Was die Toten bewegt (Eine packende und atmosphärische Nacherzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher") - T. Kingfisher - E-Book

Was die Toten bewegt (Eine packende und atmosphärische Nacherzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher") E-Book

T. Kingfisher

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Beschreibung

Eine packende und atmosphärische Neuerzählung von Edgar Allan Poes Klassiker "Der Untergang des Hauses Usher". Als Alex Easton, ein Soldat im Ruhestand, die Nachricht erhält, dass seine Jugendfreundin Madeline Usher im Sterben liegt, eilt Alex augenblicklich zum Stammsitz der Ushers in der abgelegenen Landschaft Ruritaniens. Was Alex dort vorfindet, ist ein Albtraum aus Pilzwucherungen und besessenen Tieren, die einen dunklen, pulsierenden See umgeben. Madeline schlafwandelt und spricht nachts mit seltsamen Stimmen, und ihr Bruder Roderick wird von einer mysteriösen Nervenkrankheit heimgesucht. Mit Hilfe eines gefürchteten britischen Mykologen und eines verblüfften amerikanischen Arztes muss Alex das Geheimnis des Hauses Usher lüften, bevor es sie alle verschlingt.

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Seitenzahl: 217

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Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

NACHWORT DER AUTORIN

KAPITEL

1

Die Pilzlamellen waren dunkelrot, fast schon violett. Sie hatten die Farbe durchtrennter Muskeln, die in so schauderhaftem Kontrast zum Blassrosa von Eingeweiden steht. Bei totem Wild oder sterbenden Soldaten hatte ich sie schon oft beobachtet, hier dagegen erschreckte sie mich.

Womöglich wäre es weniger beunruhigend gewesen, hätten die Pilze nicht so sehr an rohes Fleisch erinnert. Die beigen Hüte glänzten feucht und wölbten sich aufgedunsen über den roten Lamellen. Sie wuchsen aus den Steinspalten des kleinen Bergsees wie Krebsgeschwüre aus der Haut eines Kranken. Ich verspürte den überwältigenden Drang, davor zurückzuweichen, mehr noch juckte es mich jedoch in den Fingern, mit einem Ast darin herumzustochern.

Dumpf meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich die Reise unterbrochen hatte und abgestiegen war, um mir die Pilze genauer anzusehen, aber ich war müde. Und wichtiger noch: Mein Pferd war müde. Madelines Brief hatte über eine Woche bis zu mir gebraucht. Ganz gleich wie dringlich er formuliert war, fünf Minuten mehr oder weniger würden keinen Unterschied machen.

Hob, mein Hengst, war dankbar für die Pause, die Umgebung schien ihn allerdings verdrießlich zu stimmen. Er blickte zuerst auf das Gras und dann zu mir auf, als wollte er mir zu verstehen geben, dass es nicht seinen gewohnten Standards entsprach.

»Du könntest hier einen Schluck trinken«, sagte ich. »Nur einen kleinen vielleicht.«

Wir blickten auf den See. Dunkel und totenstill lag er da, ein schwarzer Spiegel, der die grotesken Pilze und die schlaffen Riedgräser am Uferrand reflektierte. Er mochte zwei oder zwanzig Meter tief sein.

»Oder auch nicht.« Ich verspürte mit einem Mal auch keine große Lust, von diesem Wasser zu trinken.

Hob seufzte, wie Pferde es zu tun pflegen, wenn ihnen die Welt nicht passt, und ließ den Blick in die Ferne schweifen.

Hinter dem See erhob sich das Haus. Ich betrachtete es und seufzte ebenfalls.

Es war kein vielversprechender Anblick: ein altes, düsteres Gutshaus, erbaut in ebenso altbackenem, düsterem Stil, ein steinernes Monstrum, dessen Unterhalt selbst den reichsten Mann Europas an den Rande des Ruins getrieben hätte. Ein ganzer Flügel war eingestürzt, nur ein Schutthaufen war davon noch übrig, aus dem ein paar Dachsparren ragten. Hier lebte Madeline Usher mit ihrem Zwillingsbruder Roderick, der das genaue Gegenteil des reichsten Mannes Europas war. Selbst für Ruraviens dürftige, etwas rückständige Verhältnisse galten die Ushers als völlig verarmt. Gemessen an der übrigen europäischen Adelsschicht konnte man sie sogar als arm wie Kirchenmäuse bezeichnen, was man dem Haus auch deutlich ansah.

