorgfältig von den Wänden entfernt und mitgenommen. Seltsam aufgeräumt erschienen die Räume jetzt und das Haus wirkte dadurch noch größer und verloren.

Nach langem Bitten war mir jedenfalls Frau Schuster geblieben, wenn auch unwillig und nur noch für drei Tage in der Woche. An den anderen musste ich sehen, wie ich klarkam, und mit Erschrecken stellte ich fest, wie schwer mir das fiel. Da ich dem Kochen nichts abgewinnen konnte, weil ich es für Frauensache hielt, griff ich, wenn ich rastlos unterwegs auf Hamburgs Straßen war, zum Fastfood, zum schnellen Essen. Fett, vitaminarm. Ich hatte über die Jahre so viel zugenommen, dass meine Hosen deutlich spannten.

Und ich war ständig unterwegs. Mich hielt es kaum noch in dem leeren Haus. Überall in Hamburg war ich zu sehen, nur dort nicht und nicht im Verlag. Ich hatte keine Lust mehr, Clausen zu begegnen, der mich ständig ermunterte, die immer selben Romane mit immer denselben Handlungen, denselben Figuren, Charakteren, den ewig gleichen Plots, so weiterzuschreiben.

Ich weiß nicht, was Sie haben, Tom! Läuft doch! Läuft doch prima!

Ich konnte ihm nicht ganz folgen. Zwar bewegten sich die Auflagen meiner Bücher immer noch in beachtlichen Höhen, aber der Rückgang war über die Jahre doch spürbar geworden. Und was mir mehr Bauchschmerzen bereitete: Die Kritiken in den Zeitungen wurden von Jahr zu Jahr heftiger. Auf einmal schien den Rezensenten aufzufallen, dass es ja nur Kriminalromane waren, die ich schrieb. Während ich mich aber noch darüber ärgerte, dämmerte mir: Sie haben recht! Das hat nichts mit dem Genre zu tun, sondern mit dir! Jeder Verriss tat mir weh, aber irgendwann stumpfte ich ab. Das Zeug zu einem großen Literaten hast du eben nicht, flüsterte ich mir zu. Aber du machst immer noch Kohle! Ihr könnt mich alle mal! Denn die Einnahmen reichten nach wie vor zu einem Leben der gehobenen Art.

Meinen Qualen begegnete ich dadurch, dass ich meinen Romanen nach und nach einen süffisanten, ironischen Grundton verlieh und die Plots mit erlesenen Rotweinen befeuerte. Clausen hatte es natürlich gemerkt, äußerte sich aber nicht dazu. Hauptsache, sie verkauften sich. Wenn er vom beabsichtigten Tod Fröhlichs erfuhr, könnte es sein, dass er mir ein ähnliches Ableben wünschte, wie das, was ich für meinen alten Weggefährten parat hatte.

Meinen Erstling, gefeiert von Lesern und Feuilleton, hatte ich künstlerisch nicht annähernd wieder erreicht. Im Unterschied zum vielbeschworenen armen Poeten hatte ich das unverschämte Glück gehabt, einmal, ein einziges Mal!, einen Roman geschrieben zu haben, der fast alle wichtigen Buchpreise abgeräumt und sich blendend verkauft hatte und immer noch verkaufte. Aber obwohl mir meine Leser die Treue hielten und meine Folgebände entgegen dem Rat der zunehmend verächtlich schreibenden Rezensenten weiter kauften – nach einigen Jahren hatte ich die Gewissheit, dass ich den Erfolg meines ersten Buches nie würde wiederholen können.

Katja war all die Jahre meine größte Kritikerin gewesen. Und meine beste. Sie war ehrlich, fair, gnadenlos, aber nie verletzend. Sie hatte mir als erste auf den Kopf zugesagt, dass ich auf dem absteigenden Ast war. Und sie hatte stets die Zahlen, die Clausen mir nannte, angezweifelt. Lass sie dir vorlegen, Thomas! Wer weiß, ob sie stimmen! Aber immer hatte ich ihr entgegnet, dass ich Clausen einen großen Teil meines Erfolges verdankte und ihm jetzt nicht mit Misstrauen kommen konnte.

Und dann hatte sie mich verlassen. Sie und die Mädchen. Viel zu spät wurde mir klar, dass ihr Schritt logisch, folgerichtig und konsequent war.

Wagner aber war nicht der Grund. Er war nur der Auslöser. Der Grund war ich selbst.

Alles begann vor drei Jahren mit einem Missgeschick. Einer gerissenen Einkaufstüte.

2

Hamburg. Donnerstag, 25. Oktober 2012

Mein Leben änderte sich von dem Moment an, als ich, eine volle Einkaufstüte in den Händen, im Begriff war, einen Supermarkt zu verlassen.

Katja hatte mich gebeten, auf dem Weg vom Verlag nach Hause einige Zutaten für einen Braten zu besorgen. Wie immer unsicher, das Richtige zu finden, hatte ich im Supermarkt von allen gewünschten Waren mehrere Sorten gekauft und viel zu viel Geld ausgegeben.

An der Kasse stopfte ich alles in eine große Papiertüte, die sich unter den skeptisch-amüsierten Blicken der Kassiererin bedenklich ausbeulte. Statt Kunststoff- nahm ich immer Papiertüten, sie waren »das ökologische Pflaster auf der Wunde meines schlechten Konsumgewissens«, wenn ich wieder einmal das Geld zum Fenster hinauswarf. (Diese Formulierung hatte ich in einem meiner früheren Romane entdeckt. Meinen Protagonisten saß meist das Geld locker, und als ich mir es leisten konnte, begann ich, ihnen nachzueifern.)

»Warum nehmen Sie keinen Koffer?«, grinste die Geldeintreiberin, sich nicht darum scherend, dass es in ihrem Arbeitsvertrag sicher eine Passage über den respektvollen Umgang mit Kunden gab. »Ist auch nicht umweltschädlich.« Der Blick, den ich über das Laufband warf, hätte einen Sankt-Pauli-Luden umgeworfen, sie aber war von einem härteren Kaliber.

Die gläsernen Flügel der Ladentür gaben den Weg frei, und ich trat ins Freie, wobei ich vorsichtshalber eine Hand unter die schwere Tüte hielt. Ich wusste aus Erfahrung, dass sich unter all den verderblichen Waren, die ich eingesammelt hatte, mindestens eine befand, die ihr kritisches Datum mehr als deutlich erreicht und die, wie immer sie es schaffte, einen Weg nach ganz unten in die Tüte genommen hatte. Der Rücksitz meines Jaguars konnte ein Lied singen von feuchten Stellen in den Einkaufstüten, und Katja sah mich immer so merkwürdig an, wenn sie die Flecken auf dem Leder entdeckte. So merkwürdig mitleidig.

