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Kaum etwas fehlt uns heute so sehr wie Weisheit: im Umgang mit der Welt, mit anderen und uns selbst. Faszinierend und anschaulich erzählt Gert Scobel die spannende Geschichte einer Geisteshaltung. Eine bereichernde Lektüre, denn Weisheit ist die Voraussetzung für ein sinnvolles und geglücktes Leben.
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Seitenzahl: 761
Gert Scobel zeigt in seinem kenntnisreichen Buch, dass uns heute kaum etwas so sehr fehlt wie Weisheit: im Umgang mit der Welt, mit anderen und uns selbst. Denn in unserer immer komplexer werdenden Umwelt brauchen wir Orientierung.
Der Autor verfolgt die Weisheit bis zu ihren Ursprüngen, ins Mittelalter und in den fernen Osten, und versöhnt sie überraschend mit der westlichen Geistesgeschichte. Er bringt uns aber auch die neusten Erkenntnisse zur Weisheit aus Psychologie, Neurowissenschaften, Biologie, Glücks- und Komplexitätsforschung nahe. Entstanden ist die faszinierende und anschaulich erzählte Geschichte einer Geisteshaltung, die sich nicht nur unterhaltsam und spannend liest, sondern auch mit großem persönlichem Gewinn. Denn Weisheit ist die Grundvoraussetzung für ein sinnvolles und geglücktes Leben.
© Klaus Weddig, Frankfurt a. M.
Gert Scobel, 1959 in Aachen geboren, studierte Philosophie und katholische Theologie an der Jesuiten-Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main und an der University of California in Berkeley sowie Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie in Frankfurt am Main. Zweimal erhielt er das EICOS-Stipendium, u. a. am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München. Nach seiner Arbeit als freier Journalist für Zeitungen und Hörfunk sowie als Dokumentarfilmer moderierte er von 1995 bis 2007 als Anchorman die werktägliche 3sat-Sendung „Kulturzeit" sowie von 2001 bis 2003 als Anchorman das „Morgenmagazins" der ARD. Seit 2008 ist er Redaktionsleiter und Moderator der wöchentlichen, interdisziplinären Wissenschaftssendung „scobel“ auf 3sat. Gert Scobel wurde unter anderem zweimal mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet (2005, 2018), dem Deutschen und Bayerischen Fernsehpreis sowie 2005 vom Medium Magazin zum „Kulturjournalisten des Jahres" gewählt. Seit 2016 ist er Professor für „Philosophie und Interdisziplinarität“ an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, wo er seit 2018 zum Direktorium des Zentrums für Ethik und Verantwortung gehört (ZEV).
eBook 2018
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© 2008 DuMont Buchverlag, Köln
Umschlag: Zero, München
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8441-4
www.dumont-buchverlag.de
Für Hella und Konrad –und all meinen Lehrerinnen und Lehrern
Seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Buches im Herbst 2008 sind in Sachen Weisheit einige erfreuliche Dinge passiert, die Anlass zu einem gewissen Optimismus geben. Dazu gehört, dass das Thema jenseits aller Esoterik immer mehr in den Blick der Öffentlichkeit gerät. Mir scheint, dass die Taschenbuchausgabe meines Buches eine gute Gelegenheit bietet, Ihnen kurz von diesen erfreulichen Fingerzeigen zu erzählen. Allerdings will ich Ihnen zuvor eine Frage beantworten, die Sie sich vermutlich jetzt mit dem Buch in der Hand stellen dürften: Warum sollten Sie dieses Buch lesen? Zumal Sie mehrere Bücher zur Auswahl haben könnten, die in den letzten beiden Jahren zum Thema »Weisheit« erschienen sind?
Ich will Ihnen von den vielen Gründen, die es gibt, wenigstens drei nennen, die in Gesprächen mit Leserinnen und Lesern, aber auch mit Wissenschaftlern, Philosophen und spirituellen Menschen immer wieder eine Rolle gespielt haben.
Der erste und vielleicht wichtigste Grund ist wohl der, dass Ihnen dieses Buch dabei helfen kann, sich selbst (und auch andere) besser zu verstehen. Insofern könnte es Sie bei Ihrer eigenen Entwicklung unterstützen und dabei, mit sich selbst (und mit anderen) anders – eben weiser – umzugehen. Für uns alle ist, unabhängig von unserer Herkunft, Sprache, Kultur oder Weltanschauung, Weisheit, so vage der Begriff zunächst auch sein mag, eine Art Lebensziel. Weisheit stand und steht seit der Zeit der indischen Veden und der ägyptischen Weisheitslehre, also seit Jahrtausenden – und lange bevor es das Abendland gab –, für eine positive, erstrebenswerte Haltung, die in allen Zeiten und Kulturen für wertvoll gehalten wurde. Das gilt seltsamerweise trotz des Umstandes, dass die meisten von uns nie ernsthaft versucht haben selbst weise zu werden. Vielleicht liegt der wahre Grund dafür in einem stillen Zweifel daran, dass wir es überhaupt können. Ist Weisheit lernbar? In diesem Buch werden Sie erfahren, dass und warum es tatsächlich so ist. Weisheit ist eine Fähigkeit, die wir alle »trainieren« können. Allerdings bevorzuge ich statt des sportlich-akrobatischen Begriffs »Training«, der immer etwas von genialen Rennpferden und verspiegelten Fitnessräumen an sich hat, den im Vergleich eher antiquiert erscheinenden Begriff des »Kultivierens«, der Bildung, des Ausbildens oder Übens. Es ist schon erstaunlich, dass immer dann, wenn man Menschen direkt anspricht und danach fragt, ob Sie Weisheit schätzen oder sich einen weisen Menschen in ihrer Nähe wünschen, fast alle spontan mit Ja antworten. Weisheit ist ein hohes Lebensziel – und daran hat sich selbst über die Jahrhunderte hinweg nichts geändert. Vielleicht ist das so, weil Weisheit in Zeiten einer sich schnell und grundlegend verändernden Entwicklung der Bevölkerung immer noch eine positive Qualität ist – ehrlicherweise die einzige, die wir mit dem Altern, das uns als durchweg negativ, lästig, ja quälend erscheint, überhaupt in Verbindung bringen.
Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man heute mit Blick auf die verschiedenen Weisheitstraditionen verantwortlich von Weisheit spricht. Insofern bietet das Buch Ihnen eine solide Basis dafür, Weisheit zu entwickeln. Es enthält eine umfassende Darstellung von Weisheit, die jedoch auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet. Die einschlägigen Textstellen zum Thema finden Sie ohnehin bereits in jedem Philosophiebuch. Obwohl Weisheit kein Lebenshilfe-Buch ist, sondern in erster Linie die Grundlagen und neuesten Entwicklungen sichtbar zu machen versucht, werden Sie das Buch vermutlich mit Gewinn für sich selbst lesen – so wie ich es von vielen Leserinnen und Lesern gehört habe, mit denen ich seit Erscheinen des Buches habe sprechen können.
Ein zweiter Grund dafür, sich die Mühe zu machen und dieses durchaus umfangreiche Buch zu lesen, dürfte sein, dass es nach Meinung von Fachleuten zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Zum einen befreit das Buch die Weisheit aus der Esoterik-Ecke, in der sie leider meist immer noch gesucht wird und nicht zuletzt aus diesem Grund auch ein eher marginales und vernachlässigtes Leben in der öffentlichen Wertschätzung führt. Weisheit ist alles andere als ein Angebot zu mehr mentaler Wellness und eignet sich kaum zum ersatzweisen Sacro-Konsum. Weisheit ist Arbeit an sich selbst. Manchmal sogar harte Arbeit. Vor allem aber ist Weisheit etwas, das mit dem Leben, mit dem Alltag zu tun hat – also mit profanen und nicht mit esoterischen Dingen. Das Hier und Jetzt jedes Einzelnen von uns ist der Ort, an dem Weisheit sich zeigen kann und bewähren muss. Die zweite Fliege, die das Buch schlägt, ist aufklärerischer Art. Es räumt mit einem Vorurteil auf – dem Vorurteil, dass Weisheit etwas für Wissenschaftsskeptiker, für forschungsscheue und unkritische, eben »rein spirituelle« Menschen wäre.1 Mein Buch wird Ihnen jedoch nicht nur erklären, was spirituelle Traditionen, sondern vor allem auch was moderne Wissenschaften über Weisheit denken – und warum ein zunächst weich und schwammig erscheinender Begriff wie »Weisheit« in den Brennpunkt ihres Interesses geraten ist. Denn dass Naturwissenschaftler, die an Empirie und Experimenten, an Überprüfungen und exakten Aussagen interessiert sind, sich überhaupt mit dem Thema befassen (und nicht wie üblich allein die Geisteswissenschaften, von denen sich paradoxerweise ausgerechnet die akademische Philosophie von der Weisheit, die sie im Namen trägt, abgewendet hat) ist eine höchst erstaunliche Tatsache, auf die ich am Ende dieses Vorwortes noch kurz eingehen will.