Von Gärten war nirgends etwas zu sehen. In der Luft lag ein süßlicher Duft – vielleicht blühte da etwas im Gras –, doch er war zu schwach, um die düstere Atmosphäre zu vertreiben.

»Davon würde ich an Ihrer Stelle die Finger lassen«, rief jemand hinter mir.

Ich wandte mich um. Hob blickte kurz auf, befand die Besucherin aber als so enttäuschend wie Gras und See und ließ den Kopf gleich wieder hängen.

Sie stellte sich als »Dame eines gewissen Alters« heraus, wie meine Mutter zu sagen pflegte. In diesem Fall betrug dieses wohl um die sechzig. Sie trug Herrenstiefel und eine Reitmontur aus Tweed, die durchaus älter als das Haus selbst sein könnte.

Außerdem war sie groß und stämmig und ihr ausladender Hut ließ sie noch größer und stämmiger wirken. Sie hatte ein Notizbuch und einen großen Lederrucksack dabei.

»Wie bitte?«

»Die Pilze.« Sie blieb vor mir stehen. Ihr Akzent klang britisch, doch sie schien nicht aus London zu stammen – womöglich eher aus den ländlichen Gebieten. »Die Pilze, mei…« Sie stockte auf der Suche nach der korrekten Anrede. Ihr Blick glitt nach unten und blieb an dem Abzeichen an meinem Jackenkragen hängen, woraufhin ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr Gesicht huschte: Aha!

Nein, Erkenntnis ist der falsche Begriff. Klassifizierung trifft es eher. Ich wartete ab, ob sie sich kurzfassen oder weitersprechen würde.

»Die würde ich an Ihrer Stelle lieber in Ruhe lassen, Soldat.«

Ich betrachtete den Ast in meiner Hand, als gehöre er mir nicht. »Ach so? Sind die etwa giftig?«

Sie hatte ein lebhaftes Gesicht und schürzte theatralisch die Lippen. »Das sind stinkende Rotschirmlinge. A. foetida, nicht zu verwechseln mit A. foetidissima – aber das wäre wohl in diesem Teil der Welt eher unwahrscheinlich, nicht?«

»Ähm, ja?«, erwiderte ich zögerlich.

»Natürlich. Die foetidissima kommen vor allem in Afrika vor. Und die hier sind nur in diesem Teil Europas heimisch. Sie sind nicht wirklich giftig, allerdings … na ja …«

Sie streckte die Hand aus. Irritiert übergab ich ihr meinen Ast. Offensichtlich eine Naturkundlerin. Das erklärte auch meinen Eindruck, von ihr klassifiziert zu werden. Nun, da sie mich kategorisiert und der richtigen Klade zugeordnet hatte, konnten die angemessenen Höflichkeiten ausgetauscht werden, während wir uns den wesentlichen Angelegenheiten zuwandten – wie beispielsweise der Pilztaxonomie.

»Ich schlage vor, Sie halten Ihr Pferd fest«, warnte sie, »und sich die Nase zu.« Dann griff sie in ihren Rucksack und kramte ein Stofftaschentuch heraus. Sie hielt es sich vors Gesicht und tippte den stinkenden Rotschirmling mit dem Astende an.

Ganz leicht nur, dennoch nahm der Hut sofort das fleischige Rotviolett der Lamellen an. Einen Augenblick später schlug uns ein unbeschreiblicher Gestank entgegen: Verwesung gepaart mit einem Schuss ranziger Milch, der ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterließ – und dazu eine entsetzliche Note von frisch gebackenem Brot. Der Geruch verdrängte alles Süße aus der Luft. Mir drehte sich der Magen um.