»Halt! Bleib stehen, du Dieb!« Der Schrei der eben noch feixenden Kassiererin hinter mir schreckte mich aus meinen Gedanken. Mich konnte sie nicht meinen. Ich hatte diesmal mit Sicherheit bezahlt. Was ich zu leicht einmal vergaß. »Sie! Halten Sie ihn auf! Der hat geklaut!«

Ich drehte mich um, der prall gefüllte Papierbeutel versperrte einen Gutteil der Tür, und eine Gestalt rannte an mir vorbei, die Tüte mit dem Arm streifend. Das genügte, um sie platzen zu lassen wie eine reife Eiterbeule. Der mühsam zusammengesuchte Einkauf floh zum Teil aus dem Papierbehälter und bildete im Nu eine Obst- und Gemüsebarriere vor der Ladentür.

Der fliehende Mann drehte sich um, sah die Bescherung, schenkte mir die Andeutung eines Grinsens und … klaubte in aller Seelenruhe eine der Bananen auf, die unser abendliches Menü abrunden sollten. Während er sich aus der gebückten Haltung wiederaufrichtete, sah ich, dass der Dieb kein Mann war, sondern ein Jugendlicher. Mittelgroß, schlank. Auf sechzehn, siebzehn schätzte ich ihn.

Jetzt geschah etwas Überraschendes. Statt wie zu erwarten seine Flucht vor dem heranstürzenden Supermarktpersonal fortzusetzen, rannte der Junge auf mich zu und rief ins Innere des Ladens: »Stehenbleiben! Keinen Schritt weiter, sonst leg ich den Typ um!«, wobei er mir zu meiner grenzenlosen Verblüffung das stumpfe Ende der aufgelesenen Banane ins Kreuz drückte.

Die Kassiererin und ein kräftiger Kollege, der von der Nebenkasse gekommen war, zeigten sich genauso perplex wie ich. Sie blieben stehen und sahen auf das, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie waren weit genug entfernt, um nicht bemerkt zu haben, dass es sich bei der Waffe um eine harmlose Staudenfrucht handelte.

Koin Schridd woidä! hatte der Junge gerufen und sofort hatte ich Bilder aus meiner Kindheit vor Augen, Bilder von verstaubten Gassen, verwinkelten Hinterhöfen, Knaben in kurzen, zerschlissenen Hosen, die einen Ball gegen Garagentore kickten.

Es waren Bilder aus meinem früheren Leben in Barmbek. Schon mein Großvater war, wie sein Vater und dessen Vater, ein waschechter Barmbeker gewesen, hatte praktisch sein ganzes Leben lang auf der Werft Blohm und Voss gearbeitet, und er sprach ausschließlich Barmbeker Platt, ein Idiom so breit wie derb. Ein Dialekt von der unverblümten, schroffen Direktheit, wie sie den Bewohnern dieses Arbeiterviertels in den benachbarten vornehmen Stadtteilen Winterhude und Uhlenhorst naserümpfend nachgesagt wurde.

Barmbek basch nannten sie diese sprichwörtliche Rüpelhaftigkeit. Die Barmbeker galten in früheren Zeiten als ungehobelte Gesellen, die Meinungsverschiedenheiten gern mit den Fäusten austrugen.

Und dieser Bursche, sagte mein feines Ohr, ist ein Barmbeker. Ein Barmbeker Jung. Deshalb hatte er auch nicht gerufen: Stehenbleiben!, sondern Steenbloibn! Und nicht: Keinen Schritt weiter!, was er wohl aus einem schlechten Krimi hatte, sondern eben: Koin Schridd woidä!

Was er sprach, war allerdings kein Platt, sondern die abgewandelte Form Missingsch, wie wir alle, die wir aus Barmbek stammten, Missingsch redeten, damit man uns auch außerhalb unseres Stadtteils verstehen konnte.

»Zurügg!«, rief der Bursche in meinem Rücken. »Ich hobbn seeä näwöösen Zoigefinger. Datt könnd ihr mir glaum!«

Nun war es ja durchaus originell, was der Kerl hinter mir auf die Beine stellte, aber ich ärgerte mich fürchterlich über meinen verschütteten Einkauf, den ich zur Hälfte vergessen konnte. Deshalb war ich drauf und dran, mich umzudrehen und das Bübchen zu entwaffnen, um ihn dann dem Personal auszuliefern. Aber … war es der dreiste Spruch der Kassiererin oder waren es die Bilder aus meiner Heimat Barmbek … mit einem Mal zuckte ich vor dem Gedanken zurück, dem Recht Genüge zu tun. Etwas in mir öffnete sich für die Nachsicht mit dem Verbrechen; ich empfand Sympathie für den jugendlichen Outlaw. In dieser Sekunde widerfuhr mir das, was meine Romanhelden ständig erlebten. Und auch wenn es nur um einen Ladendiebstahl ging, endlich konnte ich der social correctness die Stirn bieten. Das musste lange in mir geschlummert haben.

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«, rief ich mit gespielter Angst in der Stimme. »Der macht Ernst!«

»Ich ruf die Polizei!«, ignorierte der Stämmige meine Worte. »Geiselnehmern muss das Handwerk gelegt werden!«

»Polizei ist gut!«, rief der Junge. »Sag denen man gleich, dass ich ’n Fluchtauto will! Vollgetankt!«

»Unterstehen Sie sich! Der Mann drückt ab!« Das Beben meiner Stimme kam mir überzeugend vor. Es ist nicht jedermanns Sache, eine geladene Banane im Rücken zu spüren.

Das Personal zeigte sich verunsichert. Der Junge nutzte das und bellte: »Los! Raus hier! Aber plötzlich!«

Ich umklammerte meinen mühsam geretteten Resteinkauf mit festen Händen und so eilten wir, die Kassiererin und ihren Kollegen staunend hinter uns lassend, die Straße herunter, ich die Mündung der Banane immer im Kreuz.

»Falsche Richtung!«, raunte ich dem Knaben zu. »Mein Wagen steht da drüben.«

Wir liefen über die Straße und erreichten den Jaguar. »Oha! Das ist deiner?«

Ich nickte. »Steig ein!« Die zerrissene Einkaufstüte warf ich in den Kofferraum, damit Katja keine neuen Flecken auf den Rücksitzen entdecken musste.

»Ich werd nicht wieder! Mann, musst du Kohle haben!«

Der Motor des Jaguars heulte auf. Im Rückspiegel sah ich, dass die beiden Angestellten des Supermarkts wild gestikulierend auf der Straße standen.

»Anschnallen!«, rief ich nach rechts. Ich hatte den Jungen nun nicht mehr im Nacken und so konnte ich einen zweiten, genaueren Blick auf ihn werfen.

Seine Figur war schlank, sehnig, aber kräftig. Er hatte raspelkurze, blonde Haare und trug eine mürrische Miene zur Schau. Mir fielen seine tiefliegenden, misstrauischen, dabei leuchtend blauen Augen auf. Und eine Narbe, die sich quer über seine linke Augenbraue zog.

Das Auto machte einen Satz und suchte die nächste Abbiegung.

»Was hast du eigentlich geklaut?«, fragte ich ihn.