Weisheit zum einen aus der Esoterikecke zu holen und zum anderen ihre Anschlussfähigkeit an die gegenwärtigen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskussionen und Problemstellungen der Zeit aufzuzeigen – das ist der zweite Grund, der für dieses Buch spricht. Unser Umgang mit Politik und Medien, mit Jugendlichen, mit Schulen, überhaupt mit den schwächeren Teilen unserer Gesellschaft (die immer größer werden), aber auch die Frage nach dem Kultivieren (Trainieren) von Glück oder danach, wie man ein gelungenes Leben führt oder mit wirklich belastenden, existenziellen Lebensproblemen umgeht: All das sind Fragestellungen, die mit Weisheit zu tun haben. Mehr noch: Weisheit braucht heute, um öffentliche Wirkung entfalten zu können, die Auseinandersetzung mit den (Natur-) Wissenschaften. Vor allem aber braucht sie diese Auseinandersetzung nicht zu scheuen. Gerade dieser Umstand könnte für Sie, wenn Sie Antworten auf Grundfragen Ihres Lebens suchen, ein gutes Argument sein, das Buch zu lesen: denn es nimmt Ihnen Ihre eventuell doch vorhandene Angst, sich auf kritische Diskussionen einzulassen. Der Ansatz, den ich dabei in meinem Buch verfolge, ist einerseits neu, bestärkt aber andererseits alte, traditionelle Aussagen. Denn die »alte« Weisheit, so lautet eine der Hauptthesen in diesem Buch, ist deshalb anschlussfähig an die »modernen« Naturwissenschaften, weil sie ebenfalls entscheidend mit dem Verstehen und der Bewältigung von Komplexität zu tun hat. Komplexität ist eine reale, in der wissenschaftlichen wie im alltäglichen Leben vorkommende, messbare empirische Größe. Komplexität ist die grundlegende Struktur unserer Welt und eben darum auch entscheidend für unser Leben, das nicht nur zuweilen sehr kompliziert, sondern in Wirklichkeit vor allem komplex ist. Für viele mag das überraschend klingen. Doch nur so lässt sich die eigentliche »Wissens«-Qualität von Weisheit in den Blick bekommen. Die Dimension der Komplexität stellt einen qualitativen Sprung und ein Grundproblem in unserem Verstehen und in unserem Umgang mit Anderen, mit uns selbst und mit der Welt dar. Und doch ist die Komplexität lebender Systeme eine nicht zu bestreitende Tatsache. Leider. Denn vor allem die Kognitionsforscher haben immer wieder darauf hingewiesen, wie groß unsere Unfähigkeit ist, mit wirklich komplexen Systemen (denken Sie an die Politik, die Umwelt, aber auch an Ihr eigenes Innenleben) umzugehen. Und »Umgehen« bedeutet: sie verstehen, vorhersagen und steuern zu können. Unser Bild der Welt ist nach einfachen, mechanischen und linearen, nicht aber nach komplexen Regeln aufgebaut. Komplexität verlangt jedoch nach einem Umdenken, einem genaueren Hinsehen und Überprüfen versteckter Verbindungen samt ihrer vernetzten Folgewirkungen – und insofern auch nach einer gewissen Geschmeidigkeit und Gelassenheit im Umgang mit ihr. Mag sein, dass unser Gehirn nach dem bisherigen Kenntnisstand das komplexeste biologische System ist, das wir kennen – aber leider ist seine Existenz und die Tatsache, dass jeder von uns eines besitzt, längst noch keine Garantie dafür, mithilfe dieses Organs auch nachhaltig und gut mit der Komplexität der Welt umzugehen (ebenso wenig wie der Umstand, dass man zwei Füße hat, einen zum Profifußballer macht). Auch darüber und über die neueren Ergebnisse moderner Forschung werden Sie in diesem Buch mehr erfahren – insbesondere was die Bereiche Psychologie, Kognitions- und Emotionsforschung, Neurowissenschaften und Komplexitätsforschung betrifft (denn diese sind, bezogen auf das Thema Weisheit, wohl auch die wichtigsten Disziplinen).
Ein dritter Grund könnte schließlich sein, dass dieses Buch auch zwei Jahre nach seinem Erscheinen im deutschsprachigen Raum immer noch die bislang umfassendste Darstellung zum Thema Weisheit bietet – eine Darstellung, die die Moderne und die Naturwissenschaften ebenso in den Blick nimmt wie beispielsweise die christlichen oder buddhistischen Traditionen und die Einsichten der Psychologie, welche weiter in die Geschichte zurückreicht als Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse. Immerhin verweist das Thema Weisheit auf einen alten, traditionsreichen und entscheidenden Strang unserer Evolutionsgeschichte, der keineswegs eine rein jüdisch-christliche Geschichte ist. Weisheit ist kein Eigentum einer Kultur, einer Religion oder Weltanschauung (auf den Unterschied zwischen religiösen und weisheitsbezogenen Traditionen gehe ich am Ende des Buches ein). Weisheit hat viele Gesichter und Geschichten, die sich heute jedoch zunehmend verbinden. In Wahrheit waren sie wohl immer schon aufeinander bezogen, auch wenn dies im deutschsprachigen Raum nur selten Gegenstand gründlicher Untersuchungen war. In der buddhistischen Tradition sind dies die beiden »Flügel«: Weisheit und Mitgefühl (Empathie). Das eine bedingt das andere. Weisheit hat daher nicht nur mit der »meisterhaften Lösung bedeutsamer und schwieriger Lebensprobleme« (Paul Baltes) zu tun. Weisheit als sehr weitreichende, vielfältig anwendbare, gelungene und nachhaltige Form der komplexen Problemlösung verweist beispielsweise auch auf ein Unterscheidungsvermögen, »das uns erkennen lässt, welche Gedanken und Handlungen zu echtem Glück beitragen und welche es zerstören« (Matthieu Ricard). Ein weiser Mensch ist in der Lage zu erkennen, wann eine Ausnahme von einer etablierten Regel notwendig wird. Sein Wissen ist insofern Nicht-Wissen, als es nicht auf Dogmatik oder Lehrbuchsätzen beruht, sondern auf direkter und lebendiger Erfahrung: einer Erfahrung im Umgang mit der wirklichen Komplexität und der widersprüchlichen Vielfalt der Welt.
Eingangs habe ich Ihnen versprochen, kurz etwas zu dem zu sagen, was seit Erscheinen des Buches geschehen ist und Anlass für einen gewissen Optimismus gibt, Weisheit als zentralen Faktor auch unseres öffentlichen Lebens ernst zu nehmen. So schildere ich im ersten Kapitel, das sich mit Weisheit, Politik und Gesellschaft befasst, das Scheitern der Idee des sogenannten Weisenrates und die Erfahrungen, die ich diesbezüglich mit Altbundespräsident Horst Köhler gemacht habe. Ich vermute, dass Zeitpunkt und Form seines Rücktritts im vergangenen Jahr sich vor diesem Hintergrund noch besser als »weisheitsfern« begreifen lassen, obwohl gerade an das Amt des Bundespräsidenten eine gewisse »Weisheitserwartung« geknüpft ist. Insofern habe ich darauf verzichtet, die entsprechenden Passagen meines Buches an die Situation nach Köhlers plötzlichem Rücktritt anzupassen.
Wichtiger als Köhlers Ablehnung, sich Weisheit zum Thema zu machen, ist, dass es seit dem Erscheinen des Buches, anders als im Fall der Politik, mehrere erfolgversprechende Gespräche, Treffen und Konferenzen mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen gegeben hat. Besonders beeindruckend waren für mich zwei längere persönliche Zusammentreffen mit Wissenschaftlern und dem Dalai Lama – 2009 in Frankfurt am Main und 2010 bei der 20. Mind and Life Conference in Zürich, zu deren Vorbereitung und Durchführung ich eingeladen war.2 Gleich welche Haltung man dem Dalai Lama gegenüber haben mag: Für mich waren die Weite und Weisheit seiner Persönlichkeit ebenso beeindruckend wie sein Humor, seine Gelassenheit in (durchaus lebensbedrohlichen) politischen Fragen sowie sein beharrlicher (und erfolgreicher) Wille, Weisheit und Mitgefühl zu leben und deshalb auch Wissenschaft und Weisheitstradition zusammenzubringen. Seine Idee der »säkularen Meditation«, die nicht überall in buddhistischen Kreisen auf positive Aufnahme hoffen kann, verweist vermutlich präzise auf das, was uns fehlt und was als aufgeklärtes Geistestraining nicht nur dazu dienen kann, unser Gehirn zu verändern, sondern vielmehr den gesamten Menschen, der dieses Gehirn sein Eigen nennt. Tatsächlich ist Weisheit nicht nur nach buddhistischer Lehre ein Schlüssel zum Mitgefühl und zu einer positiven, glücklicheren Beziehung zu sich selbst und zu anderen. In diese Richtung weisen sowohl ökonomische als auch neurowissenschaftliche und psychologische Studien.
