Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners - Heinz von Foerster - E-Book

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners E-Book

Heinz von Foerster

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Beschreibung

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Sind unsere Weltbilder lediglich Erfindungen, oder entspricht ihnen eine äußere Realität? Ist Wahrheitserkenntnis möglich? Es sind diese Fragen, die der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster und der Journalist Bernhard Pörksen in ihren Gesprächen debattieren. Gemeinsam erkunden sie die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, diskutieren die scheinbare Objektivität unserer Sinneswahrnehmung, die Folgen des Wahrheitsterrorismus und den Zusammenhang von Erkenntnis und Ethik, Sicht und Einsicht.Dabei offenbart sich ein Denken, das die Fixierung scheut und die eine, ewig gültige Antwort ablehnt. Und immer wieder geht es in diesen mit leichter Hand formulierten Dialogen um die innere Verbindung zwischen einem faszinierenden wissenschaftlichen Werk und einem ungewöhnlichen und aufregenden Leben.

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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners

Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen

Gespräche für Skeptiker

Dreizehnte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Horizonte«

hrgs. von Bernhard Pörksen

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Paul Richardson

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Dreizehnte Auflage, 2022

ISBN 978-3-89670-646-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8387-7 (ePUB)

© 1998, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 ⋅ 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 ⋅ Fax +49 6221 6438-22

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Für Mai und Julia

Inhalt

Ein Vorwort in drei Abschnitten

Erfindung – Magie – Gespräch

I. Bilder des Wirklichen

1. Biologie der Wahrnehmung

Die Abbildung der Welt

Man sieht nie dasselbe

Ein ganz kurzes Theaterstück

Entscheidung gegen den Solipsismus

2. Facetten der Wahrheit

Wahrheit bedeutet Krieg

Betriebsgeheimnisse der Natur

Der ethische Imperativ

Verlust des archimedischen Punktes

Die Metapher des Tanzes

3. Die Gefahr des Etiketts

Skeptische Bemerkungen zum Konstruktivismus

Ein Versuch, den großen Worten zu entgehen

4. Erklärung der Erklärung

Ursache und Wirkung

Die Gesetze des Menschen und die Gesetze der Natur

Warum Sokrates sterben mußte

Triviale und nichttriviale Maschinen

Die Interaktion nichttrivialer Maschinen

II. Perspektiven der Praxis

1. Pädagogik

Der Schüler als nichttriviale Maschine

„Tests test tests“

Vom Lehrer zum Forscher

Skizze eines Experiments

2. Psychotherapie

Die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit

Die Erzeugung eines neuen Eigenverhaltens

Weiße Mäuse sehen lernen

3. Management

Und es sprach der Hierarch

Heterarchisch denken

Die Schlacht an den Midway-Inseln

Prinzipien der Selbstorganisation

4. Kommunikation

Die Welt enthält keine Information

Hermeneutik des Hörers

Medienwirklichkeiten

III. Kybernetik

Das fundamentale Prinzip: Zirkularität

Menschen und Maschinen

Die Computermetapher des Geistes

Kybernetik der Kybernetik

Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen

Alle Kreter lügen

IV. Biographische Exkurse

1. Kindheit und Jugend

Die Wiener Welt

Ludwig Wittgenstein

Erfahrungen eines Zauberers

2. Kriegsjahre und Nachkriegszeit

Überleben in der Reichshauptstadt

Als Dr. Heinrich beim Radio

Kollektivschuld oder individuelle Verantwortung

3. Sprung in eine andere Welt: Amerika

Theorie des Gedächtnisses

Anfänge der Kybernetik: die Macy-Tagungen

Das Biologische Computer-Laboratorium

V. Erkenntnis und Ethik

Ethik ist keine Theorie

Entscheidbare und unentscheidbare Fragen

Verantwortung für die Welt

Über die Autoren

Ein Vorwort in drei Abschnitten

I ERFINDUNG

Wenn es keine Lüge gäbe, wäre alles, was gesagt wird, wahr. Aber mit Occhams semantischem Rasiermesser braucht das, was für alles gilt, nicht genannt zu werden. So kommt die Wahrheit erst zustande durch den Lügner: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.“

Ich war ganz stolz auf diese Einsicht und eilte zu einem Philosophenfreund, um ihm von meiner Entdeckung zu erzählen: „Du bist ein halbes Jahrtausend zu spät, mein lieber Heinz“, sagte der und verwies mich auf Nikolaus von Kues.

