Was die Nacht verschweigt: Die Fortsetzung von WAS DIE TOTEN BEWEGT – Eine packende und atmosphärische Erzählung in der Tradition von Edgar Allan Poe - T. Kingfisher - E-Book

Was die Nacht verschweigt: Die Fortsetzung von WAS DIE TOTEN BEWEGT – Eine packende und atmosphärische Erzählung in der Tradition von Edgar Allan Poe E-Book

T. Kingfisher

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alex Easton kehrt in einem neuen unheimlichen Abenteuer zurück. Alex Easton möchte der guten Miss Potter, einer Freundin, einen Gefallen tun und reist nach Gallazien. Dort findet Alex ihr Haus allerdings leer vor und der Hausmeister ist tot und über allem hängt eine unheimliche Stille. Die Einheimischen wollen nicht darüber sprechen, was passiert ist. Und keiner von ihnen will einen Fuß auf das Gelände setzen. Die Dorfbewohner flüstern etwas von einer unheimlichen Kreatur aus dem gallazischen Volksglauben. Easton weiß, dass nicht allzu viel Wert auf den Aberglauben der Einheimischen gelegt werden sollte, aber als beängstigende Visionen für schlaflose Nächte sorgen und sich die seltsamen Ereignisse häufen, bleibt keine Wahl, als sich dem dunklen Schatten zu stellen, der über dem Haus hängt … Die Fortsetzung von T. Kingfishers Bestseller-Novelle Was die Toten bewegt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 203

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dieses Buch widme ich den War Flamingos.

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

NACHWORT

KAPITEL

1

Ein Dichter beschrieb die Wälder Gallaziens einmal als so unergründlich und finster wie den Kummer Gottes. Und obgleich ich, was Dichter angeht, gemeinhin skeptisch bin, hat dieser damit wohl wortwörtlich ins Schwarze getroffen. Jedenfalls war der heimatliche Landstrich, den ich gerade durchritt, so unergründlich und finster, als entspränge er einem Märchen.

Der Herbst lag in den letzten Zügen und viele Bäume hatten ihr Blattwerk inzwischen ganz abgeworfen. Nun könnte man meinen, die Wälder würden lichter – doch wer das glaubt, der war vermutlich noch nie in Gallazien. Kiefern säumten die Straße wie spitze Zahnreihen, zwischen denen Eichen ihre kahlen Zweige wie arthritische Finger ausstreckten. Der tief hängende Himmel hatte die Farbe eines Bleigeschosses und schien beinahe die Baumwipfel zu berühren. Das und die Fuhrrillen, die in der Mitte der Straße einen Höcker bildeten, erweckten in mir das unangenehme Gefühl, geradewegs in den Schlund eines Riesen hineinzureiten.

Alles war nass. Von den Bäumen tropfte es beständig und das durchweichte Laub überzog den Boden als glitschige braune Schicht, die an billige Bratentunke erinnerte. Allein die immergrünen Nadeln hatten nichts von ihrer Anmut eingebüßt. Falls das alles tatsächlich einem Märchen entsprang, dann wohl einem, in dem am Ende alle gefressen werden – als Warnung davor, durch den Wald zu streunen –, und nicht etwa einer dieser Kitschgeschichten, die mit einer Hochzeit endeten sowie dem Sätzchen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

Rechts des ansteigenden Weges lichteten sich die Bäume und gaben den Blick auf eine hohe Felswand frei. Ein so plötzlicher Landschaftswechsel ist hier ganz normal – in erster Linie ist Gallazien kompakt. Unsere Klippen sind schwindelerregend hoch und grenzen meist direkt an die Straßen und die Bäume drängen sich überall dicht an dicht. Auch haben wir mehr als genug kleine Wasserfälle, die malerisch über moosbewachsene Felsen plätschern, und möchte man zurücktreten, um einen aus der Ferne zu bewundern, läuft man leicht in Gefahr, von der nächsten Klippe zu stürzen und sich das Genick zu brechen.

