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Wahrnehmung ist ein integraler Bestandteil menschlichen Handelns und kann als sinngebende Verarbeitung von Reizen verstanden werden. An Schulen mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung bildet die Wahrnehmungsförderung einen zentralen Bereich, weil mit Recht davon ausgegangen werden kann, dass hier nicht nur die visuelle oder auditive Wahrnehmung, sondern auch basale sensorische, motorische und kognitive Prozesse beeinträchtigt sind. Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse führt das Buch anschaulich in den Zusammenhang von Wahrnehmung und intellektueller Beeinträchtigung ein, stellt diagnostische Verfahren vor und zeigt praxisnah didaktische Maßnahmen für den Unterricht auf.
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Seitenzahl: 252
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Cover
Titelei
Vorwort der Reihenherausgeber
Zur Praxisreihe
Zu diesem Band
Vorwort
1 Wahrnehmungsförderung und intellektuelle Beeinträchtigung – einführende Überlegungen
2 Wahrnehmung als sinnliche Erkenntnis und Bedeutungserfassung
2.1 Unsere Sinne: Empfindung und Perzeption
2.2 Sinn und Bedeutung: Apperzeption und sinnliche Erkenntnis
2.2.1 Alltagerfahrungen und kindliche Entwicklung
2.2.2 Erfahrungen aus der Medizin
2.2.3 Erkenntnisse aus der Psychologie und Sonderpädagogik
2.2.4 Fazit
2.3 Einflussfaktoren und Kontextbedingungen
2.3.1 Interessen und Einstellungen
2.3.2 Emotionen und Wahrnehmung
2.3.3 Sprache und Wahrnehmung
2.3.4 Kultur und Wahrnehmung
3 Beeinträchtigungen und Hindernisse im Wahrnehmen
3.1 Zum Personenkreis von Kindern und Jugendlichen im SGE
3.2 Wahrnehmungsstörungen als Funktionsschwächen?
3.3 Beeinträchtigungen im sensorischen Bereich
3.4 Beeinträchtigungen im motorischen Bereich
3.5 Beeinträchtigungen im kognitiven und sprachlich-kommunikativen Bereich
3.6 Beeinträchtigungen im Bereich sozialer Erfahrungsaneignung
3.7 Fazit
4 Wahrnehmung fördern: Diagnostik, Ziele, Inhalte und Methoden
4.1 Diagnostische Grundlagen und Erfordernisse
4.1.1 Spezifische Verfahren
4.1.2 Heilpädagogische Möglichkeiten und Erfordernisse
4.2 Übergreifende didaktische und methodische Prinzipien
4.3 Perzeption und Beachtung figuraler Merkmale
4.3.1 Die Sinnesschulung nach Montessori
4.3.2 Snoezelen
4.3.3 Visuelle Wahrnehmung – das Frostig-Programm
4.3.4 Visuelle Wahrnehmung – das PERTRA-Programm
4.3.5 Sinneserziehung im Alltag
4.4 Wahrnehmung und Körpererfahrung
4.4.1 Basale Stimulation
4.4.2 Köperwahrnehmung: Psychomotorik
4.4.3 Schwerpunkt Gleichgewicht: Sensorische Integration (SI) nach J. Ayres
4.4.4 Taktil-kinästhetische Wahrnehmung: Führen und Spüren nach Félicie Affolter
4.5 Wahrnehmen und Handeln in der gegenständlichen Welt
4.5.1 Zum Verhältnis von Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz
4.5.2 Wahrnehmen im Spiel
4.5.3 Wahrnehmen im Schulalltag
4.5.4 Realisierung in Vorhaben und Projekten
5 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Register
Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung
Herausgegeben von Dr. Holger Schäfer und Dr. Lars MohrBand 4
Der Autor
Prof. Dr. phil. habil. Erhard Fischer unterrichtete an Schulen für blinde und sehbehinderte Schülerinnen und Schüler sowie an Schulen mit den Förderschwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung. An der Julius-Maximilians-Universität-Würzburg war er bis 2018 Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei geistiger Behinderung. Er ist Beiratsmitglied und Mitherausgeber der Fachzeitschrift LERNEN KONKRET.Kontakt: [email protected]
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1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-040768-8
E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-040769-5epub:ISBN 978-3-17-040770-1
Dr. phil. Holger Schäfer (*1974) ist Förderschulrektor und Schulleiter (SGE) sowie Lehrbeauftragter am Institut für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er ist Beiratsmitglied und Mitherausgeber der Fachzeitschrift LERNEN KONKRET.Kontakt: [email protected]
Dr. phil. Lars Mohr (*1976) ist Sonderpädagoge und Dozent am Institut für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) sowie Lehrbeauftragter am Departement für Sonderpädagogik der Universität Fribourg.Kontakt: [email protected]
Die Praxisreihe »Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung« beschäftigt sich
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mit zentralen didaktischen und methodischen Fragestellungen der Unterrichtsgestaltung,
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angemessenen Möglichkeiten eines pädagogischen, interdisziplinären Zugangs und konkreter Intervention
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sowie organisatorischen und strukturellen Aufgabenstellungen der Schulentwicklung im Kontext intellektueller Beeinträchtigung.
Die praxisnahen Anregungen berücksichtigen pädagogische und unterrichtliche Belange sowohl in Förderschulen als auch in einem inklusiven Setting unter den jeweiligen Bedingungen.
