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Was tut man, wenn man philosophiert? Nützt einem das etwas für das konkrete Leben? Der bekannte Autor und Fernsehjournalist Gert Scobel sagt: ja! Philosophie hilft einem, besser durch das Leben zu kommen, glücklicher zu werden und die Welt klarer und genauer zu sehen. In seinem neuen Buch zeigt er dies auf unterhaltsame und verständliche Weise und schildert, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Er führt in Grundprinzipien des Denkens und in verschiedene Denkstile ein und öffnet den Werkzeugkasten philosophischer Methoden. Eine spannende, notwendige und aktuelle Klärung der Frage, was man tut, wenn man nachdenkt – und wozu das gut sein kann.
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Seitenzahl: 825
Gert Scobel
Warum wir philosophieren müssen
Die Erfahrung des Denkens
Fischer e-books
Für Ally,
die wie viele Lebewesen im traditionellen Sinn nicht denken kann, es aber immer wieder versteht, mich auf verblüffende Weise denken zu lassen, dass sie es tut. Vielleicht reicht ihr das. Immerhin verdanke ich ihr einige inspirierende gemeinsame Gedanken-Gänge. Müsste ich Ally philosophisch einordnen, würde ich sie keinesfalls zu den Kynikern (griechisch von κύων, Hund) rechnen, obwohl sie ein Hund ist. Ally gehört eher zu den karnivoren Pragmatikern. Und sie hat definitiv einen Hang zum Hedonismus. Was uns beide, allen Barrieren zum Trotz, darüber hinaus verbindet, ist vielleicht wichtiger als denken. Wie alle fühlenden Wesen müssen wir sterben, was wir, durchaus, bedauern.
Dunkeljraue Himmel, met dä Strömung e’ wieß Scheff
Dat määt bess noh Holland nirjendwo mieh fess.
Blädder sinn all unge, leer die Uferbäum,
Nix wat dä Bleck ophällt, wenn mer vum Meer dräump.
Drusse flüüß dä Rhing vorbei, Richtung Rotterdam,
Un dann endlich enn die See.
Noh all dänne Johre
Die Unruh enn dä Seel
Un dat Jeföhl wie op dä Durchreis,
Irjendwo zwesche Start un Ziel.
Dunkelgrauer Himmel, mit der Strömung ein weißes Schiff,
Das macht bis nach Holland nirgendwo mehr fest.
Blätter sind schon unten, die Uferbäume leer,
Nichts, was den Blick aufhält, träumt man dann vom Meer.
Draußen fließt der Rhein vorbei, Richtung Rotterdam,
Und dann endlich in die See.
Nach all diesen Jahren
Die Unruhe in der Seele
Und das Gefühl wie auf der Durchreise,
Irgendwo zwischen Start und Ziel.
Noh All Dänne Johre, Wolfgang Niedecken/BAP
BAP, Die Songs 1976–2011, Hamburg 2012, S. 620ff
Es geht in diesem Buch darum, etwas zu verstehen, das Sie alle gut kennen, sehr gut sogar. Sie machen täglich Gebrauch davon. Es ist da, wenn Sie aufstehen (oder kurz danach). Es begleitet Sie, oft unbewusst, nahezu in jedem Moment Ihres Lebens. Sie verlassen sich darauf, dass Sie es richtig machen. Und dann lässt es Sie plötzlich doch im Stich. Wir alle haben unsere Erfahrungen mit dem denken gemacht.[1] Und doch bin ich mir sicher, dass Sie sich gar nicht so sicher darüber sind, was Sie eigentlich tun, wenn Sie denken. Denken ist alltäglich, sicher. Aber aus der Tatsache, dass etwas alltäglich und selbstverständlich ist, folgt längst noch nicht, dass wir es auch verstehen. Wissen Sie, was in Ihnen vor sich geht, wenn Sie denken? Wo sind Sie, wenn Sie denken – und wohin kommen Sie dann wieder zurück? Was genau geht in Ihnen vor, wenn Sie über sich, Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Beziehungen nachdenken? Wo bringt Sie das denken hin? Und wenn es Sie irgendwo hinbringt – gibt es keinen anderen Weg, dorthin zu kommen? Ist das schnelle denken besser oder das denken, das Umwege geht, das wartet? Und wenn man durch denken sich selber, andere Menschen oder die Welt besser verstehen kann – warum ereignet sich dann manches »Verstehen«, manche »Erkenntnis« keineswegs bewusst, sondern unbewusst? Begleitet Sie das denken nicht auf eine seltsam veränderte Art und Weise bis in die Träume hinein? Ist die Vorstellung, wirklich frei denken zu können, womöglich selbst ein Traum?
In diesem Buch geht es um die bewusste Tätigkeit des denkens, das ein in den Körper tief eingebundenes Geschehen ist. Deshalb ist denken, und das wird Sie womöglich überraschen, vor allem eine Erfahrung. Vielleicht ist Ihnen beigebracht worden, dass das sogenannte »rationale denken« die höchste, verlässlichste, ultimative und beste Form des denkens ist. Doch woher haben wir diese Rationalität? Gibt es so etwas wie eine Rationalität oder Vernunft außerhalb von uns, auf die wir uns zur Not berufen könnten so wie auf ein Gesetz, dessen Wortlaut ich in einem Buch finden kann, das ich aus dem Schrank nehme und aufschlage, um mich davon zu überzeugen, dass es genau so da steht? Wo aber steht dieses Buch der Vernunft? In Wahrheit existiert keine Vernunft ohne Körper. Man muss kein Neurowissenschaftler, Arzt oder Psychologe sein, um das zu erkennen. Wenn denken aber eine körperliche Erfahrung ist – wie kann sich das denken dann auf die Dinge außerhalb unseres Körpers beziehen, auf Ideen, Abstraktionen, die noch niemand gesehen hat: und schließlich auch auf die eigene Rationalität? Wie denken wir, wenn wir denken, das, was wir da tun? Wie denken wir denken? Und worauf beziehen wir uns dann? Zumal das hoch komplexe Geschehen, das wir auf bewusste Weise im denken erfahren, mit vielen anderen, ebenfalls hoch komplexen Vorgängen in uns und unserem Körper zusammenhängt, die uns nicht bewusst sind? Hängt nicht unser denken auch von Emotionen, Gefühlen, Stimmungen und Launen ab? Und auch von dem, was andere sagen oder geschrieben haben, also von Dingen, die gar nicht in unserem Kopf stattfinden? Sind wir in diesem Sinn also gar nicht richtig im Kopf, wenn wir denken? Wo aber sind wir dann – beispielsweise in einem intensiven Gedanken-Austausch? Vieles von dem, was wir von Moment zu Moment erfahren, geschieht unbewusst. Wir haben weder Kontrolle darüber, noch sind wir uns dessen, was ist, voll bewusst. Aber selbst wenn wir nicht bewusst denken, streifen noch Vorstellungen, Fetzen von Gedanken und Inhalten, unser Bewusstsein. Jeder, der Auto fährt, kennt das. Haben wir nun völlige Kontrolle über das denken oder nicht? Und wenn wir völlige Kontrolle erreichen könnten – gäbe es dann überhaupt noch einen Gedanken, der uns überraschen könnte? Oder einen neuen Gedanken?
Ein Teil unserer Erziehung zielt darauf ab, besser und genauer denken zu lernen. Wir verbringen einen nicht unwesentlichen Teil unserer Lebenszeit damit, mehr und mehr Kontrolle über diese Tätigkeit des denkens zu erlangen – und sei es auch nur, um in der Schule und später im Leben richtig rechnen zu können. Wir verwenden viel Zeit darauf: in der Kindheit bereits, in der Ausbildung und bei vielen anderen Gelegenheiten bis ins hohe Alter. Wann haben wir das denken, das wir üben, perfektioniert? Steht nicht immer wieder die Frage vor uns, nicht nur mit zunehmendem Alter, wohin uns das denken eigentlich führt? Und ob es das viele Nachdenken wert ist? Einstweilen machen wir weiter. Wir wollen Probleme lösen – und denken über sie nach. Denken ist ein Teil der Problemlösung, fast immer – beispielsweise weil wir versuchen, eine wichtige Lebensentscheidung richtig zu treffen. Wissen wir, wann etwas richtig und falsch ist? Wissen wir es durch das denken?
Das erste Ziel meines Buches besteht darin, die seltsame Erfahrung und Tätigkeit des denkens besser zu verstehen. Ich schreibe denken meistens lieber klein als groß, weil es »das« Denken nicht gibt. Was es gibt, ist denken als Vorgang, als Tätigkeit, als Erfahrung, die sich in der Zeit entwickelt. Seltsam ist die Erfahrung des denkens deshalb, weil wir oft nicht genau sagen können, was wir machen, wenn wir denken. Der bloße Vollzug einer Tätigkeit, die uns so bekannt und gewohnt, so alltäglich und selbstverständlich erscheint, dass wir nur selten über sie nachdenken, garantiert keineswegs, dass wir auch wirklich wissen, was wir da tun. Was also ist das uns Selbstverständliche eigentlich? Was tun wir genau, wenn wir denken? Was erfahren wir dann? Und wo sind wir, wenn wir denken?