Bären gibt es hier im Übrigen auch.

»Weißt du«, sagte ich zu Angus, »wir könnten jetzt noch in Paris sein.«

Angus murrte. Im Krieg hatte er mir als Offiziersbursche gedient und nun stand er mir als Kammerdiener, Pferdepfleger und Stimme der Vernunft zur Seite. Mein Vater hatte ihn mir vermacht, ebenso wie Kinn, Haarfarbe und meine unverwüstliche Leber.

»Ich hab dich nicht gezwungen mitzukommen«, erwiderte er.

»Erpresst hast du mich.«

»Das hab ich ganz gewiss nicht.«

»O doch, da waren Schuldgefühle im Spiel, das weiß ich noch ganz genau.«

Wieder brummte er. Manchmal kam einem Angus’ Schnurrbart wie ein autonomes Wesen vor, das zu ganz eigenständigen Ausdrucksäußerungen in der Lage war, und in diesem Augenblick tat er eindeutig seine Geringschätzung für meine Beschwerden kund. »Ich weiß zumindest noch, wie tief wir in Miss Potters Schuld stehen.«

»Glaub mir, das habe ich keinesfalls vergessen.« Miss Potter, eine Ehrfurcht gebietende britische Mykologin, hatte die Welt mehr oder minder vor dem Monstrum bewahrt, das im See der Ushers sein Unwesen getrieben hatte. Die Schwerarbeit hatte ich gemeinsam mit einem amerikanischen Arzt geleistet, aber ohne Eugenia würden wir nun vermutlich im Haus sitzen und uns über die merkwürdigen weißen Fasern wundern, die uns aus den Ohren sprossen.

(Inzwischen war seit dem Vorfall gerade so viel Zeit vergangen, dass ich mich allmählich darüber lustig machen konnte.)

»Ich kann sie ja wohl kaum ohne Dolmetscher in deiner Jagdhütte nächtigen lassen«, erklärte Angus. »Sie spricht schließlich kein Wort Gallazisch.«

Niemand spricht Gallazisch, wenn es sich vermeiden lässt. Unsere Sprache ist so erbärmlich und überkompliziert wie alles andere in diesem Land. Da konnte ich Angus nicht widersprechen. Und es gab keinen Grund, der Jagdhütte – oder vielmehr dem Jagdhaus –, nicht doch einmal einen Besuch abzustatten. Seit ich den Ort vor Jahren geerbt hatte, machte niemand davon Gebrauch. Dennoch …

»Raus mit der Sprache, Angus. Wittere ich da etwa einen romantischen Kurzurlaub?«

Sein Schnurrbart bedachte mich mit dem Äquivalent eines vernichtenden Blicks. »Ich hege für Miss Potter nur den allerhöchsten Respekt«, antwortete der Rest von ihm steif.

»Das tun wir alle, aber das eine schließt das andere ja nicht aus.«

Mein ältester und bester Freund murmelte etwas, das ich nicht ganz verstand, und ließ sein Pferd zurückfallen, sodass ich ihn nicht weiter piesacken konnte.

Im Ernst: Eine unromantischere Kulisse als das herbstliche Gallazien kann man sich schwerlich vorstellen. Ich lenkte Hob von einem kahlen Baum am Straßenrand weg, über den sich Ranken wie Gedärme ergossen. Die Straße führte über eine Hügelkuppe, dann ging es abwärts. Ich blickte zwischen den Ohren meines Hengstes auf den Weg und fühlte mich allgemein malträtiert.

Paris war bei unserer Abreise in seiner ganzen Pracht erstrahlt. Vor allem vom Frühling dort wird viel geschwärmt, doch meiner bescheidenen Meinung nach ist ein warmer Herbst ebenso spektakulär – mit dem Vorteil, dass man nicht permanent über umherstreifende Dichter stolpert. Die roten Geranien in den Blumenkästen leuchten wie frische Glut und bei Regen glitzert das Sonnenlicht umso hübscher an den benetzten Fensterscheiben.