„Wieso der?“ wollte ich wissen.

So lernte ich, daß es in der Unendlichkeit des Reiches Gottes keine Lüge gibt: Alles ist wahr. Aber alles ist wahr, weil es keine Lüge gibt. Um das verständlich zu machen, gibt uns Nikolaus von Kues eine Metapher: Man stelle sich einen Kreis mit endlichem Durchmesser vor und erlaube dem Kreis, sich zu vergrößern und zu vergrößern und zu vergrößern, bis der Durchmesser unendlich groß wird: Dann wird der Umfang zur vollkommenen Geraden. Ein unendlicher Kreis ist identisch mit einer geraden Linie! Die Gegensätzlichkeiten, Teil und Gegenteil, die fallen hier zusammen: Es ist die Coincidentia oppositorum.

II MAGIE

Im Frühjahr des Jahres 1994 war ich eingeladen, den Eröffnungsvortrag beim 14. Weltkongreß für Soziale Psychiatrie in Hamburg zu halten. Ich fragte mich: „Was kann ich schon Experten der sozialen Psychiatrie erzählen, was sie nicht selber wissen? Wie kann ich einen Einstieg in diese Welt finden?“

Zu meinem Glück hat mir das Thema dieses Kongresses den Schlüssel zu meinem Vortrag gegeben. „Abschied von Babylon“, so hieß es, also Abschied von Verfall und Verwirrung in der Sprache.

Aber was ist Sprache? Wie wird Sprache zur Arznei – zur einzigen Arznei – im Rahmen einer sozialen Psychiatrie?

Ich versuchte das in meinem Vortrag anzudeuten: „Bedenken Sie doch das völlig Rätselhafte, was da vor sich geht, wenn wir sprechen. Hier hören Sie mich ein paar Grunz- und Zischlaute von mir geben, indem ich Luft durch meine Stimmritzen pumpe, und nach einiger Zeit werden einige von Ihnen vielleicht freundlich mit dem Kopf nicken und meine Grunz- und Zischlaute interessant finden, andere den Kopf schütteln und alles für Unsinn halten.“

Ich behauptete dann, daß wir nicht die leiseste Ahnung von dem haben, was da vor sich geht, und nannte daher meinen Vortrag: „Die Magie der Sprache und die Sprache der Magie“.

III GESPRÄCH

Ein Weltkongreß für soziale Psychiatrie, der über 3 000 Hörer aus aller Welt anlockt, verdient die Aufmerksamkeit der Presse, und vom Eröffnungsredner dürfte man wohl das Meiste über diesen Kongreß erfahren können. So sandte mir das Hamburger Sonntagsblatt einen jungen Mann in mein Hotel, dem ich während meines Frühstücks ein Interview geben sollte.

Ich sehe solchen Gelegenheiten mit unguten Gefühlen entgegen, denn meistens haben die Fragen wenig mit dem zu tun, worum es sich handelt, und wenn man dann später die „eigenen“ Antworten zu lesen bekommt, haben die noch weniger mit dem zu tun, was man gesagt hat.

Zu meinem Erstaunen hatte sich jedoch sehr bald – dank meines Interviewers – das Interview in ein Gespräch verwandelt.

Wie kam das zustande?

Einfach, weil mein Interviewer mir nicht Autorität zuschob, sondern weil er meine Haltung erproben wollte, weil er nicht niederschrieb, was ich sagte, sondern es bezweifelte. Großartig! Bald waren wir beide in ein fruchtbares Gespräch vertieft, und es wurde uns klar, daß die Gelegenheit dieses Frühstücks nur der Auftakt für einen weiteren, vielleicht tieferen, Gedankenaustausch wäre.