»Phh! Nichts von Bedeutung.«

Nichts von Bedeutung. Was für eine Antwort! Nichts von Bedeutung. Mein Großvater, ein rechtschaffener Mann, wie Hafenarbeiter aus dem rauen Barmbek eben rechtschaffene Männer waren, hätte mir an dieser Stelle eingebläut: Wenn du schon klaust, Junge, klau was Ordentliches, etwas, das du wirklich brauchst und das du anders nicht bekommen kannst. Wir haben damals, hätte er bekräftigt, Kohlen und Kartoffeln geklaut, weil wir die zum Überleben brauchten.

»Nichts von Bedeutung? Von wie wenig Bedeutung?«, fragte ich den Langfinger an meiner Seite.

Ich konnte ihm keine deutbare Reaktion entlocken. Er drückte sich ganz an die Beifahrertür, als habe er Angst vor mir. Seine Augen aber zeigten keine Furcht. Nur Misstrauen.

»Würfelzucker«, sagte er mit ernster Miene. Er drehte sich um und schaute aus dem Heckfenster.

Bestimmt nicht so was, hätte Großvater verächtlich gesagt, wie Würfelzucker. So was klaut man nur, wenn man Langeweile hat.

»He! Anschnallen, sagte ich! – Würfelzucker?«

»Sag ich doch!« Er wirkte gelangweilt und seine Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit. »Du bist mir ja einer! Hilfst einem Schwerverbrecher und kümmerst dich um so einen Scheiß wie Festtüdern.«

Hallo! Riskierte eine ganz schön große Lippe, das Früchtchen!

»Also – wenn die Bullen uns schon krallen, dann nicht, weil einer von uns gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt. – Wegen Würfelzucker riskierst du, hopsgenommen zu werden? Die hätten dich angezeigt, das weißt du.«

»Phh! Mir egal. Die können mir gar nichts. Ich bin dreizehn. Strafunmündig.«

Während er das sagte, schälte er in aller Seelenruhe die Schale von seiner Tatwaffe und biss herzhaft in die Frucht. Jetzt erst fiel mir auf, dass er am linken Arm eine große Tätowierung trug, die aus dem Ärmel des T-Shirts hervorlugte und sich bis zum Handgelenk erstreckte. Sie sollte wohl ein Fabelwesen darstellen, eine Schlange mit Schuppen und Flügeln, und leuchtete in den schillerndsten Farben.

»Du verarscht mich! Du bist keine dreizehn mehr.«

»Na klar!«, nuschelte er. »Und wenn ich erst mal vierzehn bin, bin ich nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn ich zur Zeit der Tat …«, er begleitete den auswendig gelernten Text mit rhythmischen Bananenschalenbewegungen, »… nach meiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug gewesen wäre, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.« Geräuschvoll schluckte er einen Bissen herunter. Unsere Augen trafen sich bei wilder Fahrt und ich konnte nicht den Hauch eines Lächelns ausmachen. »So sieht’s aus.«

»Und? Wärst du? Reif, meine ich.«

»Ich glaub, ich bin ganz schön zurückgeblieben. Noch nicht gemerkt?«

Ich nickte. »Wer Würfelzucker klaut, hat mit Sicherheit einen Dachschaden.«

Das leise Glucksen, das aus seiner Kehle kam, interpretierte ich als das brüllendste Lachen, zu dem er fähig war.

»He! Lass dir das nicht einfallen!«, rief ich, als ich sah, dass er die leere Bananenschale in Wurfposition brachte und nach dem Knopf für den Fensterheber suchte. Erstaunt sah er mich an, aus dem gerundeten Mund schaute der letzte Essensrest.

»Was willst du überhaupt damit?«

»Raufwerfn«, nuschelte er. Dann schluckte er herunter. »Aber ich darf ja nicht.«

»Mit dem Würfelzucker, meinte ich.«

»Ist für meine Oma. Die will ’n Kuchen backen.«

»Du setzt für deine Oma dein Leben aufs Spiel? Respekt! Das nenn ich Familienzusammenhalt!«

»Ist ’ne Spitzenoma! – Kannst’ da vorn mal halten? Da an der Ecke?«

Ich warf einen prüfenden Blick in den Rück-, dann in den Seitenspiegel (Routineblick von Kommissar Max Fröhlich). Niemand schien uns gefolgt zu sein. Kaum hielt der Wagen, sprang der Gesetzesbrecher hinaus. Die Ecke, an der ich für ihn gehalten hatte, sorgte dafür, dass er aus meinem Gesichtsfeld verschwand.

»Bitte! Gerne! Nein, nein, zu bedanken brauchst du dich nicht«, sprach ich. Aber leise. Er hätte es ohnehin nicht gehört. Ich schüttelte verärgert den Kopf.

Mir fiel jetzt die Bananenschale ein und ich schaute mich im Wagen um. Nichts. Die hatte er jedenfalls mitgenommen. Ich schaute in die Richtung, in die der Junge gelaufen war, so als hätte ich die Hoffnung, er käme noch einmal zurück. Dann lachte ich laut heraus. Und lachte.

Dieser kleine Rotzlöffel!

Tief im Innersten empfand ich auf einmal eine große Befriedigung. Eine sehr große! Meine Laune besserte sich von Sekunde zu Sekunde. Was für ein Tag! Was für ein aufregender Tag!

Ich zog mein Handy aus der Tasche.

»Hallo, Schatz«, sagte Katja. »Alles bekommen?«

»Es tut mir leid, aber ich bin aufgehalten worden. Ich hab’s leider nicht geschafft, einzukaufen. Du, hör mal! In Ottensen hat doch dieser neue Franzose aufgemacht. Wie wär’s? Darf ich dich zum Essen einladen? Dich und die Mädchen?«

3

Frankfurt. Freitag, 28. August 2015

Frankfurt begrüßte mich mit einem milden Spätsommertag. Niemand sollte bei so einem Wetter diese Welt verlassen, dachte ich, als ich bei Bornheim nach links abbog und den Main überquerte. Und kein Mensch sollte mit zu viel Restalkohol im Blut fünfhundert Kilometer über die Autobahn jagen, zudem mit kaum Schlaf im Gepäck.

Erinnerungen wurden wach, Erinnerungen an den Tag vor zwei Jahren, als ich die Strecke schon einmal hinter mich gebracht hatte. Damals hatte ich Frankfurt direkt angesteuert, weil ich auf der Suche war. Auf der Suche nach Wagner. Ich hatte ihn nicht gefunden und nicht gewusst, ob er noch lebte. Heute, als ich wusste, dass er tot war, würde ich ihn finden.

In einem Telefonat mit Corinna Neubert hatte sie mir das Offenbacher Sheraton als Quartier empfohlen, weil ich den Waldfriedhof Oberrad von dort aus bequem erreichen würde. Er lag in der Nähe der Autobahnabfahrt Taunusring.

Ich erreichte das Hotel um kurz nach zehn, hatte also gerade noch Zeit, mich leidlich frisch zu machen und, die Sonnenbrille vor den glasigen Augen, wieder in den Wagen zu steigen.