Auffallend ist für mich angesichts der vielen wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen, dass sich über die intensivere Erforschung von Meditation immer deutlicher ein Zusammenhang mit Weisheit herausstellt, der zunehmend in den Blick der Wissenschaftler und somit auch in den der Öffentlichkeit gerät. Die Erforschung von Meditation als einem Übungsweg (manche sagen: als dem Königsweg) zur Weisheit ist für Kontemplative, Therapeuten und Wissenschaftler insofern von Interesse, als das Training des Geistes in der Meditation einen Schlüssel zum Verstehen unseres Bewusstseins überhaupt darstellt. Besonders aufschlussreich war in diesem Zusammenhang der erste deutsche interdisziplinäre Kongress zur Meditation und Bewusstseinsforschung in Berlin3. Dass und wie Meditation als ein Eckpfeiler des Übens von Weisheit nicht nur unser Gehirn, sondern auch unser Verhalten verändert, ist ein Umstand, der seit wenigen Monaten auch in Leipzig erforscht wird. Unter der Leitung von Professor Tanja Singer, deren ebenso geduldiger wie enthusiastischer Art ich viele erkenntnisreiche Gespräche und Einsichten in dieses neue Gebiet verdanke, wurde ein Max-Planck-Institut für soziale Neurowissenschaften gegründet.4 Dieses Institut befasst sich u.a. mit der Erforschung von Empathie als einer Frucht meditativer »Weisheitsarbeit«. Durch die tatkräftige Unterstützung der Udo-Keller-Stiftung Forum Humanum5 hatte ich außerdem die Möglichkeit, verschiedene Gespräche mit Wissenschaftlern zu führen (erfreulicherweise waren viele von ihnen gleichsam Kronzeugen in meinem Buch), um den Vorschlag zu prüfen, ein Institut für Weisheitsforschung zu gründen – eine interdisziplinäre Einrichtung, die es sich zur Aufgabe macht, Weisheit in vier Säulen oder Dimensionen zu erforschen: Im klassischen Studium von Weisheitstexten (Philosophie und Philologe), in der gründlichen Erforschung von Weisheitstraditionen (Geschichte der Ideen, Geschichtswissenschaften) und in den Untersuchungen der empirischen Wissenschaften (Neurowissenschaften, Psychologie, Psychiatrie, Biologie, Medizin). All dies erfolgt mit dem Ziel, am Ende aufbauend auf einer soliden Grundlage die vierte Säule zu errichten und zu Anwendungsmöglichkeiten zu gelangen für Schule, Erwachsenenbildung, Firmen, Therapie6 und den privaten Bereich. Es stehen noch viele weitere Gespräche über die Gründung eines solchen Instituts aus, das erstmals in Deutschland die Grundlagenforschung in diesem Bereich vernetzen würde. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die von der Udo-Keller-Stiftung Forum Humanum geförderte Internetplattform, die es ermöglichen wird, analog zur Weltdatenbank der Glücksforschung wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Weisheit in einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Weisheitsportal zu bündeln.
Kurzum: Ich bin durchaus optimistisch, dass das Thema Weisheit, durch weitere Untersuchungen gestützt, in den nächsten Jahren kulturell und gesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Weisheit kann – etwa in Form der von Tanja Singer untersuchten Meditation, die Empathie fördert – das Miteinander der Menschen in schwierigen Zeiten positiv verändern. Weisheit ist eine tragende Säule unserer Zukunft. Diesen und andere Zusammenhänge gründlicher zu verstehen, hilft dieses Buch, das Ihnen Mut machen will, den Weg der Weisheit zu gehen. Es lohnt sich!
Gert Scobel, im Januar 2011
Einer der gegenwärtigsten, wachsten und zugleich freundlichsten Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin (auch wenn er selbst bei einem solchen Satz abwinken würde), trägt zwei völlig verschiedene Namen, die für zwei sehr unterschiedliche Weisheitstraditionen stehen. In beiden ist er jedoch tief verwurzelt. Als Schweizer, der zwischen den Viertausendern des Wallis in einer Bergführerfamilie aufgewachsen ist, heißt er Nikolaus Brantschen und ist Jesuit. Seinen Vornamen teilt er mit einem der berühmten Weisheitslehrer des Christentums, dem Kardinal, Universalgelehrten, Wissenschaftler, Mystiker und Philosophen Nikolaus von Kues (1401–1464, mehr über ihn in Kapitel 8). Als Zen-Meister heißt Nikolaus Brantschen jedoch Goun-Ken, »Wolke der Erleuchtung«. Dieser japanische Name ist das Zeichen von Inka (wörtlich: »legitimes, klares Siegel und Beweis«), das ihn legitimiert, die Weisheitstradition der Meister des Buddhismus weiterzugeben. Erstaunlich ist, dass Brantschen seine Erleuchtungserfahrung gleich zweimal von zwei verschiedenen Meistern und Richtungen des Buddhismus bestätigt wurde. Das Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass Weisheit alle amtlichen und an Dogmen orientierten Probleme unterläuft. Weisheit entwickelt sich nicht nur jenseits etablierter religiöser und kultureller Grenzen, sondern überschreitet auch innerhalb einzelner Religionen oder Weltanschauungen Grenzen. Diese oftmals sehr eng gesteckten Grenzen zwischen Kirchen führten mehr als einmal zu Kriegen. Weise Menschen sind Gegner solcher Kriege, die Millionen von Menschen das Leben kosten. Weisheit steht auf der Seite des Lebens. Sie ist gewissermaßen eine evolutionäre Kraft, eine Überlebenskunst. Dabei ist sie allerdings keine Vision oder bloße Vorstellung, sondern eine Erfahrung, die diesseits etablierter Differenzen verläuft. Mit diesseits meine ich: Auf der Seite der Erfahrung, im Alltag, hier im Leben – nicht in einem fernen Jenseits oder sagenhaften »Drüben«.
Nikolaus Brantschen verbindet die christliche und die buddhistische Tradition mit der gleichen Leichtigkeit, mit der Weise sich generell durch ihr Leben zu bewegen scheinen: frei, wach, klar, schnell und dabei eine bestechende Freundlichkeit verströmend, die nicht aufgesetzt ist, sondern aus tiefem Herzen kommt. Der Weise – ist in Texten ganz verschiedener Traditionen zu lesen – hat Humor und mag Kinder. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er viel und gerne lacht und völlig frei ist von Allüren, dem »meditativen Getue«, das zuweilen in esoterischen Zirkeln und Kontemplationskreisen wie Unkraut gedeiht. Der Weise, heißt es in einem indischen Text des Palikanon, ist nicht schlaff, aber auch nicht gierig. Wörtlich heißt es, die Weisen »seien energisch, aufrecht, unbeirrt, doch sanft und ansprechbar und ohne Stolz. Genügsam seien sie und bescheiden, nicht betriebsam, aber klug. Sie zügeln ihre Sinne, haben leicht genug«. So einfach konnte man das vor mehr als 2000 Jahren sagen. Die Frage ist nur, wie sich diese Sätze, die einem bestimmten Lebenszusammenhang entnommen sind, der oftmals jahrelange Meditation und Arbeit an sich selbst voraussetzt, in die Gegenwart übersetzen lassen.
Als ich Nikolaus Brantschen bei einer Fernsehsendung wiederbegegnete und wir uns unterhielten, erzählte ich ihm von meiner Zen-Meisterin. Jôun-An – mit bürgerlichem amerikanischem Namen Joan Rieck – lebte lange in Japan, was zunehmend seltener der Fall ist bei den Zen-Meistern der zweiten und dritten Generation in den westlichen Linien. In Japan verbrachte sie viel Zeit und Arbeit damit, die beneidenswerte Fähigkeit zu erlernen, altjapanische Texte im Original zu lesen – eine Fähigkeit, über die heute nur noch ein Teil der modernen Japaner verfügt. Joan Rieck übersetzte Texte von Dōgen Zenji (1200–1253, Kapitel 4), aber auch alte chinesische Grundtexte des Buddhismus wie das Shōdōka oder das Shinjinmei. Sie lebte damals in der Nähe des Klosters von Yamada Kōun Roshi, mit dem sie über Jahre hinweg Zen studierte. Als ich Nikolaus Brantschen gegenüber erwähnte, dass meine Zen-Meisterin trotz ihrer umfangreichen Kenntnisse und brillanten Auslegungen der alten Texte bislang noch kein Buch veröffentlicht habe, nickte er und sagte, dass er das sehr gut nachvollziehen könne. Denn je tiefer man diese alten Texte verstehe und in sie eindringe, desto mehr erkenne man nicht nur, wie grandios sie seien, sondern auch, dass man ihnen nichts hinzufügen könne. Sie sind perfekt, genau so wie sie sind. Selbst der gelehrteste Kommentar oder ein Teisho (die mündliche Auslegung der alten Texte durch einen zeitgenössischen Zen-Meister während eines Sesshins, einer Woche intensiver Meditation und Arbeit) ändere daran nichts. Am Ende komme man immer wieder auf die alten Weisheitstexte zurück, die durchaus verschiedensten Traditionen entstammen könnten, aber alle die Eigenschaft hätten, auf unübertroffene Weise die Erfahrung von Weisheit und Einsicht, die wir noch heute machen können, in Worten auszudrücken. Je tiefer man vordringe, sagte Nikolaus Brantschen, desto schwerer werde es mit dem Schreiben.
Als er meinen fragenden Blick sah, erzählte er die Geschichte von einem Jesuiten-Bruder, der Brantschen empfing, als er zum ersten Mal nach Japan kam, um dort für längere Zeit zu leben. »Wenn du vorhast, ein Buch über Japan zu schreiben«, sagte ihm sein Ordensbruder, der bereits einige Zeit in Japan zugebracht hatte, »dann tue es jetzt, in den ersten drei Wochen. Später wird es dir nicht mehr gelingen.«
Das Buch, das Sie jetzt in der Hand halten und das Sie hoffentlich mit Gewinn und Freude lesen werden, versammelt Reflexionen, die – bildlich gesprochen – in ebendiesen ersten drei Wochen der Reise entstanden sind. Wer schon länger unterwegs ist, wird gerne darauf hinweisen, dass diese Reise lange andauern kann. Manchen Meistern zufolge braucht man eben mehr als ein Leben, um wirklich Mensch zu werden. Den Rat gilt es im Kopf zu behalten, vorausgesetzt, man vergisst nicht, dass es stets darum geht, hier und jetzt Mensch zu sein. Und das bedeutet, gerade im ganz normalen Alltag besser damit umgehen zu können, dass uns etwas fehlt und dieses Fehlen uns immer wieder quält.