Hob schnaubte und riss an den Zügeln. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

»Bah!«

»Und das war nur ein kleiner«, erklärte die Dame gewissen Alters, »dem Himmel sei Dank noch nicht ganz reif. Bei den großen rollen sich Ihnen die Fußnägel hoch, da kippen Sie aus den Latschen.« Sie setzte den Ast ab, das Taschentuch hielt sie sich mit der anderen Hand noch immer vor Mund und Nase. »Daher auch das ›stinkend‹ in der landläufigen Bezeichnung. Der ›Rotschirmling‹ dürfte wohl selbsterklärend sein.«

»Ist ja widerwärtig!« Ich hielt mir den Arm vors Gesicht. »Dann sind Sie also Mykologin?«

Ihre Lippen konnte ich hinter dem Tuch nicht erkennen, doch ihre Augenpartie verriet ein ironisches Lächeln. »Leider nur eine Laiin, fürchte ich, wie es sich ja angeblich für Menschen meines Geschlechts gehört.«

Sie sprach klar und abgehackt und wir tauschten einen vorsichtigen, verständnisvollen Blick aus. Man hatte mir schon erzählt, dass es in England keine Eidsoldaten gab – und selbst wenn, hätte sie vermutlich einen anderen Weg eingeschlagen. Das ging mich allerdings nichts an, ebenso wenig wie meine Angelegenheiten sie zu interessieren hatten. In dieser Welt ging jeder seinen eigenen Weg. Oder eben nicht. Dennoch konnte ich durchaus erahnen, mit welchen Hindernissen sie möglicherweise zu kämpfen gehabt hatte.

»Ich bin Illustratorin von Beruf«, erklärte sie knapp. »Aber das Studium der Pilze fasziniert mich schon mein ganzes Leben.«

»Und das führt Sie auch hierher?«

»Oh!« Sie gestikulierte mit dem Taschentuch. »Ich weiß ja nicht, wie gut Sie sich mit Pilzen auskennen, aber dieser Ort hier ist wirklich außergewöhnlich. So viele seltene Exemplare! Hier gibt es Röhrlinge, die man bisher nur in Italien gesichtet hat, und einen Amanita, der eine ganz neue Art zu sein scheint. Sobald ich meine Zeichnungen fertiggestellt habe, wird der Gesellschaft für Mykologie nichts anderes übrig bleiben, als meine Entdeckung anzuerkennen – Laiin hin oder her.«

»Und wie wollen Sie den Pilz nennen?«, fragte ich. Obskure Leidenschaften, egal wie ausgefallen, begeistern mich. Zu Kriegszeiten hatte ich mich einmal in der Hütte eines Schäfers verschanzt und darauf gelauscht, dass der Feind den Hügel heraufkam. Da war der Schäfer in eine hitzige Tirade über die Schwierigkeiten der Schafzucht verfallen, die sämtlichen Predigten, die ich in meinem Leben schon gehört hatte, in nichts nachstand. Am Ende seines Monologs nickte ich nur eifrig und wäre durchaus willens gewesen, einen Kreuzzug gegen alle kränkelnden, überzüchteten Herden zu starten, die so anfällig für Lämmerruhr und Madenfraß waren und anständige Schafsrassen verdrängten. »Maden!«, hatte er mit hocherhobenem Finger gerufen, »Maden un’ Pisse innen Fellritzen!«

Ich denke oft an ihn zurück.

»Ich werde ihn A. potteri nennen«, antwortete meine neue Bekanntschaft, die glücklicherweise nicht mitbekommen hatte, wohin meine Gedanken abgeschweift waren. »Ich heiße Eugenia Potter. Und ich werde meinen Namen in den Büchern der Königlichen Gesellschaft für Mykologie verewigen, ganz sicher.«

»Das werden Sie gewiss«, gab ich ernst zurück. »Mein Name ist Alex Easton.« Ich verneigte mich.

Sie nickte. Jemandem mit weniger Charakter wäre es im Nachhinein vielleicht peinlich gewesen, seine Leidenschaft so lauthals herauszuposaunen, Miss Potter hingegen war über solcherlei Schwächen offensichtlich weit erhaben. Vielleicht nahm sie auch schlicht und ergreifend an, jeder wüsste, wie bedeutend es war, in die Annalen der Mykologie einzugehen.