Ziel Nummer eins:
zu klären, was die seltsame
Erfahrung des denkens ausmacht.[2]
Mein Buch verfolgt jedoch, gleichsam nebenbei, noch ein zweites Ziel, das mit dem ersten zusammenhängt. Obwohl das Buch keine thematisch umfassende oder gar chronologisch vorgehende Einführung in die Philosophie sein will und auch keine Philosophiegeschichte, so bietet es dennoch eine gute Möglichkeit, ins Herz der Philosophie zu geraten. Allerdings sage ich gleich, dass es »die« Philosophie nicht gibt. Philosophie existiert wie das denken auch nur als Erfahrung im Akt des philosophierens, der sich dann in seinen vielen Formen niederschlägt und zuweilen in Philosophien verfestigt. Aber worum handelt es sich dabei? Was ist philosophieren genau, und wozu brauchen wir es? Brauchen wir es überhaupt? Hilft philosophieren beispielsweise, besser durch das Leben zu kommen? Oder glücklicher zu werden? Sieht man die Welt klarer oder genauer, wenn man sie mit den Augen der Philosophie betrachtet? Und falls philosophieren tatsächlich hilft – in welcher Hinsicht hilft sie? Gibt es in diesem Fall nur eine richtige, hilfreiche, aber viele falsche Philosophien? Was macht die Falschheit aus? Und wenn es viele (richtige) Philosophien gibt: Wie kann man dann überhaupt von einem Fortschritt des philosophierens, ja von einem Fortschritt des denkens sprechen? Was bedeutet es, im philosophischen Denken einen Fortschritt zu erzielen?
Das zweite Ziel des Buches besteht darin, einige dieser Fragen zu beantworten und zu klären, was Philosophie als Disziplin genau ist, warum wir philosophieren – und vor allem: warum wir philosophieren müssen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Philosophie brauchen. Wir müssen unser philosophieren kultivieren, auch wenn es gegenwärtig (und ich vermute: immer schon) in der »normalen« Hektik des Lebens, im Lärm, Getriebe und Geschäft wenig Zeit dafür zu geben scheint und Philosophie nicht wirklich gefragt ist. Für einen Wirtschaftler, einen Politiker, einen Manager, Techniker oder Wissenschaftler gilt in der Regel, dass zu philosophieren etwas ist, das mehr mit Freizeit, mit Muße und Luxus zu tun hat als mit Notwendigkeit, mit der eigenen Arbeit oder dem eigenen »In-der-Welt-Sein«. Dabei hängt vom philosophieren ein entscheidender Teil, oder besser eine entscheidende Dimension dessen ab, was wir als Menschen sind und wer wir in Zukunft sein wollen.
Ziel Nummer zwei:
zu klären, was Philosophie ist
und wozu wir sie brauchen.
Was soll so entscheidend sein am philosophieren? Oder am denken? Jetzt, in diesem Moment, in dem Sie gerade lesen, aber auch in fast allen Alltagssituationen ist Ihnen denken so allgegenwärtig, so alltäglich, dass es das normalste von der Welt zu sein scheint. Ist nicht der Mensch das denkende Wesen? Doch ganz so einfach ist es mit dem denken nicht. Unser Denken fließt, das stimmt. Aber zuweilen scheint es auch still zu stehen, einzuschlafen, weil es gleichsam hart geworden ist und wir darauf warten, dass es sich wieder verflüssigt. Über das Denken nachzudenken erfordert gewissermaßen eine andere Art der Betrachtung, einen anderen Umgang mit dem denken als den alltäglichen. Philosophieren besteht daher nicht selten in nichts anderem als einer Umkehr der sonst üblichen Blickrichtung – damit das, was man tut, besser in den Blick geraten kann. Bildhaft gesprochen denken wir normalerweise gleichsam immer in die Richtung weiter, in die uns das Denken trägt. Wir denken, wie wir sehen: nach vorne. Wir folgen den Gedanken nach. Nur selten aber kehren wir diese Blickrichtung um und denken über das Denken nach und über das, was unser denken bewegt und treibt.
Dabei ist denken seit Jahrtausendenden da; es reicht weit zurück in unsere Geschichte und sogar in die Vergangenheit der Erde bis an jenen heiklen, vielleicht singulären Punkt, an dem sich die Ursprünge des Menschen endgültig verlieren, weil sich in allem, was über diesen Punkt zurückgeht, unsere Geschichte bis zur Unkenntlichkeit mit der Geschichte der Natur verbindet. Denken ist weitaus älter als alle abendländischen Überlieferungen aus den griechischen Stadtstaaten, älter als die Zeugnisse des ägyptischen Reiches, älter als die Weisheitstraditionen Indiens und sogar älter als die Höhlenzeichnungen von Lascaux oder die immer noch ins Herz treffenden Wandbilder und symbolischen Darstellungen der Chauvet-Höhle, in der sich neben den beeindruckenden Artefakten auch menschliche Fußspuren finden, die sich über mehr als 25000 Jahre im feuchten Lehm erhalten haben und vermutlich die ältesten datierbaren Abdrücke eines modernen Menschen sind. Es zeigt sich in all dem, an den Zeichnungen an der Wand, an den Schrifttafeln und Bauwerken – und ist doch selbst nirgendwo zu finden.
Irgendwann hat die Bewusstseinsdämmerung eingesetzt. Das denken begann, irgendwann, vielleicht schon beim Übergang vom tierischen zum vormenschlichen Leben. Sicher aber begann es zu der Zeit, die Paläoanthropologen meinen, wenn sie vom »modernen« Menschen sprechen. Irgendetwas ist in unseren Vorfahren erwacht und erwacht noch heute immer wieder und immer weiter in uns. Mit dem geistigen Augenaufschlag setzt die Entwicklung des Verstehens ein, dessen Ergebnisse nicht nur Poesie und Literatur, Musik und Bilder und vieles andere sind, sondern auch Wissenschaft, Technik und all das, was uns heute umgibt. Der Computer, an dem ich gerade sitze, das Buch, das Sie Wochen und Monate später in der Hand halten; all die Vorgänge davor und dazwischen – all das hat mit denken zu tun. Mit dem sich entwickelnden Denken entstand etwas, ein Fragen und Antworten, das eng mit der Menschwerdung verbunden war und bis heute verbunden geblieben ist. Vielleicht war und ist es einfach das: Wir suchen in einer überraschenden, zuweilen fremden, sich schnell verändernden Welt, die uns zum Leben gebracht hat, aber uns auch sterben lässt, nach Mustern. Nach Mustern in uns, in anderen Menschen, in der Natur, in dem, was wir tun – und denken. Wissenschaft und Poesie sind sich ähnlicher, als beide oft wahrhaben wollen. Beide knüpfen an einem Teppich, von dem wir hoffen, dass sein Muster uns unser wahres Bild zeigen wird.
Viele Jahrtausende nach der Bewusstseinsdämmerung bekam der Prozess des fragenden Verstehens der inneren und äußeren Welt einen Namen und wurde, je nach Zeit und kultureller Vorliebe, Kunst, Philosophie oder Wissenschaft, zuweilen auch Religion genannt. Heute ist »die« Wissenschaft in eine Vielzahl von Disziplinen aufgesplittert, die sich alle mit Teilaspekten der Wirklichkeit befassen, ohne sie im Gesamten zufriedenstellend beschreiben zu können. In einem Prozess, der oft langsam und stetig, zuweilen aber auch sprunghaft und revolutionär verlief, haben die Wissenschaften es verstanden, immer mehr Informationen, immer umfassenderes Wissen anzuhäufen und bestimmte Fragen, die uns früher quälten, klar und ein für alle Mal zu beantworten.
Doch einige der quälendsten Fragen sind geblieben – Fragen, die durch keine wissenschaftliche Antwort zum Schweigen gebracht werden können. Dies sind die philosophischen Fragen. Gleich wie man es nehmen will, so oder so: Die Evolution des Menschen ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des denkens – die bis heute die Geschichte unseres denkens, eines denkens der gesamten Menschheit ist. Die Erfahrung des denkens ist etwas, das alle Menschen verbindet. Wissen wir nicht alle zumindest ungefähr, insoweit, dass es für den Anfang zumindest reicht, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, dass wir alle denken? Darauf können wir uns beziehen und verlassen, diesseits aller Sprachen und Kulturen, jenseits aller Unterschiede.