Auch wenn das Buch einen gewissen Umfang bekommen hat (mein Rat: Man kann die Kapitel auch gut einzeln lesen), werde ich Sie nicht mit persönlichen Erfahrungen (und somit Umwegen) aufhalten. Das Buch handelt auch nicht davon, wie man Weisheit oder so etwas wie die Erfahrung der Erleuchtung (was das ist, darüber erfahren Sie mehr in Kapitel 4), von der in Weisheitstexten vieler Kulturen die Rede ist, in die eigene Persönlichkeit integriert. Insofern ist Weisheit kein klassisches Ratgeberbuch. Worum es mir ging, war zu zeigen, was Weisheit eigentlich ausmacht und was wir über sie im Zusammenhang mit Politik und Gesellschaft (Kapitel 1), Psychologie (Kapitel 3), Neurowissenschaften (Kapitel 5) und anderen Disziplinen heute verlässlich sagen können. Ohne selbst weise zu sein, stellt das Buch eine Analyse der Struktur von Weisheit dar und versucht zu zeigen, welche Bedeutung Weisheit für unser Leben, unsere Gesellschaft und Kultur hat. Oder, angesichts der gegenwärtigen Sachlage realistischer formuliert: haben sollte.
Der Titel des Buchs bezieht sich auf zweierlei. Zum einen machen wir immer wieder die Erfahrung, dass uns trotz allem, was wir erreicht haben, etwas fehlt. Da wir weitersuchen, scheint es etwas Elementares zu sein, etwas von großer Bedeutung und großem Wert für unser Leben. Meine These ist, dass das, was uns fehlt, ganz fundamental mit Weisheit zu tun hat. Zum anderen spielt der Titel des Buches darauf an, dass Weisheit keine Vorstellung ist, keine Fiktion und kein bloßes Ideal, kein »Nice to have«. Ich hätte dieses Buch vermutlich nie geschrieben, wenn ich nicht weisen Menschen begegnet wäre, die mir gezeigt haben, dass es Weisheit gibt, welchen Wert sie hat und dass sie sich im Leben bewähren kann, aller Skepsis zum Trotz. Beeindruckt hat mich etwa die Weisheit des durchaus nicht leicht zugänglichen, zuweilen schroffen, heute leider weitgehend vergessenen Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl. Ich hatte das Glück, ihn 1977, einige Jahre vor seinem Tod, mehrere Tage lang besuchen zu können. Ähnlich hat mich die unvergleichliche Präsenz des Jesuitenpaters Hugo Makibi Enomiya-Lassalle tief berührt. 1898 in Deutschland geboren, war er bei seinem Tod im Jahre 1990 ein in Japan höchst geehrter, einflussreicher Zen-Meister. Ich durfte ihn zwei Tage nach meinem Abitur treffen. Lassalle war Augenzeuge des Atombombenabwurfs über Hiroshima und hat mir als Erster gezeigt, dass all das, wovon in den Weisheitstexten des Buddhismus die Rede ist, keine Metapher, keine leere Rede ist (obwohl Zen-Texte paradoxerweise gerne behaupten, es gehe nur um diese Leere, aber das ist eine andere Sache). Es gibt meiner Erfahrung nach nicht nur weise Menschen, sondern, weil diese Menschen über Religionen, Kulturen und Zeitalter hinaus etwas gemeinsam haben, auch so etwas wie eine Struktur von Weisheit. Von ihr handelt dieses Buch. Und davon, dass Weisheit diesem elementaren Mangel – diesem Fehlen – etwas entgegensetzt.
Ich hoffe, dass die Lektüre für Sie gewinnbringend ist. Eine meiner Hauptthesen ist, dass Weisheit nichts mit Esoterik zu tun hat, aber viel, wenn nicht alles damit, die Komplexität des Lebens zu meistern. Weise Menschen können mit dieser Komplexität erstaunlich gut umgehen. Leider ist das Thema Komplexität an sich nicht sehr einfach, auch wenn ich versucht habe, es möglichst anschaulich und eingängig an Beispielen zu erklären. Selbst wenn Sie der These mit einem Naserümpfen begegnen sollten (und Ähnliches gilt auch für die Kapitel über Psychologie, Neurowissenschaften, Glück und den Dualismus unseres Denkens): Die Beschäftigung mit diesen Themen, besonders mit Komplexität bzw. mit der komplexen Struktur der Welt, lohnt sich in jedem Fall, weil sie Ihnen einen Einblick gewährt in einen der spannendsten Prozesse des Umdenkens, der sich zurzeit in den Naturwissenschaften ereignet.
Dass es in diesem Buch gelegentlich Wiederholungen gibt, dient, so hoffe ich, dem besseren Verständnis, insbesondere für diejenigen, die das Buch nicht chronologisch lesen wollen. Bedienen Sie sich ruhig entsprechend Ihrer eigenen Interessen kapitelweise. Man muss ja auch einen Kühlschrank nicht von oben nach unten leer essen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie die Entdeckungsreise in die über Jahrtausende zurückreichenden Weisheitstraditionen mit Spannung und Gewinn lesen – auch wenn es sich um einen »Reisebericht« handelt, der in den ersten drei Wochen einer weitaus längeren Reise entstanden ist.
Gert Scobel, im August 2008
Verstehen Sie wirklich, wie Ihr Handy funktioniert? Können Sie erklären, was Zeit ist? Oder was genau in Ihrem Computer, Ihrem Fernseher, Ihrem Auto vor sich geht? Wissen Sie, warum wir leben? Verstehen Sie, warum ein Flugzeug, wenn es zu langsam fliegt, abstürzt – und doch niemals schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fliegen könnte? Verstehen Sie sich selbst? Oder die, die Sie lieben?
Und weiter: Ich nehme an, Sie haben heute bereits etwas gegessen. Doch warum essen Sie? Sicher, weil Sie hungrig sind – eine naheliegende Antwort. Und warum sind Sie hungrig, immer wieder? Sicher, die Energieversorgung, der Körper will ernährt werden, umsetzen, verdauen usw. Aber warum geben Sie dem nach? Warum essen Sie tatsächlich? Weil Sie leben wollen, vermute ich. Aber warum wollen Sie leben – genau jetzt?
Zugegeben: Wir verstehen dies und das und jenes sogar ganz genau, dank Wissenschaft und Kunst, Kultur oder Internet. Doch wie tief geht dieses Verstehen? Und sind es nicht gerade auch die Mittel, die uns beim Verstehen der Welt helfen, die uns andererseits neue Probleme schaffen – etwa wenn man an die Folgen technologischer Entwicklungen denkt, aber auch an die Folgen philosophischer oder politischer Theorien. Die handfesten materiellen Vorteile und Verbesserungen, die uns Wissenschaft und Technik gebracht haben, sind nicht zu leugnen. Selbstverständlich gibt es auch über das Materielle hinausgehende mentale oder kulturelle Vorteile. Und doch stoßen wir immer wieder auf dieselben alten Fragen, die mit dem Tod, mit Leiden, Angst, Beunruhigungen und Spannungen aller Art zu tun haben. Wer ihnen wirklich auf den Grund gehen möchte, wer die Welt, wer sich selbst verstehen will, der kommt weder an den Naturwissenschaften noch an den sich kontinuierlich verändernden Erklärungsmustern vorbei, die die Kulturen bereithalten. Früher oder später aber wird jemand, der sich diesen sogenannten letzten Fragen stellen will, sich damit beschäftigen, warum etwas ist und nicht nichts, und wenn etwas ist, warum ausgerechnet all dies und dann so, wie es ist. Warum haben wir solche Probleme herauszufinden, was unser Ich, unser Selbst ist? Warum gibt es keinen soliden Beweis dafür, dass die Außenwelt wirklich existiert? Woher wissen wir, wie andere Menschen fühlen und denken? Es ist nicht so, dass, wenn man nur die Naturwissenschaftler »frei« gewähren ließe, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mit derartigen philosophischen, letzten Fragen zu befassen, man dann eine richtige Antwort bekäme – eine bessere als die von Philosophen oder Theologen etwa. Zuweilen sind die Antworten von Naturwissenschaftlern auf die letzten Fragen erstaunlich unangemessen und naiv. Bei genauer Analyse zeigt sich, dass gerade bei ihnen die herkömmliche Herangehensweise selten zu einem guten Ergebnis führt.1 Wissenschaft ist keineswegs die einzige Form intellektueller und vor allem existenzieller Auseinandersetzung. Wer gleichsam existenziell oder philosophisch fragt, sieht sich bald unabänderlichen Tatsachen gegenüber wie der, dass unser Leben, so eindrucksvoll, so schön und entwickelt es auch sein mag, leider endlich und begrenzt ist. Und dass sich diese Grenzen nicht einfach aufheben lassen. Wir müssen lernen, mit diesen Begrenzungen ebenso umzugehen wie mit dem Wissen um unser Ende und die leidvolle Wirklichkeit von Krankheit, Einsamkeit und vielen anderen Entbehrungen, mit denen wir leben. Aber wie? Weisheit kann da entscheidend helfen, etwa indem sie Wege aufzeigt, wie wir mit unserem Unverstehen, das nicht einfach Unwissen mangels Information, sondern viel grundsätzlicherer Natur ist, besser umgehen können.