Die Autorinnen und Autoren sind tätig in der Aus- und Weiterbildung für Lehrpersonen bzw. für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und ausgewiesene Expertinnen und Experten in ihrem Fachbereich. Sie verfügen über Praxiserfahrungen und stellen das jeweilige Themenfeld in einem kompakten Bild ausbildungswirksam sowie mit konkreten unterrichtspraktischen Bezügen dar.
Die Ausführungen sind grundsätzlich bundeslandübergreifend, beziehen Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Raum ein und orientieren sich an den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen. Nationaler wie auch internationaler Forschungsstand finden Berücksichtigung.
Als besondere Hinweise werden neben wichtigen Definitionen und Begrifflichkeiten auch Exkurse als in sich geschlossene Abschweifungen sowie Literaturempfehlungen und Beispiele aus der Praxis grafisch hervorgehoben:
kennzeichnet Definitionen und Begriffsklärungen.
deutet auf Praxisbezüge und weiterführende Ideen hin.
verweist auf weiterführende Literatur.
bietet Links zu Quellen im Internet (zuletzt geprüft am 01. 03. 2024).
Die Praxisreihe möchte eine Lücke schließen in der Grundlagenliteratur für die Aus- und Weiterbildung im Studium und Referendariat sowie für die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis, denen nun in einer stringenten methodischen Aufarbeitung die zentralen Themenfelder für die Gestaltung von Unterricht und die Schulentwicklung im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE) kompakt und aus einem Guss zur Verfügung stehen.
Dabei ist uns bewusst, dass in der Pädagogik für Schülerinnen und Schüler im SGE eine Vielfalt an Begriffen herrscht, die der Bezeichnung des Personenkreises dienen sollen. Man spricht und schreibt etwa von Lernenden mit kognitiver Beeinträchtigung, mit (zugeschriebener) geistiger Behinderung oder mit Lernschwierigkeiten (um nur wenige Beispiele zu nennen). In unserer Buchreihe kommen zudem Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Regionen und Ländern zu Wort, mit entsprechend unterschiedlichen Formulierungsneigungen.1 Wir haben uns mit ihnen dankenswerterweise auf eine einheitliche Begriffsverwendung verständigen können: Im vorliegenden wie in den übrigen Bänden ist die Rede von Kindern und Jugendlichen im »sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE)« oder – angelehnt an den internationalen Sprachgebrauch – »mit intellektueller Beeinträchtigung«. Demgemäß haben wir auch der Buchreihe als Ganze den Titel »Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung« gegeben.
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Folgende Bände sind bereits erschienen: Wirtschaft-Arbeit-Technik (Isabelle Penning), Konzepte, Verfahren, Methoden (Hans-Jürgen Pitsch & Ingeborg Thümmel), Unterricht bei komplexer Behinderung (Holger Schäfer, Thomas Loscher & Lars Mohr) sowie Praxiswissen Schulhund (Holger Schäfer, Karin Schönhofen & Andrea Beetz).
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Folgende Bände befinden sich in Vorbereitung: Unterstützte Kommunikation (Melanie Willke & Karen Ling), Herausforderndes Verhalten (Lars Mohr & Alex Neuhauser), Unterricht gestalten (Arian Bühler & Albin Dietrich), Diagnostik und Förderplanung (Frauke Janz & Stefanie Köb), Psychische Störungen (Pia Bienstein), Autismus (Remi Frei), Sport und Bewegung (Christiane Reuter) (Hrsg.).
Weitere Hinweise zur Praxisreihe unter https://shop.kohlhammer.de/suib
Die Reihenherausgabe erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH Zürich (www.hfh.ch).
»Wir müssen das Kind verstehen, bevor wir es erziehen« – der Grundsatz von Paul Moor (1965, 43) hat über die Jahrzehnte nichts an Aktualität verloren. Geändert hat sich in der Pädagogik bei intellektueller Beeinträchtigung aber mitunter die Schwerpunktsetzung, die Fokussierung des Blicks, mit der an dem »Verstehen des Kindes« gearbeitet wird. In den 1980er- und 1990er-Jahren war die Wahrnehmung ein Thema, das in den Fachveröffentlichungen mehr im Vordergrund stand, als es heute der Fall zu sein scheint – abgesehen von den Wahrnehmungsphänomenen, die für das Autismus-Spektrum typisch sind. Man wollte »das Kind verstehen«, indem man versuchte, seine sinngebende Verarbeitung der Wirklichkeit, so gut es ging, nachzuvollziehen. Eine maßgebende Einsicht war es dabei, dass wir als Pädagoginnen und Pädagogen keinen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Kinder haben. Wir können nicht direkt in sie »hineinwirken«, wie es Andreas Fröhlich (1996, 7) ausgedrückt hat. Wir können die Umwelt gestalten, Informationen darbieten, strukturieren, anreichern, kontrastieren, vereinfachen – aber das Aufnehmen (von Informationen), das Verarbeiten und Umsetzen ins Handeln sind eigenaktive Vorgänge des jeweiligen Individuums (ebd.).