Vor nicht einmal einer Woche hatte ich noch auf dem Fensterbrett gelehnt, den Duft von frischem Brot eingesogen, der von der Bäckerei im Erdgeschoss heraufwehte, und zwei Kutschern bei ihrem Streit um das Fahrtgeld gelauscht. Sie hatten einander die wüstesten Beschimpfungen um die Ohren gehauen, aber auf Französisch klang das alles nur wie überaus hitzige Liebeserklärungen. Wahrlich, Paris war die Stadt meines Herzens.

Und nun war ich zurück in Gallazien, meinem Geburtsland, und ritt eine Straße hinab, die in mir das Gefühl weckte, mit Haut und Haar verschlungen zu werden.

Erneut stieg der Weg an. Mein Hengst Hob seufzte, wie nur ein verdrießliches Pferd es kann. Ich tätschelte ihm den Hals. Hob war ein gestandener Kavallerist, aber das traf auch auf mich zu, und mir gefiel das alles ebenso wenig. »Kopf hoch, Junge. Wenn wir ankommen, gibt es für dich leckere warme Maische.« Hoffte ich zumindest. Ich hatte uns bei Codrin, der sich in meiner Abwesenheit um das Jagdhaus kümmerte, per Brief angekündigt, doch er hatte sich nicht zurückgemeldet. Ich hoffte inständig, dass das nur auf Codrins Nachlässigkeit in Sachen Schriftverkehr zurückzuführen war, aber in Anbetracht der tristen grauen Straße, der tristen grauen Bäume und des tristen grauen Himmels – von der Sehnsucht nach Paris ganz zu schweigen – sorgte ich mich allmählich zunehmend.

»Nun schmoll nicht so«, sagte Angus.

»Tu ich ja gar nicht.« Und um meine unbegründete Angst zu überspielen, ergänzte ich noch: »Ist nur mein Tinnitus.« Das war immerhin keine glatte Lüge. Bei plötzlichen Höhenunterschieden peinigte er mich immer wieder aufs Neue und die gesamte Zugfahrt von Paris bis in die Hauptstadt Gallaziens bestand im Prinzip nur aus Höhenunterschieden. Der Großteil der Reise war für mich in einem hohen Fiepton untergegangen, der irgendwo im Inneren meines Schädels schrillte.

Dennoch hätte es mich weitaus schlimmer treffen können. Dem Arzt zufolge, der mir den Fachbegriff für dieses permanente Pfeifen genannt hatte, herrschte bis vor ein paar Hundert Jahren noch der Glaube, das läge am Wind, der sich zwischen den Ohren verfangen hätte. Damals hatte man solchen Patienten ein Loch in den Schädel gebohrt, um den vermeintlichen Luftstrom abzusaugen. Heutzutage sagten die Mediziner nur: »Tut mir leid, da können wir Ihnen nicht helfen«, und verschrieben einem Laudanum zum Schlafen.

Laudanum hörte sich gerade äußerst verlockend an. Das könnte die zunehmende Anspannung in meiner Magengrube vielleicht lösen.

Hier ist alles in bester Ordnung, redete ich mir ein, du bist nur übermüdet und hast schlechte Laune. Codrins Brief liegt vermutlich irgendwo in Paris und hat uns knapp verpasst. Du weißt doch, wie langsam die Post hier ist, sobald man die Hauptstadt erst einmal verlassen hat.

Obgleich das alles der Wahrheit entsprach, beruhigte es mich kein bisschen. Hob spürte meine Beunruhigung offensichtlich, war aber entweder zu manierlich oder zu müde von der Reise, um eine Reaktion zu zeigen.