Die elementaren Fragen bedrängen uns immer weiter – und mit zunehmendem Alter immer öfter. Meist haben wir bis dahin nicht oder nur schlecht gelernt, mit ihnen umzugehen. Kinderfragen frustrieren oft deshalb so, weil sie zum Ärger der Erwachsenen zeigen, dass sie selbst in philosophischen Dingen nicht erfahrener sind als Kinder, die das Problem nicht selten auch noch treffender, direkter erfassen. Hinzu kommt, dass die Antworten, die wir gefunden haben, meist Auslöser weiterer und präziserer Fragen sind (was ebenfalls frustrieren mag, aber immerhin weiterführt). Antworten stellen nicht selten Verzögerungen im Prozess des weiteren Fragens dar, zumindest wenn wir zu sehr an ihnen haften bleiben, nur weil wir das Gefühl haben, es käme vor allem darauf an, überhaupt eine Antwort zu haben, statt weiter im Leeren zu stochern. Mit der Beantwortung fundamentaler Fragen werden wir nie an ein Ende kommen. Man könnte Ideologie oder Fundamentalismus genau so definieren: Als Versuch, den Prozess willkürlich abzubrechen und, allen weiteren Fragen zum Trotz, auf einer endgültigen Antwort zu beharren. Ideologie ist insofern nur eine Form von Stillstand, ein Sperren gegen Werden und Veränderung von Meinungen, Verhaltensweisen oder Zuständen. Sie erwächst aus der Illusion, man packe das Leben falsch an, indem man immer weiterfragt. Doch genau an diesem Punkt, an dem Sie die Wahrheitssuche abbrechen, liegt vermutlich Ihre ganz persönliche Antwort. Sie brechen die Suche ab, weil Sie an einem Punkt angelangt sind, den Sie mehr oder minder willkürlich als Ihren »Schlusspunkt« ansehen. Sie handeln so, um sich weitere Fragen zu ersparen. Philosophen würden sagen, dass dieser Punkt die Stelle markiert, an der Sie entschieden haben, aus dem »Begründungsdiskurs« auszusteigen. Dieser Punkt ist zugleich Ihre Stärke (denn Sie sagen ja: Hier will ich abbrechen und tue es), aber auch Ihr wunder Punkt. Die Stelle, an der Sie abbrechen, kennzeichnet Sie. Sie ist Ihre Signatur, Ihr Fixpunkt, an dem Sie sagen: Hier stehe ich und kann (und vor allem: will!) nicht anders. Diese »letzte« Antwort ist genau die, die Sie (vorerst) am Ende Ihrer Zweifel auf drängende und manchmal nervende letzte Fragen geben. In der Philosophie zieht sich dieser Prozess gewöhnlich über ein ganzes Leben und nicht selten über Jahrhunderte hinweg. Doch das ändert an der grundsätzlichen Problematik eines letztlich unausweichlichen Abreißens der Begründungskette nichts.
So steht am Ende die Einsicht, dass wir bestimmte Dinge einfach so tun, wie wir sie tun. Weil wir so sind, wie wir sind. Sie, ich, wir alle brechen unser Denken, vor allem aber das Begründen, an einem bestimmten Punkt ab. Und doch suggeriert uns unser naturwissenschaftliches Weltbild, dass dies in Wahrheit falsch sei, dass es weitergehe und noch weitere Informationen und genauere Begründungen hinter den Antworten geben müsse, ebenso wie sich gezeigt hat, dass auch Atome aus Teilchen bestehen. Sind wir nicht ein »Animal rationale« und damit zum Weiterzweifeln und Weiterfragen aufgefordert? Bedeutet rational zu sein nicht gerade, alles zu erklären, alle Informationen zu berücksichtigen, alle Fragen zu beantworten und einen Punkt außerhalb jedes Zweifels zu finden, der allein den Gesetzen der Logik und Empirie folgt? Als sei das überhaupt möglich. Prüfen Sie es nach! Jeder Zweifel setzt bereits einen Punkt voraus, von dem aus überhaupt gezweifelt werden kann. Der Prozess des Zweifelns setzt sein eigenes Ende voraus, noch ehe er zu einem Ende gekommen ist. Genauso wie Sie auf hoher See einen Fixpunkt brauchen, um einen Kurs berechnen zu können, um dann tatsächlich in die richtige Richtung zu segeln, genauso brauchen Sie ein inneres Koordinatensystem, das Sie an die Welt anlegen, um sich in ihr zu orientieren. Es geht nicht ohne – auch wenn Sie dieses Koordinatensystem aus guten Gründen immer und immer wieder austauschen und verbessern wollen.
Der Abbruch der weiteren Suche und die Vorstellung, man habe nun etwas Festes, Unveränderliches gefunden, etwas, das nicht mehr dem Wandel unterworfen ist – genau dieser Punkt ist es, um den es geht. Weil Sie glauben, diesen archimedischen Punkt gefunden zu haben, werden Sie Ihre Zeit mit Dingen verbringen, die es letztlich nicht lohnen. Sie werden glauben, dass Sie angekommen sind und nun endlich Zeit, unglaublich viel Zeit übrig haben. Nun können Sie sich den angenehmen Dingen des Lebens widmen. Tatsächlich aber sind nur Unbeständigkeit und der Wandel beständig. Ihre Einstellung hält Sie davon ab, diesem Wandel auf den Grund zu sehen. Sie glauben, festes Land unter den Füßen zu haben – und befinden sich in Wahrheit auf den abgekühlten Schichten heißer Magma. Sie glauben zu ruhen – und fliegen auf der Erde mit einer Geschwindigkeit von über 105.000 Stundenkilometern durch den Raum. Wer tiefer bohrt und nicht den Fragen ausweicht, stößt immer wieder auf Veränderlichkeit und auf die Einsicht, dass die Dinge anders sind, als sie scheinen. Dieser Umstand bleibt der Punkt, an dem Sie sich reiben, über den Sie sich Rechenschaft abgeben wollen und müssen. Vor allem, wenn Menschen, die Ihnen nahestehen, Sie fragen und Sie sich den unvermeidlichen Problemen immer wieder von Neuem stellen müssen – auch wenn Sie das nicht wollen. Vielleicht werden Sie im Verlauf Ihres Lebens unterschiedliche Antworten auf dieselben fundamentalen Fragen wie die nach dem Sinn oder dem Umgang mit Leid geben. Ihre Antworten haben, wie Sie selbst, eine Geschichte. Ihr Leben ändert sich im Laufe der Zeit mit den Erfahrungen, die Sie machen. Die »alten« Antworten sind vielleicht nicht mehr so zutreffend, wie sie es einmal waren: Sie müssen Sie neu geben (auch wenn die »neuen« Antworten nur wieder wie die »alten« klingen und deshalb immer ein wenig banal wirken, so als habe man die ganze Zeit auf der Stelle getreten). Indem sich Ihr Bewusstsein verändert, machen Sie eine stetige Entwicklung mit, zumal Ihr Leben ein Zusammenspiel von persönlichen, aber auch von kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, moralischen, religiösen, topographischen oder biologischen Faktoren ist. Sie sind von Bildung, Wissen und der Entwicklung der Gesellschaft und Kultur, in der Sie leben, ebenso abhängig wie von den Gegebenheiten Ihres Körpers oder dem Ort, an dem Sie sich gerade aufhalten.
Die Empfindung des Mangels ist eine Erfahrung, die die meisten Menschen machen. Fast alle kennen das Gefühl, wichtige Dinge zu entbehren. Und leiden daran. Es ist, als würde uns das Leben ständig etwas vorenthalten. Dieses Fehlen spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle in der sogenannten Neidgesellschaft. Uns fehlt es an Geld, Gerechtigkeit, Wissen, Respekt, Liebe und vielem mehr. Andere aber scheinen ebendas, was uns fehlt, zu haben. Und darüber beklagen wir uns. Gleichzeitig haben wir jedoch auch das Gefühl, ob arm oder reich, im selben Boot zu sitzen, auch wenn die Ausstattung des Sitzes durchaus große Unterschiede aufweist. Wir schalten die Nachrichten ein – und es vergeht kein Tag, an dem nicht von einer Katastrophe, einem Krieg oder Gewalt berichtet würde. Offensichtlich bleiben diese Probleme erhalten, obwohl wir technologisch und wissenschaftlich ungeheure Fortschritte gemacht haben. Kein Wunder, dass wir das Gefühl nicht loswerden, dass etwas auf sehr grundsätzliche Art und Weise mit unserem Leben nicht stimmt. Denn auch in den sogenannten besser gestellten Gesellschaften leiden wir, weil wir immer noch – und trotz allem, was wir erreicht haben – weiterhin auf der Suche nach etwas sind. Doch nach was? Was fehlt uns? Und was wissen wir darüber?