»Und diese stinkenden Rotschirmlinge sind keine Neuentdeckung?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Die wurden schon vor Jahren erfasst. Ich glaube, sogar in diesem Landstrich hier oder ganz in der Nähe. Früher waren die Ushers große Förderer der Künste. Einmal gab einer von ihnen eine botanische Arbeit in Auftrag. Überwiegend ging es dabei um Blumen« – ihre hörbare Geringschätzung war zu köstlich – »aber ein paar Pilze waren auch dabei. Und selbst ein Botaniker könnte A. foetida nicht übersehen. Ich fürchte nur, ich kann Ihnen die in Gallazien geläufige Bezeichnung nicht nennen.«

»Vielleicht gibt es dort keine.« Falls Sie noch nie einem Gallazier begegnet sind, müssen Sie vor allem eines wissen: Wir Gallazier sind ein stures, stolzes und hitziges Völkchen. Und wir geben hundsmiserable Krieger ab. Stets auf Krawall gebürstet, streiften meine Vorfahren quer durch Europa und fingen sich von praktisch allen Völkern, denen sie dabei über den Weg liefen, eine gehörige Tracht Prügel ein. Dann ließen sie sich schließlich in Gallazien nieder, das ganz in der Nähe von Moldawien liegt und noch um einiges kleiner ist. Vermutlich suchten sie sich dieses Fleckchen aus, weil es sonst niemand haben wollte. Das Osmanische Reich bemühte sich nicht einmal, uns zu einem Vasallenstaat zu machen, was eigentlich schon für sich spricht. Es ist ein kaltes, armes Land und wenn man nicht in ein Loch fällt und sich das Genick bricht, fressen einen die Wölfe. Das einzig Gute daran ist, dass wir nicht oft überfallen werden – oder zumindest war das bis zum letzten Krieg so.

Und während wir so umher und dabei ständig den Kürzeren zogen, entwickelten wir auch gleich unsere eigene Sprache: Gallazisch. Ich musste mir schon anhören, es sei schlimmer als Finnisch, was eine beachtliche Leistung ist. Nach jeder verlorenen Schlacht verzogen wir uns mit ein paar neuen Lehnwörtern aus dem Feindesvokabular. Als Konsequenz daraus ist das heutige Gallazisch sehr idiosynkratisch. (Wir haben zum Beispiel sieben Gruppen von Pronomen – eine davon ist Gegenständen und eine Gott vorbehalten. Man kann wohl von einem Wunder sprechen, dass wir keine für Pilze haben.)

Miss Potter nickte. »Das auf der anderen Seite des Sees ist übrigens das Haus der Ushers, falls es Sie interessiert.«

»Tatsächlich bin ich gerade auf dem Weg dorthin. Madeline Usher ist eine alte Jugendfreundin.«

»Ach.« Zum ersten Mal klang Miss Potter zögerlich. Sie wandte sich ab. »Wie ich höre, ist sie sehr krank. Das tut mir leid.«

»Das geht schon seit ein paar Jahren so.« Instinktiv berührte ich die Tasche mit Madelines Brief.

»Na, vielleicht ist es ja nicht so schlimm, wie alle sagen«, erwiderte sie in einem Tonfall, der zweifellos aufmunternd klingen sollte. »Sie wissen ja, wie sich schlechte Nachrichten in Dörfern verbreiten. Wenn man mittags niest, steht abends schon der Sargschreiner vor der Tür, um Maß zu nehmen.«

»Hoffen wir es.« Ich blickte hinab in den See. Eine leichte Brise wirbelte ein paar Wellen auf, die ans Ufer schwappten. Vor unseren Augen löste sich ein Stein vom Haus und plumpste ins Wasser. Selbst das Platschen wirkte gedämpft.

Eugenia Potter schüttelte sich. »Also, ich muss noch ein paar Skizzen anfertigen. Viel Glück Ihnen, Offizier Easton.«

»Ihnen ebenfalls, Miss Potter. Ich freue mich schon darauf, von ihrer Arbeit über die Amanitas zu hören.«

Ihre Mundwinkel zuckten kurz. »Und wenn schon nicht die Amanitas, so hege ich doch große Hoffnungen für einige dieser Röhrlinge.« Sie winkte mir zu und schlenderte über das Feld, wo sie im feuchten Gras silbrige Stiefelabdrücke hinterließ.