Vor ungefähr fünf Stunden hatten wir die Hauptstadt verlassen – ich mit schädelberstenden Kopfschmerzen, Angus mit seiner üblichen unerschütterlichen Ruhe und die Pferde mit jenem tief sitzenden Argwohn, den die meisten Pferde Zugreisen gegenüber verspüren. Angus hatte sie abgeholt und veranlasst, dass unser Gepäck verschickt wurde, dann hatten wir uns gleich auf den Weg gemacht. (Die größte Stadt Gallaziens ist letztendlich ganz in Ordnung, doch ich hatte keinerlei Bedürfnis, länger dort zu verweilen. Um sich ein Bild davon zu machen, stelle man sich vor, ein Architekt hätte versucht, Budapest nachzubauen, allerdings mit knappem Budget und ohne die praktischen flachen Ebenen – während er sich gegen ein Rudel Wölfe verteidigen musste.)

Die Schlundstraße hatte ihren Anfang genommen, kurz nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen hatten. Wir ritten immer der Nase nach, der Weg führte hinauf in eine Wolke aus Kiefernduft, hinab durch Rauchgeruch und Feuchtigkeit und wieder aufwärts in den Nadelwald. Das Raucharoma kündigte üblicherweise die kleinen gallazischen Dörfer an, die Häuser allesamt aus lehmverputztem Flechtwerk, gedeckt mit verwitterten Holzschindeln. Da der Lehm vor Ort zumeist grau ist, sind entsprechend auch unsere Dörfer grau. (Nach dem Krieg hatten wir so viele junge Männer verloren, dass auch die männliche Bevölkerung überwiegend ergraut war. Dieser Umstand hatte das allseits bekannte tragische Volkslied »Silber, Lehm und Raureif« inspiriert, das sämtliche Musiker hier gut zehn Jahre lang zum Besten gegeben hatten, bis wir es mehr als überhatten.)

Als wir endlich an die Abzweigung kamen, die zum Jagdhaus führte, ritt ich beinahe daran vorbei. Die Wegränder waren zugewuchert und die Schlaglöcher so groß, dass man ein Schaf darin hätte versenken können. Als ich ihn darauf zulenkte, zuckte Hob skeptisch mit den Ohren. Im Ernst? War ich mir da auch wirklich sicher?

In Wahrheit war ich das überhaupt nicht. Die Beklemmung in meiner Brust hinterließ einen metallischen Geschmack auf meiner Zunge. Mach dich doch nicht lächerlich. Das ist nur eine zugewachsene Straße, kein gegnerisches Soldatenheer, das über die Hügelkuppe auf dich zuprescht. Nun reiß dich aber mal zusammen.

»Ich könnte schwören, ich hätte Codrin dafür bezahlt, alles hier in Schuss zu halten …«, murmelte ich, als Hob den schmalen Weg durch das Dickicht beschritt. Die Wegränder verschwanden unter erfrorenem Unkraut. »Ich schicke zweimal im Jahr Geld.«

»Codrin ist älter als ich«, erwiderte Angus, was für mich keinerlei Informationsgehalt hatte, da ich nach wie vor nicht weiß, wie alt er genau ist. (Ich schätze ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig, doch das hätte ich auch schon vor zehn Jahren gesagt – eigentlich habe ich keinen Schimmer. Sein einst rotes Haar ist nun silbrig, doch das ist die einzige Veränderung, die er sich vom Alter hat abringen lassen.)

»Dennoch hätte er ja ein paar Burschen aus dem Dorf anheuern können, um das Zeug hier wegzuschneiden.« Ich hielt einen Moment inne und rechnete nach. »Das heißt … es gibt doch gerade Burschen im Dorf, oder? All die Kerle, die geboren wurden, als ich damals den Eid abgelegt habe? Die hat doch niemand eingezogen?«

Angus zuckte mit den Schultern, offenbar um anzudeuten, dass ihn das Leben der örtlichen Dorfjugend nichts anging. Hob seufzte wieder.

»Also gut«, sagte ich und trieb ihn voran. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie schlimm die Lage ist.«

Sie hätte schlimmer sein können – positiver kann ich es nicht ausdrücken. Obgleich das Jagdhaus in die Jahre gekommen war, hatte man es immerhin so robust gebaut, dass weder das Dach eingestürzt noch das Gebälk morsch war. Die Tür allerdings klemmte, um sie aufzubekommen, musste ich mich mit der Schulter dagegenstemmen. Der Geruch von Staub und alten Mäusenestern wand sich wie etwas Lebendiges in meine Nasenlöcher. Obendrein war es eiskalt.