Vielleicht klingt Ihnen der Ton ein wenig zu sehr nach Märchen. Tatsächlich haben viele Kulturen Mythen und Erzählungen, Märchen und später Theorien entwickelt, um ihren Ausgangs- und Bezugspunkt zu markieren: Skizzen der Welt, der Natur und des Menschen, die vom Versuch genau zu denken zeugen und doch in erster Linie noch nicht als philosophieren begriffen werden, weil diese besondere Tätigkeit »der jeweils reflektierten Periode einer jeden Gesellschaftsentwicklung« angehört.[3] Tatsächlich sind die Philosophien der verschiedenen Zeiten und Kulturen, soweit sie erhalten geblieben sind, keineswegs alle in Form akademischer Abhandlungen überliefert worden. Das philosophische denken in seiner heutigen akademischen Form markiert erst einen der letzten Schritte der Entwicklungen und liegt höchstens zwei, vielleicht drei Jahrtausende zurück (und manche kritischen Zeitgenossen würden sogar noch strenger datieren und sagen, dass es höchstens zwei, drei Jahrhunderte her sei). Jedenfalls ist die Geschichte des denkens, die all dem voraus liegt, untrennbar verbunden mit so unterschiedlichen Formen wie Erzählungen oder Mythen, Geschichten jedweder Form, Gleichnissen, Dialogen und Abhandlungen, Argumenten und Theorien oder anderen Formen des Sprechens und Schreibens und zuweilen auch Zeichnens, die heute eher der Literatur oder Kunst zugeordnet werden würden. Und doch bilden all diese Formen wie der Amazonas einen großen, weit verzweigten Fluss des denkens, der zuweilen außer Blick gerät und so groß erscheint wie ein See oder Meer, in dem kein Fluss mehr zu erkennen ist. Dann wieder verengt sich der Fluss des denkens zu einem kleinen, versiegenden Rinnsal. Am Ende fließt das Wasser ins Meer, bevor es von dort aufsteigt und weit entfernt über dem Land wieder abregnet. Man könnte, um im Bild zu bleiben, von einem Meer des Wissens sprechen, das in einen großen Kreislauf eingebunden ist. Oder moderner gesprochen von einem Netzwerk, das sich aus all unseren Überlieferungen, Erkenntnissen und Einsichten gebildet hat. Das Internet wäre dabei nur ein Teil, sozusagen der elektronisch-sichtbare Aspekt dieses Netzwerkes.
Ich sprach eben von den bleibenden, nicht nur durch Wissenschaft aufzulösenden Fragen. Diese eignen sich gut, um das Feld des philosophierens wenigstens skizzenhaft zu umschreiben. Streichen Sie einfach von allen Fragen, die Sie im Leben haben, diejenigen, die sich (früher oder später zumindest) durch reine Information, durch Wissen, Fakten oder Tatsachen beantworten lassen. Streichen Sie weiter die Fragen, die Sie mit Hilfe eines Wikipedia-Eintrages oder einer Google-Suche lösen können. Dann werden Sie feststellen, dass dennoch einige Fragen übrig bleiben, die sich nicht durch Prozeduren des Nachschlagens beantworten lassen. Auch mehr Informationen helfen nicht. Sie werden nicht durch mehr Fakten herausbekommen, was schön ist und wie sich Schönheit anfühlt. Diese Fragen sind die eigentlich philosophischen Fragen. In gewisser Weise handelt es sich dabei natürlich um sehr persönliche, private Fragen – was es umso erstaunlicher macht, dass es eine Art von »öffentlichem« philosophieren gibt. Diese Fragen beunruhigen uns, treiben uns immer wieder an, Lösungen, Antworten zu finden, auch wenn wir oft nicht weiter fragen oder suchen wollen, weil dieser Prozess etwas Quälendes an sich haben kann. Und auch weil die Aussicht darauf, das Fragen beenden zu können, nicht besonders groß erscheint. Dennoch werden Sie versuchen – ich würde behaupten: als wacher, aufmerksamer Mensch sogar versuchen müssen –, solche Fragen zu beantworten. Vermutlich werden Sie im Laufe dieses Antwort-Prozesses von Ihrer ersten Ausgangsfrage abrücken und zu anderen, neuen Fragen übergehen. Vielleicht liegt in dieser Veränderung der Fragen sogar der entscheidende Fortschritt der Erkenntnis in diesen seltsam feinen, sich leicht entziehenden »Dingen«.
In jedem Fall ist das, was Sie dann machen, wenn Sie den nicht auflösbaren Fragen nachgehen, denken. Ein Denken, das philosophieren ist. All den Philosophien unserer Welt ist, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam: diese Tätigkeit des denkens und die damit verbundene Erfahrung, die ein hoch komplexes, buntes und oftmals bis zum Zerreißen gespanntes Muster bildet, ein Netz, das sich in uns formt, und, wenn es passt, über uns und unserer Welt liegt. Wir alle gehen bewaffnet mit einer Fülle von philosophischen Ideen und Vorstellungen durch unser Leben, sagt der kalifornische Neurolinguist George Lakoff, mit dem ich mich vor zwei Jahren am Berliner Wissenschaftskolleg darüber unterhalten konnte. Wir haben Vorstellungen von allem: Moral, Politik, Gott, Wissen, Wissenschaft, dem Menschen, anderen Menschen, der menschlichen Natur, Ästhetik und so fort. All das haben wir von anderen Menschen übernommen, haben es durch unsere Kultur gelernt. Leider sind wir uns selten dessen bewusst, was diese philosophischen Ideen eigentlich sind. Wo sie herkommen, wie sie sich vermehren, wie sie sich begründen lassen. Indem wir philosophieren, entwickeln wir darüber bewusste Theorien und versuchen, unsere Vorstellungen über die Welt auf eine systematische, einigermaßen kohärente, meist von uns als rational bezeichnete Art und Weise zu ordnen. Philosophieren hilft uns deshalb vor allem, unsere Erfahrungen, unser Leben zu verstehen: »philosophical theories help us understand our experience«. Und sie machen es möglich, über all das kritisch nachzudenken und zu überlegen, ob und an welcher Stelle unsere Vorstellungen von uns, anderen und der Welt korrigiert werden sollten.[4]
Wenn Sie die beiden Ziele des Buches zusammen nehmen, werden Sie bereits ahnen, was dieses Buch nicht ist. Dieses Buch ist keine klassische Einführung in die Philosophie(n). Und auch kein Philosophie-Lehrbuch oder gar eine Philosophie-Geschichte. Warum auch? Es gibt bereits eine Reihe hervorragender Lehrbücher der Philosophie und einige hervorragend zu lesende, sehr genaue und spannende Einführungen in Philosophie und Ideengeschichte. Wenn ich bei mir zu Hause arbeite, steht meist in Reichweite ein inzwischen leicht vergilbtes, vor Jahrzehnten aber in schönes rotes Leinen gebundenes Buch, dessen Titel mit Goldlettern gefertigt wurde: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, geschrieben von Hans Joachim Störig im Jahre 1950. Dieses Buch hat nach Angaben vom Börsenblatt, dem Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel, inzwischen eine Auflage von mehr als einer Million Exemplaren erreicht. Ich muss etwa 14 Jahre alt gewesen sein, als mir mein Vater sein Exemplar schenkte – ein Geschenk mit großer Wirkung. Denn das Buch wollte sich ja nicht an Fachphilosophen wenden – ihnen würde es nichts Neues sagen –, wohl aber an die Menschen, die »inmitten der Arbeit und Sorge des Alltags und im Anblick der großen geschichtlichen Umwälzungen und Katastrophen unserer Zeit den Versuch nicht aufgeben, sich im Wege selbstständigen Nachdenkens mit den Rätseln der Welt und den ewigen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen, und die die Annahmen nicht von vorneherein zurückweisen, daß die Gedanken und Werke der großen Denker aller Zeiten dabei Rat und Hilfe geben können«.[5] Was für ein Ansporn! Selber nachzudenken – statt vorgefertigten Mustern zu folgen.
Was mir damals sofort ins Auge fiel, war, dass etwas anders, grundsätzlich anders war als im Latein- oder Geschichtsunterricht, anders auch als im Philosophie- und Religionsunterricht. Störigs Buch begann weder mit den Griechen noch mit den Römern. Seine Geschichte der Philosophie begann im »alten Indien«, das »geographisch betrachtet und ebenso in geistiger Beziehung, eine ganze Welt für sich« sei. Indien folgte China. Und China der Buddhismus. Dann erst, nach hundert Seiten, setzte der zweite Teil ein: die griechische Philosophie, auf die Mittelalter, der Ausgang des Mittelalters bis Kant und schließlich die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts folgten. Das Buch führte dazu, dass ich intensiv las und dabei nicht nur auf jeder Seite faszinierende neue Gedanken entdeckte, sondern auch vieles bekannte, das zu meinem Erstaunen oft Jahrtausende alt war. Und noch einen Effekt hatte das Buch: verstärkten Streit mit meinem damaligen Religionslehrer. Vermutlich war ich damals für Lehrer wie ihn eine Pest. Aber als es mal wieder darum ging, wie wir doch Gott und andere Bewohner des Himmelreiches kennen und erkennen können, meldete ich mich und sagte, dass Kant das doch etwas anders sehen würde. Wir seien nämlich nicht in der Lage, das Ding an sich zu erkennen. Worauf mein Religionslehrer etwas höhnisch bemerkte, ob ich mir in meinem Alter wohl anmaßen würde, Kant zu verstehen? Worauf ich antwortete, dass ich nicht sicher sei, Kant zu verstehen, weil Kant schwer zu lesen sei. Aber immerhin sei ich sicher, was den Gedankengang angeht. Denn der sei so schwer nicht zu verstehen. Ehrlicherweise hätte ich zugeben müssen, dass ich das Kant-Kapitel in Störigs Buch nicht nur einmal, sondern vermutlich zwanzigmal gelesen hatte, wobei ich versuchte, mir Kants Kategorienlehre aufzuzeichnen. Erst Jahrzehnte später habe ich gefunden, dass es im Internet so etwas (nur viel besser) gibt. Geblieben ist von all dem eine große Vorliebe für Kant, bis heute; eine Abneigung gegen Menschen, die sagen, jemand sei zu klein oder dumm, um etwas zu wissen; und ein gewisses Misstrauen gegenüber Menschen, die sich offensichtlich in himmlischen und moralischen Dingen so gut auskennen, als seien sie jede Nacht dort zu Gast. Ich bin meinem Vater für das Buch bis heute dankbar, muss allerdings zugeben, dass es Kapitel gibt, die ich überschlagen und bis heute nicht gelesen habe; aber es muss ja auch noch etwas übrigbleiben für die Zeit nach dem Fernsehen.
