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Hans Küng hat mit seinen Werken seit über fünfzig Jahren nicht nur weltweit Millionen von Lesern gefunden, sondern auch die Sicht auf die großen Fragen verändert. Von Kirche und Christentum über die Weltreligionen zum gemeinsamen Verständnis von Gut und Böse für alle Menschen geht sein denkerischer Weg und berührt damit alle existentiellen Fragen. Wie geht »Christ sein«? Braucht es eine Kirche und einen Papst? Existiert Gott? Können alle Menschen die gleichen Werte teilen, können alle Gut und Böse finden? In diesen Schlüsseltexten ist das gesamte Werk Hans Küngs versammelt und zeigt, worauf es ankommt im Leben - und was bleibt.
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96160-8
© 2013 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: Jos Schmid Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Was bleibt?
Es ist ein anspruchsvoller und gewagter Titel, den wir, Herausgeber und Verlag, dieser Textsammlung gegeben haben. Wer von uns kann denn schon vorhersagen, welche Texte aus dem umfangreichen Schrifttum von Hans Küng bleiben werden? Werden seine Fragen und seine Antworten zu Christentum, Religionen und Weltethos auf lange Zeit Bestand haben? Ist der hier vorgelegte Umfang bleibender Texte zu groß oder viel zu bescheiden und auf welche Zeiträume soll diese Dauer angelegt sein? Wir wissen es nicht: In dieser Sache sind keine objektiven, gar unfehlbaren Urteile möglich. Wir können nur sagen: Die Fragen nach Lebenssinn und Gerechtigkeit, Glauben und Wissen, einer letzten Instanz und Weltdeutung, nach Religionen und deren ethischer Botschaft werden nicht so schnell aus den Köpfen und Herzen der Menschen verschwinden. Zudem lässt sich kaum bestreiten, dass Hans Küng diese Fragen über fünf Dekaden lang nachhaltig mitgestaltete, kräftig vorantrieb und sich immer wieder zu Wort meldete. Wer sich also ohne besondere Vorkenntnisse in die Forschungsarbeit, die Intentionen und Denkergebnisse dieses Theologen einlesen will, beginne mit den hier vorgelegten Texten, denn sie führen in die Mitte seiner Schaffens und legen Spuren, die weiter zu verfolgen sich lohnt.
Hans Küng blickt auf ein langes und reiches Arbeitsleben zurück. Sein erster Artikel erschien 1955 mit dem für ihn kennzeichnenden Titel, der in seiner Spannung als Motto seines Lebens gelten könnte: »Ist Friede Kapitulation?«. Nach nunmehr 58Jahren liegt der abschließende Band seiner Memoiren vor: »Erlebte Menschlichkeit«. Oft hat man Hans Küng als konfliktfreudigen Kämpfer charakterisiert; das lässt sich nicht leugnen. Denn von Anfang an konzentrierte er sich auf unvermeidliche, bisweilen gar lebensgefährliche Konflikte, denen ängstlichere Kollegen sorgsam ausgewichen sind. Dazu gehörten Fragen katholischer Kirchenreform, die Dar- und Auslegung christlicher Dogmen, Wege zu einer interreligiösen Ökumene und schließlich die Weltethosidee, die aus guten Gründen bis nach Bogotá und Beijing zum Selbstläufer geworden ist.
Zu all diesen Themen hat Hans Küng sich in Tausenden von Buchseiten geäußert. Er arbeitete die wissenschaftliche Literatur auf, argumentierte detailreich und wurde zugleich zum reisefreudigen Weltbürger, bezog moderne Kommunikationsmittel bis hin zu aufwendigen Fernsehreportagen in seine Arbeit ein. Überzeugungskraft und Zustimmung hätten sich aber nicht eingestellt, wäre seine Arbeit nicht vom ersten Tag an von einer unstillbaren Leidenschaft nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit getragen gewesen. Und höchst glaubwürdig hätten seine Kämpfe nicht gewirkt, hätte er nicht von Anfang an weder sachliche Niederlagen noch persönliche Verwundungen gescheut. Immer wieder hat er sich ihnen ausgesetzt und sie ertragen. Seine Botschaften aber haben dadurch zunehmend an Kraft und an Tiefe gewonnen.
Um dies zu erreichen, bedarf es nicht nur einer starken physischen und psychischen Energie, sondern auch eines stabilen Selbstbewussteins, das bei ihm aus einem unerschütterlichen, weil religiös geerdeten Grund- und Gottvertrauen lebt. Vertrauen ist denn auch ein Grundthema, das sich durch alle seine Aktivitäten und Äußerungen zieht. Wie anders hätte er seiner Kirche die Treue halten, mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. immer wieder Kontakt suchen und an seiner Hoffnung auf eine Kirchenreform unerschütterlich festhalten können. Wie anders kann man Jahrzehnte Energie in das Sisyphosprojekt von Weltfrieden und Weltversöhnung investieren, dabei den Dialog und die Kooperation mit Religionen konsequent im Auge behalten – auch solcher, die sich alles andere als in bester, gegenwartstauglicher Verfassung zeigen?
Wer mehr über die persönlichen Hintergründe dieses schaffensreichen Lebensweges erfahren möchte, lese entweder die drei Memoirenbände des Autors; in vielen Teilen kann ihm die Spannung eines Kriminalromans sicher sein. Oder er greife zu Küngs reifem und sehr persönlichem Spätwerk »Was ich glaube« (München 2009), in dem er ohne alle Aufdringlichkeit von seiner Spiritualität und seinem eigenen Glauben spricht. Auf solche persönlichen Zentralmotive und Hintergründe kommt die vorliegende Textsammlung nur am Rande zu sprechen. Denn wichtiger war es den Herausgebern, einen Einblick in die zentralen Sachthemen in Glaube und Gesellschaft zu geben, um die sich der Autor – wie schon angedeutet – intensiv bemüht hat. Man könnte Küngs Wirken in vier Phasen gliedern:
– Zunächst beschäftigt ihn die Vision einer strukturell erneuerten und ökumenisch versöhnten Kirche (Rechtfertigungslehre, Konzil, Kirche und Unfehlbarkeit); die Ergebnisse haben sich in umfassenden Monographien und kleineren Schriften niedergeschlagen.
– Im ersten nachkonziliaren Jahrzehnt (1970–80) wendet er sich zentralen christlichen Glaubensfragen zu (wer war Jesus, was meinen Christus- und Gottesglaube, was ist unsere Zukunft?); die Hauptergebnisse sind in vier umfassenden Monographien niedergelegt.
– Nach der endgültigen Kampfansage Roms (1979/80) verlagert sich Küngs Interesse in den 1980er Jahren auf die weltweite Ökumene der Weltreligionen (Projekt: »Die religiöse Situation der Zeit«); breit dokumentierte Monographien zu Christentum, Judentum und Islam sind die Folge.
– In den 1990er Jahren gewinnt das Projekt Weltethos immer mehr an Kontur. Es führt zu einem letzten großen Kreativitäts- und Bekanntheitsschub mit Büchern zur Idee des Weltethos, zu Fragen einer ethisch verantwortbaren Politik und Wirtschaft und den Möglichkeiten einer globalen Verständigung auf ein Minimum an gemeinsamen Werten. Streng genommen sind das weder religiöse noch theologische Projekte; sie sind aber dort angelangt, wo christliche Glaubenspraxis hingehört, nämlich bei der Gestaltung einer gerechten und versöhnten Welt.
– Hinzukommende Themenbereiche, denen sich Hans Küng zuwandte (Abhandlungen und Essays zu Kunst, Literatur, Naturwissenschaften, Paradigmentheorie, zu historischen Persönlichkeiten und Entwicklungen) werden hier ebenso ausgeklammert wie die Tatsache, dass die genannten Themen einander auch überlagerten und unter neuen Problemstellungen zurückkamen, so etwa Fragen der Kirchenreform, die heute noch drängender sind als vor 55Jahren.