Auch wenn es in der heutigen Pädagogik bei intellektueller Beeinträchtigung weniger stark hervorgehoben wird als ehedem, so ist die Wahrnehmung doch als beständiger Teilprozess des Austauschs von Mensch und Umwelt bei praktisch allen Fachthemen, die uns beschäftigen, mit angesprochen, sei es in der Kommunikation (und ihren Unterstützungsmöglichkeiten), im gegenständlichen oder sozial-emotionalen Lernen, in der Motorik oder bei Fragen herausfordernden Verhaltens, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wir halten es daher für angebracht, der Wahrnehmung in unserer Buchreihe zu Schule und Unterricht bei intellektueller Beeinträchtigung einen eigenständigen Platz einzuräumen. Sie ist und bleibt unser Fenster zur Welt. Sie schafft die Basis für das Ausbilden von Fähigkeiten, das Verstehen von Zusammenhängen und für eine individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben: ohne Wahrnehmung kein Lernen. Sie ist damit – um es erneut mit Moor zu sagen – ein zentraler Themenaspekt in »einer dem heilpädagogischen Gegenstande angemessenen Psychologie« (1965, 43), als Grundlage für die Gestaltung des Unterrichts und des Zusammenlebens in der Schule.
Bernkastel-Kues und Zürich, Frühjahr 2024Dr. Holger Schäfer und Dr. Lars Mohr
1Wir sprechen in unserer Praxisreihe immer von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern, weitere Geschlechter bitten wir mitzulesen und gedanklich einzubeziehen. Auch in diesem Kontext konnten wir uns dankenswerterweise mit dem Verlag sowie den Autorinnen und Autoren der Praxisreihe auf eine lesbare Form verständigen.
Als ich vor fast 50 Jahren im Rahmen meines Studiums in Mainz in einem Seminar von Heinz Mühl das erste Mal mit dem Thema Wahrnehmung konfrontiert wurde, ging ich davon aus, dass es dabei vor allem um die Diskrimination von äußeren Reizen von Gegenständen und Situationen (vor allem im visuellen und auditiven Bereich) geht, und dass Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung in diesen Bereichen aufgrund von Wahrnehmungsschwächen intensiv gefördert werden müssten. Eine weitere Annahme bestand darin, dass dies ausreichend und effektiv mit auf dem Markt befindlichen didaktischen Materialien, bspw. mit solchen von Maria Montessori, geschehen könnte.
Die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur aus dem Bereich der Wahrnehmungspsychologie und solchen aus dem heilpädagogischen Bereich verstärkten zunächst diesen Eindruck. Angeregt durch Heinz Mühl stieß ich allerdings auch auf Veröffentlichungen, die einen ganz anderen Schwerpunkt beleuchteten, dass nämlich Wahrnehmung im Kern auch bzw. vor allem darin besteht, dem Kind über die Sinne die es umgebende Welt in ihrer mannigfaltigen Bedeutungsvielfalt zu erschließen, und ihm zu helfen, sich in dieser zu orientieren. Dieser Blick führt dazu, dass sich auch die Art der Förderung von Wahrnehmung verändert, weg von eher isolierten Übungen und Programmen und hin zu einem ganzheitlichen sowie handlungs- und situationsbezogenen Vorgehen.
Diese veränderte Schwerpunktsetzung erklärt u. a., warum vor allem im theoretischen Teil in den Eingangskapiteln der vorliegenden Veröffentlichung nicht selten auch ältere Publikationen herangezogen und zitiert werden, weil nämlich vor allem in solchen der Aspekt einer sinnlichen Erschließung bzw. das »Wahr-nehmen« von Dingen und Situationen thematisiert wird – so bei Allport (1955) oder Gibson (1969) in den USA oder Vertretern der kulturhistorischen Schule wie Rubinstein (1977) oder Leontjew (1977) in der ehemaligen Sowjetunion. Das Thema Wahrnehmung hat mich in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr losgelassen und mündete in eine Reihe von Publikationen wie dem erstmals 1998 erschienen Buch »Wahrnehmungsförderung. Handeln und Sinnliche Erkenntnisse bei Kindern und Jugendlichen« (Fischer 2003).
Die hier vorliegende Publikation fußt auf den dort ausführlich dargestellten theoretischen Grundgedanken, legt aber den Schwerpunkt auf die Ausgangs- und besonderen Bedarfslagen von Schülerinnen und Schülern im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung und auf die damit zusammenhängenden Erfordernisse.
Ich würde mich freuen, wenn die Leserinnen und Leser dieser Veröffentlichung meine Sicht auf das Phänomen Wahrnehmung teilen und möglichst viele der praxisbezogenen Hinweise und Beispiele in ihrer unterrichtlichen Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit intellektueller Beeinträchtigung nutzen und umsetzen können.
Cochem-Dohr, Frühling 2024Prof. Dr. phil. habil. Erhard Fischer
Sich selbst und seine Umwelt wahrnehmen zu können ist für alle Menschen, besonders aber für Kinder und Jugendliche, in ihrer Entwicklung höchst bedeutsam. Wahrnehmung bildet eine Grundlage für viele andere Entwicklungsbereiche. Nur so gelingt der Erwerb von Kompetenzen in der Fortbewegung, der Handmotorik, in Handlungs- und Denkprozessen, in der zwischenmenschlichen Verständigung oder im Aufbau von Kontakten und Selbstvertrauen. Wahrnehmung stellt somit über alle Altersspannen hinweg eine notwendige Voraussetzung für die Lebensbewältigung in der sozialen und dinglichen Umwelt dar.