Am Abend zuvor hatte ich mich in meiner Lieblingsbar, dem Le Tigre in der Rathausstraße, betrunken. Jacques, der Barmixer dieses stilvollen Hauses, durfte bis morgens um halb zwei meinen Klagen lauschen. Ich mochte den jungen Mann, weil er großartige Cocktails mixte, immer ein offenes Ohr für mich hatte und mir keine Ratschläge erteilte, mich nicht kritisierte, sondern einfach zuhörte. Das zeichnet einen guten Barmixer aus. Du willst dich bei ihm wohlfühlen, keinen erhobenen Zeigefinger sehen, sondern einfach frei von der Leber weg erzählen. Nach dem Genuss des fünften oder sechsten Cocktails ist der Mann hinter dem Tresen für dich wichtiger als die Ehefrau, die Oma und die Geliebte zusammen.

Und ich hatte eine Menge zu erzählen, keinen Smalltalk, sondern mich trieben große Sorgen um. Existentielle Sorgen. Sorgen, von denen ich glaubte, sie nie mehr haben zu müssen. Diesen Kummer breitete ich vor Jacques aus, und er hörte zu. Hörte einfach zu. Je mehr ich trank, desto verständnisvoller lauschte er meinen Worten. Und je betrunkener ich wurde, desto mehr glaubte ich, in Jacques meinen einzigen echten Freund zu haben. So denken wahrscheinlich alle Säufer, die in den Bars dieser Welt vor dem Barkeeper sitzen und ihm die Nacht rauben. Und mein bester Freund Jacques verzog keine Miene, als ich das letzte der was-weiß-ich-wie-vielen leeren Cocktailgläser zurück über den Tresen schob und einen doppelten Whiskey, pur und ohne Eis, verlangte.

Ich hatte Jacques von meinem Gespräch mit Alex, meinem Steuerberater und einem meiner letzten besten Freunde, erzählt. Nach dem Gespräch strich ich ihn von der Liste meiner besten Freunde. Bis auf den Namen Jacques hatte ich alle anderen von dieser Liste verbannt und nur, wenn ich ausnahmsweise nüchtern war, beschlich mich der Verdacht, Jacques’ Freundschaft zu mir hatte mehr mit seinem Beruf zu tun.

Alex hatte mir gesagt, dass ich auf Dauer meinen gewohnten Lebensstandard nicht würde beibehalten können. »Tom, du musst dich mit der Tatsache vertraut machen, dass von deinem Vermögen in naher Zukunft nichts mehr da sein wird, und wenn du mich fragst, hast du alles dafür getan, dass es so ist. Ich muss dir ja wohl nicht aufzählen, wofür du dein Geld ausgegeben hast.«

»Aber … Alex! Das kann nicht sein! Clausen hat mir gerade letzte Woche gesagt, der Verkauf läuft wie geschmiert.«

»Clausen! Clausen! Der Mann bescheißt dich, Tom! Das Gefühl habe ich schon lange. Ich hätte dich früher warnen sollen.«

»Ich habe noch nie so gut verdient wie jetzt.«

»Das stimmt und das ist etwas, was ich nicht ganz durchschaue. Deine gestiegenen Einnahmen rühren von den Steuererleichterungen her, die Clausen durch das geänderte Gesellschafterkonstrukt generiert. Doch das Ding muss irgendwo einen Haken haben. Aber wo? – Entscheidend ist: die reinen Verkaufszahlen gehen zurück. Deutlich zurück!«

»Welches Interesse sollte Clausen haben, mir falsche Zahlen unterzujubeln?«

»Ich weiß es nicht, Tom! Tatsache ist, dass Clausen hinter deinem Rücken das Gerücht streut, dass Thomas Sagniers Auflagen schwächeln. Frag mich bitte nicht, woher ich das habe. Ich habe den Verdacht, er zwackt einiges von den Einnahmen für sich ab. Warum sonst legt er so großen Wert drauf, die Einnahmen deiner Bücher persönlich zu verwalten?«

»Das ist ein verdammt schwerer Vorwurf! – Alex, ich … ich verstehe ja nichts vom Geschäft, aber …«

»Das stimmt. Das war schon immer dein Problem. Da hast dich nie um deine Finanzen gekümmert. So lange das Geld da war, hast du es mit vollen Händen zum Fenster rausgeschmissen.«

»Für meine finanziellen Belange bist du doch da, habe ich bis heute gedacht.«

»Ha! Wie oft habe ich dir freundschaftliche Ratschläge erteilt, Tom. Du wirst nicht bestreiten können, dass ich für dich mehr war als ein Berater in steuerlichen Angelegenheiten. Ich habe dir Sachen vorgeschlagen, die überhaupt nicht in mein Ressort fallen und für die ich erhebliche Schwierigkeiten mit dem Finanzamt hätte bekommen können.«

»Du gibst aber zu, dass von der steuerlichen Seite alles sauber läuft, oder?«

»Das schon. Aber ich weiß nicht … vielleicht schickst du mir doch mal deinen Vertrag, damit …«

»Alex, das hatten wir schon. Vergiss es! Clausen legt Wert auf Vertraulichkeit. Außerdem – du bist doch der Experte. Du kennst dich doch aus mit Beteiligungsgesellschaften.«

»Sicher, aber der Knackpunkt ist dein Vertrag. Lies ihn doch selbst noch einmal aufmerksam durch. Irgendwas musst du da finden!«

»Werd ich bei nächster Gelegenheit tun.«

Er lachte. »Ja, ja! Wie oft hast du mir das schon erzählt? – Tom, tu dir selbst einen Gefallen und trenne dich von Clausen. Such dir einen anderen Verlag. Versuch’s bei Rowohlt, bei Kindler, bei … ach, ich bin kein Experte auf dem Gebiet. Aber eines verstehe ich vom Literaturbetrieb. Auch dort zählt vor allen Dingen die Leistung. Kehre zurück zu deinen Anfängen! Schreibe wieder gute Romane und nicht so einen Scheiß wie heute!«

Das alles habe ich meinem besten Freund Jacques erzählt und auch, dass ich die Haustür meines nicht mehr besten Freundes Alex hinter mir zugeschlagen hatte.

Und Jacques war sehr verständnisvoll und hatte gesagt: Ich hätte genauso gehandelt, Monsieur Thomas, denn Jacques ist, wie sein Name sagt, Franzose. Und wenn er das einmal vergisst und einen Gast am anderen Ende des Tresens ganz hanseatisch mit Moin, Moin begrüßt, bin ich ihm nicht böse.

Hauptsache, er hört mir zu und schiebt mir noch einen Whiskey hin, pur und ohne Eis, und ich bin ihm auch nicht böse, als er sagt: Ist dann aber der letzte, Monsieur Thomas, und an Ihrer Stelle würde ich morgen lieber den Zug nehmen.

Davon hatte ich ihm erzählt?

Die Trauerrede des Pastors wirkte fahrig, lustlos und uninspiriert. Er hatte sich vermutlich auf die Daten, die er über Wagner erhielt, seinen Reim gemacht und kehrte pflichtgemäß die Meinung nach außen, die die Kirche, selbst die evangelische, zu Drogenabhängigen hat.