Gewiss finden diese vier Phasen im vorliegenden Band ihren Niederschlag, wie schon das Inhaltsverzeichnis zeigt. Beabsichtigt ist aber kein geschlossenes System, sondern eine Vielfalt interessanter Textstücke, die zum Weiterlesen einladen. Küngs Bücher können zwar Konzentration erfordern und weit in die Forschungslabore von Theologen, Religionswissenschaftlern, Kulturspezialisten, Politologen, Naturwissenschaftlern oder Wirtschaftskundigen hineinreichen, aber immer wirken sie erhellend und erfrischend. Sie lesen sich mal als mitreißende Polemik, öfters als informationsreiche Erkundungstour, in vielen Fällen wie ein spannender Roman, den man nicht mehr aus der Hand legt. Und weil sich Theologie und Kirche seit 50Jahren leider im Kreise drehen, sind selbst seine theologischen Werke von damals noch aktuell. Sogar sein Buch »Die Kirche«, vor genau 45Jahren erschienen, enthält schon alle aktuellen Reformprogramme, die dem Vatikan noch heute die Ruhe rauben.
Dieses Buch ist Hans Küng zu seinem 85. Geburtstag gewidmet. Wir feiern diesen Tag mit großer Dankbarkeit für sein Lebenswerk; denn wir sind davon überzeugt: Seine globalen Wirkungen innerhalb und außerhalb der Kirche sind noch lange nicht ausgeschöpft. Angesichts seines Alters will der Gefeierte jetzt alle seine Ämter und Funktionen niederlegen, die er noch immer mit Tatkraft in voller Präsenz zu versehen weiß. Wer würde das nicht verstehen! Doch wissen wir auch: Seinen geliebten Schreibtisch, an dem er schon die ersten Tübinger Bücher geschrieben hat, wird er bestimmt nicht entsorgen und wir können uns nicht vorstellen, dass seine Energie über Nacht versiegen wird.
Mit dieser Textsammlung möchten wir Hans Küng auch persönlich Dank sagen: dem unermüdlichen und stets neugierigen Forscher und Denker, dem großartigen Inspirator und Lehrer, dem motivierendem Chef und vertrauensvollen Kollegen, kurz: einem wunderbaren Menschen, der unser beider Leben geprägt hat und dem wir beide sehr viel verdanken.
Doch einstweilen wünschen wir dem vorliegenden Buch eine große Verbreitung. Es möge zum Türöffner werden zu Hans Küngs Schrifttum, also zu vielen spannenden Exkursionen über Gott und die Welt, den Frieden und die Versöhnung, auf den die ganze Menschheit hofft und in deren Dienst er immer noch arbeitet.
Tübingen, im Dezember 2012
Hermann Häring
Stephan Schlensog
Gruß an den Leser
Was bleiben soll von meinem Denken, kann ich nur als Hoffnung formulieren: Ich hoffe, dass meine Kerngedanken zu Gott und Jesus Christus, zu existentiellen Fragen des Menschseins, zu Weltreligionen, Weltfrieden und Weltethos bleiben. Bleiben als Antworten auf schwierige Probleme, als Hilfe für Leben und Glauben, als Impulse zum Weiterdenken und Handeln.
So oft wurde ich gefragt: »Ich möchte mich mehr mit Ihrem Denken befassen, aber wo soll ich anfangen? An die großen Bücher wage ich mich nicht, und die kleineren treffen vielleicht nicht das Zentrum?« Dieses Buch hier nun ermöglicht, zentrale Texte meines Denkens kennenzulernen und so Zugang zu den großen Kernthemen meines theologischen Schaffens zu finden. Das wird sicher spannend sein für den neuen Leser, aber auch interessant für den damit vertrauten. Ich habe selber meine eigenen Texte, auch wenn sie mehrere Jahrzehnte zurückliegen, mit Dankbarkeit und Freude wiedergelesen.
Was von unserem Œuvre bleibt, was vergessen wird, was Bestand hat oder was vielleicht erst viel später wieder Bedeutung erhält, darüber befindet nicht der Autor, darüber urteilt der Leser, der gegenwärtige und der künftige. Und deshalb habe ich auch die Bücher, die ich geschrieben habe, nie gezählt. Ich habe sie gewichtet, nach geistigem Aufwand, nach Reichweite und Tiefgang der Problematik, nach Wirkung und Auswirkung. Aber ich habe mich stets geweigert, die Frage zu beantworten, welches denn mein wichtigstes Buch sei. Das weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen. Das kann posthum – wenn alle Urteile über Orthodoxie und Katholizität, alle Konkurrenz, Ressentiments, Rivalität und Neid endgültig der Vergangenheit angehören werden – ganz anders aussehen als zu meinen Lebzeiten. Und erst recht ganz anders nach ein paar Jahren, wenn die Situation von Welt, Kirche und Theologie wieder einmal völlig anders sein wird. Was bleibt: Vielleicht wird man sich dann an schon längst Gedachtes und Vorgeschlagenes, Gewünschtes und Gefordertes erinnern. Wer weiß?
Dass ich dieses Buch neben der Arbeit am dritten Band meiner Erinnerungen veröffentliche, verdanke ich der Überzeugungskraft und Hartnäckigkeit meines langjährigen Lektors beim Piper Verlag, Ulrich Wank. Die höchst kundige Auswahl der Texte aber verdanke ich meinen treuen theologischen Wegbegleitern und Freunden Professor Dr.Hermann Häring und Dr.Stephan Schlensog. Sie sind seit Jahrzehnten mit meinem Werk bestens vertraut und konnten mit dem Blick des Lesers die geeigneten Texte zusammenstellen. So haben sie dem Autor die Qual der Wahl erspart.
Dieses Buch erscheint pünktlich zur Vollendung meines 85. Lebensjahres und ist das schönste Geburtstagsgeschenk, das ich mir denken kann.
Tübingen, Neujahr 2013
Hans Küng
1. Gott – Grund, Halt und Ziel
Gott Existiert
Zu Hans Küngs wichtigen Veröffentlichungen zählt das 1978 erschienene Werk »Existiert Gott?«, das in 875Seiten die neuzeitliche Gottesfrage aufarbeitet. Der Kern von Küngs eigener Antwort wird hier wiedergegeben.
Nein oder Ja zu Gott möglich
Die Auseinandersetzung mit Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche hat es gezeigt: Eines kann dem Atheismus nie bestritten werden – ein Nein zu Gott ist möglich. Der Atheismus läßt sich nicht rational eliminieren: Er ist unwiderlegbar! … Die Auseinandersetzung mit Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche hat freilich auch ein anderes gezeigt: Der Atheismus seinerseits kann auch die andere Alternative nicht positiv ausschließen – auch ein Ja zu Gott ist möglich. Der Atheismus läßt sich nicht rational etablieren: Er ist unbeweisbar!
Warum? Es ist die Wirklichkeit in aller Fraglichkeit, die genügend Anlaß gibt, um nicht nur ein vertrauendes Ja zu dieser Wirklichkeit, ihrer Identität, Sinnhaftigkeit und Werthaftigkeit zu wagen, sondern darüber hinaus auch ein Ja zu dem, ohne den die Wirklichkeit in allem Begründen letztlich unbegründet, in allem Halten letztlich haltlos, in allem Sich-Entwickeln letztlich ziellos erscheint: ein vertrauendes Ja also zu einem Urgrund, Urhalt und Urziel der fraglichen Wirklichkeit.