Wenn sich bspw. ein Kind fortbewegt, einen interessanten Gegenstand sieht oder hört und diesen haben möchte, im Greiffeld aber nicht unmittelbar erreicht und sich dann in dessen Richtung fortbewegt, bis es ihn mit der Hand greift, festhält und betastet – dann ist die Voraussetzung gegeben, dass es diesen auch in seinen Handlungs- und Verwendungsmöglichkeiten begreifen kann. Später im Kindergarten und vor allem in der Schule ist es darauf angewiesen, zu sehen oder zu fühlen, was Lehrpersonen zeigen oder zur Exploration anbieten, oder zu hören, was die Mitschülerinnen und Mitschüler sagen und in der Interaktion wollen.
Aber auch im späteren Leben sind wir immer darauf angewiesen, dass Wahrnehmung funktioniert, oder besser gesagt gelingt: wenn wir bspw. zu Hause etwas kochen oder backen, uns im Straßenverkehr sicher bewegen oder wenn wir uns über Sprache oder andere Kommunikationswege beim Einkaufen verständigen. Auch in jedem Beruf sind wir auf eine möglichst effektive Wahrnehmung angewiesen, wenn bspw. ein Jugendlicher im Praktikum im Supermarkt sensomotorisch, also mit den Händen und über eine visuelle Kontrolle ein Regal auffüllt, eine junge Frau sich mit dem Fahrrad orientiert und selbstständig den Weg zu ihrem Arbeitsplatz in der nahegelegenen Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) findet, der Bäckergehilfe einen Teig knetet oder eine Musikerin über ihr Gehör den richtigen, den guten Ton trifft. Auch für den Bereich des außerberuflichen Lebens wie Hobby und Familie sind diese adaptiven Kompetenzen von großer Bedeutung zur Orientierung und Bewältigung eines guten Lebens (Sarimski 2016).
Die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen über die Sinnesmodalitäten erscheinen für uns Menschen unverzichtbar – dies wird im Besonderen dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was passiert, wenn Menschen einen länger andauernden starken Entzug von Reizen erleben bzw. erleiden.
Exkurs
Experiment Wahrnehmung (McGill-Universität Kanada)Unter der Fragestellung des Entzugs von Reizen wurde unter der Leitung des Psychologen Hebb zwischen 1951 und 1954 an der kanadischen McGill-Universität folgendes Experiment durchgeführt: College-Studenten hatten nichts weiter zu tun, als zwei bis drei Tage und Nächte auf einem bequemen Bett zu liegen, das sich in einem schallarmen, schwach beleuchteten Raum befand; sie trugen eine Spezialbrille aus Milchglas, so dass sie keinerlei Konturen erkennen konnten, sondern ein völlig gleichförmiges Gesichtsfeld hatten. Zur Verminderung von Berührungsreizen waren Hände und Arme bis zum Ellenbogen mit Spezialhandschuhen bedeckt. Jede Art von Umgebungsgeräusch wurde ausgeschaltet durch ein ständiges, vollkommen gleichförmiges weißes Rauschen, ein Gemisch aus allen Tönen, so wie Licht aus allen Farben besteht.
Der Reizentzug war damit noch keineswegs vollkommen; es handelte sich eigentlich nur um eine Reizsituation ohne Abwechslung für die Wahrnehmung. Dennoch hatte diese Situation für die an dem Experiment teilnehmenden Personen gravierende Folgen:
♦Zunächst versuchten sie, sich gedanklich mit irgendetwas zu beschäftigen, hatten mit der Zeit aber immer größere Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren, ließen ihre Gedanken treiben, fühlten sich dann aber zunehmend stimmungslabil und verwirrt.
♦Viele hatten Trugwahrnehmungen und Halluzination und erhebliche Schwierigkeiten, sich nach Beendigung des Experiments in ihrer Umwelt wieder zu orientieren (vgl. Legewie & Ehlers 1977, 49 ff.).
Aus der Deprivationsforschung (bspw. im Kontext sozialer Benachteiligung bei Armut, Behinderung usf.) gibt es zahlreiche weitere Untersuchungen mit ähnlichen Ergebnissen (Langmeier & Matèjcek 1977), wobei solche Situationen allerdings stets individuell und unterschiedlich verarbeitet werden.
Insofern verwundert es nicht, dass Wahrnehmung als ein zentraler Bereich und nicht zu vernachlässigender Schwerpunkt von Fördermaßnahmen in Kindertagesstätten wie auch im schulischen Bereich verstanden werden muss, vor allem in heil- und sonderpädagogischen wie auch in inklusiven Settings, wo Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung gefördert und beschult werden.
In der Regel wird davon ausgegangen, dass diese nicht oder noch nicht gut oder nur eingeschränkt sehen, hören oder fühlen (können), oder dass basale, sensorische Prozesse im vestibulären oder kinästhetischen Bereich gestört sind (▸ Kap. 3). Im Verständnis von intellektueller Beeinträchtigung ist davon auszugehen, dass die Beeinträchtigungen umfänglich sowie dauerhaft ausgerichtet sind – in der Regel ist von einer Intelligenzminderung sowie einer erheblichen Einschränkung der adaptiven Kompetenzen auszugehen (Dworschak & Kölbl 2022, 175 ff.).