Es gibt eine Fülle guter, zuweilen hervorragender Werke über die Geschichte der Philosophie und der Ideen, was nicht ganz, aber doch weitgehend dasselbe ist. Es handelt sich um kluge, umfassende, klare Bücher, die zu lesen sich lohnt. Da wir gerade dabei sind, und Sie sich vielleicht fragen, welche Bücher ich meine – hier eine kleine Liste. Zu den guten Einführungen gehören Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Jens Soentgen, Selbstdenken!: 20 Praktiken der Philosophie, Jay F. Rosenberg, Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Stephen Law, Philosophie. Eine Einführung (von ihm stammt auch der grandiose Klassiker The Philosophy Gym. 25 short adventures in thinking), Ben Dupré, 50 Schlüsselideen Philosophie sowie das Philosophie-Buch: Große Ideen und ihre Denker aus dem Dorling Kindersley Verlag. Etwas schwerer zu lesen, aber in meinen Augen ein Klassiker ist Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung sowie das von Jörg Sandkühler herausgegebene Buch Philosophie, wozu?, ein Buch mit hohem Überblickswert. Bislang nicht übersetzt, aber ähnlich übersichts-mächtig ist das von Havi Carel und David Gamez herausgegebene Buch What Philosophy is. Contemporary Philosophy in Action mit einem Vorwort von Simon Blackburn. Die vielleicht derzeit beste – weil kluge, genaue, ausgewogene und kenntnisreiche – Beantwortung der Frage, was Philosophie ist (gerade im Vergleich zu anderen Disziplinen), stammt von Dietmar von der Pfordten und hat den Titel Suche nach Einsicht. Über Aufgabe und Wert der Philosophie. Wie gesagt: eine sehr subjektive Auswahl, die ich je nach Temperament, Alter und Lebenslage empfehlen würde. Leider nicht übersetzt ist das grandiose Buch des englischen Philosophen Colin McGinn, der es von ganz unten aus einer Arbeiterfamilie zum Philosophieprofessor (und mehr) geschafft hat – ein wunderbares Buch mit dem Titel The Making of a Philosopher. My Journey through Twentieth-Century-Philosophy (New York 2002). Ebenfalls in Form einer intellektuellen Biographie geschrieben ist das Buch des britischen Philosophen, Politikers, Fernsehmoderators und Kunstkritikers Bryan Magee mit dem Titel Bekenntnisse eines Philosophen.
Dann gibt es noch etwas umfangreichere, in gewissem Sinn etwas speziellere Werke, auf die ich gerne zurückgreife. Dazu gehört vor allem Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit von Ninian Smart, einem der bedeutendsten Religionswissenschaftler, der sein Buch ähnlich wie Störig beginnen lässt mit den südasiatischen Philosophien, auf die die chinesischen, koreanischen und japanischen Philosophien folgen, ehe er sich auf Seite 180 dann den Griechen und Rom zuwendet; ein sehr sympathischer Beginn einer Weltgeschichte des Denkens, wie ich finde. Weiter zu nennen wären Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung sowie von Peter Watson (der zu meinem großen Erstaunen nicht nur über Kunstraub geschrieben hat, sondern auch Autor mehrerer Krimis ist) die beiden brillanten Bücher Das Lächeln der Medusa – die Geschichte des modernen Wissens und Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne. Wer interessiert ist, die Geschichte des Denkens anhand der Veröffentlichungen nachzuverfolgen – denn öffentlich und damit zugänglich wurden Gedanken über einen kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus ja erst durch den Buchdruck –, sei auf das meisterhafte, von Arnim Regenbogen erarbeitete Buch Chronik der Philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert verwiesen. Ehrlich gesagt hätte ich jetzt Lust, die Liste noch um einige Bücher zu vergrößern (etwa, was die moderne Philosophie angeht, um die grandiosen vier Bände der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie von Wolfgang Stegmüller). Aber das würde vom Thema wegführen: von der Frage, was denken und philosophieren eigentlich sind, und wie philosophieren und die Erfahrung des denkens zusammenhängen. Dass beides keineswegs an akademische Form und Strenge gebunden ist, jedenfalls nicht immer, können Sie leicht an der folgenden, sehr bekannten Geschichte vom Schmetterlingstraum sehen, die sich in Das wahre Buch vom südlichen Blütenland findet. Dschuang Dsi, der Autor dieses Buches, war ein chinesischer Philosoph und Dichter, der sich zeitlebens allen Ämtern verweigerte. Er berief sich auf Konfuzius (551–479 v.Chr) und wurde um 365 vor Christus geboren, starb 290, war verheiratet und pflegte, wie es scheint, ausgiebig Kontakt zu anderen Philosophen und Philosophie-Schulen.
»Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«[6]
Vielleicht hat Sie das, was Sie bisher gelesen haben, nicht wirklich gefesselt. Außerdem war ja von der Erfahrung des denkens die Rede. Wie aber soll man Erfahrungen machen, wenn man Bücher liest? (Ich hoffe, Sie stellen die Frage nicht ernsthaft, denn Sie müssen bereits mit spannenden Krimis, fesselnden Romanen und auch mit Sachbüchern die Erfahrung gemacht haben, dass das Lesen dieser Bücher Sie verändert hat – weil Sie beim Lesen etwas über die Welt oder, besser noch, über sich erfahren haben.) Vielleicht war Ihnen ja alles auch zu langsam.
Lassen Sie uns deshalb zum Abschluss der Einleitung ein Experiment machen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie etwas davon haben werden. Es ist nicht eines der üblichen sogenannten Gedankenexperimente, sondern ein richtiges, gleichsam empirisches Experiment, das Sie jetzt machen und später je nach Belieben wiederholen können. Der Unterschied zu einem wissenschaftlichen Experiment – im Sinne der Methoden der empirischen Naturwissenschaften – besteht darin, dass dieses Experiment nicht zu ein und demselben Ergebnis führen wird, wenn Sie es zu unterschiedlichen Anlässen und in verschiedenen Situationen wiederholen. Das ist zwar möglich, aber meiner Erfahrung nach eher unwahrscheinlich. Insofern führt dieses Experiment zwar zu einem Resultat – oder besser: zu verschiedenen Resultaten –, aber nicht in der Weise, die den empirischen Naturwissenschaften schmeckt, die Abweichungen von Experiment zu Experiment gerade zu vermeiden suchen. Es handelt sich dennoch um ein richtiges Experiment. Und es wird Sie gleich in die Gegend oder Region befördern, mit der es das Denken und die Philosophie zu tun haben. Erstaunlicherweise ist diese Gegend vor allem an einem bzw. keinem bestimmten Ort anzutreffen, sondern überall – im Alltag.
Das Experiment ist sehr einfach. Setzen Sie sich hin – das ist am entspanntesten, obwohl Sie natürlich auch stehen können, das ist Ihnen überlassen –, und beobachten Sie einfach, was ist. Nehmen Sie die Geräusche in Ihrer Umgebung wahr, hören Sie, sehen und schmecken Sie. Achten Sie aber auch auf das vermutlich einsetzende Chaos Ihrer Gedanken, die wie wilde Affen in den Bäumen Ihrer Welt umherturnen. Achten Sie einfach auf alles. Ihre Aufgabe besteht nun darin, die Quelle von all dem zu finden. Wo kommt all das, was Sie jetzt gleich wahrnehmen werden, inklusive Ihrer Gedanken und Gefühle, her?
Ich schlage vor, dass Sie jetzt erst einmal nicht weiterlesen. Sie bringen sich selbst um ein Erlebnis. Klappen Sie das Buch zu. Geben Sie sich drei Minuten, von mir aus auch fünf. Mehr sind beim ersten Durchgang nicht notwendig. Es ist ein gutes Investment. Wir sprechen uns anschließend wieder. Also meine Bitte: Schließen Sie jetzt das Buch. Achten Sie auf alles, was Ihnen erscheint. Und versuchen Sie, die Quelle all dessen zu finden.
Was ist passiert? Waren Sie überrascht über das Chaos an Eindrücken und Gedanken? Haben Sie herausgefunden, wo das alles herkam? Sie werden sicher (auch wenn Sie sich auf dem ruhigen Land befinden) das ein oder andere gehört oder gesehen haben. Wo kam das, was Sie da wahrgenommen haben, her? Da das, was Sie gehört oder gesehen haben, nicht Sie selber waren, muss es etwas anderes sein als Sie. Sagen wir – es kam aus der Welt, von da draußen, aus dem, was auch jetzt noch »vor« und »hinter« Ihnen ist, aus der Welt diesseits oder jenseits des Lesens. Eine Welt, die da ist, wenn Sie die Augen zumachen – denn Sie können sie noch fühlen und hören.