Fest steht nur, dass es uns erfahrungsgemäß nicht auf Dauer glücklich macht, wenn wir haben, was wir glauben, unbedingt erstreben zu müssen; ich gehe auf diese seltsame Tatsache im Kapitel über Glück noch näher ein. Der Gedanke liegt nahe, dass das, was wir im Grunde suchen, etwas anderes sein muss als das, was wir normalerweise anstreben. Doch was? In einem alten chinesischen Text, dem Shōdōka (Gesang vom Erkennen des Tao) des Chan-Meisters und Weisen Yung-chia Hsuan-Chueh (jap. Yoka Daishi, 665–713), wird das, was uns fehlt, als »die wahre Natur«, die »Wesensnatur« bezeichnet. Ohne sie zu finden, irren wir glücklos und leidend durch die Welt. Die Aussagen des Shōdōka sind, wie alle Aussagen über das, was uns fehlt, eingebettet in eine bestimmte Tradition und damit in ein Handeln und eine bestimmte Lebenspraxis. Von der wahren Natur zu sprechen, ist zunächst nicht mehr, als einen Begriff unter vielen anderen zu benutzen. Über den chinesischen Autor wird berichtet, dass er gleich bei seinem ersten Besuch die Erleuchtung erlangte, bestätigt durch einen der bedeutendsten Meister der gesamten chinesisch-buddhistischen Tradition, Hui Neng (638–713). Er beschreibt seine Erfahrung so:
»Wenn wir plötzlich erwachen, ist das ganze Universum leer. Keine Sünde, kein Segen, kein Verlust und kein Gewinn: Suche solche Dinge nicht inmitten des vollkommenen Friedens. Solange wir Tao suchen und verdienstvolle Werke vollbringen, werden wir Erleuchtung nie erlangen. Ich suche weder Wahrheit, noch weise ich Täuschungen ab. Der Geist, in Gegensätzen gefangen, bringt nur geschickte Lügen hervor. Ein Mond spiegelt sich in allen Wassern. Alle Wasser-Monde haben den einen Mond. Die Hungrigen kommen vor eine königliche Tafel – aber sie können nicht essen! Wenn du klar und deutlich siehst, gibt es nicht ein Ding. Schmälere den unermesslichen Himmel nicht, indem du ihn durch ein Schilfrohr betrachtest. Gehen ist Es, Sitzen ist Es, Sprechen oder Schweigen, Bewegung oder Ruhe – die wahre Natur ist immer Frieden, selbst das Schwert des Todes vor Augen.«2
Dem Text zufolge gleichen wir Suchende den Hungrigen, die vor einer gedeckten Tafel sitzen – aber nicht essen können. Ähnlich äußern sich Nikolaus von Kues und auch der indische Mystiker Kabir (1440–1518), der schreibt: »Wo suchst du Mich? Siehe, ich bin bei dir. Ich bin weder im Tempel noch in der Moschee, weder in der Kaaba noch auf dem Kailash. Weder bin Ich in Riten und Zeremonien, noch in Yoga oder Entsagung. Wenn du ein wahrhaft Suchender bist, wirst du Mich sogleich sehen, mir begegnen im gleichen Augenblick. Kabir sagt: O Sadhu! Gott ist der Atem allen Atems.«3
Geht es bei dem, was uns fehlt, also darum, in allen Lebenslagen bei sich zu Hause zu sein und gar nicht weiter suchen zu müssen? Bildhaft gesprochen: Geht es darum, dass wir das, was wir suchen, bereits unmittelbar vor uns finden, weil wir wie eine Schnecke das Haus mit uns tragen? Es gibt in Philosophien, Weisheitstraditionen und Religionen eine Vielzahl von Bildern und Metaphern für das, was uns fehlt und wo wir es finden können. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sprach davon, dass alles offenliege in der Philosophie. Insofern gebe es paradoxerweise gar nichts zu erklären. »Hier ist es schwer«, schreibt er, »gleichsam den Kopf oben zu behalten – zu sehen, dass wir bei allen Dingen des alltäglichen Denkens bleiben müssen, um nicht auf den Abweg zu geraten … Dies drückt sich aus in der Frage nach dem Wesen der Sprache, des Satzes, des Denkens. Denn sie sieht in dem Wesen nicht etwas, was schon offen zutage liegt, sondern etwas, was unter der Oberfläche liegt. ›Das Wesen ist uns verborgen‹: das ist die Form, die unser Problem nun annimmt.«4
Ignatius von Loyola, der Gründer des Ordens der Jesuiten, prägte dafür die im Christentum einflussreiche Formulierung, dass der, der die Frage klären wolle, »Gott in allen Dingen finden«5 müsse. Dem Rat zu folgen und ihn im Alltag umzusetzen ist eine Aufgabe, die tief in das Christentum hineinreicht. Gerade weil die seltsame Struktur unseres Begehrens sich nicht auflöst und das unzufriedene Weitersuchen nicht zur Ruhe kommt, scheint die Lösung, die wir suchen, jenseits zu liegen, in jenem Reich, das »nicht von dieser Welt« ist. Und doch lehrt Jesus von Nazareth nach Auskunft der Schriften, dass dieses Reich, das nicht von dieser Welt ist, »mitten unter uns« ist. Es ist also hier und jetzt und nicht in einem fernen Jenseits erfahrbar. Welche Kultur oder Religion immer man befragt, ob in Asien oder in unserem Kulturkreis, im Orient, bei den Schamanen, den Aborigines oder bei den Indianern Lateinamerikas: Immer scheinen die Weisen eine Antwort im Hier und Jetzt gefunden und den Frieden mit sich und der Welt gemacht zu haben. Aber wie?
Für die meisten Menschen ist die Erfahrung des Mangels bei Weitem deutlicher als die von Weisheit. Damit ist nicht zuletzt auch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland gemeint, zwischen denen, die sich Bildung leisten können, und denen, die auf das angewiesen sind, was der Staat ihnen unter Bedingungen zunehmender finanzieller Knappheit bietet. Mangel leidet auch, wer versucht, allein von Hartz IV zu leben (es gibt Versuche, die zeigen, dass das auf Dauer nicht möglich ist). Mangel leiden aber auch Menschen, die unter Vereinsamung oder einer psychischen Erkrankung wie Depression oder einer Angststörung leiden. Hinzu kommt, dass wir in einer globalen Gesellschaft ständig neu in Gefahr sind, über Dingen, die zu ändern wir als Individuen zunächst nicht in der Lage sind, die vielfältigen Aspekte von Menschlichkeit zu vergessen. Verstöße gegen die Menschenrechte, Folter, Waffenhandel, Prostitution – und nicht zuletzt auch der immer härtere weltweite ökonomische Wettbewerb mit entsprechenden Einschränkungen der minimalen moralischen Standards für Arbeit bilden die Umgebung, in der andere Regeln als die der Menschlichkeit gelten. Deshalb braucht Menschlichkeit immer wieder aktive Stärkung und Förderung. Nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es Kultur. Sie definiert die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Und wie wir in Zukunft miteinander umgehen werden.
Doch abgesehen von den groben Verstößen gegen gerechte Grundbedingungen des Lebens ist mein Eindruck, dass es auch in vergleichsweise idealen Gesellschaften einen Mangel gibt. Obwohl alle tieferen Probleme des Lebens und die feineren Schichten unseres Zusammenlebens stets auch mit Weisheit zu tun haben, ist sie weitgehend aus dem Blick geraten. In der Komplexitätsforschung spricht man bei der Analyse von Systemen häufig von verdeckten Rückkopplungen und versteckten Mustern und Strukturen. Versteckt sind diese Muster deshalb, weil ihre Auswirkungen oftmals erst nach Jahren, d. h. mit großer Verzögerung deutlich werden. Nach Jahren erst hat sich zum Beispiel gezeigt, dass der Wirkstoff in der Arznei Thalidomid (Contergan) entgegen aller anfänglichen Hoffnung eben doch kein Segen ist. Wenn uns die Muster und die versteckten Rückkopplungen bewusst werden, ist es nicht selten bereits zu spät. Das Artensterben beispielsweise, an dem wir nicht unmaßgeblich beteiligt sind, hat mit einem Tempo zugenommen, das das Aussterben der Dinosaurier in den Schatten stellt. Als die Vorläufer des Menschen aufgrund der Veränderungen des Regenwaldes in Afrika vor einigen Millionen Jahren gezwungen waren, sich in die Steppe zurückzuziehen, hatten sie mehrere Tausend Generationen Zeit für den Wandel, an dessen evolutivem Ende wir gegenwärtig stehen. Heutige Arten werden oftmals nicht während Jahren oder Monaten mit einer neuen Umwelt oder Lebensbedingungen konfrontiert, sondern lediglich während ein paar Wochen oder Tagen. Wenn wir ein Stück Regenwald abholzen, haben die Arten, die flüchten, keine Zeit, sich über einige hundert oder gar tausend Generationen neu anzupassen. Wir selbst wären in einer solchen Situation ausgestorben. Tatsächlich aber leben wir mit der Vorstellung, die für uns wichtigen Dinge seien dauerhaft, seien unabänderlich. Ein Blick in die Evolutionsgeschichte des Menschen zeigt, wie falsch diese Annahme ist. Seltsamerweise verzögern wir unser persönliches Leben in der Annahme, es gebe diese absolut festen Dinge, weil wir glauben, faktisch eben doch endlos viel Zeit zu haben. Aber Zustände und selbst Dinge sind nicht endlos da. Ihre Endlichkeit samt unserer eigenen ist ein Umstand, den wir auf massive Weise verdrängen. Ein Grund dafür ist, dass das Anerkennen der Wandelbarkeit allen Seins leidvoll ist. Die Veränderbarkeit der Welt tut nicht nur weh, weil sie uns ständig etwas streitig zu machen scheint – sie kränkt uns auch. Sie stellt eine Beleidigung für uns dar, der wir dadurch begegnen, dass wir uns die Unveränderlichkeit der Welt derart hartnäckig vorstellen, dass wir sie schließlich für Realität halten. Die Welt der Ideen scheint uns ebenso real wie die der Tische, Straßen und Autos. Weisheit hingegen hat mit dem Leben und seiner kontinuierlichen, unausweichlichen Veränderung zu tun. Sie ist eine Übung im Überleben, die paradoxerweise darin besteht, Veränderlichkeit, Vergänglichkeit und letztlich die Tatsache des Todes anzuerkennen. Wir können loslassen! Genau das befreit uns nach Meinung vieler Weiser und führt dazu, dass wir wieder auf das achten, was wirklich wichtig ist. Die Freiheit, von der Weisheitstexte immer wieder sprechen, ist also nicht die Freiheit zu unbegrenzten Möglichkeiten. Die Vorstellung, in jeder Phase des Lebens alle Möglichkeiten vor sich zu haben, ist eine Illusion. Die Freiheit des Weisen besteht darin, nicht mehr bis ins Mark hinein beeinflusst zu sein von dem, was war, und dem, was erst noch kommen wird oder soll. Frei ist der Weise, weil er ganz den »gegenwärtigen Geist« hat und wo immer er sich befindet zu Hause ist.