Düster war es ebenfalls. Aufgrund der dicken Wände lagen die schmalen Fenster bereits in tiefen Schatten und die Fensterläden waren alle zugeklappt. In Anbetracht der Dreckschicht bezweifelte ich allerdings ohnehin, dass die Scheiben viel Licht hereingelassen hätten. Ich zündete ein Streichholz an und schwenkte es umher, was eine unliebsame Erinnerung an die unbeleuchteten Flure im Anwesen der Ushers weckte.

Immerhin sprang mir kein Ungeheuer entgegen, das war zumindest ein Anfang. »Codrin?«, rief ich. »Codrin, bist du da?«

Keine Reaktion.

»Das geht doch auf keine Kuhhaut«, brummelte ich. Eine warme Mahlzeit zur Ankunft mochte vielleicht zu viel verlangt sein, das gestehe ich ihm ja noch zu – aber nicht einmal ein Kaminfeuer?

Augenblicklich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Codrin hatte seine Pflichten immer sehr ernst genommen. Wenn er für unsere Ankunft nichts vorbereitet hatte, musste er dafür einen verflucht guten Grund haben.

Neben dem Kamin stand ein Stoß Brennholz bereit. Angus kniete sich hin und fachte ein kleines Feuer an – vorsichtig, wie man das eben so macht, wenn man sich nicht sicher ist, ob der Schornstein mit Vogelnestern verstopft ist. Ich stolperte umher und verließ mich dabei mehr auf meine Erinnerungen an den Grundriss als auf das schwache Flackern des Streichholzes. Dummerweise erwies sich mein Gedächtnis jedoch als äußerst unzureichend und ich hatte mir Schienbeine, Schulter und Fingerknöchel angestoßen, ehe ich endlich die Küche und dort ein paar Kerzen ausfindig gemacht hatte.

Licht half allerdings auch nicht viel. Wie schon erwähnt, sprechen wir hier von einem Jagdhaus, was bedeutete, dass die Wände mit Unmengen von Geweihen behangen waren, zwischen denen sich Girlanden aus Spinnweben zogen. Über dem Kamin hing ein ausgestopfter Wildschweinkopf und je weniger ich darüber schreiben muss, desto besser.

Mit einer Kerze bewaffnet, steuerte ich zunächst die kleine Kammer an, in der Codrin üblicherweise nächtigte. Noch roch es nicht nach Tod, aber das hieß ja nicht, dass ihm nichts zugestoßen war. Falls er verletzt oder gestürzt war, befand er sich womöglich in höchster Not.

Die Tür stand offen, ebenso wie die Fensterläden und über die Scheiben zog sich ein dünner Schmutzfilm. Ich stand auf der Schwelle und betrachtete die Szenerie: das ungemachte Bett, von dem Decke und Laken herabhingen, der Waschtisch mit Schüssel, die weiß getünchten Wände und das Kruzifix über dem Kopfende. Im flackernden Kerzenschein tanzten Schatten und ganz kurz war mir, als läge jemand eingerollt unter der zerknüllten Decke. Ich trat einen beherzten Schritt näher und riss das Bettzeug weg. Zunächst war ich wütend auf mich, dann aber kam ich mir albern vor, als der Stoff zu Boden sank und nur die blanke Matratze zum Vorschein kam.

Von Codrin keine Spur.

An dieser Stelle muss ich gestehen, dass mir ein Stein vom Herzen fiel. Mir war sehr viel lieber, dass er gegangen war, als dass er hier in der Hütte sein Leben gelassen hatte. Auch wenn ich meinen Schrecken vor dem Tod inzwischen verloren habe, bevorzuge ich es, wenn er meine Freunde und Bekannten nicht in meiner Gegenwart heimsucht.

Die Schüssel war leer, ebenso der Krug. Kein Tropfen Wasser.