Also: Es gibt tatsächlich kein schlüssiges Argument für die Notwendigkeit des Atheismus. Es kann auch nicht positiv widerlegt werden, wer sagt: Es ist ein Gott! Gegen ein solches von der Wirklichkeit selber her sich aufdrängendes Vertrauen kommt der Atheismus seinerseits nicht an. Auch die Bejahung Gottes beruht zutiefst auf einer Entscheidung, die wiederum mit der Grundentscheidung zur Wirklichkeit überhaupt in Zusammenhang steht. Auch sie ist rational unwiderlegbar.
Gott – eine Sache des Vertrauens
Die Alternativen sind deutlich geworden: Ein Nein oder Ja zu Gott ist möglich. Stehen wir also nicht … vor einem Patt, einem Unentschieden? Hier genau liegt der entscheidende Knoten zur Lösung der Frage nach der Existenz Gottes …: Wenn Gott ist, ist er die Antwort auf die radikale Fraglichkeit der Wirklichkeit. Daß Gott ist, kann angenommen werden, nicht stringent aufgrund eines Beweises oder Aufweises der reinen Vernunft (Natürliche Theologie), nicht unbedingt aufgrund eines moralischen Postulates der praktischen Vernunft (Kant), nicht ausschließlich aufgrund des biblischen Zeugnisses (Dialektische Theologie). Daß Gott ist, kann nur in einem – in der Wirklichkeit selbst begründeten – Vertrauen angenommen werden.
Schon dieses vertrauende Sich-Einlassen auf einen letzten Grund, Halt und Sinn der Wirklichkeit – und nicht erst das Sich-Einlassen auf den christlichen Gott – wird im allgemeinen Sprachgebrauch zu Recht als »Glauben« an Gott bezeichnet: als »Gottesglaube«. Entsprechend dem »Grundvertrauen« könnte man auch generell von »Gottvertrauen« reden, wenn dieses Wort nicht allzu theologisch oder emotional besetzt wäre. Um dieses wichtige Wort nicht völlig dem Verschleiß preiszugeben, sprechen wir manchmal in bewußter Analogie zum »Grundvertrauen« von »Gott-Vertrauen«. Dabei geht es selbstverständlich um echten Glauben, freilich in einem weiten Sinn: Insofern solcher Glaube nicht notwendig von der christlichen Verkündigung provoziert sein muß, sondern auch Nichtchristen (Juden, Moslems, Hindus …) möglich ist. Die Menschen, die sich zu einem solchen Glauben bekennen, werden zu Recht – ob Christen oder Nichtchristen – als »Gottgläubige« bezeichnet. Demgegenüber erscheint der Atheismus, insofern er Verweigerung des Vertrauens zu Gott ist, wiederum im allgemeinen Sprachgebrauch durchaus zu Recht als »Unglaube«.
So hat sich gezeigt: Nicht nur bezüglich der Wirklichkeit als solcher, nein, auch bezüglich eines Urgrunds, Urhalts und Urziels der Wirklichkeit ist für den Menschen eine – freie, wenn auch nicht willkürliche – Entscheidung unumgänglich: Da sich die Wirklichkeit und ihr Urgrund, Urhalt und Urziel nicht mit zwingender Evidenz aufdrängen, bleibt Raum für die Freiheit des Menschen. Der Mensch soll sich entscheiden, ohne intellektuellen Zwang, allerdings auch ohne rationalen Beweis. Atheismus wie Gottesglaube sind also ein Wagnis – und ein Risiko. Gerade die Kritik an den Gottesbeweisen macht es klar: Glaube an Gott hat Entscheidungscharakter, und umgekehrt: Entscheidung für Gott hat Glaubenscharakter.
Um eine Entscheidung also, um eine Lebensentscheidung, geht es in der Gottesfrage, die freilich in eine noch ganz andere Tiefe reicht als die angesichts des Nihilismus notwendige Entscheidung für oder gegen die Wirklichkeit als solche: Sobald diese letzte Tiefe für den Einzelnen aufbricht und sich die Frage stellt, wird die Entscheidung unumgänglich. Wie beim Grundvertrauen, so gilt auch in der Gottesfrage: Wer nicht wählt, wählt: Er hat gewählt, nicht zu wählen. Stimmenthaltung in einer Vertrauensabstimmung zur Gottesfrage bedeutet Vertrauensverweigerung, faktisch ein Mißtrauensvotum. Wer hier nicht – zumindest faktisch – Ja sagt, sagt Nein.
Doch leider stehen die »Tiefe« (oder »Höhe«) einer Wahrheit und die Sicherheit ihrer Annahme durch den Menschen in umgekehrtem Verhältnis. Je banaler die Wahrheit (»Binsenwahrheit«, »Platitüde«), desto größer die Sicherheit. Je bedeutsamer die Wahrheit (etwa im Vergleich zur arithmetischen die ästhetische, moralische, religiöse Wahrheit), um so geringer die Sicherheit. Denn: Je »tiefer« die Wahrheit für mich ist, um so mehr muß ich mich für sie erst aufschließen, innerlich bereiten, mich mit Intellekt, Wille, Gefühl auf sie einstellen, um zu jener echten »Gewißheit« zu kommen, die etwas anderes ist als abgesicherte »Sicherheit«. Eine für mich äußerlich unsichere, von Zweifeln bedrohte tiefe Wahrheit (Gott existiert), die ein starkes Engagement meinerseits voraussetzt, kann viel mehr Erkenntniswert besitzen als eine sichere oder gar »absolut« sichere banale Wahrheit (2x2=4).
Der Gottesglaube als letztlich begründetes Grundvertrauen
Folgt aber aus der Möglichkeit des Ja oder Nein nicht die Gleichgültigkeit des Ja oder Nein? Keineswegs! Das Nein zu Gott bedeutet ein letztlich unbegründetes Grundvertrauen zur Wirklichkeit: Der Atheismus vermag keine Bedingung der Möglichkeit der fraglichen Wirklichkeit anzugeben. Wer Gott verneint, weiß nicht, warum er letztlich der Wirklichkeit vertraut.
Das heißt: Der Atheismus lebt, wenn schon nicht aus einem nihilistischen Grundmißtrauen, so jedenfalls aus einemletztlich unbegründeten Grundvertrauen. Im Nein zu Gott entscheidet sich der Mensch gegen einen ersten Grund, tiefsten Halt, ein letztes Ziel der Wirklichkeit. Im Atheismus erweist sich das Ja zur Wirklichkeit als letztlich unbegründet: ein frei treibendes, nirgendwo verankertes, gehaltenes, gerichtetes und deshalb paradoxes Grundvertrauen. Im Nihilismus ist ein Ja zur Wirklichkeit wegen des radikalen Grundmißtrauens überhaupt nicht möglich. Der Atheismus vermag keine Bedingung der Möglichkeit der fraglichen Wirklichkeit anzugeben. Deshalb läßt er, wenn gewiß auch nicht jede, so doch eine radikale Rationalität vermissen, was er freilich oft verschleiert durch ein rationalistisches, aber im Grund irrationales Vertrauen zur menschlichen Vernunft.
Nein, es ist nicht gleichgültig, ob man Ja oder Nein zu Gott sagt: Der Preis, den der Atheismus für sein Nein zahlt, ist offenkundig! Er setzt sich der Gefährdung durch eine letzte Grundlosigkeit, Haltlosigkeit, Ziellosigkeit aus: der möglichen Zwiespältigkeit, Sinnlosigkeit, Wertlosigkeit, Nichtigkeit der Wirklichkeit überhaupt. Der Atheist setzt sich, wenn er sich dessen bewußt wird, auch ganz persönlich der Gefährdung durch eine radikale Verlassenheit, Bedrohtheit und Verfallenheit aus mit allen Folgen des Zweifels, der Angst, ja der Verzweiflung. Dies alles natürlich nur, wenn Atheismus Ernstfall und nicht intellektuelle Attitüde, snobistische Koketterie, öd gedankenlose Oberflächlichkeit ist.
Für den Atheisten bleiben jene letzten und doch zugleich nächsten und durch kein Frageverbot zu verdrängenden »ewigen« Fragen des menschlichen Lebens unbeantwortet, die sich nicht nur an den Grenzen des Menschenlebens, sondern mitten im persönlichen und gesellschaftlichen Leben stellen. Um nochmals an die Fragen Kants anzuknüpfen:
Was können wir wissen? Warum gibt es überhaupt etwas? Warum ist nie nichts? Woher kommt der Mensch und wohin geht er? Warum ist die Welt, wie sie ist? Was ist der letzte Grund und Sinn aller Wirklichkeit?
Was sollen wir tun? Warum tun wir, was wir tun? Warum und wem sind wir letztlich verantwortlich? Was verdient schlechthinnige Verachtung, was Liebe? Was ist der Sinn von Treue und Freundschaft, aber auch der von Leid und Schuld? Was ist für den Menschen entscheidend?
Was dürfen wir hoffen? Wozu sind wir auf Erden? Was soll das Ganze? Gibt es etwas, was uns in aller Nichtigkeit trägt, was uns nie verzweifeln läßt? Ein Beständiges in allem Wandel, ein Unbedingtes in allem Bedingten? Ein Absolutes bei der überall erfahrenen Relativität? Was bleibt uns: der Tod, der am Ende alles sinnlos macht? Was soll uns Mut zum Leben und was Mut zum Sterben geben?
Wahrhaftig, all dies sind Fragen, die aufs Ganze gehen: Fragen nicht nur für Sterbende, sondern für Lebende. Nicht nur für Schwächlinge und Uniformierte, sondern gerade für Informierte und Engagierte. Nicht Ausflüchte vor dem Handeln, sondern Anreiz zum Handeln. All dies sind Fragen, die im Atheismus zutiefst unbeantwortet bleiben. Dagegen die These: Das Ja zu Gott bedeutet ein letztlich begründetes Grundvertrauen zur Wirklichkeit: Der Gottesglaube als das radikale Grundvertrauen vermag die Bedingung der Möglichkeit der fraglichen Wirklichkeit anzugeben. Wer Gott bejaht, weiß, warum er der Wirklichkeit vertrauen kann.
Der Gottesglaube lebt aus einem letztlich begründeten Grundvertrauen: Im Ja zu Gott entscheide ich mich vertrauensvoll für einen ersten Grund, tiefsten Halt, ein letztes Ziel der Wirklichkeit. Im Gottesglauben erweist sich mein Ja zur Wirklichkeit als letztlich begründet und konsequent: ein in der letzten Tiefe, im Grund der Gründe verankertes und auf das Ziel der Ziele gerichtetes Grundvertrauen. Mein Gott-Vertrauen als qualifiziertes, radikales Grundvertrauen vermag also die Bedingung der Möglichkeit der fraglichen Wirklichkeit anzugeben. Insofern zeigt es, anders als der Atheismus, eine radikale Rationalität, die freilich nicht einfach mit Rationalismus verwechselt werden darf.
Nein, es gibt kein Patt zwischen Gottesglauben und Atheismus! Der Preis, den der Gottesglaube für sein Ja erhält, ist offenkundig. Weil ich mich statt für das Grundlose für einen Urgrund, statt für das Haltlose für einen Urhalt, statt für das Ziellose für ein Urziel vertrauensvoll entscheide, vermag ich nun mit gutem Grund bei aller Zwiespältigkeit eine Einheit, bei aller Wertlosigkeit einen Wert, bei aller Sinnlosigkeit einen Sinn der Wirklichkeit von Welt und Mensch zu erkennen. Und bei aller Ungewißheit und Ungesichertheit, Verlassenheit und Ungeborgenheit, Bedrohtheit, Verfallenheit, Endlichkeit auch meines eigenen Daseins ist mir vom letzten Ursprung, Ursinn und Urwert her eine radikale Gewißheit, Geborgenheit und Beständigkeit geschenkt – geschenkt. Freilich nicht einfach abstrakt, isoliert von den Mitmenschen, sondern immer in einem konkreten Bezug zum menschlichen Du: Wie anders soll insbesondere der junge Mensch erfahren, was es heißt, von Gott angenommen zu sein, wenn er von keinem einzigen Menschen angenommen ist?
So erhalten jene letzten und nächsten Fragen des Menschen eine zumindest grundsätzliche Antwort, mit der der Mensch leben kann: eine Antwort aus der allerletzten-allerersten Wirklichkeit Gottes. Und um das ganze Gewicht der Antwort zu ermessen, lese man jetzt nochmals den vorausgegangenen Abschnitt »Was sich änderte, wenn«!
Gottesglaube rational verantwortet
Es ist nach all dem offensichtlich: Von einem Patt, einem Unentschieden zwischen Gottesglauben und Atheismus kann keine Rede sein. Der Mensch erscheint denn auch nicht einfach indifferent gegenüber der Entscheidung zwischen Atheismus und Gottesglauben. Er ist schon vorbelastet: An sich möchte er die Welt und sich selbst verstehen, möchte auf die Fraglichkeit der Wirklichkeit eine Antwort, möchte die Bedingung der Möglichkeit der fraglichen Wirklichkeit erkennen, möchte um einen ersten Grund, einen tiefsten Halt und ein letztes Ziel der Wirklichkeit wissen, möchte den Ursprung, Ursinn, Urwert kennen. Das Urfaktum Religion gründet hier.
Doch auch hier bleibt der Mensch – in Grenzen – frei. Er kann Nein sagen. Er kann mit Skepsis alles aufkeimende Vertrauen zu einem letzten Grund, Halt und Ziel ignorieren oder gar ersticken: Er kann, vielleicht durchaus ehrlich und wahrhaftig, ein Nichtwissen-Können bezeugen: Agnostizismus mit Tendenz zum Atheismus; oder er kann eine durchgängige Nichtigkeit, eine Grund- und Ziellosigkeit, Sinn- und Wertlosigkeit der ohnehin fraglichen Wirklichkeit behaupten: Atheismus mit Tendenz zum Nihilismus. Wie schon beim Grundvertrauen, so gilt auch hier: Ohne Bereitschaft keine Einsicht, ohne Öffnung kein Empfangen! Und selbst wenn ich Ja zu Gott sage, bleibt das Nein ständige Versuchung.
Aber wie das Grundvertrauen, so ist auch das Gott-Vertrauen keineswegs irrational. Wenn ich mich der Wirklichkeit nicht verschließe, sondern mich ihr öffne, wenn ich mich dem allerletzten-allerersten Grund, Halt und Ziel der Wirklichkeit nicht entziehe, sondern es wage, mich dran- und hinzugeben: So erkenne ich zwar nicht bevor, aber auch nicht nur erst nachher, sondern indem ich dies tue, daß ich das Richtige, ja im Grunde das »Allervernünftigste« tue. Denn, was sich im voraus nicht beweisen läßt, das erfahre ich im Vollzug, im Akt des anerkennenden Erkennens selbst: Die Wirklichkeit vermag sich in ihrer eigentlichen Tiefe zu manifestieren; ihr erster Grund, tiefster Halt, letztes Ziel, ihr Ursprung, Ursinn, Urwert schließen sich mir auf, sobald ich mich selber aufschließe. Zugleich erfahre ich in aller Fraglichkeit eine radikale Vernünftigkeit meiner eigenen Vernunft: Das grundsätzliche Vertrauen zur Vernunft ist von daher nicht irrational. Es ist rational begründet. Die letzte und erste Wirklichkeit, Gott, erscheint so geradezu als der Garant der Rationalität der menschlichen Ratio!
Wenn der Mensch im Gottesglauben das »Allervernünftigste« tut, um was für eine Art von Rationalität handelt es sich hier? Diese Rationalität ist derjenigen des Grundvertrauens ähnlich:
•Keine äußere Rationalität, die eine abgesicherte Sicherheit verschaffen könnte: Die Existenz Gottes wird nicht zuerst vernünftig bewiesen oder aufgewiesen und dann geglaubt, was so die Rationalität des Gottesglaubens garantierte. Nicht zuerst rationale Erkenntnis Gottes, dann vertrauende Anerkenntnis. Die verborgene Wirklichkeit Gottes zwingt sich der Vernunft nicht auf,
•Eine innere Rationalität vielmehr, die eine grundlegende Gewißheit gewähren kann: Im Vollzug, durch die »Praxis« des wagenden Vertrauens zu Gottes Wirklichkeit, erfährt der Mensch bei aller Anfechtung durch Zweifel die Vernünftigkeit seines Vertrauens: gegründet in einer letzten Identität, Sinn- und Werthaftigkeit der Wirklichkeit, in ihrem Urgrund, Ursinn, Urwert.
Ist so nun der Zusammenhang zwischen Grundvertrauen und Gottesglauben nicht offenkundig geworden? Material gesehen bezieht sich das Grundvertrauen auf die Wirklichkeit als solche (und auf mein eigenes Dasein), das Gott-Vertrauen aber auf Urgrund, Urhalt und Urziel der Wirklichkeit. Trotzdem zeigen Grundvertrauen und Gott-Vertrauen, formal gesehen, eine analoge Struktur, die im materialen Zusammenhang (bei allem Unterschied) von Grundvertrauen und Gott-Vertrauen ihre Wurzel hat. Denn: Wie das Grundvertrauen, so ist auch der Gottesglaube
•eine Sache nicht nur der menschlichen Vernunft, sondern des ganzen konkreten lebendigen Menschen: mit Geist und Leib, Vernunft und Trieben, in seiner ganz bestimmten geschichtlichen Situation, in der Abhängigkeit von Traditionen, Autoritäten, Denkgewohnheiten, Wertschemata, mit seinen Interessen und in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit. Von dieser »Sache« kann der Mensch nicht reden und sich selber aus der »Sache« heraushalten;
•also überrational: Wie für die Wirklichkeit der Wirklichkeit, so gibt es auch für die Wirklichkeit Gottes keinen logisch zwingenden Beweis. Der Gottesbeweis ist so wenig wie die Liebe logisch zwingend. Das Gottesverhältnis ist ein Vertrauensverhältnis;
•aber nicht irrational: Es gibt eine von der menschlichen Erfahrung ausgehende und an die freie menschliche Entscheidung appellierende Reflexion über die Wirklichkeit Gottes. Der Gottesglaube läßt sich gegenüber einer rationalen Kritik rechtfertigen. Er hat einen Anhalt an der erfahrenen fraglichen Wirklichkeit selbst, die erste und letzte Fragen nach der Bedingung ihrer Möglichkeit aufgibt;
•somit eine nicht blinde und wirklichkeitsleere, sondern eine begründete, wirklichkeitsbezogene und im konkreten Leben rational verantwortete Entscheidung: Ihre Relevanz wird an der Wirklichkeit der Welt und des Menschen für die existentiellen Bedürfnisse wie die gesellschaftlichen Verhältnisse ersichtlich;
•im konkreten Bezug zum Mitmenschen vollzogen: Ohne die Erfahrung eines Angenommenseins durch Menschen scheint die Erfahrung eines Angenommenseins durch Gott schwierig zu sein;
•nicht ein für allemal gefaßt, sondern stets neu zu realisieren: Nie ist der Gottesglaube gegenüber dem Atheismus durch rationale Argumente unangreifbar und krisenfest abgesichert. Der Gottesglaube ist stets bedroht und muß gegenüber den andrängenden Zweifeln stets in neuer Entscheidung realisiert, durchgehalten, gelebt, errungen werden: Der Mensch bleibt auch gegenüber Gott selbst in den unaufhebbaren Gegensatz zwischen Vertrauen und Mißtrauen, Glauben und Unglauben gestellt. Aber gerade durch alle Zweifel hindurch bewährt sich das Ja zu Gott in Treue zur einmal getroffenen Entscheidung: es wird ein geprüfter und bewährter Gottesglaube.
Gottesglaube als Geschenk
Gottesglaube ist vertrauende Entscheidung des Menschen, ist meine Tat. Dies hat mit Rationalismus oder Pelagianismus nichts zu tun. Denn wie schon angedeutet: Nicht schon vorher – aufgrund eines Beweises oder Aufweises –, sondern erst indem ich mich vertrauend auf sie einlasse, eröffnet mir die Wirklichkeit selber ihren ersten Grund, tiefsten Halt, ihr letztes Ziel. Deshalb gilt der Satz: Ohne Bereitschaft zur vertrauenden Anerkenntnis Gottes (die praktische Konsequenzen hat!), gibt es keine rational sinnvolle Erkenntnis Gottes! Wie beim Grundvertrauen, so wird von mir auch beim Gott-Vertrauen ein Vorschuß, ein Wagnis, ein Risiko erwartet.
Aber wie das Grundvertrauen, so läßt sich auch das Gott-Vertrauen nicht einfach beschließen, wollen, erzwingen oder machen. Letzte Gewißheit, Geborgenheit, Beständigkeit kann ich mir nicht einfach selber schaffen oder verschaffen. Gott … ist kein unmittelbarer Gegenstand der Erfahrung; er gehört nicht zum Seienden, zu den in der Erfahrung vorfindbaren Objekten: Keine Intuition oder Spekulation, keine direkte Erfahrung oder unmittelbare Erkenntnis vermag ihn zu »schauen«. Gerade so erscheint der Gottesglaube als Geschenk:
Es ist die rätselhafte Wirklichkeit selbst, die mich – oft wider den Augenschein – einlädt und herausfordert, mich grundsätzlich auf einen Urgrund, einen Urhalt, ein Urziel in ihr einzulassen, und mir so mein Gott-Vertrauen ermöglicht.
Es ist die rätselhafte Wirklichkeit selbst, bei der sozusagen die »Initiative« liegt: die mir den verborgenen Ursprung, Ursinn und Urwert auch meines eigenen Daseins manifestiert.
Es ist die rätselhafte Wirklichkeit selbst, die mir die »Vertrauensbasis« liefert für jenes »Vertrauensvotum«, das für Gottes Wirklichkeit in dieser Weltwirklichkeit abgegeben werden soll.
Es ist die rätselhafte Wirklichkeit selbst, die mir ermöglicht, daß bei allem Zweifel, aller Angst und Verzweiflung die Geduld im Blick auf die Gegenwart, die Dankbarkeit im Blick auf die Vergangenheit, die Hoffnung im Blick auf die Zukunft letztlich begründet ist. Somit gilt:
Der Gottesglaube ist ein Geschenk! Die Wirklichkeit ist mir vorgegeben. Schließe ich mich nicht ab, sondern öffne ich mich der sich öffnenden Wirklichkeit ganz, so kann ich ihren ersten Grund, ihren tiefsten Halt, ihr letztes Ziel glaubend annehmen: Gott, der sich als Ursprung und Urwert offenbart!
Offenbart? Ist es theologisch gestattet, im Zusammenhang der allgemeinen – und gerade nicht spezifisch christlichen – Gotteserkenntnis von »Offenbarung« zu reden? Daß Gott im christlichen Verständnis von allen Menschen, auch den Nichtjuden und Nichtchristen, erkannt werden kann, haben wir dargelegt: Dies wird vom ganzen Alten und Neuen Testament, von der gesamten katholischen, orthodoxen und reformatorischen Tradition (mit Ausnahme der Dialektischen Theologie) als selbstverständlich vorausgesetzt und auch von der Religionsgeschichte bestätigt. Und gerade der Apostel Paulus, der sonst über die Heiden als Gruppe pauschal negativ urteilen kann, setzt im Römerbrief nicht nur eine faktische Gotteserkenntnis der Heiden aufgrund der Welterkenntnis voraus, sondern spricht geradezu von »Offenbarung«: »Weil das, was man von Gott erkennen kann, unter ihnen offenbar ist; denn Gott hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, ist ja seit Erschaffung der Welt, wenn man es in den Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie keine Entschuldigung haben, deshalb, weil sie Gott zwar kannten, ihm aber doch nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen.« Dies wird im Johannesprolog und besonders – mit Entschuldigung der Heiden und ihres Nichtwissens – in der Apostelgeschichte bestätigt. Gott existiert; es ist legitim, hier von Offenbarung und auch von Gnade zu reden.
»Existiert Gott?« (1978), S.624–640.
Der Gott der Liebe
Aus der Botschaft Jesu ergibt sich die Liebe als die zentrale Eigenschaft Gottes. Das bedeute, dass Gott den Menschen nahe ist. Hans Küng spricht in diesem kurzen Text vom menschenfreundlichen und mit-leidenden Gott.
Vom Leben betrogen?
Simone de Beauvoir, die Gefährtin Jean-Paul Sartres, älter geworden, beschließt den dritten Band ihrer Memoiren »Der Lauf der Dinge« (1963)mit einem Rückblick auf das von ihr so leidenschaftlich bejahte Leben: »Manchmal ist mir der Gedanke, mich ins Nichts aufzulösen, genauso abscheulich wie früher. Voller Melancholie denke ich an all die Bücher, die ich gelesen, an all die Orte, die ich besucht habe, an das Wissen, das sich angehäuft hat und das nicht mehr da sein wird. Die ganze Musik, die ganze Malerei, die ganze Kultur, soviele Bindungen: plötzlich bleibt nichts mehr … Wenn ich wenigstens die Erde bereichert, wenn ich etwas geschaffen hätte … was denn? Einen Hügel? Eine Rakete? Aber nein. Nichts wird stattgefunden haben. Ich sehe die Haselstrauchhecke vor mir, durch die der Wind fuhr, ich höre noch die Versprechungen, mit denen ich mein Herz berauschte, als ich diese Goldmine zu meinen Füßen betrachtete, ein ganzes Leben, das vor mir lag. Sie wurden erfüllt. Aber wenn ich jetzt einen ungläubigen Blick auf dieses leichtlebige junge Mädchen werfe, entdecke ich voller Bestürzung, wie sehr ich geprellt worden bin.«
Sind wir vielleicht doch allesamt Geprellte? Oder gibt es einen Sinn, nicht nur für die Jugend, sondern auch für das Alter, nicht nur für Zeiten des Glücks, sondern auch für Zeiten des Unglücks, für Zeiten des Leids?
Daß Leid tatsächlich der Testfall ist für Grundvertrauen und Gott-Vertrauen, für den alttestamentlichen wie den neutestamentlichen Gottesglauben, wird von vielen Menschen bezeugt. Immer wieder bricht die Frage hier auf, vor allem wenn es den Menschen unschuldig trifft: Warum konnte Gott das Übel nicht verhindern? Warum? Entweder er kann es nicht; ist er dann wirklich allmächtig? Oder er will es nicht; ist er dann noch der gute Gott, auf den ich mein Vertrauen setzen soll? Oder er kann und will es nicht, ist er dann nicht machtlos und mißgünstig zugleich? Nicht doch ein Despot, ein Betrüger, Spieler, Henker?
Gibt es denn angesichts der überwältigenden Realität des Leids im Menschenleben und in der Menschheitsgeschichte zur Hoffnungslosigkeit der Simone de Beauvoir eine Alternative? Eine Alternative auch zur Empörung etwa eines Iwan Karamasoff gegen diese für ihn inakzeptable Gotteswelt? Oder zur Revolte eines Camus, der wie Dostojewski auf die Leiden der unschuldigen Kreatur hinweist? Statt als emanzipierter, autonomer Prometheus sich gegen die Macht der Götter aufzulehnen oder aber wie Sisyphus den Felsblock vergeblich immer neu den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder herunterrollt, kann man, wie wir sahen, die Haltung des Hiob einnehmen: trotz allem Leid dieser Welt ein unbedingtes, unerschütterliches Vertrauen zum unbegreiflichen Gott. Aber die Frage kommt einem doch: Was ist das für ein unbegreiflicher, teilnahmsloser Gott, der, erhaben über allem Leid, Menschen in ihrem unermeßlichen Elend sitzen, kämpfen, protestieren, umkommen oder eben einfach resignieren und sterben läßt? Dies ist Anlaß zum Atheismus für viele.
Freilich, auch diese Frage läßt sich umkehren: Ist Gott wirklich so erhaben über allem Leid, wie wir ihn uns menschlich vorstellen und bei allen unseren Protesten voraussetzen, wie ihn gerade Philosophen denken? Gewiß kann einer sagen: Wenn man das unendliche Leid der Welt anschaut, kann man nicht glauben, daß es einen Gott gibt. Doch läßt sich auch umgekehrt sagen: Nur wenn es einen Gott gibt, kann man dies unendliche Leid der Welt überhaupt anschauen! Wir denken an den Göttlicheren Gott: Erscheint Gott nicht gerade in Leben und Leiden Jesu doch in einem anderen Licht? Ist in Jesu Leben und Leiden nicht über alle Unbegreiflichkeit Gottes hinaus, wie sie Hiob so schmerzlich erfuhr, eine definitive Erlösung durch den unbegreiflichen Gott offenbar geworden, die Leid und Tod zum ewigen Leben und zur Erfüllung aller Sehnsucht wandelt? Gewiß, das Faktum des Leidens kann auch von Jesus her nicht rückgängig gemacht werden; es bleibt immer ein Rest von Zweifel möglich. Nur das eine, allerdings Entscheidende, läßt sich vom Leben und Leiden dieses Einen den anscheinend sinnlos Lebenden und Leidenden sagen: Auch manifest sinnloses menschliches Leben und Leiden kann einen Sinn haben, kann einen Sinn bekommen!
Einen verborgenen Sinn: Ich kann ihn meinem Leben und Leiden nicht selbst anheften, aber ich kann ihn im Lichte des vollendeten Lebens und Leidens dieses Einen empfangen. Keine automatische Sinn-Gebung: Es sollkein menschliches Wunschdenken befriedigt, keine Leidverklärung proklamiert, kein psychisches Beruhigungsmittel, kein billiger Trost vermittelt werden. Wohl aber ein frei-bleibendes Sinn-Angebot. Auch hier muß ich mich entscheiden. Ich kann diesen – verborgenen – Sinn ablehnen: in Trotz, Zynismus oder Verzweiflung. Ich kann ihn auch annehmen: in glaubendem Vertrauen auf ihn, der dem sinnlosen Leiden und Sterben Jesu Sinn verliehen hat. Es erübrigt sich dann mein Protest, meine Empörung, die Frustration bleibt aus, die Verzweiflung hat ein Ende. Das Gott-Vertrauen als Verwurzelung des Grundvertrauens erreicht hier seine größte Tiefe.