Einen Monat später konnte ich die Unterhaltung von Bernhard Pörksen und Heinz von Foerster unter dem Titel „Ich versuche einen Tanz mit der Welt“ mit passenden Illustrationen von M. C. Escher im Sonntagsblatt lesen.

Als der Carl-Auer-Systeme Verlag in Heidelberg vorschlug, wir sollten unsere Gespräche statt in Hamburg bei mir daheim auf dem „Rattlesnake Hill“ in Pescadero, Kalifornien, fortsetzen, war ich entzückt und begeistert. Umarmt von schönstem kalifornischem Wetter saßen wir mehr als den halben Juni 1997 auf unserer Terrasse und sprachen und sprachen und sprachen.

Bitte nachzulesen.

Heinz von Foerster,Rattlesnake Hill, im Januar 1998

I. Bilder des Wirklichen

1. BIOLOGIE DER WAHRNEHMUNG

Die Abbildung der Welt

Bernhard Pörksen (B. P.) Man glaubt gemeinhin, Wahrnehmung sei eine Abbildung des Wirklichen: Das erkennende Bewußtsein, so heißt es, spiegelt, was draußen ist. Sie beschreiben die Wahrnehmung der Welt auf eine ganz andere Weise – und sprechen stets vom „Konstruieren“ und „Erfinden“ von Wirklichkeit.

Heinz von Foerster (H. F.) Nun, manche dieser Ideen, die ich vertrete, sind gar nicht so neu. Schon vor mehr als 150 Jahren formulierte der große deutsche Physiologe Johannes Müller eine faszinierende Beobachtung, die er als das Prinzip der spezifischen Nervenenergie bezeichnete. Sie hätte alle Abbildtheoretiker eigentlich irritieren müssen.

B. P. Was hat Johannes Müller beobachtet?

H. F. Die Nerven der verschiedenen Sinne bringen, so stellte er fest, immer nur die ihnen entsprechenden Empfindungen wie Licht, Schall und Druck hervor. Und dies geschieht, unabhängig von der physikalischen Natur des Reizes, der diese Empfindung auslöst.

B. P. Unsere Sinne liefern keine naturgetreuen Abbilder der Wirklichkeit?

H. F. Genau; was sie erregt, können wir nie wissen; wir wissen nur, was uns unsere Sinne aus diesen Erregungen vorzaubern. An der Pforte der Erkenntnis werden die vermeintlichen Boten der Welt ihrer besonderen Eigenschaften entblößt. In diesem Zusammenhang ist heute auch von der undifferenzierten Codierung von Reizen die Rede. Wir wissen nur: Es gibt einen Reiz oder eine Störung, das ist alles, was eine Nervenzelle mitteilt; aber die Ursache dieser Störung ist unklar, sie wird nicht spezifisch kodiert. Man könnte beispielsweise die Faser eines Sehnervs mit einem Tröpfchen Essigsäure reizen – und würde womöglich einen farbigen Lichtklecks wahrnehmen. Oder man könnte eine Geschmackspapille mit ein paar Volt über eine Elektrode stimulieren; und man würde vielleicht den Geschmack von Essig empfinden. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen, die in jedem Lehrbuch der Physiologie zu finden sind, ist es geradezu grotesk und unsinnig, von einer Abbildung der Außenwelt in der Innenwelt zu sprechen: Essig wird ein Farbkleks, Elektrizität zu Essig!

B. P. Was ist dann draußen? Wenn ich diese Gedanken weiterdenke, so heißt das: Wir wissen es nicht, ob Wahrnehmungen und Empfindungen unabhängig von uns existieren. Es ist unentscheidbar, ob es draußen in der Welt Farben und Gerüche, Schmerzen und Wärme oder Kälte gibt.

H. F. Sehen Sie, es ist ein unglaubliches Wunder, das hier stattfindet. Alles lebt, es spielt Musik, man sieht Farben, erfährt Wärme oder Kälte, riecht Blumen oder Abgase, erlebt eine Vielzahl von Empfindungen. Aber all dies sind konstruierte Relationen, sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Innern. Wenn man so will, ist die physikalische Ursache des Hörens von Musik, daß einige Moleküle in der Luft ein bißchen langsamer und andere ein bißchen schneller auf das Trommelfell platzen. Das nennt man dann Musik. Die Farbwahrnehmung entsteht in der Retina; einzelne Zellgruppen errechnen hier, wie ich sagen würde, die Empfindung der Farbe. Was von der Außenwelt ins Innere gelangt, sind elektromagnetische Wellen, die auf der Retina einen Reiz auslösen und im Falle von bestimmten Konfigurationen zur Farbwahrnehmung führen.