Ich führte Hob zurück zur Straße, die am Seeufer entlangführte. Eine triste Szenerie, selbst nun, da das Ende meiner Reise in Sicht war. Es gab ein paar ausgeblichene Riedgrasbüschel und vereinzelt abgestorbene Bäume, die zu grau und morsch waren, als dass ich die Art hätte benennen können. (Miss Potter hätte es vermutlich gewusst, ich hätte sie jedoch nie gebeten, sich dazu herabzulassen, solch profane Vegetation zu bestimmen.) An den Steinrändern wuchs Moos und aus dem Boden quollen weitere Exemplare der stinkenden Rotschirmlinge, obszöne kleine Wucherungen. Darüber erhob sich das Haus wie der größte aller Pilze.

Genau in diesem Augenblick schlug mein Tinnitus zu – ein hochfrequentes Fiepen, das meinen Kopf erfüllte und selbst das sachte Plätschern des Sees übertönte. Ich blieb stehen und wartete, bis es vorüber war. Ein solcher Anfall ist zwar nicht gefährlich, aber manchmal ist mein Gleichgewichtssinn währenddessen unzuverlässig, und ich hatte keine Lust, in den See zu taumeln. Hob war das schon gewohnt und wartete stoisch wie ein Märtyrer, der seine Folter erduldet.

Unglücklicherweise gab es außer dem Gebäude nichts, was ich mir währenddessen ansehen konnte. Mein Gott, was für ein deprimierender Anblick.

Es ist ein Klischee, die Fenster eines Hauses mit Augen zu vergleichen, denn es gehört zur Natur des Menschen, in allem Möglichen Gesichter zu erkennen, und natürlich wären die Fenster dann die Augen.

Das Haus Usher jedenfalls hatte Dutzende davon, also entsprach das entweder unzähligen Gesichtern, die dort nebeneinanderlagen, oder aber dem Gesicht einer einzigen fremdartigen Kreatur – einer Spinne womöglich, die mit mehreren Augenreihen ausgestattet war.

Ich bin kein besonders fantasievoller Zeitgenosse. Würde man mich für eine Nacht in das berüchtigtste Spukhaus Europas stecken, würde ich nur tief und fest schlummern und am nächsten Morgen mit einem Bärenhunger aufwachen. Ich verfüge über keinerlei außersinnliche Begabungen. Tiere mögen mich auf Anhieb, manchmal stelle ich mir jedoch vor, wie sehr ich sie frustrieren muss, wenn sie irgendwelche Geistwesen anstarren und ich nur Albernheiten von mir gebe wie: »Na, wer ist ein guter Junge?« oder »Möchte die Mietzi ein Leckerchen?« (Wer sich vor Tieren nicht absolut lächerlich macht – wenigstens im Privaten –, dem kann man nicht über den Weg trauen. Das war einer der Grundsätze meines Vaters, und auch mich hat er noch nie im Stich gelassen.)

Angesichts dieses Mangels an Fantasie werden Sie mir hoffentlich verzeihen, wenn ich sage, dass dieser Ort mir die Laune verdarb.

Was hatten Haus und See nur an sich, das sie so deprimierend erscheinen ließ? Schlachtfelder sind ähnlich trostlos, aber da stellt sich diese Frage nicht. Dies hingegen war nur ein trister See von vielen, mit einem tristen Haus daneben und umgeben von ein paar tristen Pflanzen. Das alles hätte meine Stimmung eigentlich nicht so stark beeinflussen dürfen.

Zugegeben, die Pflanzen sahen alle tot aus oder als wären sie im Begriff zu sterben. Und ja, die Fenster klafften in den Mauern wie die Augenhöhlen einer ganzen Schädelreihe. Na und? Wären das wirklich Reihen von Totenschädeln gewesen, hätten sie mir sicher weniger zugesetzt. Ich kannte da einmal einen Sammler in Paris … Na, die Einzelheiten tun nichts zur Sache. Jedenfalls war er der gutmütigste Mensch, den man sich vorstellen kann, auch wenn er ziemlich sonderbare Objekte sammelte. Je nach Jahreszeit setzte er seinen Totenschädeln festliche Hüte auf, wodurch sie alle recht fröhlich aussahen.

Beim Hause Usher wäre es mit ein paar lustigen Hüten jedoch nicht getan. Ich stieg wieder in den Sattel und trieb Hob an, bis er in leichten Trab verfiel. Je schneller ich zum Haus gelangte und diese Szenerie hinter mir lassen konnte, desto besser.