Glück, heißt es in buddhistischen Texten, sei wie ein Tautropfen auf einem Blatt – es verdunstet schnell. Seltsamerweise liegt in dieser Erkenntnis, so deprimierend sie anfangs auch scheint, eine große Stärke und Kraft. Gerade weil Zeit so kostbar ist, lernen wir sie und ihre verschlungen Pfade der Veränderung zu schätzen. Und wir erkennen, dass wir damit alle in einem Boot sitzen – ausnahmslos, gleich ob wir mächtig oder unbedeutend scheinen. Bei Nāgārjuna, einem der größten Gelehrten und Weisen Asiens – er lebte um das 2. Jahrhundert n. Chr. –, heißt es: »Ihr alle lebt inmitten des Todes, wie eine Lampe, die in der Brise steht. Ohnmächtig gegenüber dem Tod müsst ihr nun woandershin gehen.« Doch ein »Woandershin« scheint es nicht zu geben – es sei denn, Weisheit selber wäre dieses »Woandershin«. Dann allerdings muss Weisheit eine reale Erfahrung sein, die trägt, obwohl es keinen der Veränderung restlos enthobenen Ort in unserem Leben gibt – sosehr wir ihn uns auch vorstellen können und wünschen. Daher wird Weisheit in den buddhistischen Traditionen mit dem »Erwachen« verbunden. Zu erwachen bedeutet vor allen Dingen, aufzuwachen aus dem Traum, dass uns das Entscheidende noch fehlen würde. Wer eine Illusion wegnimmt, fügt damit noch keine weitere hinzu; und auch keine neue Wirklichkeit, erst recht kein Jenseits. Schenkt man Weisheitstexten Glauben, dann besteht die schwerwiegendste Illusion darin zu glauben, dass wir erst dann richtig leben könnten, wenn wir zuvor noch dieses gemacht, jenes erworben oder erreicht hätten. Das Aufwachen aus diesem Traum erscheint im Vergleich zu den utopischen Aussichten auf ein zu erwerbendes Paradies geradezu kläglich zu sein. Doch die ersten Schritte auf dem Weg zur Weisheit mögen noch so mühsam sein – sie gehören bereits zu dem »anderen«, »richtigen« Leben, das immer mit einem ersten Schritt beginnt. In Wahrheit gibt es keine »Vorbereitung« auf das Leben, sondern immer nur das Leben selbst. Es lässt sich nicht simulieren, auch wenn wir das gerne hätten (und inzwischen eine ganze Industrie erfolgreich von diesem Wunsch lebt). Das Leben ist kein Spiel, das wir dann, wenn es uns in die Sackgasse geführt hat, mit einem Druck auf die Reset-Taste neu starten können. Und deshalb beginnt jedes Aufwachen jetzt:
In unserer abendländischen Tradition wird dieses Aufwachen mit dem Prozess der Aufklärung weitgehend gleichgesetzt. Während das Animal rationale, das denkende Tier, von dem bereits Cicero vor der Zeitenwende lobend spricht, seiner »animal«-Natur zum Trotz allein die Rationalität bei der Lösung seiner Probleme zu bemühen sucht, zielt die Bestimmung des Menschen als Homo sapiens jedoch auf mehr als auf seine Rationalität. »Sapiens«, weise, bezieht sich auf etwas, das durch Logik und Denken, durch reine Verstandesarbeit weder hinreichend beschrieben noch erreicht werden kann. Schon das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut ist eine Erfahrung, die mit Rationalität nicht viel zu tun hat. Die Neurowissenschaften haben gezeigt, dass unser Gehirn immer wieder Modelle der Welt schafft, schaffen muss, um die vielfältigen und neuen Erregungsmuster zu ordnen, die unaufhörlich auf uns einströmen. Indem diese Erregungen, die Muster der Wahrnehmung, fortwährend durch ein komplexes, veränderbares Netzwerk miteinander verwobener Neuronen entlang vieler Verästelungen laufen, werden sie aufs Neue geordnet und neu organisiert. Doch unser auf diese Weise entstandenes »ruhendes« Bild der Welt inmitten aller Veränderungen ist in Wahrheit eben nur ein Modell. Unsere Welt (das, was »da draußen« ist oder, im Sinne Kants, das »Ding an sich«) ist jedoch, nicht zuletzt aufgrund der kontinuierlichen Arbeit des Gehirns selbst im Schlaf, niemals die Welt, sondern immer nur ein Bild oder Modell, das wir gerade von ihr haben. Und dieses Bild ändert sich immer wieder. Weisheit hat damit zu tun, diese Bild-Haftigkeit unserer »Welt« zu erkennen, sie zu durchschauen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Wenn man den Bildern schon nicht entkommt, kann man zumindest versuchen, weniger an ihnen zu kleben. Das Ergebnis ist verblüffend. Das Leben nimmt an Fülle zu. Wir sehen es wie in einem Spiegel – ohne der Illusion zu verfallen, es bereits im Ganzen verstanden zu haben.
In diesem Sinn schrieb Yôka Daishi, der vor rund 1300 Jahren lebte: »Es ist nicht schwer, das Bild im Spiegel zu sehen. Aber unmöglich, den Mond im fließenden Wasser einzufangen«.6 Daishi ist der Verfasser eines der bedeutendsten und meistzitierten (obwohl mit nur zweitausend Schriftzeichen zugleich auch kürzesten) buddhistischen Texte, des Shōdōka – was wörtlich übersetzt so viel wie »Gesang über die Klarheit hier und jetzt« bedeutet. Er hat für die Unmöglichkeit, den Mond im fließenden Wasser fangen zu können, noch weitere Bilder gefunden: »Man kann«, schreibt er, »nicht zur gleichen Zeit die Blätter sammeln und nach den Ästen Ausschau halten.«
Gerade weil Veränderliches und scheinbar Unveränderliches so schwer zusammenzubringen sind, neigen wir dazu, die Perspektive zu verengen. Auch vor dieser beliebten Strategie warnt der chinesische Weise. »Beurteile die Endlosigkeit des blauen Himmels nicht durch einen Strohhalm hindurch«, lautet sein Rat. Ihm geht es darum, nicht nur durch einen Strohhalm zu blicken, sondern die ganze Sicht auf Leben und Tod frei zu machen und endlich zu erwachen. Die Frage ist, wie man mit der Veränderlichkeit aller Erscheinungsformen und mit der Angst umgehen kann, die diese Erfahrung der Veränderung mit sich bringt. Das Leben auf den Ausschnitt eines Strohhalms zu verengen, um dann mit ihm sicher in den Himmel zu schauen, scheint kaum die richtige Antwort zu sein. Doch wie erwacht man zu einem weiteren, freieren Umgang mit dem »Hier und Jetzt«, das sich genauer betrachtet von Moment zu Moment ändert? Es geht ja angesichts »letzter« Fragen nicht darum, einfach nur pragmatisch zu sein, sondern darum, im Wissen um die begrenzte Zeit zu verstehen, was unserem Denken (und Handeln) wirklich zugrunde liegt und wie wir uns diesen Einsichten entsprechend verhalten sollen. Kurz: Es geht darum, herauszufinden, wer wir sind. Und wie wir in diesem gewaltigen kosmischen Prozess, der nach allem, was wir heute wissen, vor rund 13, 7 Milliarden Jahren mit einer Fluktuation im Quantenvakuum begann, zu uns selbst kommen und ein Zuhause finden können. Es geht darum, in einem seltsamen Universum, das wir ebenso wenig begreifen wie uns selbst, zu leben und herauszufinden, wie wir darin leben sollten.
Martin Heidegger definierte Philosophie – wörtlich eigentlich die Liebe zur oder die Lehre von der Weisheit – als »eine letzte Aussprache und Zwiesprache des Menschen, die ihn ganz und ständig durchgreift«.7 Heidegger fragte dabei durchaus, ob diese Vorstellung nicht doch ein wenig romantisch sei. Schließlich war ihm zumindest in Umrissen bekannt, wie unser Gehirn die einströmende Welt ordnet und einen unmittelbaren Zugang zu ihr versperrt. Sämtliche Philosophien, Religionen und Kulturen stellen nur Ordnungssysteme und Koordinaten dar – nicht »das Sein« selbst. Selbst die »harten« Wissenschaften bieten letztlich nichts anderes, auch wenn sie uns zuweilen mehr (nämlich eine absolut richtige Erkenntnis der Welt) versprechen. Sollte der »städtische Mensch und Affe der Zivilisation«, das Tier, das rational sein will, so etwas wie Weisheit daher nicht abschaffen? Sind wir nicht zufällig »in das Weltall hineingestolpert«?