Doch was ist mit Ihren Gedanken und Gefühlen? Kamen die auch »von draußen«? Da Sie Gedanken und Gefühle wahrgenommen haben, sind auch diese etwas anderes als Sie selbst. Was aber ist ihre Quelle all dessen? Ihr Körper und Ihr Geist? Wo aber fängt das eine an und hört das andere auf? Konnten Sie eine klare Grenze ziehen? Wo ist das Selbst, das Sie sicher auch wahrgenommen haben, das all dieses, was Sie wahrgenommen haben, tatsächlich wahrgenommen hat? Ist Ihnen der Gedanke gekommen, dass am Ende alles, was Sie wahrgenommen haben – »draußen« und »drinnen« –, im Grunde aus einer einzigen Quelle, Ihrem Geist stammt – oder zumindest doch in Ihrem Geist, Ihrem Bewusstsein zusammenlaufen muss, damit Sie es – auch wenn es von »draußen« kommt – wahrnehmen können?
Diese Fragen zu stellen heißt nachzudenken: nach dem Ereignis, nach der Erfahrung zu denken, um das, was Sie erfahren haben, zu klären. Derartig alltägliche Erfahrungen zu klären ist das Geschäft der Philosophie. Leider ist es nicht so einfach, wie es scheint: Auch wenn das Experiment selbst sicher eines der einfachsten Experimente überhaupt ist, das Sie machen können. Um solche alltäglichen Erfahrungen zu klären, ist oft ein großer und komplexer Begriffsapparat erforderlich, der gleichsam für jede Unterscheidung, für jede Nuance der Wahrnehmung und der Interpretation einen Begriff hat. Und da damit die Sache noch nicht ausgestanden ist, müssen Sie diese Begriffe auch noch zu einer Einheit bringen, zu einer Aussage: Eben zu der Aussage, was die Quelle all dessen ist, was Sie von Moment zu Moment erleben.
So werden Sie festgestellt haben, dass Sie die Gedanken beobachten können – aber nicht die Gedanken sind. Sie empfinden Ihren Körper, hören, fühlen, nehmen sich als »Sie«, als Subjekt wahr – und sind doch zugleich nicht einfach Ihr Körperempfinden, Ihr Sehen etc. Und was ist Ihr Ich? Handelt es sich um etwas, das Sie sehen, beschreiben, sagen oder zeigen können? Wie? Könnten Sie es mir jetzt zeigen oder jemandem, der gerade in Ihrer Nähe ist? Ist es vielleicht eher so, dass der, der all dies sieht, selber nicht gesehen werden kann – obwohl Sie als Mensch aus Fleisch und Blut in diesem Augenblick in diesem Buch weiterlesen (wozu Sie unbezweifelbar ein Ich und einen Körper brauchen)? Im Grunde ist es sehr einfach, unbesorgt in sich zu verweilen, sich und den Dingen, der Welt nahe.
Dass philosophieren heute mit all dem wenig zu tun hat und in gewisser Weise das philosophieren, das Sie eben ausgeübt haben, von der akademischen Philosophie nicht nur vergessen, sondern auch zuweilen verdrängt wurde, werden vermutlich nur wenige Akademiker schade finden. Tatsächlich aber hat das sich selbst Beobachten viel mit dem denken als Erfahrung zu tun – und dieses denken und sich, seine Gefühle, Regungen und Gedanken zu »sehen« wiederum mit Philosophie als Weisheit und Lebenskunst. Auch wenn es ein Modethema zu sein scheint (es muss sich dabei allerdings um eine jahrhundertelang anhaltende Dauermode handeln): auch auf diese Weise zu philosophieren hat mit der Frage nach Glück zu tun und ist philosophieren: als Praxis und Übung. Wiederholen Sie einfach das Experiment, das Sie gerade gemacht haben, mehrfach. Achten Sie dabei jeweils auf bestimmte Dinge (etwa auf das Entstehen von Gedanken). Lernen Sie Ihre Gedanken zu beobachten, auch wenn sie wild in den Bäumen herumturnen; lernen Sie sie zu besänftigen und ruhig werden zu lassen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten sie wirklich langsamer werden lassen (und das können Sie) und lernen, sie schließlich weitgehend zum Schweigen, zum Versiegen zu bringen. Dann ist »der Himmel weit und klar bis zum Rand des Kosmos« schreibt Dōgen Zenji, von dem später noch die Rede sein wird, in Zazen Shin. »Wenn daher ein Vogel an diesem Himmel fliegt, hat er die Freiheit des wahren Vogels. Wenn der Geist des Menschen frei ist, ist er Mensch.« Den Geist und damit den Menschen zu befreien ist die vielleicht letzte Aufgabe von denken und philosophieren.
Mit dem Wort »Phänomenologie des denkens« möchte ich, sehr einfach zunächst, die Beschreibungen der gesamten Erfahrungen bezeichnen, die wir machen, wenn wir denken. Das klingt durchaus einfach und ist es in gewisser Weise auch. Allerdings haben viele derartige Fachbegriffe wie »Phänomenologie« häufig eine lange und daher verschlungene Geschichte, ehe sie zu dem geworden sind, was wir heute (manchmal fälschlich) darunter verstehen. Wörter wie »Tubenkatarrh«, »Xeroradiographie«, »Quantenvakuumfluktuation« oder »Ethik« sind nicht von heute auf morgen entstanden. Auf die Hintergründe solcher Begriffe – man spricht von Begriffsgeschichte – muss daher hin und wieder hingewiesen werden, um sie zu verstehen. Von Fall zu Fall werde ich das auch tun und somit einen kleinen Umweg einschlagen. Wenn Sie jedoch zu den eiligen Leserinnen oder Lesern gehören, können Sie diese kleinen Vertiefungen im Text gerne überschlagen. Wäre das Buch eine Computerdatei, dann hätte ich derartige Begriffe wie »Phänomenologie« vermutlich bunt markiert. Sie könnten dann wahlweise durch Anklicken auf ein solches markiertes Wort weitere Erklärungen finden. In einem Buch geht das nicht so einfach wie mit der Maus. Aber ehrlich gesagt ist das Verfahren des Anklickens weder neu noch erst eine späte Erfindung des Internets. Über Jahrhunderte hinweg existierte das »Anklicken« bereits und nannte sich »Fußnote«. Fußnoten erfüllen ihren Zweck durchaus – bis heute. Sie warten meist geduldig am Ende der Seite unter dem Haupttext und können daher, wenn man es eilig hat, leicht stehengelassen und überlesen werden. Das Problem mit Fußnoten ist lediglich, dass sie einem Text leider schnell eine übertrieben wissenschaftliche Note geben und sehr gelehrt wirken. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, weitgehend auf Fußnoten zu verzichten, auch wenn es mich manchmal juckt, ins Detail zu gehen. Fußnoten sind und bleiben das beste Mittel, um sich in der Gutenberg-Galaxie erfolgreich vor dem Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg-Effekt zu schützen. Fußnoten geben an, woher man einen Gedanken geklaut hat. So weit die Vorbemerkung – und damit zum kleinen »Hyperlink«, einer vertiefenden Erklärung des Wortes »Phänomenologie« samt kurzem Hinweis auf seine Geschichte.
Phänomenologie:
die Bestimmung dessen,
was sich uns zeigt.
Unter Phänomenologie versteht man ganz allgemein die Bestimmung, Beschreibung oder auch Lehre von den Erscheinungen. Das phänomenologische Wissen ist das Wissen von den Erscheinungen, also über das, was sich uns durch unsere Sinne auf verschiedenste Art und Weise zeigt. Allerdings kann man auch gleichsam in sich selbst Erscheinungen haben (die, wie wir wissen, nicht immer mit der Welt übereinstimmen, so dass manche Erscheinung eben bloßer Schein, bloße Einbildung ist). Immanuel Kant (*22. April 1724 in Königsberg; †12. Februar 1804 ebendort) verstand unter den Phänomenen die Erscheinung der Dinge im Unterschied zum Schein. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (*27. August 1770 in Stuttgart; †14. November 1831 in Berlin) gab dem Begriff mit seinem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes (1807) eine zentrale Rolle. Ihm ging es darum, die Erfahrung genauer zu fassen, die das Bewusstsein beim Voranschreiten auf dem Weg zum (absoluten) Wissen macht, das mit der Sinneserfahrung anfängt und über deren weitere Aufarbeitung zu verschiedenen Formen der Gewissheit und des Wissens fortschreitet. Wenn man es genau nimmt, ist die Phänomenologie sogar eine bestimmte Schule des philosophischen Denkens, die insbesondere der deutsche Philosoph Edmund Husserl (*8. April 1859 in Proßnitz, Mähren; †27. April 1938 in Freiburg im Breisgau) entwickelt hat. Husserl war ein äußerst produktiver Denker (sein Nachlass alleine umfasst über 40000 Seiten), dessen bekanntester Schüler Martin Heidegger (*26. September 1889 in Meßkirch; †26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau) war. Husserls Absicht war es, zu einer Wesensschau des Gegebenen – der Welt – zu gelangen. Für ihn war entscheidend, dass es weder reine, vom Bewusstsein losgelöste Dinge (also keine »reinen« Objekte) geben kann, noch ein Bewusstsein unabhängig von den Gegenständen, die es wahrnimmt (also auch kein »reines« Subjekt), bestehen kann. Beide, Subjekt und Objekt, sind und bleiben immer verschränkt. Um die Gegenstände klarer zu erkennen, schlug Husserl den schwer zu bestreitenden Weg der »Phänomenologischen Reduktion« vor.[7] Wir müssen versuchen, uns unserer Urteile und Vorurteile zu enthalten, um uns auf diese Weise den Dingen – dem wahren Wesensgehalt der Gegenstände – nähern zu können. Wer richtig denken und die Welt verstehen will, muss seine Einstellung ihr gegenüber verändern. Nach Husserl sollte man sich gewissermaßen aller »Seinsmeinungen« enthalten und versuchen, alle Urteile und Theorien beim Betrachten der Welt zunächst auf ein Minimum zu reduzieren. Erst durch diese Zurücknahme des Subjekts – des denkenden, betrachtenden Ichs – erscheint die Welt, verkürzt gesagt, klarer und in ihren tatsächlichen Strukturen. Husserl fordert also Urteilsabstinenz. Man klammert den eigenen Seinsmodus ein – und indem man ihn einschätzt, klammert man ihn wieder aus. Wer beobachtet, muss all das, was in seinem Denken an Vorstellungen und (Vor-)Urteilen aufsteigt, ein- und ausklammern, um auf diese Weise allmählich und mit Geduld zu einer Beschreibung all dessen zu gelangen, was sich zeigt und in unsere Sphäre des Wissens gelangt.
Husserl bezeichnete diese Haltung der Zurücknahme mit dem Kunstausdruck Epoché. Dieses Wort bedeutet auf Griechisch (έποχή) nichts anderes als Zurückhaltung und gleicht der Einstellung eines Mannes, der über den Markt der Dinge spaziert, ohne irgendetwas zu kaufen oder sich auf einen Handel einzulassen. In den Geschichtswissenschaften bezeichnet die Epoche einen bestimmten zeitlichen Einschnitt, eine eigene Einheit also, die nicht einfach die Verlängerung des Vergangenen ist, sondern etwas davon Abgetrenntes, Eigenes, das sich von den bisherigen anderen Entwicklungen unterscheidet.[8]
Zurück zum ersten Satz dieses Kapitels: zur Phänomenologie des Denkens. Damit meine ich nichts anderes als die Beschreibung all der Erfahrungen (oder zumindest einiger Erfahrungen), die wir machen, wenn wir denken. Mein Vorschlag ist, dass Sie ein weiteres Experiment machen. Wie gesagt: Dieses Experiment ist kein in der Philosophie übliches Gedankenexperiment, sondern eine völlig natürliche, reale Erfahrung. Warum? Sie werden es gleich erfahren.
Auch dieses Mal sollten Sie sich entspannt und mit geradem Rücken hinsetzen. Legen Sie dabei das Buch weg. Im Unterschied zum ersten Experiment sollten Sie diesmal versuchen, ganz bei dem zu bleiben, was Sie gegenwärtig erleben – also bei dem Augenblick zu bleiben, in dem Sie sitzen und sich und Ihre Umgebung (»alles«, Ihre Welt) wahrnehmen. Sie werden vermutlich feststellen, dass sich dieser gegenwärtige Augenblick schnell verändert. Lassen Sie sich dadurch nicht irritieren – es ist normal. Vielleicht werden Sie sogar am Anfang Ihre Mühe haben, klar einen einzelnen Augenblick wahrzunehmen und zu identifizieren, weil sich in Ihrem Geist von Moment zu Moment alles so schnell verändert, dass Sie kaum folgen können (während jetzt noch, beim Lesen, alles einigermaßen geordnet zuzugehen scheint). Tatsächlich ist jeder dieser Momente »ein Moment von Ereignissen, und kein Moment vergeht ohne ein Ereignis. Wir können keinen Moment wahrnehmen, ohne Geschehnisse zu bemerken, die in diesem Moment stattfinden. Deshalb ist der Augenblick, dem wir reine Aufmerksamkeit zu schenken versuchen, der gegenwärtige Augenblick.«[9]
Die Aufgabe für Sie besteht darin, sich ganz auf den Moment zu konzentrieren. Um es einfacher zu machen, können Sie sich ganz auf Ihren Atem konzentrieren. Der Atem stellt eine sehr einfache, unbewusst ablaufende, sich ständig wiederholende Handlung Ihres Körpers dar. Es geht dabei darum, die Dinge – den Atem – so zu sehen, wie sie sind. Einfach, werden Sie vielleicht denken. Versuchen Sie es. Ich vermute, dass Sie bereits nach dem zweiten Atemzug an etwas anderes denken. Dann kommen Sie »einfach« zurück zu Ihrem Atem. Henepola Gunaratana, ein in Sri Lanka geborener buddhistischer Mönch der Theravada-Tradition, der seit 1968 in den USA lebt, in Philosophie promovierte und in den USA, in Kanada und Europa Meditation lehrt, erläutert das Problem so: »Wenn wir unsere Körperempfindungen achtsam wahrnehmen, sollten wir sie nicht mit geistigen Gebilden verwechseln, denn Körperempfindungen können auftauchen, ohne irgendetwas mit dem Geist zu tun zu haben. Ein Beispiel: Wir sitzen bequem. Nach einer Weile kann ein unangenehmes Gefühl in unserem Rücken oder in unseren Beinen auftreten. Unser Geist erlebt dieses Unbehagen sofort und bildet zahlreiche Gedanken um das Gefühl. An diesem Punkt sollten wir das Gefühl als Gefühl isolieren und achtsam beobachten, ohne zu versuchen, das Gefühl mit den geistigen Gebilden zu vermischen.«[10] Sie werden sehen: Es ist nicht einfach, einfach zu sitzen. Dennoch: Versuchen Sie es.
Was ist diesmal passiert? Haben sich die Erfahrungen, die Sie gemacht haben, von denen im ersten Experiment unterschieden? Waren Sie auch dieses Mal überrascht vom Chaos, das die unterschiedlichen Eindrücke und Gedanken in Ihrem Geist verursachen? Sie werden vermutlich erfahren haben, wie schwer es war, ganz bei einer vergleichsweise so einfachen Tätigkeit wie Sitzen oder Atmen zu bleiben. Alle möglichen Vorstellungen, Gedanken und Gefühle mischen sich in oder unter Ihre Konzentration. Wenn Sie versucht haben, all das auf einmal zu erfassen, werden Sie vermutlich festgestellt haben, dass es Ihnen so gut wie nicht gelingt. Im Gegenteil: Sie geraten in zunehmende Verwirrung und schweifen damit ab. Es ist schwer, bei einer einfachen Tätigkeit oder einem Gefühl (»ich atme«) zu bleiben – ohne das, was Sie gerade erfahren, mit Gedanken und anderen geistigen Faktoren zu vermischen. Vor allem aber wird Ihre Haupterfahrung gewesen sein, dass das, was Sie erfahren haben, in erster Linie eine einzige Abfolge von Verschiedenem war. Es ist, als würde das Leben vorüberziehen oder durch Sie hindurchziehen, während Sie sitzen, und nie das Gleiche sein. »Das Wesen unserer Erfahrung ist Veränderung.«[11]
Auch wenn die Welt um Sie herum durchaus ruhig war, gemessen am quirligen Leben auf einem großen Bahnhof oder Flughafen, so haben Sie vermutlich dennoch festgestellt, wie bewegt und unruhig Ihre Eindrücke und Gedanken waren – so als bauten sie sich von Moment zu Moment neu auf. Was Sie erfahren haben, ist gleichsam »schneller«, als Sie vermutlich vor dem Experiment gedacht haben (es sei denn, Sie haben damit schon Erfahrungen gesammelt; es lohnt sich, dieses Experiment in verschiedenen Lebenssituationen zu wiederholen – Sie brauchen ja nicht viel Zeit dafür). Es ist sicher kein Zufall, dass auch am Beginn der abendländischen Philosophie ein Satz, ein Gedanke steht, der bis heute wahr geblieben ist und seine Wirkung auch nach 2500 Jahren nicht verfehlt. Dieser Satz geht auf Heraklit (*um 520 v.Chr.; †um 460 v.Chr.) zurück, dessen Werke – oder besser: dessen Gedanken, Aphorismen, Paradoxien und kurze Texte – nur durch Zitate bei späteren Autoren überliefert sind. Heraklit ist nur wenig später geboren als Pythagoras, Zarathustra, Krösus, Lao-Tse und Buddha. Er ist ein Zeitgenosse von Parmenides und Aischylos, der die klassische Theaterkunst begründete. Und weiter von Sophokles, Zenon, von dem das Paradox von Achill und der Schildkröte stammt, und Perikles. Kurz nach Heraklit wurde Hippokrates geboren, nach dem der medizinische Eid benannt ist, und weiter Sokrates und Demokrit, der Erfinder der Atomlehre. Eine spannende Zeit also, in der vieles im Umbruch war, und das Denken sich neu orientierte. Heraklit schrieb: »Der Ursprung der Dinge pflegt verborgen zu bleiben. Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömt anderes und wieder anderes Wasser herbei. Die Wasser der Quellen und der Flüsse sind nämlich frisch und neu; denn du wirst nicht zweimal in dieselben Flüsse hineinsteigen.« Plato schreibt, dass Heraklit gesagt habe, »dass alles in Bewegung ist und nichts bestehen bleibt, und er sagt, indem er die seienden Dinge mit dem Strom eines Flusses vergleicht, es sei nicht möglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen«.[12]
πάντα ρεί
Alles fließt und verändert sich –
nicht nur in der Welt, sondern auch im denken.