KAPITEL

2

Bis zum Haus dauerte es länger als gedacht. Die Landschaft hier war von der trügerischen Art: Man scheint nur noch ein paar Hundert Meter vom Ziel entfernt zu sein, doch sobald man sich erst einmal durch die Windungen und Senken gekämpft hat, stellt man fest, dass man dafür eine gute Viertelstunde gebraucht hat. Eine solche Art von Landschaft rettete mir im Krieg ein paarmal das Leben – was für mich jedoch kein Grund ist, sie zu mögen. Sie scheint immer irgendetwas zu verbergen.

In diesem Fall war es nur ein Feldhase, der Hob und mich mit großen orangen Augen anstarrte, als wir vorbeiritten. Hob ignorierte ihn. Hasen sind unter seiner Würde.

Um das Haus zu erreichen, mussten wir den See auf einem kurzen Dammweg überqueren, was Hob ebenso missfiel wie mir. Ich stieg ab und führte ihn. Der Übergang machte einen robusten Eindruck, die umgebende Landschaft wirkte jedoch so heruntergekommen, dass ich dennoch so sachte wie möglich auftrat. Hob warf mir seinen typischen Blick zu, mit dem er mich immer dann bedenkt, wenn ich ihm seiner Meinung nach zu viel abverlange – aber er gehorchte. Das Geklapper seiner Hufe klang merkwürdig dumpf, als wären sie in Watte gepackt.

Niemand erwartete mich. Der Weg mündete direkt in einen kargen Innenhof, hinter dem das Gebäude lag. Links und rechts reichten die Hausmauern direkt bis in den See, die Fassade nur durchbrochen von vereinzelten Balkonen. Die Eingangstür mutete geradezu gotisch an – beziehungsweise Gothic im englisch-literarischen Doppelsinne: ein Monstrum von einer Doppeltür, eingefasst von einem Spitzbogen, der ausgezeichnet in eine Prager Kathedrale gepasst hätte.

Ich nahm den großen eisernen Türklopfer und schlug ihn gegen das Holz, so laut, dass ich zurückzuckte und fast schon erwartete, das ganze Haus würde in sich zusammenstürzen.

Dann wartete ich einige Minuten. Allmählich wurde mir mulmig zumute … Madeline war doch nicht etwa in der Zwischenzeit verstorben? Waren die Hausbewohner gerade auf ihrer Beerdigung? (Das veranschaulicht nur, wie sehr mir dieser verfluchte Ort an die Substanz ging. Normalerweise würde ich sicher nicht zuerst auf eine Beerdigung tippen.)

Irgendwann, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und überlegte, ob ich noch einmal vom Klopfer Gebrauch machen sollte, schwang einer der Türflügel knarrend auf. Aus dem Spalt starrte mich ein ältlicher Bediensteter an – nicht etwa unhöflich, sondern verwirrt, als käme ich nicht nur unerwartet, sondern völlig aus heiterem Himmel.

»Hallo«, grüßte ich zögerlich.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte mein Gegenüber im selben Moment.

Wir hielten kurz inne und versuchten es noch einmal. »Ich bin ein Freund der Ushers.«

Auf diese Information hin nickte der Diener ernst. Ich wartete und rechnete schon fast damit, er würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen. Nach einem schier endlos langen Moment erwiderte er endlich: »Möchten Sie eintreten?«

»Ja«, antwortete ich und war mir meiner Lüge vollauf bewusst. In Wahrheit verspürte ich nämlich keinerlei Bedürfnis, dieses Wrack von einem Haus voller Pilze und Fensteraugen zu betreten. Doch Madeline hatte mich nun einmal hierherbestellt und jetzt war ich hier. »Gibt es jemanden, der sich um mein Pferd kümmern kann?«

»Wenn Sie belieben einzutreten. Dann schicke ich den Burschen los.« Er schob die Tür weiter auf, aber der Spalt war noch immer recht schmal. Ein grauer Lichtstreif fiel ins Dunkel, ohne wirklich etwas zu erhellen. Mein Schatten als Vorhut, folgte ich dem Lichtstrahl, dann schloss der Bedienstete die Tür und ich war in Finsternis gehüllt.