Die sterblichen Überreste Wagners, für die seine Schwester Anna einen schlichten, aber schönen Sarg gekauft hatte, waren vor der Kremierung noch einmal von einem Amtsarzt untersucht worden. Der bestätigte die Version von einer Überdosis Heroin.

Der verbrannte Leichnam wurde in eine Urne gefüllt. Anna war es in den Tagen zuvor mit Hilfe Corinna Neuberts nach schwierigen Verhandlungen und einer Menge vollgeschriebenen Papiers gelungen, ihre Verwandtschaft mit dem Jungen nachzuweisen. Man hatte ihr auf dem Ordnungsamt die Habseligkeiten Wagners ausgehändigt. Ein paar Sachen zum Anziehen und sein Smartphone waren das einzige, was er bei sich getragen hatte.

Anna hatte um eine Naturbestattung gebeten. Sie durfte ein kleines Bäumchen pflanzen lassen, unter dem Wagner zur letzten Ruhe kam. Eine dicke Steinplatte, auf der nun sein voller Name stand, bedeckte die Urne.

Anna Hollmann, die in einem schwarzen Kostüm neben einer korpulenten Frau stand, hatte mir auf Anhieb gefallen. Sie war jung, sehr attraktiv und blickte versonnen lächelnd auf die Ruhestätte ihres verstorbenen Bruders.

Corinna Neubert erwies sich als eine resolute, warmherzige Frau, deren lustige, rehbraune Augen Mühe hatten, Trauer zu vermitteln. Die Tränen aber, die diese Augen jetzt vergossen, waren von einer großen Ehrlichkeit.

»Ich kann diesen Zufall immer noch nicht begreifen«, sagte sie, als wir nach der Trauerprozedur den Weg zurück zum Eingangsportal des so wunderschön zwischen hohen Bäumen gelegenen Friedhofs nahmen. »Wäre Wagner nicht so ein einzigartiger Vorname, hätte ich die Notiz vom Ordnungsamt glatt überlesen. Es ist traurig, Anna, dass ich sie zu spät gesehen habe. Da war die anonyme Beerdigung schon angeordnet.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Corinna«, antwortete die junge Frau. »Ich bin Ihnen überaus dankbar, dass Sie mich sofort verständigt haben. Und es wäre gewiss nicht der letzte Wille Wagners gewesen, in Hamburg begraben zu werden.«

Ich hielt es für angemessen, mich still zu verhalten. Die Frauen hatten natürlich gemerkt, dass es um mein Befinden nicht zum Besten stand. Ich schämte mich, dem Anlass so respektlos beigewohnt zu haben. Nie wieder würde ich Alkohol anrühren, dachte ich, hörte aber das kleine Teufelchen kichern, das irgendwo in meinem Gehirn sein Unwesen trieb.

Ich hatte meinen Begleiterinnen in meinem Zustand nicht den Vorschlag machen wollen, sie im Wagen mitzunehmen. Sie waren mit der S-Bahn gekommen und hatten einen anschließenden halbstündigen Fußmarsch hinter sich. Und so war es die Idee Frau Neuberts, in meinen Wagen zu steigen und nach Frankfurt zu fahren. Unverblümt wies sie auf ihre Körperfülle: »Mit dem Gepäck noch mal zu Fuß? Nein, danke!«, wobei sie ein herzliches, tiefes Lachen hören ließ. Ihre Rehaugen blitzten vor Vergnügen.

Anna Hollmann lud uns ins Lindner Hotel im Brückenviertel ein, in dem sie abgestiegen war. Sie war anfangs der Woche aus Berlin gekommen und hatte sich sofort mit Corinna Neubert in Verbindung gesetzt, die in Sachsenhausen, ganz in der Nähe, wohnte. Wir setzten uns in das Restaurant und bestellten ein Mittagessen. Entgegen meiner Erwartung schmeckte es mir schon wieder.

Anna biss gedankenverloren ein paar Mal von ihrem Fisch ab und schob den Teller dann von sich. Corinna Neubert sagte, nachdem sie ihr deftiges Bauernfrühstück restlos verschlungen hatte (»So ein Fußmarsch macht hungrig«, hatte sie gelacht): »Sie haben ein schönes Plätzchen für Wagner gefunden, Anna. So ruhig und würdevoll. Die Bäume wachen über seinen Schlaf.«

»Es ist auch ein schöner Friedhof«, antwortete Anna Hollmann.

»Mir sind …«, mischte ich mich nun doch in das Gespräch ein, »… auf dem Weg die vielen Gräber aufgefallen, in denen Kinder liegen, die zwei bis drei Jahre alt sind.«

Frau Neubert nickte und zeigte ein gequältes Lächeln. »Schön! Das fällt nicht jedem auf.«

Ich sah sie erstaunt an. »Wie meinen Sie das?«

»Es sollte schon ein Unterschied sein, vor dem Grab eines Achtzigjährigen zu stehen als auf den Grabstein eines Kindes zu schauen, das gerade acht geworden ist, finden Sie nicht?« Ihr Tonfall war jetzt aggressiv. Zu einer Antwort ließ sie mir keine Zeit. »Entschuldigen Sie! Ich wollte Sie nicht angiften. Aber bei diesem Thema reagiere ich empfindlich.«

»Aber das geht doch wohl jedem so«, sagte ich mechanisch.

»Glauben Sie? Und wie lange?«

»Frau Neubert, ich weiß nicht, ob Sie … Ich habe zwei Töchter. Ich kann mir vorstellen, wie …«

»Bei allem Respekt! Das können Sie wahrscheinlich nicht, Herr Sagnier.« Ohne einen Protest abzuwarten, fuhr sie in einem nüchternen Ton fort. »Wenn Sie keine Einwände haben, werde ich Ihnen was erzählen über diese Begräbnisstätte, weil sie ein Synonym ist für das Schweigen unserer Gesellschaft, wenn es um den Tod von Kindern geht.« Corinna Neubert drehte das Glas Wasser, das sie zum Essen bestellt hatte, in den Händen und ließ den Blick zwischen uns hin und her wandern. »Auf diesem Friedhof werden Kinder bestattet, die vor dem Ablauf der fünfundzwanzigsten Schwangerschaftswoche tot geboren wurden. Darüber hinaus Kinder bis zum Alter von fünf Jahren. In Reihengräbern oder in Urnen, wie Ältere auch. Kinder, die bei einem Unfall umgekommen sind, durch eine Krankheit ihr Leben ließen oder ähnliches. Aber auch die Kinder, die ein paar Tage die Schlagzeilen in der Presse beherrschen, weil sie Opfer von Misshandlungen geworden sind. Schwerer und schwerster Misshandlungen. Manchmal durch tragische Irrtümer, meist aber durch überforderte Eltern.«

»Tragische Irrtümer?«, fragte ich.