Auch in den aktualisierten Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) für den sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (SGE) von 2021 wird darauf hingewiesen, dass für die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Schwerpunkt Geistige Entwicklung kognitive, kommunikative, emotionale, soziale und motorische Kompetenzen zu stärken sind, und weiter heißt es hier: »Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, sich und die Umwelt wahrnehmen zu können« (KMK 2021, 6) (Infokasten KMK 2021).
Empfehlungen KMK (2021) (Auszug)
»Sich selbst und die Umwelt mit allen Sinnen bewusst wahrzunehmen und diese Eindrücke in das persönliche Erleben und Handeln zu integrieren, beeinflusst und erweitert die individuellen Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten und unterstützt die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Die gezielte Ansprache einzelner Sinnesbereiche unterstützt gleichzeitig den Prozess der Differenzierung, Strukturierung und Integration von Wahrnehmungsleistungen. Besonders bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die haptisch-taktile, die vestibuläre und die propriozeptive Wahrnehmung« (KMK 2021, 8 f.).
Wie aber soll und kann dies geschehen? Folgt daraus, dass die Einrichtungen zu dem ein und anderen auf dem Markt erhältlichen Programm zur Wahrnehmungsförderung greifen sollen, bspw. den Sinnesmaterialien von Maria Montessori, oder zu dem auf den visuellen Bereich ausgerichteten Programm von Marianne Frostig oder eher auf vestibuläre Stimulation zielende Angebote im Kontext einer sensorischen Integration nach Jean Ayres? Und was soll damit gefördert bzw. welche Sinne sollen geschult werden? Die Diskrimination von Farben und Formen im visuellen Bereich oder von Tonhöhen oder anderen akustischen Qualitäten im auditiven Bereich? Und sollten die Maßnahmen dann möglichst strukturiert und kleinschrittig durchgeführt werden, verbunden mit der Hoffnung, dass so vermeintliche Defizite abgebaut und die Wahrnehmung befördert und die Entwicklung beschleunigt werden kann?
In diesem Zusammenhang soll beispielhaft ein Katalogausschnitt gezeigt werden. Hier existiert in dem Materialangebot für »Therapie, Betreuung und Altenpflege«2 die Rubrik »Sinne, Wahrnehmung und Kognition«, in der auf den Seiten 83 bis 144 zahlreiche einzelne Medien angeboten werden, aber u. a. auch umfängliche und übersichtlich in Boxen verpackte Sets, mit den Hinweisen, die sinnliche Wahrnehmung im visuellen, taktil-haptischen, auditiven, olfaktorischen und gustatorischen Bereich fördern sowie räumliches Vorstellungsvermögen und Tiefensensibilität aktivieren zu können.
Abb. 1.1:Katalog-Ausschnitt aus dem Angebot zur taktilen Wahrnehmungsförderung (https://catalog.haba-pro.com/de/care/haba-pro-care-23.pdf#84)© HABA Sales GmbH & Co. KG
Allerdings stellt sich die Frage, ob bei solchen, sicherlich gut strukturierten und handwerklich solide konstruierten Materialien und Angeboten nicht die Gefahr besteht, dass sie an dem Kern dessen vorbeigehen, was eigentlich Wahrnehmung bezwecken will und soll. Im Sinne einer didaktischen Annäherung (also den Blick gerichtet auf den Gegenstand des Unterrichts und der Vermittlung) stellen sich hier insbesondere folgende Fragen:
♦
Fehlt hier nicht eine Besinnung darauf, was Schülerinnen und Schüler (mit intellektueller Beeinträchtigung) eigentlich über ihre Welt und Wirklichkeit Wichtiges und Neues erfahren sollen (und müssen)?
♦
Erfordert die Ausgangsfrage nach dem Sinn und Zweck der Sinne nicht eine funktionsübergreifende, ganzheitliche Sichtweise, weil Wahrnehmung mehr ist als die Unterscheidung und Verrechnung von äußeren, formalen Reizen?
♦
Ist Wahrnehmung nicht ein notwendiger und integraler Bestandteil menschlichen Handelns und kann (bzw. muss) sie nicht als sinngebende Verarbeitung von Reizen, als Akt der Sinnstiftung bzw. Zuweisung von Bedeutungen beschrieben werden?
Diese Fragen stellen sich nicht zuletzt deshalb, weil Kinder und Jugendliche, auch solche mit sensorischen, körperlichen und intellektuellen Beeinträchtigungen immer intentional auf der Grundlage der bisher erworbenen und gespeicherten sinnlichen Erfahrungen und Erkenntnissen handeln und sich nur so in der dinglichen und sozialen Lebenswirklichkeit orientieren können.
Wir sehen doch gewöhnlich nicht ein figurales, farbiges und ausgedehntes Etwas, sondern einen Gegenstand oder eine Person. Wir sehen das vor uns liegende Buch, das wir lesen wollen, oder den neben uns sitzenden Menschen, mit dem wir uns unterhalten können. Man erfasst beim Hören eines Glockentons gewöhnlich nicht bewusst dessen Tonhöhe und Lautstärke, sondern entnimmt ihm (in Abhängigkeit von einem situativen Kontext) eine bestimmte Bedeutung: die Ankündigung des Mittagsessens, einer Person an der Tür, einer herankommenden Straßenbahn oder das Ende der Pause. Wenn wir einen Gegenstand in der Hand halten, unterscheiden wir gewöhnlich nicht bewusst dessen Form, Ausmaße oder Oberflächenbeschaffenheiten, sondern erkennen bzw. identifizieren ihn als Apfel, Banane, Bleistift oder als ein anderes konkretes Objekt.