B. P. Und trotzdem erleben wir eine duftende, eine farbenprächtige und eine klingende Welt. Das ist doch merkwürdig, wenn man bedenkt, daß uns unsere Sinne, wie Sie meinen, nur das ununterscheidbare Grau der Reizquantität vermitteln. Es stellt sich die Frage, wie aus dieser unspezifisch kodierten Quantität im Organismus diese Welt mit ihrem Nuancenreichtum und ihrer besonderen Qualität entsteht.

H. F. Diese Frage läßt sich – zumindest teilweise – mit dem Hinweis auf Johannes Müller beantworten; eine Zelle ist ja ein Spezialist für bestimmte und zum Teil eben jeweils ganz verschiedene Empfindungen und Erfahrungen; wenn diese vielen verschiedenen Zellen, diese sensorischen Endorgane, angeregt werden, dann werden diese Reize im Nervensystem miteinander korreliert – und es entsteht ein Reichtum der Empfindungen und Wahrnehmungen. Zentral ist: Dieser ungeheure Reichtum der Erlebnisse ist gewissermaßen schon eingebaut; er hat nichts mit dem Reiz zu tun, der diese Zellen erregt.

B. P. Wir lösen uns also, wenn ich die Bewegung unseres Gesprächs nachvollziehe, an dieser Stelle von den Umweltreizen und dem Äußerlichen und blicken ins Innere des Organismus und in ein diffuses Feld neuronaler Beziehungen und Verbindungen. Was geschieht im Innern? Wie läßt sich dieser Vorgang genauer beschreiben?

H. F. Wenn man sich nun klarmacht, wie eben schon Johannes Müllers faszinierende Einsichten zeigen, daß die Qualitäten der Sinneseindrücke nicht im Empfangsapparat kodiert sind, dann kommt man zu der Feststellung, daß diese Qualitäten im Zentralnervensystem entstehen. Sie werden dort, wie ich sagen würde, errechnet.

Man sieht nie dasselbe

B. P. Was bedeutet der Begriff der Errechnung in diesem Zusammenhang? Man denkt an Zahlen, Daten, Tabellen und an eine, vielleicht auch nur metaphorische, Parallelisierung von Computer und Geist.

H. F. Nein, das wäre ganz falsch. Der Begriff des Errechnens hat in meinen Arbeiten nichts mit numerischen Phänomenen zu tun. Im Englischen lautet der entsprechende Ausdruck: to compute. Und das lateinische Wort computare bedeutet, daß Dinge in einen Zusammenhang gebracht werden. Com steht für „zusammen“ und putare heißt „betrachten, überlegen“. Ich verwende den Begriff des Rechnens in diesem sehr allgemeinen Sinn: Es werden mehrere Reize und Eindrücke, die ins Innere gelangen, im Nervensystem in einen Zusammenhang gebracht. Und das heißt für mich, daß es möglich ist, die Vorgänge im Nervensystem als einen Prozeß des Errechnens aufzufassen.

B. P. Wie läßt sich dann der Prozeß des Wahrnehmens beschreiben? Was heißt: erkennen?

H. F. Erkennen bedeutet, daß innerhalb des Nervensystems, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Empfindungen hergestellt werden. Um ein Beispiel zu geben: Man sieht ein Etwas, es läuft herum, besitzt sechs Füßchen und hat auch noch Flügel. Und dieses Etwas brummt, erzeugt ein Geräusch. Es sticht und verursacht Schmerz. Wie läßt es sich benennen? Die Erkenntnis dessen, worum es sich handelt, ist das Ergebnis der Wechselwirkung dieser verschiedenen Empfindungen und Wahrnehmungen: Man korreliert den Schmerz eines Stiches, die Seh- und Brummerfahrung und sagt dann zu einem anderen Menschen: Mich hat gerade eine Wespe gestochen! Und da dieser andere in einem sozialen Netzwerk lebt und auch er einmal diese Erfahrung des Stiches und des Schmerzes gemacht hat, kann er sich unter meinen Äußerungen etwas vorstellen, obwohl er vielleicht bisher nur von einer Biene gestochen wurde. Auf diese Weise werden Realitätsvorstellungen erzeugt, über die wir uns dann unterhalten.