Das »Alles fließt« (πάντα ρεί) ist vermutlich einer der bekanntesten Sätze der Philosophie – ein Satz, über dessen Geschichte alleine man ein ganzes Buch schreiben könnte. Ich will mich an dieser Stelle nicht lange mit Erläuterungen und Interpretationen aufhalten, denn es geht ja um Ihr Experiment, das Sie eben durchgeführt haben. Damit Sie aber den großen, für die Philosophie so typischen Bogen sehen, der in diesem Fall von Heraklit bis ins Heute reicht, möchte ich Heraklits Gedanken, dass alles fließt, mit einigen Zitaten des Philosophen Ludwig Wittgenstein (*26. April 1889 in Wien; †29. April 1951 in Cambridge) verdeutlichen. Ich überspringe dabei zweieinhalb Jahrtausende. Doch Wittgenstein ist ohne Zweifel einer der bedeutendsten Philosophen des letzten Jahrhunderts und übt noch heute eine starke Wirkung auf die Gegenwartsphilosophie aus. Wittgensteins Problem beginnt mit der Frage, was die kontinuierliche Veränderung für das Denken und die Sprache bedeutet, die doch häufig Unveränderliches und somit das Gegenteil von »im Fluss sein« suggeriert. Diese unveränderlichen Sätze, so schreibt er in seinem letzten, erst nach seinem Tod erschienenen Werk Über Gewißheit, bilden eine Art von ruhigem Hintergrund, »auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, können zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln.« Das Weltbild fungiert als eine Art von Wahrheitsspeicher, als Reservoir von wahren Sätzen, auch wenn es in gewisser Weise Mythologie ist. Erfahrungssätze haben diese Gestalt. Ein Apfel fällt immer wieder auf den Boden. Das ist ebenso ein Erfahrungssatz wie der Satz, dass mein Körper nie verschwunden und erst nach einiger Zeit wieder aufgetaucht ist. Es ist jetzt nicht die Gelegenheit, die dahinterstehende Philosophie zu erklären, was ich an späterer Stelle nachholen werde. An dieser Stelle ist lediglich wichtig, dass man sich vorstellen kann, so Wittgenstein, »daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarren und feste flüssig werden. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.«[13] Unser Weltbild und unsere Sprache ändern sich. Doch was bedeutet das in Bezug auf die Veränderung der Welt, unserer Gefühle und des Denkens? »Was zum Wesen der Welt gehört«, bemerkte Wittgenstein am 3.6.1932, »kann die Sprache nicht ausdrücken. Daher kann man nicht sagen, daß alles fließt. Nur was wir uns auch anders vorstellen könnten, kann die Sprache sagen. Daß alles fließt, muß in dem Wesen der Anwendung der Sprache auf die Wirklichkeit liegen … im Wesen der Berührung der Sprache mit der Wirklichkeit. Oder besser: daß alles fließt, muß im Wesen der Sprache liegen. Und, erinnern wir uns: im gewöhnlichen Leben fällt uns das nicht auf.« Wittgensteins Gedanke über die Sagbarkeit oder Darstellbarkeit der unmittelbaren Realität, so wie Sie sie eben in Ihrem Versuch erfahren haben, führt ihn zurück auf die Realität der Sprache. »Der Strom des Lebens«, schreibt er, »oder der Strom der Welt, fließt dahin, und unsere Sätze werden, sozusagen, nur in Augenblicken verifiziert.« Verifizieren heißt bewahrheiten, durch Erfahrung oder Experiment bestätigen. Die Sätze, die wir über unsere Erfahrungen sprechen oder niederschreiben, müssen so gemacht sein, dass sie auch nach der Erfahrung noch von ihr sprechen. Sie müssen in der Gegenwart verifizierbar, überprüfbar sein. Doch worin besteht diese Überprüfbarkeit, wenn alles, auch die Sprache und mit ihr der, der denkt, fließt? Wenn nur die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks gleichsam stillstehen würde, »soll das heißen, daß ich heute früh nicht aufgestanden bin? Oder, daß ein Ereignis, dessen ich mich in diesem Augenblick nicht erinnere, nicht stattgefunden hat?«[14] Die Dinge sind kompliziert. Ihr Ursprung bleibt, wie Heraklit formulierte, oftmals verborgen. Das Denken bzw. Sprechen ist das Gegenteil vom Verbergen – ein Prozess des Entbergens. Der Logos, das Denken und Sprechen, nimmt die Dinge aus ihrer Verborgenheit heraus. »Die Grenzen der Seele könntest du im Gehen nicht ausfindig machen«, schreibt Heraklit, »auch wenn du jeglichen Weg beschrittest: so tiefen Logos hat sie. Der Seele ist ein Logos eigen, der sich selbst mehrt.« Wittgensteins Sprache, Heraklits Logos, ein Wort, das vom Verb sprechen abgeleitet ist. Immer ist es die Sprache oder der Logos, der den Menschen gemeinsam ist. »Vernunft zu haben, ist allen Menschen gemeinsam«, sagte Heraklit. Und doch verstehen viele nicht, selbst wenn sie darauf stoßen – ein Satz, der wiederum von Wittgenstein stammen könnte. Die Lösung vieler Probleme liegt direkt vor uns. Aber wir haben die falsche Brille auf. Viele stoßen auf solche Dinge, sagt Heraklit, aber erkennen sie nicht, selbst »wenn sie sie erfahren haben, aber sie bilden es sich ein«.[15] Philosophieren ist das, was im Denken und Sprechen – Heraklit würde sagen: im Logos – geschieht. Dies ist Sophia, die Sache und Angelegenheit der Philosophen, die nur dann auszusprechen und zu erkennen gelingt, wenn – wie Martin Heidegger formulierte – Philosophieren das wache Dasein ist.[16] Was an dieser Stelle festzuhalten bleibt, ist die merkwürdige, zuweilen befremdende Einsicht, die sich durch Ihr Experiment vermutlich bestätigt hat (oder bestätigen wird, wenn Sie es wiederholen): Alles fließt. Und dass es so ist, liegt nicht nur im Wesen der Welt, in der Veränderlichkeit der Dinge, sondern auch in der Sprache und im Denken. Der natürliche Fluss des Denkens ist eingebettet in den Strom des Lebens, den Strom der Welt (Wittgenstein).
Was also war mit Ihren Gedanken und Gefühlen? Woher kamen sie – und woher kam die Veränderung? War der Auslöser ein Prozess »von draußen«? Da Sie Ihre Gedanken und Gefühle wahrgenommen haben, sind diese etwas anscheinend anderes als Sie selbst. Doch sind sie deshalb »draußen« oder »außerhalb« Ihres Ichs? Wenn nicht – was ist dann ihre Quelle? Ist es Ihr Körper, Ihre Sinneswahrnehmung oder Ihr Geist, Heraklits Logos? Wo fängt das eine an und hört das andere auf? Konnten Sie eine klare Grenze ziehen zwischen Ihrem Geist, der beobachtet, wie Sie sich beobachten, und Ihrem Körper? Und wo also ist die Quelle Ihrer Gedanken? Wo ist das Selbst, das Sie sicher auch wahrgenommen haben, das all dieses, was Sie wahrgenommen haben, tatsächlich wahrgenommen hat? Ist Ihnen der Gedanke gekommen, dass am Ende alles, was Sie wahrgenommen haben – »draußen« und »drinnen« –, im Grunde aus einer einzigen Quelle, Ihrem Geist stammt – oder zumindest doch in Ihrem Geist, Ihrem Bewusstsein zusammenlaufen muss, damit Sie es – auch wenn es von »draußen« kommt – wahrnehmen können? Wenn das stimmt – wie verhält sich Ihr Geist zu Ihrem Gehirn, dem Organ des Körpers, ohne das wir nicht denken können? Sie sehen – wir sind bereits mit einem kleinen Experiment mitten in das philosophieren hineingeraten.
Gleich ob im Alltag oder im Experiment von eben: Immer ist das Denken im Fluss – wie ein Strom des Bewusstseins. Dieser Begriff – »stream of consciousness« – wurde von dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James geprägt. Er verwendete ihn in seinem 1890 erschienenen Hauptwerk The Principles of Psychology. Es spricht Bände, dass dieses bahnbrechende, bis heute äußerst kreative und wegweisende Buch seit längerem schon nicht auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich ist. James will in diesem Buch den Geist (mind) von innen bestimmen (ähnlich wie Kant die Grenzen der Vernunft von innen zu bestimmen suchte). Es bringe dabei nichts, so James, mit einzelnen Erfahrungen oder Empfindungen zu beginnen. Unser Bewusstsein ist immer schon eine meist sehr hochgerüstete Kombination von einer Vielzahl von Objekten, Relationen zwischen den Objekten und zu unserer unterscheidenden Aufmerksamkeit. Die erste Tatsache für einen Psychologen besteht darin, dass irgendeine Art von Denken (thinking of some sort) faktisch immer in uns stattfindet.[17] Denken ist durch fünf Kriterien bestimmt:
Es ist erstens Teil eines personalen Bewusstseins. Ein Bewusstseinszustand ist daher immer das Bewusstsein einer Person, deren Gedanken, Empfindungen oder Erfahrungen zu ihr »gehören«.[18] Zweitens haben bestimmte Bewusstseinszustände zwar durchaus Dauer und Bestand – aber dennoch kann keiner dieser Zustände sich auf gleiche Weise wiederholen oder mit einem vorausgehenden identisch sein. Der Strom des Bewusstseins ist veränderlich. Er besteht aus einem Fluss, einer Sequenz von Unterschieden – und doch gleicht kein Gefühl und kein Gedanke wirklich einem anderen. James begründet diesen Umstand nicht zuletzt mit einem Hinweis auf die Funktionsweise unseres Gehirns, dessen Plastizität dazu führt, dass kein Sinneseindruck je exakt so verarbeitet oder »abgespeichert« wird wie ein anderer. Drittens ist das Denken innerhalb eines personalen Bewusstseins vernünftigerweise (sensibly) dennoch kontinuierlich, d.h. ohne Risse, Sprünge oder Teilungen. So unterschiedlich die sich verändernden Dinge, Gedanken oder Gefühle auch sein mögen – sie erscheinen eingebettet in ein kontinuierliches Geschehen. Das Bewusstsein erscheint uns nicht in Teile zerhackt (chopped in bits). Doch ein Begriff wie »Kette« oder auch »Zug« erscheint James nicht passend. Im Bewusstsein gibt es nichts, das »verbunden« wird. Stattdessen fließt es einfach (was würde in einem Fluss verbunden? Was wären seine Wasser-Bits?). Der Fluss ist die natürlichste Metapher für das Bewusstsein: Der Fluss der Gedanken, des Bewusstseins, des subjektiven Lebens. Sie alle sind eins.[19] Auch wenn das Gehirn sich in einem kontinuierlichen Prozess der Veränderung befindet – so ist doch sein internes Gleichgewicht (internal equilibrium), der Prozess des Re-Arrangierens all der Vorgänge, der relativ stabilen und der jeweils neuen, instabilen in sich kontinuierlich. Viertens haben es menschliche Gedanken immer mit Gegenständen – Objekten – zu tun, die unabhängig von diesem Denken sind. Denken ist objektgerichtet und kognitiv, wie James sagt: Es stellt Wissen her. Doch die Objekte sind nur, indem sie gedacht werden (the objects are, through being thought).[20] Das Bewusstsein richtet sich auf »etwas« – weil es dieses »etwas« zuvor selektiert hat. Weil wir jedoch alle Gedanken haben und uns im Denken auf ähnliche oder dieselben Dinge beziehen, nehmen wir an, dass sie kontinuierlich außerhalb von uns existieren. Das Denken ist in der Lage, zwischen sich – als Akt des Denkens – und den Dingen, den Objekten des Denkens, zu unterscheiden. Doch dieser Dualismus schafft mehr Probleme als Lösungen. Im Rahmen des Bewusstseinsstromes ist das Objekt des Denkens strenggenommen, so James, nicht ein einzelnes Ding wie »Columbus« oder »Amerika«, sondern der dem jeweiligen Denkakt vorausgehende Satz.[21] Im Strom des Bewusstseins verweist eine Erfahrung, ein Gedanke auf die oder den anderen. Mentale Innenwelt und reale Außenwelt fallen im Bewusstsein zusammen. Insofern lehnt James auch die (letztlich dualistische) Vorstellung ab, dass das Denken ein Medium sei, in dem sich die Welt in Form von Gedanken abbildet. Stattdessen ist es eher so, dass sich die Welt bildet. James spricht in diesem Zusammenhang von »radikalem Empirismus«. Das Bewusstsein hat, wie die Dinge auch, keine eigenständige Substanz. Ding und Bewusstsein sind gewissermaßen leer. Es gibt keine Trennung zwischen externen Inhalten und ihm selbst; die Erfahrung bedarf nur ihrer selbst. Das Seltsame dabei ist, dass das Objekt, wie komplex auch immer es sein mag, oder der Gegenstand des Denkens im Gedanken selbst ein unteilbarer, einheitlicher Zustand des Bewusstseins ist. Wenn Gegenstände aus Elementen und ihren Beziehungen bestehen, dann werden sie im Denken zusammengebracht, d.h. in Relation gebracht zu einem Etwas, das man gewöhnlich Ego oder Bewusstsein nennt. Wenn sie nicht in Zusammenhang gedacht werden, sind die Dinge überhaupt nicht gedacht.[22] James bezieht sich dabei explizit auf Kants Idee, dass das Mannigfaltige der Welt, der Empfindungen und Beziehungen in eine Einheit gebracht – synthetisiert – werden muss. Er spricht von einem einzigen Impuls der Subjektivität (a single pulse of subjectivity), einem einzigen Gefühl oder Bewusstseinszustand (state of mind). Das fünfte und letzte Kriterium des Denkens besteht darin, dass das Denken immer eine Vorliebe für bestimmte »Objekte« hat. Es ist selektiv und heißt über die Steuerung der Aufmerksamkeit bestimmte Vorstellungen oder Gedanken willkommen, während es andere zurückweist, während es denkt. Diese Erfahrung werden auch Sie vermutlich aus dem kleinen Experiment kennen, das Sie eben gemacht haben. Das Denken ist gleichsam eine Allgegenwart von Unterscheidungen, von dies und das, von jetzt und vorhin und bald. Doch am Ende sind die einzelnen Dinge nichts anderes als spezielle Gruppen von wahrnehmbaren (sensible) Qualitäten: Erfahrungströpfchen, die mit bestimmten anderen Elementen eine Beziehung eingehen und mit anderen nicht.[23]
Denken ist also ein Strom von Gedanken, ein Strom von Bewusstsein, der sich wie ein richtiger Fluss kontinuierlich verändert. Leider führt es zu weit, tiefer in die Gedanken von James einzusteigen, der ein wirklicher Pionier nicht nur der modernen Psychologie und Literatur bzw. der »modernen« Schreibverfahren war, sondern in vielem auch ein Vorreiter der Neurowissenschaften. Sie ahnen vielleicht, wie bald sich alles aufzulösen beginnt, wenn man es erst vom Standpunkt der Erfahrung aus betrachtet, die James durchaus im Sinne eines internen »Equilibriums« des Gehirns versteht.[24] Dieser Gedanke taucht auch bei einem der führenden Neurowissenschaftler der Jetztzeit auf, der sich wiederholt auf James bezieht: bei António Damásio. Damásio wurde 1944 in Lissabon geboren und ist seit 2005 Professor für Neurologie und Psychologie an der University of Southern California, wo er auch das Brain and Creativity Institute leitet. António Damásio nenne ich stellvertretend für eine Vielzahl neurowissenschaftlicher Untersuchungen zum Thema Gefühl und Denken. All diese zusammen mit den psychologischen Untersuchungen würden ein eigenes, spannendes Buch ergeben, das jedoch einige noch ausstehende zentrale Fragen zum Thema »Was ist denken?« und »Was ist Philosophie und warum brauchen wir sie?« nicht lösen würde. Insofern habe ich im folgenden Abschnitt auf eine Fülle von Informationen verzichtet und versucht, mich auf einige wesentliche Punkte zu beschränken, die das Verhältnis von Sprache und Gefühl betreffen.
Gedanken, Gefühle und Emotionen stehen in einem Verhältnis starker Wechselwirkung. Gedanken lösen Gefühle und Emotionen aus. Und manchmal merken wir die »Anwesenheit« eines Gedankens erst, weil er in uns ein Gefühl auslöst. Um es vorweg zu sagen:
Wie im Einzelnen Gedanken, Gefühle und Emotionen
miteinander in Beziehung stehen,
ist bis heute strittig.
Und das bedeutet auch, dass es keine »definitive«, abschließende, alle Argumente und Gegenargumente und alle empirische Daten einschließende, in sich kohärente Theorie gibt. Warum ist das so?
Auch wenn die Fragen, die Denken, Gefühl und Emotionen betreffen, ohne Zweifel auch wissenschaftliche (und das bedeutet: mit den Mitteln der Wissenschaften zu klärende) Fragenkomplexe darstellen, so gebraucht man zur Klärung dieser in Alltagssprache formulierten Fragen eben die Alltagssprache. Bei der Klärung vermischen sich also naturwissenschaftliche Daten mit begrifflichen und sprachlichen Problemen. Hinzu kommen Vorwissen sowie kulturelle und soziale Einflüsse, die sich ebenfalls auf die Beantwortung der Fragen auswirken. In aller Kürze kann man – ausgehend von den Untersuchungen des Kognitionspsychologen Dietrich Dörner, der insbesondere mit seinen Simulationsexperimenten über sein Fachgebiet hinaus Pionierarbeit geleistet hat – die Komplexität von Fragen und Problemstellungen durch folgende fünf Eigenschaften charakterisieren.[25]
Die Naturwissenschaften haben es
in der Regel nicht nur mit komplizierten,
sondern mit
komplexen Problemen zu tun.[26]
Innerhalb der Problemstellung gibt es erstens eine Vielzahl von zu berücksichtigenden Variablen. In diesem Fall sind Untersuchungen durch EEG, MRT