Ein mit-leidender Gott
Dieses Sinn-Angebot bedeutet ganz konkret: Meine Situation mag noch so trostlos, sinnlos, verzweifelt sein – auch hier ist Gott da. Nicht nur im Licht und in der Freude, auch im Dunkel, in der Trauer, im Schmerz, in der Melancholie kann ich ihm begegnen. Was von Leibniz behauptet und von Dostojewski dunkel erspürt, das wird dem Hiob bestätigt und vom auferweckten Gekreuzigten her definitiv offenbar und gewiß: Auch mein Leiden ist von Gottumfangen, auch mein Leiden kann bei aller Gottverlassenheit Ort der Gottbegegnung werden. Damit weiß ich keinen Weg am Leid vorbei, aber ich weiß einen Weg hindurch: in aktiver Indifferenz letztlich gelassen gegenüber dem Leid und gerade so zum Kampf gegen das Leid und seine Ursachen bereit. Mit dem Blick auf den einen Leidenden und in glaubendem Vertrauen auf den, der in seinem und meinem Leid verborgen anwesend ist und der selbst in äußerster Bedrohung, Sinnlosigkeit, Nichtigkeit, Verlassenheit, Einsamkeit und Leere mich trägt und hält, darf ich wissen: Es ist ein Gott, der als Mit-Betroffener neben den Menschen steht, ein Gott, solidarisch mit den Menschen. Kein Kreuz der Welt kann das Sinn-Angebot widerlegen, das im Kreuz des zum Leben Erweckten ergangen ist.
Nirgendwo deutlicher als in Jesu Leben und Wirken, Leiden und Sterben ist es mir sichtbar geworden: Dieser Gott ist ein Gott für die Menschen, ein Gott, der ganz auf unserer Seite steht! Nicht ein angstmachender, theokratischer Gott »von oben«, wie man ihn mit Bloch noch im Alten Testament feststellen kann. Sondern ein menschenfreundlicher, mit-leidender Gott, »mit uns unten«. Nein, nicht ein grausamer Willkür- und Gesetzesgott hat sich mir in Jesus manifestiert, sondern ein mir als rettende Liebe begegnender Gott, der sich in Jesus mit mir solidarisiert hat, der Liebe nicht fordert, sondern schenkt: der selber ganz Liebe ist:»Denn Gott ist Liebe. Darin ist die Liebe Gottes zu uns offenbargeworden, daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.«
Gegen einen über allem Leiden in ungestörter Glückseligkeit oder apathischer Transzendenz thronenden Gott kann ich revoltieren. Aber nicht gegen den Gott, der mir in Jesu Leid sein ganzes Mit-Leid geoffenbart hat. Gegen eine abstrakt betrachtete Gerechtigkeit Gottes und gegen eine für die Gegenwart prästabilierte oder für die Zukunft postulierte Harmonie des Universums kann ich revoltieren. Aber nicht gegen die in Jesus manifest gewordene Liebe des Vaters der Verlorenen, die in ihrer voraussetzungslosen Grenzenlosigkeit auch mein Leid umfaßt, meine Empörung zum Schweigen bringt, meine Frustration überwindet und mir in allen anhaltenden Nöten ein Durchhalten und schließlich ein Obsiegen ermöglicht.
Gottes Liebe bewahrt mich nicht vor allem Leid. Sie bewahrt mich aber in allem Leid. So hebt für mich in der Gegenwart an, was freilich erst in Zukunft vollendet sein wird: der definitive Sieg der Liebe eines Gottes, der nicht ein teilnahmsloses und liebloses Wesen ist, den Leid und Unrecht nicht rühren können, sondern der sich in Liebe selber des Leids der Menschen angenommen hat und annehmen wird. Der Sieg der Liebe Gottes, wie sie Jesus verkündet und manifestiert hat, als der letzten, entscheidenden Macht: Das ist das Gottesreich! Denn die Sehnsucht Blochs, Horkheimers und Ungezählter in der Menschheitsgeschichte nach Gerechtigkeit in der Welt, nach echter Transzendenz, nach »dem ganz Anderen«, »daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«, soll in Erfüllung gehen. Wie auf den letzten Seiten der Schrift jenseits aller kritischen Theorie und kritischen Theologie verheißen: »Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein Er wird alle ihre Tränen abwischen. Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Qual. Was einmal war, ist für immer vorbei« (Apk 21,4).
»Existiert Gott?« (1978), S.757–760.
Gott und das Leid
Zum ersten Mal hat sich Hans Küng 1967
mit dem Problem des Leidens und der Theodizee auseinandergesetzt. Dem hier abgedruckten Kapitel zur Hiobsgestalt geht ein Kapitel zu Dostojewski unter dem Titel »Empörung« voraus.
Der Kampf des Hiob
Ob der Mensch Gott rechtfertigen kann? Ist denn die Frage richtig gestellt? »Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob.« Er war gottesfürchtig und dem Bösen feind. Er war glücklich und besaß alles: eine glückliche Familie und eine reiche Habe. Und er verlor alles: seine Familie, seine ganze Habe, seine Gesundheit, alle seine Freunde. Zum Bettler geworden, nackt wie er geboren, mit dem Aussatz behaftet saß er da: die Frage der Theodizee war gestellt.
In einer monumentalen Dramatik, die nicht in einer äußerlich fortschreitenden Handlung, sondern in einem ununterbrochenen Hin- und Hergerissensein zwischen Zweifel und Vertrauen, Empörung und Hingabe, Glaube und Unglaube besteht, setzt sich dieses einzigartige Dokument aus dem fünften bis zweiten vorchristlichen Jahrhundert – man hat es eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur genannt – mit der Frage des unverschuldeten Leidens und der Rechtfertigung Gottes auseinander. Durch Hiob wird mehr als eine philosophisch-theologische Denkfrage gestellt. Wie bei Dostojewski versucht hier ein Mensch, der im grundlosen Leid den Boden unter den Füßen verliert und sich gegen Gott empört, einen letzten Halt zu gewinnen.
Was sich an theoretischen Argumenten für den Sinn des Leidens und die Gerechtigkeit vorbringen läßt, wird Hiob von seinen Theodizee treibenden Freunden gesagt und wieder gesagt. Kommen sie doch von der »Weisheit« her, jener Geistesströmung und Geisteshaltung, die besonders in Ägypten, Griechenland, Syrien und, seit Salomos Zeiten, auch in Israel verbreitet war und die man – es ist im Zusammenhang mit Leibniz nicht unwichtig – eine typische Aufklärungserscheinung genannt hat. Mit den Mitteln einer rationalen Theologie und Ethik versuchen Hiobs Freunde des unbegreiflichen Leidens Herr zu werden. Was für Leibniz vor allem der gütige Gott ist, der aufs beste die Welt in prästabilierter Harmonie geschaffen und eingerichtet hat, das ist für Eliphas, Bildad und Zophar der gerechte Gott, der aufs beste einem jeden vergilt, dem Gerechten Lohn, dem Ungerechten Strafe, so daß im Gang des Menschenlebens die Rechnung aufgeht und Gott gerechtfertigt dasteht. Eliphas: »Besinne dich doch: Wer verdarb je unschuldig, wo wurden Gerechte vernichtet ? Soviel ich gesehen: Die, die Unrecht pflügen und Unheil sähen, die ernten es auch« (4,7f.). Bildad: »Wird wohl Gott das Recht verdrehen und der Allmächtige die Gerechtigkeit ? … Siehe, Gott verwirft den Frommen nicht und hält nicht fest die Hand der Missetäter« (8,3.20). Zophar: »Kannst du die Tiefen Gottes ergründen und die Vollkommenheit des Mächtigen fassen?… Denn er, er kennt die argen Leute, er sieht den Frevel und achtet darauf« (11,7.11).
Auf dieser theoretischen Grundlage setzen sich die Freunde mit Hiob auseinander, indem sie in ihrer klugen Disputierkunst alle Register ziehen: grundsätzliche Gedanken und belegende Beispiele, Verheißungen und Warnungen, Vorwürfe und Tröstungen, Appell an Hiobs Gerechtigkeit und Behauptung seiner Schuld und Sünde, Erinnerung an die einstige Frömmigkeit und Aussicht auf eine glücklichere Zukunft … Was aber soll diese ganze Gerechtigkeitslogik nützen einem Mann, auf dem das unergründliche Leid in einer Weise lastet, daß er den Tag seiner Geburt verwünscht (»Vernichtet sei der Tag, da ich geboren ward … Warum starb ich nicht bei meiner Geburt, verschied nicht, als ich aus dem Mutterschoß kam?« 3,3.11), der den Sinn seines Lebens nicht mehr einsieht (»Warum gibt er dem Elenden Licht, und Leben den Seelenbetrübten?« 3,20), der sich den Tod wünscht und gehören will zu denen,« die des Todes harren, und er kommt nicht, und die nach ihm mehr als nach Schätzen graben, die sich freuen würden bis zum Jubel, die frohlockten, fänden sie das Grab – dem Mann, dem sein Pfad verborgen und dem Gott jeden Ausweg sperrt« (3,21–23)? Ja, die Anfechtung ist übergroß, der Konflikt unüberwindbar, die Situation ausweglos! Hiob will Gottes Gerechtigkeit akzeptieren, doch sie erscheint ihm als Widerspruch. Er will glauben, ist aber verzweifelt. Er will zu Gott fliehen, muß ihn aber anklagen:
»Wieviel sind meiner Vergehen und Sünden?
Meine Schuld und Sünde laß mich wissen.
Warum verbirgst du dein Angesicht
und hältst mich für deinen Feind?« (13,23f.)
Hin und her wird Hiob gerissen zwischen Resignation und Lästerung. Wie er auch darum ringt und sich quält, über die Theodizeefrage kommt er nicht hinweg. Keine rationale Theorie und Deduktion hilft ihm weiter. Unlösbar bleibt für ihn die Frage, wie sich Gottes Gerechtigkeit zur Verteilung von Glück und Unglück verhält und wie des Menschen Schicksal sinnvoll sein soll. Der Tod verhüllt das Rätsel, gibt aber erst recht keine Lösung:
»Der eine stirbt inmitten seiner Kraft,
in tiefer Ruhe und im Frieden;
Der andere stirbt betrübten Herzens
und hat nie das Glück gekostet.
Zusammen betten sie sich in den Staub,
und der Moder deckt sie beide«. (21,23.25.26)
Die Antwort der Freunde auf Hiobs Klage aber sind neue Angriffe. Damit sie die Logik ihrer Theodizee, die mit den rationalen Kategorien von Lohn und Strafe arbeitet, aufrechterhalten können, scheuen sie auch vor Behauptungen einer persönlichen Schuld Hiobs nicht zurück: Wenn Hiob schon so schwer zu leiden hat, muß er auch schwer gefehlt haben. Auf diese Weise wird Hiob in die gefährliche Selbstverteidigung förmlich hineingetrieben. Das Unrecht im Unglück ist für ihn das Allerschlimmste. Selbst möchte er sich rechtfertigen vor Gott. Würde er mit seinem guten Gewissen und seiner sittlichen Rechtschaffenheit nicht als Redlicher gerechtfertigt dastehen? Ist da nicht – wir erinnern uns an Iwan – Empörung, Aufruhr erlaubt, geboten?
»Noch heute ist Aufruhr meine Klage,
und seine Hand liegt schwer auf meinem Stöhnen.
O daß ich wüßte, wo ich ihn fände,
daß ich gelangte vor seinen Thron!
Vorlegen wollte ich ihm die Sache
und meinen Mund mit Beweisen füllen,
wollte wissen, wie er mir Rede stünde,
und vernehmen, was er mir sagen könnte!
Würde er in Allmacht mit mir rechten?
Ach wollte er nur auf mich achten!
Da würde ein Redlicher mit ihm rechten,
und für immer rettete ich mein Recht.
Er weiß ja, welchen Weg ich wandle;
prüft er mich, wie Gold gehe ich hervor.
In seiner Spur blieb fest mein Fuß;
ich hielt ein seinen Weg und wich nicht ab.
Von dem Gebote seiner Lippen ließ ich nicht,
im Busen bewahrte ich die Reden seines Mundes.«
(23,2–7.10–12)
Wie soll Hiob je aus dem Widerspruch herauskommen? Immer wieder bäumt er sich leidenschaftlich auf gegen Gottes Unbegreiflichkeit, immer wieder sinkt er verzweifelnd zurück in seine eigene Erbärmlichkeit. Kann er denn trotz all seinem Leid je zugeben, daß er durch eine schwere Schuld das bisher ungebrochene Gottesverhältnis gestört habe? Andererseits, was soll ihm das Überzeugtsein von seiner Unschuld nützen, wenn Gott frei ist und sein Recht allein gilt? Trotz allen tröstlichen Durchstößen erscheint ihm Gott in der Maske des Dämons (16,7–17). Hiobs größte Anfechtung in seinem grundlosen Leiden ist in der Tat, daß Gott selbst gegen ihn, daß er sein Feind zu sein scheint. Gottes Handeln scheint ihm von einer erschreckenden Willkür und Gewalttätigkeit zusein:
»Er aber wollte es – wer mag ihm wehren?
Sein Herz begehrte es – und er vollbringt’s.
Denn er vollendet, was mir bestimmt ist,
und so hält er’s allewege.
Darum erschrecke ich vor seinem Angesichte,
betrachte ich’s, erzittre ich vor ihm.
Ja, Gott hat mir das Herz verzagt gemacht,
und der Allmächtige hat mich erschreckt.
Denn ich vergehe vor der Finsternis,
und mein Angesicht bedeckt das Dunkel.« (23,13–17)
Gottes Gerechtigkeit im Weltenlauf, die den brutalen Reichen hilft und die schwachen Armen im Stiche läßt, die die Versklavung der Waisenkinder erlaubt und die dunklen Verbrechen ungesühnt läßt, ist nicht zu erkennen: »Ist es nicht so? Wer will mich Lügen strafen und meine Rede zur Lüge machen?« (24,25) Hiob, der früher im Lichte der Gottesgemeinschaft stand, steht gottverlassen vor dem Untergang:
»Ich schreie zu dir, doch du erhörst mich nicht;
ich stehe vor dir, und du achtest nicht mein.
Du wandelst dich mir zum grausamen Feinde;
mit gewaltiger Hand befehdest du mich,
hebst auf den Sturm mich,
lässest mich dahinfahren,
lässest mich zergehen ohne Rettung.
Ja, ich weiß: dem Tode willst du mich zuführen,
dem Haus, wo alles Lebende sich einstellt.« (30,20–23)
Das Letzte, was Hiob tun kann, ist, noch einmal in feierlichster Form – in der Form eines Reinigungseides – seine Unschuld zu beteuern und sich selbst zu rechtfertigen: Weder der Begehrlichkeit noch der Falschheit, »weder des Ehebruchs noch der Ungerechtigkeit, weder der Ungastlichkeit noch der Heuchelei, weder des Geizes noch der Schadenfreude, weder der Hartherzigkeit noch des Aberglaubens braucht er sich zu zeihen. Wahrhaftig, steht er nach allen Schritten seines Lebens, die er Gott vorrechnen kann, nicht voll gerechtfertigt da? Darf er es nicht wagen, in kühner Selbstsicherheit – nicht als ein Schuldbeladener, sondern »wie ein Fürst« – sein Recht zu fordern, Gottes Urteil herauszufordern ?
»Ach, daß ich einen hätte, der mich hörte!
Hier meine Unterschrift.
Der Allmächtige gebe mir Antwort!
Hätt’ ich die Klageschrift,
die mein Widersacher schrieb!
Wahrlich, auf meine Schulter wollt’ ich sie heben,
als Kranz sie um das Haupt mir winden.
Die Zahl meiner Schritte wollt’ ich ihm kundtun,
wie ein Fürst wollte ich ihm nahen.« (31,35–37)
Ende der Leseprobe