B. P. Mir ist dieser Vorgang des Erkennens noch nicht ganz deutlich. Irgendwann muß doch im Innern der Prozeß des Korrelierens von verschiedenen Wahrnehmungen zu einem Abbruch kommen, um den endgültigen Eindruck entstehen zu lassen: So, genug, das ist jetzt eine Wespe!

H. F. Das Erkennen kommt aus meiner Sicht nicht zu einem endgültigen Ende, sondern stellt vielmehr einen unendlichen und in beständiger Zirkularität ablaufenden Vorgang dar. Kaum habe ich eine Sache erkannt, beginne ich schon wieder, sie zu erkennen. Meine Vorstellung von Erkenntnis könnte man deshalb auch als eine Prozessologie bezeichnen. Die gesamte Sensomotorik, die Muskeln und die Sinne, erzeugen ununterbrochen eine Wechselwirkung, in deren Verlauf Objekte kreiert werden.

B. P. Und doch muß es zumindest vorläufige Resultate des Erkenntnisprozesses geben, da ich ja die Objekte, die ich wahrnehme, als konstant erlebe. Sie befinden sich nicht, wie es Ihre Prozessologie nahelegt, in einem fortwährenden Wandel.

H. F. Doch. Das, was wir als Objekt bezeichnen, wandelt sich ständig. Man nimmt niemals ein und denselben Gegenstand, ein und dasselbe Glas, ein und denselben Würfel wahr. Selbst wenn Sie am Morgen in den Spiegel schauen, sehen Sie immer einen anderen Pörksen.

B. P. Trotzdem habe ich mich bislang immer noch wiedererkannt. Die Objekte und Gesichter haben – das ist die Konsequenz – notwendigerweise Merkmale, die in meinem Innern diesen Eindruck von Konstanz und Stabilität erzeugen.

H. F. Sie weisen ganz richtig darauf hin, daß Sie sich morgens im Spiegel sehen – und zu der Überzeugung gelangen, daß Sie es sind, den Sie da vor sich haben. Und ich habe betont, daß das, was immer da in diesem Spiegel zu sehen ist, niemals dasselbe darstellt. Niemals sieht man dasselbe Bild in dieser ununterbrochen sich verändernden Welt. Wie läßt sich jetzt dieser Eindruck von Stabilität vor dem Hintergrund des fortwährenden Wandels begründen? Mathematisch kann man dieses Phänomen als das Errechnen von Invarianten begreifen: als die Errechnung von Konstanz und stabilen Werten in einem Prozeß fortwährender Transformation.

B. P. Können Sie zur Verdeutlichung ein Beispiel anführen?

H. F. Man nehme einen Würfel und betrachte seine Ecken und Flächen. Wie ist es möglich, die Invariante des Würfels zu errechnen? Die Antwort heißt: durch Bewegung und die sich ergebende perspektivische Veränderung des Blickfeldes. Indem man mit dem Kopf wackelt, indem man mit der Hand den Würfel dreht, werden neue Korrelationen zwischen der motorischen und der sensorischen Aktivität erzeugt – und das Nervensystem beginnt, die Invarianten zu errechnen. Es handelt sich bei diesem Errechnungsvorgang im Nervensystem, das ist wichtig, um eine Kompetenz. Ich behaupte: Das, was wir einen Gegenstand – zum Beispiel einen Würfel – nennen, ist im Grunde genommen eine Kompetenz unseres Nervensystems, die es möglich macht, Invarianten zu errechnen. Der Gegenstand und das, was man gewöhnlich als ein Objekt tituliert, ist, genau besehen, ein Symbol unserer Fähigkeit zur Errechnung von Invarianten.