Das Rasiermesser auf dem Waschtisch setzte Rost an, die erloschene Kerze daneben war nahezu heruntergebrannt. Eine tote Motte, die Flügel halb versengt, hatte in der ausgehärteten Wachspfütze ihre letzte Ruhe gefunden. Ich ging auf Hände und Knie und holte den Nachttopf unter dem Bett hervor: alles trocken, nur ein verkrusteter Belag.

»Codrin ist schon eine Weile weg«, sagte ich, nachdem ich den Raum verlassen hatte. »Mindestens ein paar Wochen, vermute ich.«

Murrend stand Angus auf. »Ich werde im Dorf Verpflegung besorgen. Und mich mal umhören.«

Ich nickte. »Ich versorge derweil die Pferde.« Wenn es darum ging, Auskünfte von den Einheimischen einzuholen, würde sich Angus voraussichtlich besser anstellen. Meine Kopfschmerzen besserten sich zwar allmählich, doch mir war wirklich nicht nach längeren Gesprächen oder gar – Gott bewahre! – Feilschen zumute.

Der Stall war in annehmbarem Zustand. Alles dicht, keine Holzfäule und das Heu war eher trocken und muffig als feucht und gammelig. Ich erinnerte mich noch dunkel an den Esel und den kleinen, einachsigen Einspänner, mit denen Codrin sonst immer ins Dorf gefahren war, doch von beidem fehlte jede Spur. Höchstwahrscheinlich war er damit abgereist. An der gegenüberliegenden Stallwand lehnte ein Stoß klein gehacktes Feuerholz, der bis zur Decke reichte. Ich sattelte Hob und Angus’ Schimmel ab, brachte die zwei in ihre Boxen und nahm den Wassereimer zur Hand. Knapp hundert Meter von der Hütte entfernt floss ein Bach, das Quellhaus allerdings lag viel näher, also stapfte ich den Hang hinauf bis zum Eingang.

In Gallazien gibt es Quellen wie Flöhe in einem Hundepelz, und oft genug sind sie ähnlich lästig. Viele Wege verlaufen in sonderbaren kleinen Kurven und Schlenkern, um all den Stellen auszuweichen, an denen Wasser austritt – andernfalls würden sich die Pfade im Handumdrehen in matschige Gruben verwandeln. Dennoch sind die Quellen nützlich, um im Sommer Lebensmittel zu kühlen. Man sucht sich eine schöne, baut darauf ein Quellhaus und leitet das Wasser in tiefe, im Boden eingelassene Steintröge, wo es kalt genug bleibt, um die Milch frisch zu halten und die Butter am Schmelzen zu hindern. Unsere Quelle entsprang auf halber Höhe eines Hügels, das Quellhaus war also in den Hang gebaut. Laibung und Sturz des niedrigen Eingangs waren aus schweren Steinen gemauert, sodass die Anlage eher wie eines dieser alten Hügelgräber aussah, in denen die Iren ihre toten Könige bestatteten.

Die Wasserführung schien noch intakt zu sein, doch als ich näher trat, schmatzte Schlamm unter meinen Füßen. Ich verkniff mir ein genervtes Stöhnen. Das überlaufende Quellwasser sollte eigentlich über das Rinnensystem in den Bach abfließen, doch selbstverständlich bedurfte auch dieses einer eingehenden Reparatur. Ich warf einen Blick ins Gebäude: Steine hatten sich aus der Decke gelöst und in den Ecken sammelte sich Laub. Der ganze Bau stank feucht und modrig. Nach wie vor strömte das Wasser aus der hinteren Mauer in die eingelassenen Steintröge, die links und rechts entlang der Wände des Quellhauses verliefen, einer davon lag jedoch trocken, der andere war mit Laub verstopft und übergelaufen. Aus dem Boden dazwischen sprossen Pilze, an deren hautfarbenen Stielen feuchte Erdklumpen klebten. Ich erschauderte. Fleischige Stiele und dünne weiße Fäden, die aus einem starrenden Hasenauge wachsen …

Ich verdrängte die Erinnerung. Das waren nur ein paar Pilze. Zur Hölle noch eins – wahrscheinlich war das sogar etwas Gutes. So wird Miss Potter während ihres Aufenthalts wenigstens etwas zu malen haben.