»Allerdings! Manche Eltern neigen dazu, ihren Kindern viel zu früh Eigenständigkeit zu unterstellen und zu oft sich selbst zu überlassen. Andere möchten verantwortungsvoller handeln, aber ihr Beruf lässt ihnen keine Möglichkeit, ihren Nachwuchs zu beaufsichtigen.«

»Aber dafür gibt’s doch Kitas.«

Sie lächelte. »Ich würde Ihnen gern beipflichten, aber viele Eltern aus sozial schwachen Haushalten können sich sowas nicht leisten. Selbst wenn sie einen Beruf haben, weil er meist schlecht bezahlt wird.«

Skeptisch zuckte ich die Achseln. »Wenn Sie es sagen. Dann sollten es sich diese Leute aber zweimal überlegen, Kinder in die Welt zu setzen.« Ich kassierte vernichtende Blicke der zwei Frauen. »Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Sagnier!«, sagte Anna.

Beschwichtigend legte Corinna die Hand auf Annas Arm. »Ich wollte aber noch etwas zu den körperlichen Misshandlungen von Kindern sagen. Sie haben sicher auch Berichte über die Fälle in Hamburg gehört, Herr Sagnier. Lara-Mia zum Beispiel, Yagmur, Jamie. Stimmt’s? Diese Kinder und die Tragik der Ereignisse beschäftigen die Menschen eine ganze Zeit lang, man nimmt Anteil, dann geht man zur Tagesordnung über. Man weiß, dass die Kinder tot sind, und es wird bedauert. Aber dann?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Frau Neubert?« Ich wurde jetzt neugierig.

»Sie werden vergessen, Herr Sagnier. Sie liegen in Gräbern, in kleinen Gräbern und das Gras über ihnen wächst wie ein Teppich der verbleichenden Erinnerung. Und hinter den Türen der Wohnungen und Häuser spielen sich die gleichen Tragödien ab wie zuvor. Und wir empören uns über die Täter, gehen aber nicht an die Wurzeln des Übels.« Corinna Neubert fuhr mit der Hand durch ihr kurzes schwarzes Haar. »Soll ich Ihnen sagen, warum ich nicht in Hamburg geblieben bin? Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe! Jeden Tag die Meldungen über verwahrloste Kinder und Jugendliche, die Anrufe der Polizei, der Presse, des Senats. Und alle fragen: Wo wart ihr? Euch war doch bekannt, dass …! Und wir wissen nicht, wo uns der Kopf steht von der vielen Arbeit in notorisch unterbesetzten Ämtern. Wir fangen uns die Prügel ein, die andere verdient haben.« Sie lachte kurz auf. »Und ich war tatsächlich so naiv zu glauben, in Frankfurt wäre es besser. Pustekuchen!«

»Sie haben mir aber auch gesagt, dass es nicht der einzige Grund war«, lächelte Anna.

Corinna lachte. »Jetzt fallen Sie mir aber in den Rücken, mein Kind!« An mich gewandt, fuhr sie schmunzelnd fort: »Ich gebe zu, ein weiterer Grund war, wie so oft im wahren Leben, die Liebe.«

Sie wartete meine Reaktion ab und es schien sie nicht zu wundern, was sie in meinen Augen las. »Selbst für eine dicke Matrone wie mich, Herr Sagnier, fällt noch was ab. Es gibt Männer, die mögen etwas Festes in den Händen.«

Ich hob die Hände. »Frau Neubert! So etwas würde ich nie …«

Sie schnitt mir das Wort ab. »Lassen Sie nur! – Ohne diesen Mann hätte ich meinen Job wohl hingeschmissen. Er gibt mir so viel Kraft.« Sie wirkte für einen Moment verträumt. »Aber Schluss jetzt mit den Sentimentalitäten! Wie wär’s? Einen Kaffee zum Abschluss?« Ihre Tischnachbarn waren einverstanden.

»Jetzt sind Sie am Zug, Herr Sagnier«, sagte Anna Hollmann. »Ich habe Ihnen übrigens noch gar nicht gesagt, dass ich mächtig beeindruckt bin, einen so prominenten Mann am Grab meines Bruders zu sehen. Aber ich hatte Wagner immer unterschätzt.« Ihr Lächeln war kaum zu spüren, weil ihre Gedanken wohl kurz auf den Friedhof zurückkehrten. »Erzählen Sie uns bitte, wie Sie meinen Bruder kennengelernt haben.«

Ich nickte langsam und überlegte, wo ich anfangen sollte.

»Tja, das war … zunächst einmal«, räusperte ich mich, »mit der Prominenz ist es nicht mehr so weit her. Ich habe gerade gestern gehört, dass mein Stern zu sinken beginnt. Die Auflagen sollen zurückgehen.«

Die beiden Frauen sagten nichts dazu, was mich etwas ärgerte.

»Also, na ja, das war eine spannende, aber auch sehr lustige Begegnung«, fuhr ich fort. »Es begann alles in einem Supermarkt …«

Ich berichtete die ganze Geschichte von der Geiselnahme mittels einer Banane. Meine Erzählung erntete ungläubiges Staunen bei Frau Neubert und Kopfschütteln bei Anna.

»Typisch Wagner!«, sagte sie, als ich geendet hatte.

»Tja, dem Bengel war nichts heilig«, ergänzte Corinna. »Übrigens – mein lieber Herr Sagnier! Keine Oma auf dieser Welt verwendet Würfelzucker zum Kuchenbacken. Im besten Fall Puderzucker. Da hat Wagner Sie ganz schön geleimt.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß. Das hat mir meine Frau damals auch aufs Brot geschmiert.«

Sie sagte betrübt: »Zucker wird zum Beispiel für den LSD-Konsum verwendet. Das Zeug wird auf Würfelzucker geträufelt und dann gelutscht.«

Ich sah, dass Anna sich kurz auf die Lippen biss und langsam nickte. Sie tat mir leid.

Corinna Neubert bemühte sich das Thema schleunigst zu überspielen. »Und wann haben Sie ihn wiedergesehen?«

»Das war … warten Sie! Der Ober kommt gerade mit dem Kaffee.« Wir bedankten uns und ich nahm den Faden wieder auf. »Das war Ende November desselben Jahres. Ich kam gerade mit zwei Freunden aus Schmidt’s Tivoli, wo wir eine Revue gesehen hatten …«

4

Hamburg. Samstag, 24. November 2012

Der stramme Westwind trieb feine Regenbänder durch die abendliche David-Straße. Tief Franziska hatte Hamburg seit Tagen im Griff. Mit elf Grad war es für Ende November zu warm, aber der Wind sorgte dafür, dass es deutlich kälter wirkte.

»Fucking storm!«, schimpfte Henry. »Ist der hier immer so? So terribly strong?«

Seit ich ihn kannte, amüsierte mich sein gebrochenes Deutsch. »That’s not a storm! It’s just a gentle breeze. Ein laues Lüftchen.«

»Yeah. The lowest luftchen I’ve ever seen!«

Ich stemmte meinen Regenschirm gegen den Wind. »Aber wir sind gleich da. Nur noch einmal um die Ecke.«

»Ich habe es schon gesehen«, rief Henry. »Oh, shit!« Der Wind hatte einen Moment der Unachtsamkeit genutzt und ihm den Schirm aus der Hand gerissen. Er lief hinterher und versuchte, ihn einzuholen. Ralf und ich sahen zu und lachten.