B. P. Dieser Hinweis auf unsere Kompetenz erlaubt es, stabile Eindrücke und Wahrnehmungen zu begründen, ohne daß auf eine externe Ordnung verwiesen werden muß, die im Organismus abgebildet wird.

H. F. Absolut richtig. Und ich möchte nochmals auf den Begriff des Errechnens zurückkommen, den ich in diesem Zusammenhang verwende. Er besitzt die magische Vorsilbe „Er-“, die auf aktive Prozesse und ein Moment der Schöpfung deutet. Es wird etwas kreiert, was nicht schon da sein muß. Wenn ich davon spreche, daß Wirklichkeit „er-funden“, „er-rechnet“ und „er-kannt“ wird, geht es nicht um eine passive Reproduktion des Vorhandenen, sondern stets um schöpferische und lebendige Vorgänge: Es wird etwas erzeugt, es wird etwas erfunden – und nicht gefunden, nicht entdeckt.

B. P. Stimmt das denn? Es muß doch ein Aufeinanderbezogensein von wirklicher und wahrgenommener Welt geben. Um auf das Beispiel der Farbwahrnehmung zurückzukommen: Natürlich ist es richtig, daß die rote Farbe nicht die Eigenschaft eines Objektes ist, sondern ein Eindruck, der im Auge des Betrachters entsteht. Aber: Es muß doch eine besondere Struktur dieses Objekts geben, die dafür verantwortlich ist, daß uns dieses Rot als Farbe zu Bewußtsein kommt.

H. F. Ich würde genau umgekehrt argumentieren; da ist ein Objekt, das uns rot erscheint. Jetzt stellt sich die Frage, wie sich dieser Farbeindruck erklären läßt? Welche Hypothese läßt sich finden? Es gibt Leute, die mir berichten, daß draußen in der Welt Objekte existieren, die rot angemalt sind – und daß es diese Tatsache des Rotangemaltseins ist, die meine Wahrnehmung auslöst. Ich muß dann allerdings zurückfragen: Woher wissen wir, daß die Objekte rot sind? Sie antworten: Nun, das ist doch klar, wir sehen sie doch. Das bedeutet: Sie schließen von dem, was sie sehen, auf das, was draußen sein soll. Das ist die gedankliche Figur.

B. P. Mein Eindruck ist, daß Sie den Erkennenden, oder mit dem Neurobiologen Humberto Maturana gesagt, den Beobachter zu sehr in den Vordergrund rücken. Sie verabsolutieren, zugespitzt formuliert, den Beobachter und seine kognitive Autonomie – und vernachlässigen und vergessen dabei die Eigenschaften der Objekte in der Welt. Nochmals: Die besonderen Strukturen der Objekte, die wir als rot wahrnehmen, müssen doch auch in unseren Beobachtungen wirksam werden.

H. F. Was zwingt Sie, diese Korrespondenz von Welt und Wahrnehmung mit dieser Absolutheit zu fordern? Es genügt völlig zu wissen, daß wir ein schönes rothaariges Mädchen vor uns haben, einen roten Würfel oder einen Tisch mit roter Decke. Was wir wissen ist, daß wir etwas wahrnehmen, mehr nicht. Üblicherweise geht man davon aus, daß unsere Sinne die Objekte in der Welt wechselseitig bestätigen. Man sieht einen Tisch, tritt näher, fühlt das Holz – und glaubt jetzt, daß der Tastsinn die Existenz des Tisches und die Perzeption der Augen endgültig verifiziert. Diese Bestätigungsidee erscheint mir sinnlos, da hier die Existenz einer Entität, die schließlich als Tisch identifiziert wird, immer schon vorausgesetzt wird.

B. P. Sie meinen, daß diese Vorstellung der Verifizierung bereits ontologisch kontaminiert ist, weil sie nahelegt, die Dinge seien „da draußen“ tatsächlich vorhanden.