Offenbar war ein Stein von der Decke gebrochen und hatte den rechten Zulauf blockiert. Das überforderte mich gerade, also begnügte ich mich damit, in die Hocke zu gehen und Schlamm und durchgeweichtes Laub aus der Rinne zu klauben, was noch unappetitlicher war, als es klingt.

Ich beugte mich gerade vornüber, die Hände voller Dreck, da brach mein Tinnitus über mich herein – ein Summen, das zu dem vertrauten Fiepen anschwoll – und plötzlich wusste ich, dass sich der Feind von hinten näherte, denn mein Rücken war so ungeschützt, dass ich ebenso gut eine Zielscheibe hätte tragen können, und eigentlich sollte ich die Gegend ausspähen, aber irgendwie hatte ich den Trupp übersehen und gleich würde mich ein bulgarischer Soldat erschießen, dabei konnte ich ihm nicht einmal einen Vorwurf machen, denn wir hätten gar nicht erst gegen die gottverdammten Bulgaren in den Krieg ziehen sollen, sie waren unsere Verbündeten, verdammte Scheiße, wir sollten überhaupt nicht hier sein und ich packte den Eimer, wirbelte herum und schlug nach …

Nichts.

Einen Augenblick lang stand ich da, das Fiepen so laut, dass es sogar meinen Atem übertönte, dann sackte ich gegen den Türrahmen und ließ den Eimer fallen.

Kriegszittern hatte Denton, mein Freund aus Amerika, es genannt. Während des Bürgerkriegs in seinem Land war er als Feldarzt im Einsatz gewesen und hatte daher jede Menge Erfahrung damit. Alles in allem bin ich noch ein milder Fall. Ich kenne Veteranen, die können sich mit niemandem ein Bett teilen, weil sie Angst haben, im Schlaf um sich zu schlagen. (Ich für meinen Teil lasse mir schlicht und ergreifend nicht gern die Decke klauen.) Normalerweise ist es nicht so schlimm. Nur hin und wieder gibt es ein Geräusch, einen Geruch oder etwas im Augenwinkel, das mich die nächsten paar Sekunden zurück in den Krieg versetzt.

Allmählich verflüchtigte sich mein Tinnitus wieder. Ich atmete tief ein und aus, dann noch einmal, und schließlich richtete ich mich wieder auf – peinlich berührt, obwohl weit und breit niemand in der Nähe war, der mich hätte sehen können. Wahrscheinlich waren die verdammten Pilze schuld. Als Kriegszitterer kann man die Schrecken nicht voneinander unterscheiden. Ganz egal ob Pilze oder Kanonenfeuer: Alles ist Krieg.

Durch die Rinne floss ein teefarbenes Bächlein. Ich nahm den Eimer und schleppte mich zum Bach hinab, um sauberes Wasser für Hob zu holen.

Mein Gott, es war so still. Irgendwie war mir das vorher gar nicht aufgefallen.

Nicht dass das besonders merkwürdig gewesen wäre. Schließlich war ich direkt aus Paris hierhergekommen. Selbstverständlich kam es mir da auf dem Land still vor. »Dafür ist die Gegend hier bekannt«, sagte ich laut, nur um die Stille zu vertreiben. »Für Ruhe und Frieden. Die Leute zahlen gutes Geld dafür.«

Doch die Stille fühlte sich keineswegs friedlich an. Sondern schwer. Ähnlich wie jener Zungenflaum nach einer durchzechten Nacht, den man weder sehen noch anfassen, aber sehr wohl schmecken kann. Nicht einmal die Vögel zwitscherten. (Was ich ihnen nun wirklich nicht verübeln konnte – der Tag war so grau, dass selbst das Sonnenlicht trüb wirkte.)