Das heißt: Die menschliche Wahrnehmung ist gegenständlich und sinnerfüllt, und lässt sich nicht auf eine nur reizmäßige (biologisch-physikalische) Grundlage reduzieren. Wir nehmen nicht Empfindungsbündel und nicht Strukturen wahr, sondern Gegenstände, die eine bestimmte (auch individuell persönliche) Bedeutung haben, die uns Handlungsoptionen anzeigt. In etlichen psychologischen Fachpublikationen allerdings wurde die zentrale Rolle der Bedeutungshaltigkeit lange unzureichend erkannt bzw. behandelt, obwohl bereits in den 1950er Jahren Allport (1955) in dem Kapitel »The Unsolved Problem of Meaning« darauf hinwies:
»Im Bereich der Wahrnehmung scheint die Bedeutung in ihrer wichtigen Rolle als Erkenntnisgegenstand und Situationsmerkmal konsequent vernachlässigt worden zu sein, obwohl nahezu jeder andere Aspekt der Wahrnehmung recht gut ins Auge gefaßt worden zu sein scheint« (ebd., 537).
Entgegen einer eher funktional ausgerichteten Stimulierung und Förderung durch Sinnesmaterialien und im Rahmen traditioneller Förderansätze werden daher in diesem Buch vor allem Wege und Möglichkeiten aufgezeigt,
♦
wie eine auf sinnliche Erkenntnis ausgerichtete Wahrnehmung sich als interessengeleitetes Handeln in konkreten Alltagssituationen praktizieren lässt,
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wie Schülerinnen und Schüler mit intellektueller Beeinträchtigung lernen können, im tätigen Umgang mit bedeutsamen Gegenständen und Sachverhalten ihre Umwelt zu strukturieren und zu verstehen, und somit
♦
wie sich letztendlich das zentrale Anliegen der Entwicklung einer möglichst großen Selbstständigkeit und damit verbunden der Vorbereitung einer partizipativen Lebensführung erreichen lässt (Fischer & Schäfer 2021).
Eine solche Gestaltung von Strukturierungs- und Verstehensprozessen ermöglicht grundsätzlich das kindliche Spiel (aktuell Heimlich 2023) sowie in der Schule und im Unterricht in besonderem Maße ein handlungsbezogenes Lernen in Vorhaben und Projekten (Fischer 2004a und 2005). Wie dies geschehen kann, wird in diesem Band in zahlreichen praktischen Beispielen und Anregungen aufgezeigt.
Vorab wird in Kapitel 2 aus unterschiedlichen Perspektiven der Fokus auf Sinn und Bedeutung in der Wahrnehmung gelegt und aufgezeigt, wie sich im sozialen Kontext unter ganz verschiedenen Einflüssen und Lebensbedingungen bei jedem Kind eine bzw. seine Art des Wahrnehmens strukturiert (▸ Kap. 2).
Im darauffolgenden Kapitel 3 wird differenziert der Frage nachgegangen, was Kinder und Jugendliche im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung daran hindern bzw. be-hindern kann, sich ihre Welt über die Sinne individuell zu erschließen. Das Wissen um diese Barrieren ist wichtig, um im Kontext Schule und Unterricht bildungswirksame Strukturen entwickeln und angemessene Methoden nutzen zu können (Pitsch & Thümmel 2023) (▸ Kap. 3)
Darauf aufbauend werden in Kapitel 4 zunächst diagnostische Möglichkeiten und Verfahren vorgestellt, wie auch übergreifende didaktische und methodische Erfordernisse hinsichtlich der Förderung thematisiert (▸ Kap. 4). In den dann folgenden Abschnitten wird praxisnah aufgezeigt, welche Angebote einer Förderung der Wahrnehmung im Unterricht möglich und geboten sind, um gegenständliche wie auch soziale Sachverhalte zunehmend handelnd zu erfahren und sich die Welt in ihrer Bedeutungsvielfalt anzueignen, damit eine wirkungsvolle Teilhabe am gesellschaftlichen (auch beruflichen) Leben gelingen kann. Dabei werden auch in der Heilpädagogik bekannte Programme und Materialien zur Sinnes- bzw. Wahrnehmungsförderung angesprochen und deren Möglichkeiten wie auch Grenzen kritisch erörtert.
Ein besonderes Augenmerk in diesem Kapitel stellen Unterrichtsangebote und -situationen dar, in denen Schülerinnen und Schüler sich in möglichst alltäglichen Situationen ihre Welt erschließen können. Im Sinne einer inklusiven (nicht ausschließenden) Perspektive werden auch die besonderen Bedarfe und unterrichtlichen Erfordernisse bei Schülerinnen und Schülern mit schweren und mehrfachen Behinderungen thematisiert (Bernasconi 2019).