H. F. Genau. Woher will man wissen, daß etwas schon da ist, dessen Vorhandensein man eigentlich erst verifizieren will? In der Sprache, die ich gerne verwenden würde, ersetze ich die Bestätigungsidee durch die Vorstellung einer Korrelation von Empfindungen: Man sieht etwas, man fühlt etwas – und die Korrelation zwischen den Empfindungen und der Gesamtheit der neuronalen Prozesse erzeugt eine Welt, die man einen Tisch, einen Würfel oder meine schöne Freundin mit den roten Haaren nennen kann. Die Korrelation der Empfindungen ist aus meiner Sicht die Voraussetzung für das, was Sie den Nuancenreichtum der Welt genannt haben: Weil diese Empfindungen alle so verschieden sind, weil hier ständig Verschiedenes, was sichtbar, hör- und fühlbar ist, korreliert wird, entsteht dieser Reichtum der Wahrnehmungen und die faszinierende Buntheit der Welt, die sich genießen läßt.

Ein ganz kurzes Theaterstück

B. P. Darf ich aus einer anderen Perspektive einen weiteren Anlauf versuchen, um die Annahme zu begründen, daß es einen systematischen Zusammenhang zwischen unseren Wahrnehmungen und der wirklichen Welt geben muß? Man könnte doch argumentieren, daß sich im Laufe der Evolution, der menschliche Wahrnehmungsapparat durch beständige und mitunter tödliche Versuche und Irrtümer an die Wirklichkeit des Gegebenen angepaßt hat. Das war die Auffassung des Ethologen und evolutionären Erkenntnistheoretikers Konrad Lorenz, der meinte, es gebe im Laufe der Evolution eine allmähliche Annäherung an das kantianische „Ding an sich“, die wirkliche Welt. Grob realitätsverfehlende Konstruktionen würden schlicht und einfach durch den Mechanismus der Selektion zerstört.

H. F. Da kann ich nur ausrufen: „Armer Konrad!“ Diese Annahme ist das Resultat seiner Evolution und seines beständigen Versuchs, zusammen mit seinen Mitarbeitern die eigenen Erlebnisse und Beobachtungen nach dem Prinzip der Ähnlichkeit, das seinerseits auf die Linnésche Taxonomie zurückgeht, zu korrelieren. Auf diese Weise haben die kognitiven Eigenschaften von Carl von Linné, Konrad Lorenz und vielen anderen, die im Pflanzen- und Tierreich nach Ähnlichkeiten suchten, schließlich die faszinierenden Ahnenreihen einer Evolution entstehen lassen. Man hat klare Verhältnisse geschaffen, die Pflanzen und die Tiere auf eine Weise eingeordnet, die ihre Ähnlichkeit als eine begrüßenswerte Eigenschaft erscheinen ließ und es gestattete, eigene Beobachtungen auf die gewünschte Weise miteinander zusammenhängen zu lassen, die Giraffe und die Ziege in Beziehung zu setzen und den Frosch und die Giraffe weit auseinanderzurücken. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es auch einmal eine Zeit gab, in der man die Ähnlichkeit der Empfindungen zur Basis der Kategorisierung von Pflanze und Tier gemacht hat. Man denke hier nur an die frühen Taxonomien des Ulisse Aldrovandi aus dem 16. Jahrhundert, der die scheußlichen Tiere (die Spinnen, Molche und Schlangen) und die Schönheiten (die Leoparden, die Adler usw.) zu eigenen Gruppen zusammenfaßte. In der Gegenwart ist es eben Mode, andere Eigenschaften als Kriterium zu wählen und ein Evolutionsmodell zu konzipieren, das einen zu derartigen Aussagen führt.

B. P. Ist dieser kleine Exkurs zur Geschichtlichkeit biologischer Taxonomien wirklich eine Antwort auf Konrad Lorenz und die Thesen der evolutionären Erkenntnistheoretiker? Lorenz schreibt ja: „Die Anpassung an bestimmte Bedingungen der Umwelt ist äquivalent dem Erwerb von Information über diese Umweltbedingungen.“

H. F. Ich kann nur wiederholen: Es ist eine bestimmte Vorstellung, mit der wir es hier zu tun haben, die solche Aussagen entstehen läßt. Man stellt vor dem Hintergrund besonderer geschichtlicher und sozialer Bedingungen die Frage nach der Entstehung der Arten, behauptet, daß sich eine allmähliche Anpassung an die Umwelt vollzieht. Und auf diese Weise wird das, was wir die Umwelt nennen, zur externen Determinante des Innern.