Der Schirm legte ein flottes Tempo vor. Der Wind drehte an der Straßenkreuzung und eine Böe trieb Henrys Regenschutz in die Erichstraße. Bevor er noch eine Runde drehen konnte, trat Henry auf den Griff und stoppte die Flucht. Während er den Schirm ausschüttelte, um ihn vom Straßendreck zu befreien, hörte er aus einer Gruppe farbiger Männer, die sich in einen Hauseingang drängten, jemanden rufen: »He, Mister! You want some stuff?«

Wir folgten Henry jetzt. Er drehte sich um und fragte: »Who are these guys? What are they doing here? Was machen die hier?«

»Das sind Dealer, Henry. Don’t care about them«, rief ich ihm zu. »Lass uns weitergehen.«

Die Schwarzen lösten sich vom Haus und kamen auf uns zu. Normalerweise gingen sie ihren Geschäften nach und verhielten sich unauffällig. Sie wussten, dass die Polizei ein Auge auf sie hatte, sie aber nicht weiter behelligte. Wenn allerdings, wie bei einem solch widrigen Wetter, kaum ein Mensch auf der Straße war, wurden sie aggressiver.

»Come on, Sir! You can buy very cheaply. Billig. Sehr billig«, sagte einer der Männer. Alle trugen sie Strickmützen und dicke Anoraks.

Henry war verunsichert. Die Begegnung mit der schattigen Seite des Lebens war ihm nicht vertraut. Ich stellte mich neben ihn und hob die Hände. »Kein Stress, Freunde, okay?« Auch ich fühlte mich nicht zum Helden geboren, aber ich wusste, dass man in solchen Situationen nicht unsicher wirken darf (es ist ungemein lehrreich, ab und zu einen Blick in seine alten Romane zu werfen).

Die Gruppe von acht Männern umringte uns jetzt. Ralf stellte sich neben mich.

»I make you Sonderangebote«, grinste einer der Schwarzen. »One gram cocaine fifty bucks, a bag of shit twenty.«

»No, thanks!«, sagte Ralf. Langsam gingen wir zurück, aber die Männer versperrten uns den Weg.

»You guys look like owning a lot of money«, zischte einer der Dealer. Die Lage wurde ernst. Niemand war in der Straße zu sehen, der uns hätte helfen können. Ein Mann hielt uns jetzt die offene Hand entgegen und krümmte die Finger in schneller Folge gen Handfläche. »Come on!«, fauchte er.

Ein Lichtschein, der durch eine geöffnete Tür ins Dunkel geworfen wurde, war unsere Rettung. »Stop this!« Im Lichtkegel erschien eine Gestalt, baute sich breitbeinig auf der Türschwelle auf und stemmte die geballten Fäuste in die Hüfte. Die Stimme war mir wohlvertraut. »Yussuf, Francis, Kossi, lasst den Scheiß und verpisst euch.« Breiter Barmbeker Slang. »Aber schnell!« Die Farbigen sahen in seine Richtung, verzogen die Gesichter, aber trollten sich umgehend, ohne etwas zu erwidern.

»Na, was treibst du dich denn hier rum?«, brummte der Junge, als er die Stufen herabkam. »Ist doch nicht deine Gegend.«

»Hallo! Wenn das mal nicht der Geiselnehmer vom Supermarkt ist! Wohnst du hier?«

»Ich wohn überall«, sagte er trocken.

»Auf jeden Fall – danke. Du hast uns das Leben gerettet.«

»Phh! Die Typen wollten ein bisschen Spaß mit euch haben. Die hätten euch nichts getan.«

Ich wandte mich an Henry und Ralf und erzählte ihnen in aller Kürze, wie ich den Jungen kennen gelernt hatte. »… und dann drückte er mir eine schussbereite Banane zwischen die Schulterblätter und entführte mich und eine Familienpackung Würfelzucker.«

»What is Wurfelzucker?«, wollte Henry wissen.

»Lump sugar, I think. Oder, Ralf?«

»Ich glaube, ja.«

»Ich würde euch unseren Lebensretter gern vorstellen, aber ich kenne noch nicht mal seinen Namen. Ich weiß nur, dass er dreizehn sein möchte.«

Ralf grinste. »So sieht er auch aus.«

»Ihr könnt das ruhig glauben.« Der Junge griff in eine Innentasche seiner Jacke und zog einen Personalausweis heraus. Den drückte er mir in die Hand. »Hier! Kuck selbst!«

Ich tat, als wenn ich das Dokument eingehend prüfte. Es sah so echt aus, dass ich mir den Blick hätte sparen können. »Hm«, machte ich. »Ziemlich plumpe Fälschung.«

Der Junge riss mir das Kärtchen aus der Hand und schaute drauf. »Meinst du? Ich finde, der sieht total echt aus.« Wieder das mir bekannte leichte Anheben der Mundwinkel. Ganz anders Ralf und auch Henry, der alles verstanden hatte. Sie sahen sich an und brachen in lautes Gelächter aus.

»Ja, eigentlich nicht schlecht gemacht«, sagte ich. »Aber ein dicker Schnitzer ist deinem Fälscher doch unterlaufen.«

»Nämlich?«

»Na, hast du schon mal von jemandem gehört, der den Vornamen Wagner trägt?«

»Ich weiß. Ich bin der einzige«, erwiderte der Bursche mit ernstem Gesicht.

Ralf fragte: »Moment! Du willst behaupten, dass du Wagner heißt? Mit Vornamen?«

»Jo.«

»Like Richard Wagner?«, lächelte Henry. »Parsival?«

»Den kennt er nicht«, schüttelte ich den Kopf.

»Na, und ob!«, sagte der junge Mann. »Von dem habe ich meinen Namen.«

»Du spinnst!«, lachte Ralf.

Trocken sagte der Junge: »Hast Recht. War Quatsch. Nee, mein Alter ist Ingenieur. War vier Jahre in Brasilien auf Montage. Da ist mein Vorname üblich.«

»Das ist ja interessant«, sagte ich. »Wir sind auf dem Weg ins Empire Riverside. Henry und Ralf sind da einquartiert. Willst du uns nicht be…«

»Empire was?«

»’tschuldigung. Ein Hotel unten an der Bernhard-Nocht-Straße.«

»Ach, der Kasten, ja. Ist nicht meine Welt.«

»Okay!«, lächelte ich. »Aber heute Abend machst du für uns eine Ausnahme, klar? Ich bestehe drauf.« Er hob die Schultern. Das Gesicht blieb so unbeweglich wie die Augen misstrauisch.

Wir waren froh, in die Wärme des Hotels zu kommen. »Willst du was essen, äh … Wagner?«, fragte ich ihn.

»Klar.«

»Gut.« Wir setzten uns an einen Tisch an den Fenstern. Der Ausblick auf die Elbe und die Lichter des Hafens war atemberaubend. Ich winkte den Ober herbei, der mit den Speisekarten kam.