Neurophysiologische Grundlagen der Wahrnehmung
Der vorliegende Band widmet sich der Wahrnehmung aus einer pädagogischen Perspektive. Es geht also darum, wie Wahrnehmungs- mit Kommunikations- und Lernprozesse(n) zusammenhängen. Damit der Umfang des Buches dabei in einem sinnvollen Rahmen bleibt, sei auf eine Darstellung der neurophysiologischen Grundlagen von Wahrnehmungsvorgängen verzichtet. Es empfiehlt sich, für das Studium dieser Grundlagen andere Literatur heranzuziehen. Hingewiesen sei insbesondere auf das Buch zu medizinischen Grundlagen der Heilpädagogik von Thomas Hülshoff (2022).
2https://catalog.haba-pro.com/de/care/haba-pro-care-23.pdf
In der Psychologie und Sonderpädagogik tauchen im Zusammenhang mit den Begriffen Wahrnehmung und Wahrnehmungsförderung weitere Begriffe auf, die häufig nicht klar definiert sind, sich manchmal inhaltlich auch zu widersprechen scheinen und Verwirrung stiften. Im Folgenden wird daher versucht, Fachwörter wie Sinne, Empfindung, Perzeption, Apperzeption und Wahrnehmung zu umschreiben und so weit wie möglich voneinander abzugrenzen, auch wenn diese Begriffe in englischsprachigen Lehrbüchern, wie bspw. in dem Standardwerk zur Wahrnehmungspsychologie bei Goldstein (2008), so nicht unterschieden werden.
Empfindung wird häufig definiert als Teil bzw. Baustein der Wahrnehmung. Hehlmann (1968) beschreibt sie als »einfachste[n] und elementare[n] Bestandteil der Wahrnehmung, der durch Zergliederung nicht weiter zurückführbar ist« (ebd., 114). Empfindungen entstehen durch Einwirkung äußerer Reize auf Sinnesorgane oder durch im Körper ablaufende innere Zustände und sind »Hinweise für das Erleben von Eigenschaften der Dinge; auf niederen Bewußtseins- und Entwicklungsstufen haben sie vorwiegend Signalcharakter zur Auslösung lebenswichtiger Reaktionen und sind mehr oder minder gefühlsartig« (ebd.).
Hajos (1972) umschreibt Empfindungen »als die elementarsten, weiter nicht mehr zerlegbaren Einheiten des Bewußtseins mit den Eigenschaften der Qualität (Modalität), Intensität (selten: Quantität) und Extensität (raumzeitliche Ausdehnung)« (ebd., 15). Sie sind für ihn nützliche, aber akademische Abstraktionen. Holzkamp (1976; aktuell 2006) lehnt die Annahme von Empfindungen als Inbegriff von Bausteinen des Bewusstseins, »die von dem wirklichen Ding als Wahrnehmungsgegenstand zu trennen sind«, ab (ebd., 23).
»In der wirklichen Welt, die der Mensch wahrnimmt, gibt es keine Qualität Grün als solche, es gibt lediglich Gegebenheiten, die die Eigenschaft haben, grün zu sein. Die Qualitäten erscheinen mithin von vornherein als notwendig gebunden an Tatbestände, die in irgendeinem Sinne oder Grade eine Form, bestimmte Grenzen etc., also figurale Eigenschaften haben« (ebd., 23 f.).
Während einige Psychologen Perzeption mit Wahrnehmung gleichsetzen (vgl. Arnold, Eysenck & Meili 1976, 753; Hehlmann 1968, 412), kennzeichnen andere diesen Begriff als einen Teilprozess der Wahrnehmung, »der die Bewusstseinsschwelle nicht überschreitet« (Klaus & Buhr 1972, 923).
»Perzeption ist schlichte Wahrnehmung, wobei kognitives Auffassen, Einordnen in den Erfahrungsbestand und Bedeutungserfassung eines Wahrnehmungsinhaltes nicht ins Spiel kommen. Man kann etwa einen Satz klar und deutlich hören oder lesen, Mienen, Gesten und Gebärden unserer Mitmenschen sehen, also perzipieren, ohne daß wir deren Bedeutung auch nur annähernd verstanden hätten« (Katzenberger 1970a, 574).
Abb. 2.1:Physiologische und psychologische Komponenten der menschlichen Wahrnehmung (eigene Darstellung)
Die Abbildung 2.1 (▸ Abb. 2.1) soll die komplexen Zusammenhänge diesbezüglich veranschaulichen. Die gegenständliche und soziale Umwelt (1) eröffnet ein überaus reiches Potenzial an möglichen Reizen, die über die äußeren, an der Hautoberfläche befindlichen Sinnesrezeptoren bzw. Exterozeptoren (3) sowohl das Individuum affizieren wie auch von diesem aktiv gesucht werden.
Das Individuum wiederum reagiert nicht passiv, sondern sensomotorisch mit den Sinnen aktiv und in Bewegung auf die Umweltreize und leitet sie auf zuleitenden afferenten Bahnen (4) als bioelektrische bzw. biochemische Nervenimpulse über die zugleich aufnehmenden, auswählenden wie weiterleitenden Synapsen (5) ins Zentralnervensystem (ZNS) weiter, wo hauptsächlich in der Hirnrinde die zentrale Verarbeitung der Stimuli stattfindet. Ziel ist die Herstellung eines Gleichgewichts (Adaption) (2) mit der Umwelt.
Ähnlich werden Stimuli der inneren Organe des Körpers (interozeptive Wahrnehmung bzw. Organempfindungen) (6) und Stimuli der eigenen Muskeltätigkeit über die Propriozeptoren (7) zum ZNS geleitet. Dieses koordiniert und verarbeitet alle Impulse, die über die extero-, intero- und propriozeptive Tätigkeit aufgenommen werden. Dabei kommt es zu einem engen Wechselspiel zwischen sensorischen und motorischen Prozessen. Manche Stimuli, bspw. ein Haut- bzw. Juckreiz durch eine auf dem Arm sitzenden Mücke, werden, nachdem sie über die afferenten Bahnen das ZNS erreicht haben, über entsprechende Synapsen direkt zu den efferenten (wegführenden) Bahnen (8) geleitet und führen zur Auslösung einer entsprechenden Muskeltätigkeit (9), hier zu einem kurzen, ruckartigen Zucken des Armes. Dieser Prozess wird zwar psychisch erlebt, aber nicht willkürlich gesteuert, so dass von einem Reflex gesprochen werden kann.
Von der Muskeltätigkeit wiederum wird gleichsam eine Kopie gemacht, die auf dem Wege der Re-Afferenz (10) an das ZNS zurückgesendet wird, damit eine Verarbeitung und Steuerung hinsichtlich eines Erfolgs oder Misserfolgs der Handlung erfolgen kann. Noch komplexer laufen willkürliche und gesteuerte Wahrnehmungsprozesse ab. Beim Anblick eines Apfels bspw. werden über die afferenten Bahnen visuelle, sofern er bereits in der Hand gehalten wird, auch taktile Reize zum ZNS geleitet, die, je nach Bewertung und Interesse des Individuums, über die efferenten Bahnen bei den entsprechenden Muskelgruppen den Impuls bewirken, die Hand mit dem Apfel zum Mund zu führen und hineinzubeißen. Alle Handlungen bzw. Teilhandlungen werden wiederum zurückgemeldet (Re-Afferenz-Prinzip), was im Einzelfall zu einem komplexen Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Prozessen führt. Das Ganze stellt einen sensomotorischen Akt dar.
Aus all dem wird allerdings noch nicht deutlich, wodurch ein Stimulus ins menschliche Bewusstsein vordringt, warum er nicht nur von einem Rezeptor aufgenommen, sondern auch verarbeitet und weitergeleitet wird und bestimmte Handlungen nach sich zieht, während viele andere Umweltgegebenheiten als potenzielle Reize ohne Wirkung bleiben. Wie unten noch ausführlicher herausgearbeitet wird, ist dies abhängig einmal von elementaren Affekten (11), ob etwas als angenehm oder unangenehm erlebt wird, Wohl- oder Missbehagen auslöst oder mit bestimmten Gefühlen verbunden ist, aus denen heraus der Stimulus in seiner Bedeutung wahrgenommen wird (Trauer, Ablehnung oder Freude, Sympathie und Zustimmung). Entscheidend ist, wie der Reiz bzw. die Reizgestalt kognitiv (12) in der jeweiligen Situation und im Rahmen einer übergreifenden Handlung und eines gerade bestehenden Interesses (intentionaler Aspekt) (13) bewertet wird. Das So-oder-so-Wahrnehmen bzw. -Erleben ist ein Akt psychischer Verarbeitung. Die Stimuli-Komplexe werden in einem Akt der Sinnstiftung bzw. Bedeutungszuordnung als etwas Bestimmtes, d. h. in einer bestimmten Bedeutung erfasst.
Praxis
Wahrnehmung, Empfindung und basale AngeboteDie oben genannten Zusammenhänge verdeutlichen in einer ersten Zusammenstellung der physiologischen und psychologischen Komponenten der menschlichen Wahrnehmung in Abbildung 2.1 schon recht deutlich (▸ Abb. 2.1), dass es bspw. in der Anwendung basaler Angebotsformen (bspw. Stimulation, Berührung, Führen, Fühlen usf.) nicht zwangsläufig und vorhersehbar zu intentionalen Entwicklungen kommen muss bzw. kann, weil die Integration der Berührungen durch die Individualität der Schülerinnen und Schüler (sachlogischer Einordnung folgend) ganz spezifisch sensorisch erfasst und individuell verarbeitet wird. Dahingehende Hinweise im Kontext basaler Angebote liefert bspw. Christoph Gerhard (2019) mit seinen neurowissenschaftlichen Überlegungen zu den Grundlagen der Basalen Stimulation (ebd., 159 ff.).
Der Aspekt des Erkennens im Wahrnehmungsprozess als »bewusstes, klares und deutliches Erfassen von Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalten und Eingliedern in die schon vorhandene apperzeptive Masse«3 bzw. »das bewußte, aktive und kognitive Aufnehmen und Einordnen eines Wahrnehmungsinhaltes in die Gesamtheit des begrifflich geordneten Erfahrungsbestandes« (Hajos 1972, 16) wird von manchen Psychologen als Apperzeption bezeichnet. Ein solches Erkennen bzw. Einordnen kann gleichgesetzt werden mit Sinnerfassung, denn nur »wenn man den Sinn, die Bedeutung erfaßt hat, vermag man richtige Einordnungen zu vollziehen« (Katzenberger 1970a).Bei Klaus und Buhr (1972) wird Apperzeption als derjenige Teil der Wahrnehmung verstanden, in dem