B. P. Sie fragen gar nicht, wenn ich richtig verstehe, danach, wer hier recht hat und im Besitz der Wahrheit über die Entstehung der Arten, die Existenz und Prägekraft einer Umwelt und des Phänomens der Anpassung ist, sondern Sie setzen einfach eine andere Auffassung gegen jene, die Konrad Lorenz vertritt.

H. F. Ganz richtig; mir geht es nicht um diese schreckliche Frage, wer ein für allemal im Recht ist; eine solche Diskussion, in der nur Intoleranz und Streit regieren, interessiert mich nicht. Ich bin niemand, der andere Gedanken widerlegen möchte – und dabei den Fehler macht, sich in den anderen zu verbeißen und ihm auf diese Weise immer ähnlicher zu werden. Ich möchte lediglich für eine andere Sicht plädieren, ich will darauf aufmerksam machen, daß man die Sätze eines Konrad Lorenz durchaus umdrehen kann, ja, daß sich überhaupt alles, was so geredet wird, auch auf den Kopf stellen läßt. Wenn wir uns beispielsweise, wie ich gerne nahelegen möchte, als die Erfinder und Erzeuger unserer Umwelt verstehen, dann existiert das Problem der Anpassung überhaupt nicht. Es verschwindet. Denn man kann doch nicht etwas erfinden, was man nicht erfinden kann und was nicht zu einem paßt. Also sind wir immer und in jedem Fall angepaßt. Und diese Einsicht ist es, die, so meine ich, den Menschen näher zum Menschen bringt: Er wird zum Vater oder zur Mutter aller Dinge und aller Erscheinungen.

B. P. Um den Kontrast und die Verschiedenheit der Auffassungen ganz deutlich zu machen, ist es vielleicht sinnvoll, diese in der Sprache der Kausalität zu reformulieren. In der These von Konrad Lorenz wird der Umwelt (und nicht dem Beobachter) das Primat gegeben. Oder in der Sprache der Kausalität: Die Umwelt ist die Ursache der Erfahrungen; und die Folge ist die Anpassung, die mit der allmählichen Erkenntnis der wirklichen Welt gleichgesetzt wird. Sie drehen dieses Wirkungsverhältnis um: Die Erfahrung des Organismus hat das Primat; die Beobachtungen sind die Ursache – und das Entstehen einer Welt, verstanden als eine Summe von Vorstellungen, ist die Folge.

H. F. Natürlich, so kann man das sagen, ja. Möglicherweise trägt auch ein ganz kurzes Theaterstück, das ich einmal geschrieben habe, zur Klärung bei. Dieses Theaterstück spielt seinerseits in einem Theater mit Publikum. Plötzlich geht der wunderschöne rote Samtvorhang auf – und der Blick auf die Bühne ist frei. Man sieht: einen Baum, eine Frau und einen Mann. Der Mann zeigt auf den Baum und sagt laut und theatralisch: „Dort steht ein Baum!“ – Darauf die Frau: „Woher weißt Du, daß dort ein Baum steht?“ – Der Mann: „Weil ich ihn sehe!“ – Darauf sagt die Frau mit einem kleinen Lächeln: „Aha.“ Und der Vorhang fällt. – Ich behaupte, daß dieses kleine Theaterstück sich dazu eignet, die jahrtausendalte Diskussion um die Fragen der Erkenntnis und die Rolle einer externen Welt zu erhellen, die bis vorgestern und bis hin zu Konrad Lorenz andauert. Seit Urzeiten beherrscht uns die unentscheidbare Frage, ob wir uns eher mit dem Mann verbünden sollen oder mit der Frau. Der Mann behauptet eine beobachterunabhängige Existenz des Baumes und der Umwelt; die Frau macht dagegen darauf aufmerksam, daß er von dem Baum nur weiß, weil er ihn sieht.

B. P.