»Ich weiß jetzt auch, wer du bist«, sagte Wagner zu mir. »Hab dein Bild neulich in ’ner Zeitung gesehen. Kein Wunder, dass du so ’nen Riesenschlitten fährst.«

»Meine Bücher gehen gut. Apropos. Die Herren da sind Henry, mein Literaturagent für die englischsprachigen Ausgaben. Kümmert sich um die Beziehungen nach England und in die Staaten. Und der Kollege heißt Ralf, übersetzt meine Bücher, die Henry losschlägt, und übersetzt Henry, damit ich ihn verstehe. – Mann, Wagner! Was muss ich tun, um dir mal einen Lacher zu entlocken?«

»Mach dir nichts draus! Ich lache innerlich.«

Ralf hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen. »Eine Frage mal, Wagner. Die Typen vorhin in dem Hauseingang – wieso können die ungestört Drogen verkaufen? Ich meine … hat Hamburg keine Polizei?«

Wagner nickte. »Doch! Aber bei dem Scheißwetter bleiben die Zivis gern zuhause am warmen Ofen. Kann ich verstehen.«

Der Ober kam und nahm die Bestellungen auf. Wagner kassierte einen etwas ungnädigen Blick wegen seiner nachlässig-lässigen Kleidung. Aber der Mann war klug und sagte nichts.

Ralf lächelte. »Zivis sind die Zivilfahnder? – Okay. Aber die Kunden bleiben doch auch weg. Ich habe weit und breit keinen Menschen gesehen.«

»Laufkundschaft ist fast keine da, das stimmt. Aber das meiste spielt sich sowieso in den Wohnungen ab. Die Jungs haben ’ne Menge Stammkunden.«

»Was sind das für Typen? Wo kommen die her? Sind nur Schwarze, oder?«

»Jo. Kommen alle aus Afrika. Gambia, Sierra Leone, Guinea oder Mali. Sind Asylbewerber. Aber nicht in Hamburg gemeldet, sondern woanders. Verticken Kokain und Crack. Heroin ist Sache der Türken und Albaner. Kiffer werden überall von jedem bedient.«

»But why … warum können die ihre Sachen so einfach verkaufen?«, fragte Henry, der das Gespräch mit Mühe, aber größtem Interesse verfolgte. »I mean … irgendwann werden die Cops doch mal da sein, oder?«

»Klar! Aber die finden nichts. Das haben die Jungs in Depots gebunkert. Die haben nichts am Mann. Sind ja nicht blöd. Und wenn die Bullen mal hartnäckig sind, so in Massen rumstehen und genau hingucken, gehen die Typen gleich woanders hin.«

»Wieviel Standorte haben die denn?«, fragte Ralf.

»Massenhaft. St. Pauli mal hier, mal da, Schanzenviertel, Hafenstraße, St. Georg.«

Ich kratzte mich am Kinn. »Was mir aufgefallen ist, Wagner: Du kanntest einige von den Dealern vorhin mit Namen. Hast du was mit denen zu tun?«

»Sind aus Sierra Leone. Ach, man kennt sich eben. Sehen uns manchmal.«

»Keine Freunde von dir?«

»Freunde? Mann, das sind Neger!!«

Für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Ich sah den Gesichtern meiner Gefährten an, dass sie dasselbe dachten wie ich.

»Bitte?« Ralf warf dem Jungen einen scharfen Blick zu. »Sag das nochmal!«

»Warum? Das sind Neger. Mit denen hab’ ich nichts weiter am Hut. Klar?«

Ich lehnte mich hart in die Stuhllehne zurück. »Das kann doch nicht wahr sein! Ich sitze hier mit einem Jungrassisten am Tisch! Hätte ich das gewusst, hätte ich dir bestimmt nicht geholfen.«

Es war Henry, der deutlich gelassener reagierte. »Tell me, boy, sag mir: Du gehst doch to school, right?«

»Klar. Albert-Schweitzer-Gymnasium in Ohlsdorf.«

»Oh! Wie passend! You know, wer Schweitzer war?«

»Logo. Arzt.«

»And where?«

»Phh. Ich weiß, was du meinst. War Arzt in Afrika. Seine Sache.«

»Die Blumen haben ebenso viel Recht zu leben wie wir, sagt Schweitzer.« Der Einwurf Ralfs erfolgte mit deutlicher Schärfe. »Du bist anderer Meinung?«

»Nö. Aber die Blumen sollen mal schön in der Erde bleiben. Da können sie wachsen, wie sie lustig sind.«

»Du meinst also, Afrikaner haben hier nichts verloren«, stellte ich fest.

»Richtig.«

»Und du mit deinen angeblich dreizehn Jahren hast den großen Durchblick, ja? Warum hast du eigentlich einen gefälschten Ausweis? Mit dreizehn, wenn du wirklich so alt bist, bräuchtest du keinen Ausweis. Das weißt du?«

»Ist immer gut, einen zu haben. So als junger Staatsbürger.«

Ich wurde jetzt richtig wütend. »Willst du mich veralbern, junger Mann? Du …« Dann fiel mir etwas ein, was der Bursche mir bei unser ersten Begegnung gesagt hat. »Ah, ich verstehe! Strafunmündigkeit, stimmt’s? Mit dreizehn bist du nicht strafmündig.«

Wieder seine leicht erhobenen Mundwinkel.

»Das hört sich für mich so an, als hättest du richtig Dreck am Stecken. Ein bisschen mehr als Würfelzucker.«

Wagner sah mir jetzt starr in die Augen. Ein unheimlicher Blick. Der Blick eines reifen Mannes. Nicht der eines Jugendlichen. »Sag dem Ober, das Essen hier ist scheiße!«

Dann stand er auf und ging, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen.

5

Frankfurt. Samstag, 29. August 2015

Als ich Hamburg am nächsten Tag wieder erreichte, war ich so müde wie zuvor. Die Ereignisse auf dem Friedhof hatten mich aufgewühlt, sodass an Schlaf kaum zu denken gewesen war.

Auch die Schilderungen Corinna Neuberts über das Schicksal von Kindern hatten nicht zur inneren Ruhe beigetragen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit einer solchen Thematik konfrontiert wurde, und die traurigen Erkenntnisse gingen mir unter die Haut.

Auf der Fahrt hatte ich viel an Wagner denken müssen, an die widersprüchlichste Person, der ich je im Leben begegnet war. Seine Schwester Anna hatte mir vieles erzählt, was er mir nicht verraten hatte. Und erstaunlicherweise erfuhr sie von mir einiges, das sie nicht gewusst hatte. Sie war erschüttert und verwirrt, hatte sie doch angenommen, Wagner besser zu kennen.

Nachdem ich Corinna Neubert vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte, begleitete ich Anna zum Flughafen. Ihre Maschine nach Berlin wurde wegen eines technischen Defekts als verspätet angezeigt, sodass ich ihr in der Flughafen-Lounge Gesellschaft leistete.

Und es gab so vieles, was ich von ihr wissen wollte.