»Jetzt mach dich mal nicht lächerlich«, schalt ich mich laut. Ich tauchte den Eimer in den Bach und trat mit der Stiefelspitze ein Steinchen weg, nur um das Klick-klick-platsch zu hören, als es über die anderen hopste und im Wasser landete.

Auf dem Rückweg zum Stall ging mir der Anblick des ungemachten Bettes einfach nicht aus dem Kopf. Codrin war pedantisch und verantwortungsbewusst, einen besseren Verwalter konnte man sich wahrlich nicht wünschen. Er würde nie schludern, keine Arbeit nur halb verrichten. Und obgleich ich mich nie persönlich davon hatte überzeugen können, hätte ich bei der Heiligen Mutter Gottes geschworen, dass er jeden Morgen sein Bett anständig machte.

»Falls er aus Altersgründen in den Ruhestand gegangen wäre, hätte er dennoch sein Bett gemacht«, sagte ich zu Hob, als ich ihm sein Wasser brachte. »Ganz zu schweigen davon, dass er mir gewiss einen Brief hätte zukommen lassen, um mich darüber in Kenntnis zu setzen und jemanden als Nachfolger zu empfehlen.«

Hob stupste mich an der Schulter, was ich als Zustimmung auffasste.

»Selbst wenn er im Wald plötzlich umgekippt wäre, hätte er am Morgen zuvor sein Bett gemacht.«

Ich trug ein paar Scheite Feuerholz ins Haus. Drinnen war es ebenso still wie in den umliegenden Wäldern, wenn nicht stiller. Was, wie schon erwähnt, ganz normal war und kein Grund, warum ich das Gefühl haben sollte, dass meine Gedanken in der Stille widerhallten. Angus hätte sicher gesagt, das läge an der gähnenden Leere in meinem Schädel. Ich wünschte, er wäre jetzt hier.

Himmel, dabei war er noch nicht einmal zwei Stunden weg. Was war los mit mir? Dies war nur eine leere Hütte. Die Schatten drängten sich zwar finster in den Ecken, aber sicher nicht finsterer als anderswo.

Unter Verwendung sämtlicher frisch herbeigeschleppter Scheite feuerte ich den Kamin an. Die Schatten zogen sich zurück, wenn auch nicht ganz – sie kauerten noch hinter den dicken Spinnweben, die wie Lumpen herabhingen. Das orange Flackern spiegelte sich in den Glasaugen der Jagdtrophäen an den Wänden – soweit sie überhaupt Augen hatten, die meisten waren nur einfache, auf Holz montierte Schädel. Die anderen entstammen einer Zeit, in der die Präparationskunst noch nicht so weit war wie heute. Womöglich waren es diese Trophäen, die mich so beunruhigten. Einen solchen Ausdruck kenne ich vor allem von besonders zügellosen Absinthtrinkern, aber in einem Hirschgesicht möchte man so etwas wahrlich nicht sehen.

Einer der Schädel rollte mit den Augen.

Mit pochendem Herzen stand ich an der gegenüberliegenden Wand, das Kreuz in den Putz gedrückt, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was soeben geschehen war. Ich starrte zu dem Schädel auf, dessen leere Augenhöhlen so finster wie die tiefste Trauer waren. Hatte ich mir das eingebildet? Und falls ja – war das besser oder schlechter, als dass es wirklich geschehen war?

Eine weiße Motte krabbelte aus der Höhlung. Ich sackte an die Wand und gab einen Laut von mir, der als Lachen hätte durchgehen können, wenn man nicht zu genau hinhörte. Die Motte flatterte vom Schädel, blieb kurz auf einem Geweih sitzen und flog dann immer und immer wieder gegen ein Fenster.

»Ach ja«, sagte ich laut. Meine Stimme hinterließ einen eigenartigen Geschmack im Rachen. Ich fing die Motte ein und trug sie nach draußen. Panisch flatterte sie gegen meine Handflächen, bis ich sie in das kühle Grau entließ.