So bleiern die Landschaft draußen auch war, verglich man sie mit dem Inneren des Hauses, mutete sie so hell wie eine brennende Stadt an. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, da zischte ein Streichholz und der Diener zündete ein paar Kerzen an, die auf dem Beistelltisch neben der Tür standen. Er reichte mir eine davon, als wäre es ganz normal, dass es im Haus zur Mittagszeit stockduster war.

»Easton?« Ich erkannte die Stimme gleich, auch wenn der zugehörige Mann in den Schatten des Eingangsbereichs zunächst nicht sichtbar war. »Easton, was treibst du denn hier?«

Ich wandte mich zu ihm um, gerade als er einen Schritt nach vorn trat. Im flackernden Kerzenschein erblickte ich meinen alten Freund Roderick Usher. Wir waren schon seit unserer Jugend miteinander befreundet und durch einen schicksalhaften Zufall hatte er im Krieg unter meinem Kommando gedient. Sein Gesicht war mir so vertraut wie mein eigenes.

Und doch: Ohne seine Stimme hätte ich ihn garantiert nicht wiedererkannt.

Roderick Usher war so bleich wie ein Knochen mit einem grässlich gelben Unterton, wie ein Mann, der unter Schock stand. Seine Augen saßen tief in dunkelviolett umrandeten Höhlen und falls zwischen Haut und Wangenknochen noch Fleisch vorhanden war, konnte ich nichts davon erkennen.

Am schlimmsten jedoch war sein Haar. Wie Spinnweben schwebte es um seinen Kopf und ich redete mir ein, das Kerzenlicht spiele mir einen Streich, da es eher weiß als blond aussah. Nur noch hauchdünne Strähnen waren übrig, fast wie Nebelschwaden, die sein Gesicht nimbusgleich umrahmten. Nur die Jüngsten und Ältesten haben solches Haar. Es an einem Mann zu sehen, der ein Jahr jünger war als ich, war verstörend.

Schon von Kindheit an waren sowohl Roderick als auch Madeline recht blass gewesen. Später im Krieg konnte man sich bei gutem Wetter darauf verlassen, dass Roderick sich eher einen Sonnenbrand einfing, als dass er braun wurde. Beide hatten große, glänzende Kulleraugen, wie sie von Dichtern häufig als Rehaugen bezeichnet werden – wobei besagte Dichter offenbar noch nie auf der Jagd waren, denn die Geschwister hatten erstens keine riesigen elliptischen Pupillen und zweitens war das Weiß der Augäpfel bei beiden gut zu erkennen. Tatsächlich konnte ich in Rodericks Augen nun sogar zu viel davon sehen. Fiebrig funkelte es mir aus seinem unnatürlich blassen Gesicht entgegen.

»Usher«, sagte ich, »du siehst aus, als hätte man dich mit dem Arsch voran durch die Hölle geschleift.«

Verhalten lachte er auf und fasste sich an den Kopf. »Easton«, wiederholte er und als er das Kinn hob, zeigte sich in seiner Miene ein bisschen mehr von dem Roderick, den ich kannte. »Oh Gott, Easton. Du hast ja keine Ahnung.«

»Dann wirst du es mir erzählen müssen.« Ich legte den Arm um seine Schultern und knuffte ihn. Er war wirklich nur noch Haut und Knochen. Roderick war schon immer mager gewesen, doch das hier war ein ganz anderes Kaliber. Ich konnte jede einzelne Rippe abzählen. Hätte Hob so ausgesehen, hätte ich den Stallmeister beim ersten Hahnenschrei zum Pistolenduell herausgefordert. »Mein Gott, Roderick, deine Köchin taugt ja überhaupt nichts, wenn sie dich so herumlaufen lässt.«

Er lehnte sich kurz gegen mich, dann richtete er sich auf und trat zurück. »Warum bist du hergekommen?«

»Maddy hat mir geschrieben, sie sei krank …« Ich wollte ihm nicht sagen, dass sie eigentlich geschrieben hatte, Roderick glaube, sie würde sterben. Das war zu unverblümt und er sah sowieso schon aus wie ein gebrochener Mann.

»Hat sie?« Seine weißen Augäpfeln traten noch weiter hervor. »Was genau hat sie geschrieben?«

»Lediglich, dass du dich um ihre Gesundheit sorgst.« Als er mich daraufhin nur schweigend anstarrte, versuchte ich, das Gespräch ein bisschen aufzulockern. »Und sie hat mir ihre unsterbliche Liebe gestanden, die sie bis dato geheim gehalten hat. Da bin ich natürlich gleich hierhergaloppiert, um sie zu entführen, auf dass sie fortan in meinem riesigen Schloss in Gallazien leben kann.«

»Nein«, erwiderte Roderick, der meinen erbärmlichen Versuch eines Witzes augenscheinlich ignorierte. »Nein, sie kann nicht von hier fort.«

»Das war ein Scherz, Roderick.« Ich wedelte mit der Kerze herum. »Ich habe mir Sorgen gemacht, das ist alles. Wollen wir uns hier weiter die Beine in den Bauch stehen? Ich habe den ganzen Tag im Sattel gesessen.«

»Oh … natürlich.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Tut mir leid, Easton. Ich hatte schon so lange keinen Besuch mehr, dass ich meine Manieren ganz vergessen habe. Mutter würde sich im Grabe umdrehen.« Er wandte sich um und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Keiner der Flure war beleuchtet, alle waren eiskalt. Der Lichtmangel schien Roderick jedoch nichts auszumachen. Ich mühte mich, mit ihm Schritt zu halten, obwohl ich im Gegensatz zu ihm mit einer Lichtquelle ausgestattet war. Die Böden muteten im Dunkeln schwarz an und ich erhaschte ein paar Blicke auf Deckenschnitzereien und zerschlissene Wandteppiche, die demselben gotischen Stilempfinden wie die Eingangstüren entsprangen.

Dann betraten wir einen neueren Flügel des Anwesens und ich entspannte mich ein wenig. Statt Wandbehängen gab es hier Täfelungen und gelegentlich sogar Tapeten. Diese befanden sich zwar in einem miserablem Zustand – sie waren aufgequollen und warfen Blasen –, aber immerhin kam man sich hier nicht vor, als würde man durch eine uralte Gruft wandeln, denn nur in den wenigsten Grüften findet man an den Wänden dralle Schäferinnen und tollende Schafe. Was ich im Übrigen wirklich für ein Versäumnis halte.

Endlich kamen wir an eine Tür, unter der Licht hervorschimmerte. Roderick stieß sie auf. Dahinter lag ein Salon mit einem richtigen Kamin und obwohl die Fenster hinter mottenzerfressenen Vorhängen verschwanden, schien an den Rändern ein bisschen Licht herein.

Ganz nah am Feuer standen mehrere Sofas – und ich erlitt meinen zweiten Schock des Tages, als ich auf einem davon Madeline liegen sah.

Sie war zu dick in Roben und Decken gehüllt, als dass ich hätte erkennen können, ob sie ebenfalls so ausgemergelt war wie Roderick. Ihr Gesicht jedenfalls war so eingefallen, dass die Knochen hervorstanden, und ihre Lippen waren blau wie die einer Ertrunkenen. Ich redete mir ein, es sei nur ein schlecht gewählter Lippenstift, da streckte sie mir eine vogelkrallenartige Hand entgegen und ich sah, dass ihre Fingernägel vom gleichen zyanotischen Blauviolett waren.

»Maddy.« Ich ergriff ihre Hand. Gott sei Dank verbringen sie in der Armee viel Zeit damit, uns Offizieren Manieren einzubläuen, denn allein aus anerzogenem Reflex beugte ich mich nun über ihr Handgelenk und sagte halbwegs ruhig: »Es ist so lange her.«

»Keinen Tag älter siehst du aus.« Sie klang zwar schwach, entsprach aber eindeutig noch der Maddy aus meiner Erinnerung.

»Du bist noch schöner«, beteuerte ich.

»Und du dafür ein unverschämter Lügner« Doch als sie das sagte, musste sie lächeln und in ihre Wangen kehrte ein wenig Farbe zurück.

Ich ließ ihre Hand los und Roderick zeigte auf den anderen Gast, den ich in meinem Schrecken über Maddy kaum bemerkt hatte. »Darf ich dir meinen Freund James Denton vorstellen?«