»Novalis sagt einmal«, fährt Heidegger fort, »die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein.«8 Doch wie soll das gelingen – »überall zu Hause zu sein«? Und was für eine Art von Zuhause, was für eine Heimat in diesem seltsamen, von uns nur zu einem äußerst geringen Teil verstandenen Universum wäre das?
Weisheit ist in gewisser Weise die Kunst, sich solchen »letzten« Fragen richtig zu nähern.
Die Fragen, die der Weg der Weisheit zu beantworten sucht, sind zutiefst persönlich. Oder, wie Friedrich Nietzsche schrieb: »Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein.«9
Der Weg des Homo sapiens führt über viele steinige Brücken. Jede Erfahrung ist eine Möglichkeit, tiefer einzutauchen in das Verstehen dieser Dimensionen des Lebens. Homo sapiens zu sein bedeutet, ein Mensch auf dem Weg zur Weisheit zu sein und einen Prozess der Erfahrung und Bewusstwerdung zu durchlaufen, dessen Ausgang ungewiss ist. Doch wie sieht dieser Weg, dieses Handeln, Denken und Fühlen aus, das zur Weisheit, zur Bestimmung des Menschen führt? Auf welchen Wegen wird Weisheit erlangt – und auf welchen verspielt?
Dieses Buch versucht, einige Antworten auf diese Fragen zu geben, indem es die Wissenschaft ebenso zurate zieht wie die unterschiedlichen Weisheitstraditionen, die vielfach noch tiefer in die Geschichte der Menschheit zurückreichen als die Religionen, die meist eine spätere, insofern »vernünftigere« und »bürokratisiertere« Form der Weisheit darstellen. Es werden die Einsichten der Psychologie – der empirischen Weisheitsforschung – ebenso zu Wort kommen wie die Einsichten der Neurowissenschaften, die beschreiben, was in uns vorgeht, wenn wir uns auf den Weg zur Weisheit machen und dabei eine der zentralen kulturellen Techniken anwenden, die mit Weisheit eng verbunden ist: Meditation. Vor allem aber geht es darum, Weisheit nicht zu isolieren und aus ihr eine esoterische Haltung zu machen. Im Gegenteil: Indem Weisheit in den Kontext einer der größten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Herausforderungen dieser Zeit gestellt wird – nämlich das Wesen komplexer Systeme zu verstehen und uns dabei zu helfen, sie besser zu steuern –, zeigt sich ihre wahre Bedeutung. Weisheit ist eine Haltung, die nicht nur Körper und Geist umfasst, sondern auch die besten Erkenntnisse, die wir über uns und über die Welt haben, aufnimmt, um sie in einen menschlichen Zusammenhang zu stellen, der uns eine nachhaltige Zukunft eröffnet. So zeigt dieses Buch an der Geschichte dreier Männer exemplarisch, wie in verschiedenen Zeiten und Situationen mit Weisheit umgegangen wurde. Und was wir tun könnten, um uns selber in eine Richtung zu bewegen, die nicht nur weise, sondern auch klug ist.
Weisheit spielt in unserer Welt gegenwärtig keine Rolle. Die Energie- und Lebensmittelkrise, die drohende ökologische Katastrophe, Globalisierung, zu viel und zugleich nie genug an Information, zunehmende Eskalation der Gewalt und die damit einhergehende immer rigidere Generalüberwachung aller Bürgerinnen und Bürger, die Frage der gesunden Ernährung und vor allem auch der richtigen Erziehung der Kinder (immer wieder PISA: Gilt es vor allem die Kernkompetenzen zu fördern, also Mathematik, Physik, Englisch – oder auch die »weichen« Fähigkeiten wie Musik, Kunst, soziales Mitgefühl?) – das sind die beherrschenden Themen. Zugleich gilt es als ausgemacht – und auch das ist eine Form des Herrschens –, sie vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu lösen. Etwa die Frage, wie wir damit umgehen, dass unsere Mittelschicht, die tragende Säule der deutschen Gesellschaft, ausdünnt und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Das soziale Klima und das, was Sozialforscher »öffentliche Kultur« nennen, ist längst in die Krise geraten. Nicht nur weil Heuschrecken ihr Unwesen treiben. Der Blick in einen durchschnittlichen Supermarkt einer Innenstadt zeigt es bereits im Kleinen klar und deutlich. Es gibt ein übergroßes Angebot an Tiernahrung, an Alkoholika, an Dosenfutter. In nicht wenigen Kantinen ist das Fleisch mit einer im Idealfall nach Gemüse aussehenden Sättigungsbeilage billiger als ein frischer Salat.
Mir scheint, dass wir in einer Welt leben, in der uns etwas Entscheidendes zunehmend fehlt: unsere Mitte. Das Klima ist entsprechend rauer, d. h. extremer geworden. Kampf ist die Parole, nicht, unsere Mitte (und das bedeutet auch immer: das rechte Maß) zu finden. Wer kann, setzt sich nach oben ab. Wer Geld hat, schickt seine Kinder auf die bessere Schule, isst das bessere Essen, fährt den besseren Wagen und bucht den besseren Urlaub, in dem man eben auch mal »andere Menschen« trifft, mit denen man sich »wirklich unterhalten« kann. Wer so denkt und in einen solchen Kampf verstrickt ist, wird kaum die alte, in Wahrheit aber höchst zeitgemäße Vorstellung von Weisheit hilfreich finden. Dabei haben all diese Themen, um es vorwegzunehmen, auf unterschiedliche Weise mit Weisheit zu tun. Weisheit ist eben nicht nur etwas für die Soften und Alten. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: für die Verlierer, zu denen natürlich keiner gehören will.
Wie also ist es um Weisheit bei uns bestellt? Gilt sie zu Recht als überflüssig und unnütz? Was denkt die Politik von ihr – und wie machen die, die unsere Politik machen, von ihr Gebrauch (bzw. tun es gerade nicht)? Darum soll es jetzt im ersten Kapitel gehen. Beginnen möchte ich in der Gegenwart und mit einem Mann, der allein durch die Kraft seines Amtes eine übergeordnete Perspektive und gewisse Weisheit zu haben verspricht oder zumindest für die Idee steht, eine solche Weisheit zum Wohl aller einzusetzen.
Am 30. Mai 2005 war in der Süddeutschen Zeitung ein kleiner, eher unscheinbarer Artikel mit der Überschrift »Die Rückkehr der Weisen« zu lesen. Obwohl einige Zeitungen, von der Ostsee Zeitung über den Kölner Stadt-Anzeiger, die Leipziger Volkszeitung bis hin zur Stuttgarter Zeitung, dieses Thema aufgriffen, zog die Meldung erwartungsgemäß keine öffentlichen Diskussionen nach sich und verebbte im Meer der Meldungen. Ich muss zugegeben, dass diese Idee wenn nicht einer »Rückkehr«, so doch eines öffentlichen Auftretens und Wirkens von Weisen für das Entstehen dieses Buches und die darin formulierten Ideen entscheidend war. Wenn uns Weisheit tatsächlich fehlt – wie wäre es dann möglich, sie wieder ins Spiel zu bringen, ihr eine Stimme zu geben und gesellschaftliches Gewicht zu verleihen? Obgleich sie keine Wirkung entfaltete, wies die Meldung in die richtige Richtung. Worum ging es genau?
Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder Neuwahlen angeordnet hatte, so hieß es in der Süddeutschen Zeitung, war mit einem Mal alles Taktik und Ranküne, alles Wahlkampf und musste deshalb mit Blick auf potenzielle Risiken und Nebenwirkungen durchdacht werden. »Wie eine kühle Brise kam da an diesem hitzigen Wochenende eine Botschaft aus der Hauptstadt, die intellektuelles Aufatmen und neue Nachdenklichkeit versprach, einen eigenen, von den Zeitläuften unabhängigen Rhythmus. Wie schön wäre es, wenn wir einen Rat der Kulturweisen hätten.« Beim Berliner Jahresempfang der Mitglieder des Ordens Pour le Mérite, an dem qua Amt und Tradition stets der jeweilige Bundespräsident teilnimmt, hatte Kulturstaatsministerin Christina Weiss in einer Tischrede den Vorschlag gemacht, einen Kulturweisenrat ähnlich dem der Wirtschaftsweisen einzurichten. »Nutzen Sie Ihre Weisheit«, forderte sie die in der Tat beeindruckende und vielfach dekorierte Versammlung von Männern und Frauen auf, unter ihnen nicht weniger als zwölf Nobelpreisträger.
»Nutzen Sie Ihre Weisheit, um Debatten anzustoßen, um Aufrnerksamkeit zu erregen, uns über positive Entwicklungen, Stagnationen oder Missstände im geistigen Zustand unserer Gesellschaft aufzuklären, und erzielen Sie mehr Öffentlichkeit für Ihre Reflexionen und Kommentare, die in prägnanter Weise Aussagen zur Lage der Kultur-Nation treffen, die uns aufrütteln, um die tieferen Ursachen der deutschen Befindlichkeit zu erkennen.«
Horst Köhler war zu diesem Zeitpunkt der Vorschlag von Christina Weiss bereits bekannt. Tatsächlich war die Idee, einen Weisenrat zu gründen, einer der ersten offiziellen Vorschläge, die Köhler in seiner Amtszeit überbracht wurde. Köhler selbst wurde nicht müde, im Verlauf seiner Arbeit immer wieder die Bedeutung kompetenter Beratung hervorzuheben. Warum sollte ein weiser Ratschlag eine Ausnahme bleiben? Bei der Tischrede vor dem Orden Pour le Mérite am 30.5.2005 sagte Köhler wörtlich: