Was du nicht hast, das brauchst du nicht - Helen Oyeyemi - E-Book

Was du nicht hast, das brauchst du nicht E-Book

Helen Oyeyemi

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Beschreibung

Wilde, bunte Geschichten für wilde, bunte Zeiten Das neue Buch der international gefeierten Autorin. Ausgezeichnet mit dem PEN Open Book Award. Gewinnerin des Sommerset Maugham Award. Gewinnerin des Hurston/Wright Legacy Award. »Überragend.« The New York Times Book Review »Oyeyemi bremst für niemanden.« Vulture Alles beginnt mit einem ausgesetzten Baby, das einen goldenen Schlüssel zu einem verwunschenen Garten um den Hals trägt … Helen Oyeyemi trägt uns mit ihrer unvergleichlichen Fantasie durch Zeiten und Länder, verwischt die Grenzen gleichzeitig existierender Wirklichkeiten, verbindet dabei leichtfüßig den Erzählreigen durch immer wiederkehrende Figuren, Schauplätze und vor allem – Schlüssel. Schlüssel zu Orten, Herzen und Geheimnissen. Und immer wieder stellt sich die Frage, ob ein Schlüssel wirklich gedreht werden soll, oder ob es besser ist, dem Unbekannten seine Magie zu lassen. Helen Oyeyemis immer überraschende Geschichten nähren sich aus Märchen und Mythen und wendet sie zu einem geistreichen Kommentar einer sehr aktuellen Gegenwart. »Helen Oyeyemi ist eine der aufregendsten, geistreichsten und neugierigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit – und eine Autorin von Sätzen, die so elegant sind, dass sie leuchten.« The Times »Jede Zeile vibriert vor Leben; jedes Bild ist so präzise, stimmig und funkelnd, als wäre es aus Glas geschnitten. Eine wirklich ausgesprochen schöne Geschichtensammlung, voller Ideen und Bilder, die noch für eine sehr lange Zeit in den Gedanken nachklingen.« Vox »Freigeistig und erfinderisch ... Diese Geschichten sind voller Zärtlichkeit, Humor und seltsamer Freuden.« The Financial Times

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Seitenzahl: 368

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Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2018

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Translated from the English language: »What Is Not Yours Is Not Yours«

Copyright © by Helen Oyeyemi, 2016 All rights reseved

Übersetzung: Zoë Beck

Redaktion: Jan Karsten

Umschlaggestaltung: Carolin Rauen

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: Oktober 2018

ISBN 978-3-95988-123-4

Über das Buch

Alles beginnt mit einem ausgesetzten Baby, das einen goldenen Schlüssel zu einem verwunschenen Garten um den Hals trägt ...

Helen Oyeyemi trägt uns mit ihrer unvergleichlichen Fantasie durch Zeiten und Länder, verwischt die Grenzen gleichzeitig existierender Wirklichkeiten, verbindet dabei leichtfüßig den Erzählreigen durch immer wiederkehrende Figuren, Schauplätze und vor allem – Schlüssel. Schlüssel zu Orten, Herzen und Geheimnissen. Und immer wieder stellt sich die Frage, ob ein Schlüssel wirklich gedreht werden soll, oder ob es besser ist, dem Unbekannten seine Magie zu lassen.

Helen Oyeyemis immer überraschende Geschichten nähren sich aus Märchen und Mythen und wendet sie zu einem geistreichen Kommentar einer sehr aktuellen Gegenwart.

Wilde, bunte Geschichten für wilde, bunte Zeiten.

Über die Autorin

Helen Oyeyemi hat bisher fünf Romane veröffentlicht. 2010 gewann sie den Somerset Maugham Award, 2012 den Hurston/Wright Legacy Award, und 2017 wurde sie mit dem PEN Open Book Award für »Was du nicht hast, das brauchst du nicht« ausgezeichnet. Helen Oyeyemi steht auf Grantas Liste der »Best Young British Novelists«.

»Je länger man sich von dem erzählerischen Garn dieser Geschichten einspinnen lässt, umso mehr Geheimnisse und Gefahren begegnen einem, und mit jeder Erzählung hatte ich die wunderbare und seltene Erfahrung, vollkommen überrascht zu werden ... überragend.« The New York Times Book Review

»Oyeyemi bringt Magie in das Leben ihrer zeitgemäßen, heutigen Figuren.« TIME

»Oyeyemis Buch besteht aus einer berauschenden Kombina­tion aus auf links gedrehter Märchenfantasie, die ebenso emotional wie erfinderisch ist, und den ausgezeichnet ausgewählten Details des modernen Lebens, die ihre Geschichten in eine magische Version unserer eigenen Welt verwandeln.« Esquire

»Freigeistig und erfinderisch ... Diese Geschichten sind voller Zärtlichkeit, Humor und seltsamer Freuden.« Financial Times

Helen Oyeyemi

Was du nicht hast, das brauchst du nicht

Übersetzt von Zoë Beck

Inhaltsverzeichnis

Bücher und Rosen
»Sorry« versüßt ihr nicht den Tee
Ist dein Blut auch so rot? (nein)
Ist dein Blut auch so rot? (ja)
Ertränkungen
Präsenz
Eine kurze Geschichte der Gesellschaft hässlicher Frauenzimmer
Dornička und die Martinsgans
Freddy Barrandov checkt ... ein?
Wenn ein Buch verschlossen ist, gibt es dafür vermutlich einen guten Grund, meinst du nicht
Danksagung
Anmerkungen

Öffne mich vorsichtig

– geschrieben auf einen Umschlag, der einen Brief von Emily Dickinson an Susan Huntington Gilbert enthielt,

Bücher und Rosen

Für Jaume Vallcorba

Es war einmal ein Baby, das in einer Kirche in Katalonien gefunden wurde. Es geschah an einem Aprilmorgen im Kloster Santa Maria de Montserrat. Und das Baby war so zappelig und winzig, dass der Korb, in dem es gefunden wurde, auf den ersten Blick leer wirkte. Das Mädchen hatte sich in eine Ecke verirrt, zappelte sich aber wieder mutig unter den Decken hervor, um hinauszuspähen. Der Mönch, der den Korb fand, suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Sein Blick fiel auf die hölzernen Augen der Lieben Frau von Montserrat, einer Mutter, die ihr Kind seit Jahrhunderten auf ihrem Schoß hielt, ein vergoldetes Kind, das weder ­atmete noch wuchs. Indem er zu dieser herr­lichen Frau aufsah, empfand der Mönch ein gewisses Maß ihrer bedingungslosen Liebe und fiel auf die Knie, um weitere Führung zu erbitten, nur um zu merken, dass er auf ­einem Stück ­Papier kniete, das das Baby durch sein Gezappel hinaus­gewühlt hatte. Darauf stand:

1. Ihr habt hier eine Schwarze Madonna, also werdet Ihr dieses Kind fast so sehr wie ich zu lieben wissen. Bitte nennt sie Montserrat. 2. Warte auf mich.

Das Mädchen trug eine goldene Kette um den Hals, und an dieser Kette hing ein Schlüssel. Während sie aufwuchs, wurden die Schlösser aller Türen und Schränke im Kloster ausprobiert, aber ohne Erfolg. Sie musste warten. Für Montse bedeutete es sowohl Trost als auch großen Frust, dieses ... wie sollte sie es nennen, eine Ahnung, einen Hinweis, ein Versprechen? Dieses Versprechen, dass jemand zu ihr zurückkommen würde. Wäre sie ein weißes Kind, hätten die Mönche von Santa Maria de Montserrat sie in die Obhut ­einer Familie vor Ort geben können, aber sie war so schwarz wie das Gesicht und die Hände der Jungfrau, die sie anbeteten. Man gab ihr den Nachnamen »Fosc«, nicht nur, weil sie schwarz war, sondern auch, weil ihre Herkunft im Dunkeln lag. Und die Mönche machten es sich zur Aufgabe, alles über die Bedürfnisse eines Kindes zu lernen, was sie nur konnten. Meistens entschieden sie sich im Zweifel für Nachsicht und debattierten darüber, ob dieses hohe Maß an Zuneigung eine Todsünde oder lässlich war. Jedenfalls waren es die Benediktinerbrüder, die Montse fütterten und ankleideten und herumtrugen und die Schrecken des Zahnens mit ihr durchstanden und stundenlang die Kirchenglocken läuteten, als sie ihr erstes Wort gesprochen hatte. Weder als Mädchen noch als Frau zweifelte Montse je an der Zuneigung ihrer vielen Väter, und dass sie sich dieser Zuneigung sicher sein konnte, half ihr auch dabei, gewisse Zeiten in der Schule oder unten in der Stadt durchzustehen, wenn sie komisch angesehen wurde oder jemand sie beleidigte. Die Worte und Blicke ließen sie manchmal den Kopf senken, aber immer nur für die Dauer von ein paar Schritten. Sie war eine Tochter der Lieben Frau von Montserrat, und sie spürte instinktiv und natürlich auch ketzerisch, dass die Jungfrau selbst nur als ein Symbol für eine noch herrlichere Schwester-Mutter diente, die zugleich sorglos und sorgenvoll war, eine Göttin, die einen nicht leitete oder beschützte, sondern nur von Ort zu Ort begleitete und ihre greifbare Anwesenheit der eigenen hinzufügte, wenn man es wünschte.

Als Montse alt genug war, arbeitete sie in einem Kurzwarengeschäft in Les Corts de Sarria, bis Señora Cabella feststellen musste, dass ihre Verwandtschaft den Familienbetrieb nicht übernehmen wollte, und sie den Laden schloss. »Du bist ein hart arbeitendes Mädchen, Montse«, sagte ­Señora Cabella zu ihr, »und ich weiß, dass du etwas aus dir machen wirst, wenn du die Gelegenheit dazu bekommst. Du kennst doch den Schandfleck an der Passeig de Gracia. Das Casa Milà. Man nennt es La Pedrera, weil es wie ein Steinbruch aussieht. Viele Steine, die einfach aufeinandergeworfen wurden. Ein ehrliches, zuverlässiges Mädchen wie du kann dort Arbeit als Wäscherin finden. Wäre das eine Arbeit für dich? Sehr gut – geh zu Señora Molina, der Frau des conserje. Sag ihr, dass dich Emma Cabella schickt. Gib ihr das.« Und die Frau schrieb ihr eine Empfehlung, die Montse ganz rot werden ließ, als sie sie las.

Am nächsten Morgen meldete sie sich bei Señora Molina im La Pedrera, und die Frau des conserje schickte sie rauf zu Señora Gaeta, die Montse als brauchbar einstufte und ihr eine Schürze umband. Danach war es Arbeit, Arbeit, Arbeit, und aus Wochen wurden Monate. Montse musste besonders schnell arbeiten, damit es Señora Gaeta nicht auffiel, dass sie die Kleider der Familie Cabella zusammen mit denen der ihr zugewiesenen Bewohner wusch. Das Personal im La Pedrera wechselte schnell. Jede Woche kamen neue Mädchen, die sich ohne Vorwarnung einreihten, und andere Mädchen verschwanden, ohne zu kündigen. Señora ­Gaeta kannte jeden Namen und jedes Gesicht, obwohl es sogar den Mädchen wegen der identischen Uniformen schwerfiel, sich gegenseitig auseinanderzuhalten. Señora Gaeta war es, die die Mädchen einstellte und die sie auch wieder von ihren Pflichten entband, wenn ihre Mühe nicht den Anforderungen entsprach. Sie schoss über den Dachboden und wedelte mit ihrem rot lackierten Fächer in der Luft herum, während sie die unterschiedlichen Aktivitäten inspizierte. Die Bewohner des Casa Milà nannten Señora Gaeta einen Engel, und die Wäscherinnen mochten sie, weil sie manchmal in die Arbeitslieder miteinstimmte. Es schien, als wäre sie einst eine von ihnen gewesen, auch wenn sie heute Damast und Camée-Ringe trug. Señora Gaeta war auch deshalb so beliebt, weil es aufregend war, ihr zuzuhören: Sie stieß die kraftvollsten und ungewöhnlichsten Flüche aus, die sie je gehört hatten, wahrlich nichts, was sich wiederholen ließe, und alles in einem süß bebenden Ton wie das Lied einer Harfe. Ihre Strategie bestand darin, gesund aussehende Frauen einzustellen, bei denen es unwahrscheinlich schien, dass sie zu bald schon ein Rückenleiden entwickelten. Aber man konnte nicht immer richtig liegen. Es gab Mädchen, die über Nacht alterten. Andere waren überraschend faul. Frauen, die sich um ihren Ruf sorgten, blieben auch nicht lange in der Dachbodenwäscherei – sie suchten und fanden in gewöhnlicheren Gebäuden Arbeit.

Man war sich darin einig, dass es sich bei dem Gebäude, das sich die Milà-Familie hatte erbauen lassen, um einen kompletten Fehlschlag handelte. Das war zum größten Teil die Schuld des Architekten. Er hatte die richtigen Materialien benutzt, aber ganz offensichtlich nicht gewusst, wie man sie am besten einsetzte. Ein Haus aus Stein und Glas und Eisen sollte schlicht und vernünftig sein, ein Wachturm, von dem aus die Gesellschaft wohlwollend beaufsichtigt wird. Aber der weiße Stein dieses besonderen Hauses kräuselte sich, als reagierte er auf eine Hand, die seinen sinnlichsten Berührungspunkt gefunden hatte. Ein angesehener Kritiker einer Zeitung hatte diesen Effekt als »schändliche Wollust« beschrieben. Und als wäre das nicht schon genug, errötete das gesamte Konstrukt bei Sonnenaufgang und -untergang in einem wahrlich beschämenden Pfirsichrosa. Anständige Bürger konnten nicht anders, als den Eindruck zu gewinnen, dass das Haus die Gesinnung seiner Bewohner ausdrückte, die mit Sicherheit entweder verrückt oder unaufhörlich mit unanständigen Aktivitäten beschäftigt waren. Aber Montse fand das Haus, in dem sie arbeitete, schön. Sie stand an der Ecke des Bürgersteigs und sah hinauf, und was sie sah, verschleierte ihr die Sinne. Für Montse war La Pedrera ein prachtvoller Bau. Aber natürlich mangelte es ihrem Geschmack an Veredelung. Ihr größter materieller Schatz war ein ungeheuer glänzendes Stück Blech, das sie auf einem Rummelplatz beim Kokosnussschießen gewonnen hatte. Diese Tatsache darf nicht einfach so übergangen werden.

Es gab allerdings einige kultiviertere Personen, die Montses Bewunderung für La Pedrera teilten – eine war Señora Lucy, die im zweiten Stock wohnte und sich regelmäßig mit anderen Leuten darüber stritt, ob ihr Zuhause eine ästhetische Beleidigung sei oder nicht. Journalisten kamen gelegentlich zu Besuch, um sie zu befragen, und machten beim Gehen eine spitze Bemerkung über das Haus, aber Señora Lucy weigerte sich, ihnen das letzte Wort zu lassen, und zeterte ihnen lauthals hinterher. Die Frage nach rechten Winkeln kam immer auf: Wie konnte es Señora Lucy ertragen, in einem Haus ohne einen einzigen rechten Winkel zu leben ... nicht einmal bei den Möbeln ...?

»Mal im Ernst, wer braucht rechte Winkel? Wer?«, rief Señora Lucy, und dann knallte sie die Hoftür zu und rannte lachend die Treppen hinauf.

Señora Lucy war Malerin mit Augen wie ein Sonnenaufgang. Wie Montse trug sie einen Schlüssel an einer Kette um den Hals, aber anders als Montse erzählte sie den Leuten, sie sei fünfzig Jahre alt und forderte sie mit Blicken heraus, ihr zu sagen, dass sie für ihr Alter gut aussah. (Señora Lucy war in Wirklichkeit fünfunddreißig, nur fünf Jahre älter als Montse. Eines der Hausmädchen hatte mitbekommen, wie ein Galerist sie angefleht hatte, den Leuten nicht länger zu erzählen, sie sei fünfzig. Die Señora hatte geantwortet, dass sie kürzlich die Ausstellungen einiger ihrer Kollegen besucht hatte und jetzt gern wissen würde, ob die fünfzigjährigen Männer in ihrem Fach mit so viel mehr Respekt behandelt wurden, weil sie fünfzig waren, oder ob es andere Gründe gab.) Abgesehen davon waren die Hausmädchen von Señora Lucy ein Stück weit enttäuscht. Sie erwarteten von einer Künstlerin, zu Hause in einem scharlach­roten Pyjama zu faulenzen, vor dem Frühstück Cocktails zu trinken und flotte Halunken und wohlriechende Sirenen zu verköstigen. Aber Señora Lucy hielt sich an die Bürozeiten. Merce, ihr Mädchen für alles, versuchte sie zu verteidigen, indem sie geltend machte, dass die Señora ihren morgendlichen Kaffee aus einer Vase trank, aber niemand hielt dies für glaubwürdig.

Montse fand eine Möglichkeit, diejenige zu sein, die Señora Lucy die saubere Wäsche brachte. Manchmal musste sie dafür einige andere Lieferungen übernehmen, damit ihre Chefin, Señora Gaeta, nicht misstrauisch wurde. In Señora Lucys Wohnung gab es ein Arbeitszimmer. Oft fing sie ihre Arbeiten dort an und ließ die Leinwände dann in ihr eigentliches Atelier bringen. Dreißig Sekunden in Señora Lucys Wohnung reichten Montse, um einen guten Eindruck von all den angefangenen Gemälden zu bekommen. Der Señora fiel schon bald auf, dass Montse neugierig auf ihre Arbeiten schielte, und sie ließ fortan die Tür zu ihrem Studio offen, während sie an der Leinwand arbeitete, und rief Montse zu sich und bat sie zu beurteilen, wie gut sich das Bild entwickelte. »Sieh mal hier«, sagte sie dann und deutete auf einen vagen Umriss in der Ecke des Rahmens. »Sieh hier ...« Ihre Fingerspitzen glitten über eine Farbverdunklung, die Perspektive ins Bild brachte. Sie strengte beim Skiz­zieren der Motive jeden Muskel an. Montse sah, dass die Señora manchmal ganz außer Atem war, obwohl sie sich kaum rührte. Es war die Folge davon, dass sie sich Bilder aus der Luft schnappte – die Luft nahm sich etwas zurück.

Montse fragte die Señora, was es mit dem Schlüssel um ihren Hals auf sich habe. Es war keine richtige Frage, sie sagte nur etwas, damit sie noch einen Moment länger bleiben konnte. Aber die Señora sagte, sie trage ihn, weil sie auf jemanden warte. Da vergaß sich Montse und platzte heraus: »Sie auch?«

Das amüsierte die Señora. »Ja, ich auch. Ich vermute, wir warten alle auf jemanden.« Und sie erzählte Montse alles darüber, während sie für sie beide Kaffee in Vasen einschenkte. (Es stimmte! Es stimmte!)

»Zwei zumeist mittellose Frauen trafen sich bei einem Selbstbeweihräucherungsritual in Sevilla.« So fing Señora Lucy an. Bei der Veranstaltung handelte es sich um die fünfjährige Abschlussfeier eines Jahrgangs der Universität von Sevilla – keine der Frauen hatte diese Universität besucht, aber sie mischten sich unter die anderen, und jeder Zweite behauptete, sich an sie erinnern zu können, und es wurde viel darüber gejubelt, wie wundervoll es war, dass es den früheren Kommilitoninnen so gut ging. Die Betrügerinnen waren vorbereitet und wussten, was sie sagen mussten und welche Fragen sie zu stellen hatten. Sie hießen Safiye und Lucy, und man wäre nie darauf gekommen, dass sie beide bettelarm waren, denn sie hatten den größten Teil des vorangegangenen Nachmittags damit zugebracht, einige unbezahlbare Kleidungs- und Schmuckstücke ihren Besitzerinnen zu entwenden.

Diese beiden mittellosen jungen Frauen kannten jeden Trick, den es gab, und dass sie nicht in der Lage waren, sich gegenseitig als das zu erkennen, was sie waren, war einer der Nachteile davon, eine tüchtige Betrügerin zu sein. Beide Frauen zogen mit einem Fundus an Decknamen von Stadt zu Stadt, und beide glaubten, dass Zusammenarbeit etwas für Schwächlinge war. Lucy und Safiye hatten auf dieser Zusammenkunft nicht nach Freundschaft oder Liebe gesucht. Sie wollten Kontakte knüpfen. Als sie sich noch mit ehrlicher Arbeit geplagt hatten – Lucy in einer Bäckerei und Safiye auf einem Schlachthof –, hatten sie sich gefragt, ob es denn wahr sein könnte, dass es Menschen gab, denen man einfach nur deshalb Geld gab, weil sie so aussahen, als wären sie es gewohnt, viel davon zu haben. Dank ihrer Allerweltsgesichter und ihres dreisten Erfindungsreichtums hatten sie beide diese Theorie austesten können und herausgefunden, dass sie standhielt. Safiye liebte es, sich Gemälde anzusehen, und sie brauchte Geld, um ihre Sammlung zu erweitern. Lucy war eine Künstlerin, die ständig Farbe, Pinsel, Terpentin, sanftes Licht und ausreichend Leinwand brauchte, um unwiderstehliche Fehler machen zu können. Eine Zeit lang war Lucy mit einer seltenen Sorte Clown verheiratet gewesen, der Sorte, vor der Kinder keine Angst haben: Er ist schließlich einer von uns, das sieht man an seinen Augen, urteilten sie. Schon lustig, dass er so merk­würdig groß ist. Lucy und ihrem Ehemann hatte es nicht sonderlich gefallen, miteinander verheiratet zu sein. Diese Verpflichtung wog sehr viel schwerer, als sie während der unbeschwerten Zeit des Werbens angenommen hatten, aber sie waren sich einig, dass es den Versuch wert ge­wesen war, und während sie auf ihre Scheidung warteten, ließ sich Lucy von ihrem Mann die Taschenspielertricks beibringen, die sie schließlich anwandte, um die Taschen ­ihres Nachbarn bis auf den letzten Fussel auszurauben. Als sie Safiye an jenem Abend kennenlernte, stahl sie ihr die Ohrringe direkt von den Ohrläppchen, und als sie sich in ein ruhiges Eckchen zurückgezogen hatte, sah sie, dass es sich um künstliche Steine handelte. Dann bemerkte sie, dass ihr Metallarmreif fort war, und ihr wurde schnell klar, dass sie ihn einzig an die Person verloren haben konnte, von der sie gestohlen hatte. Sie war von den bunten Kugeln und dem Reiz dieser zarten Ohrläppchen abgelenkt gewesen. Während sie von einem Bankier bedrängt wurde, dessen falsche Erinnerung daran, vom Tage seiner Immatri­kulation an in sie verliebt gewesen zu sein, sich als profitabel erweisen könnte, schwankte Lucy zwischen einer vernünftigen und einer tollkühnen Entscheidung. Wie bei Lucy ­üblich gewann die Tollkühnheit. Sie fand Safiye im Garten an eine Öllaterne gelehnt und sah nun selbst, dass sie nicht die einzige törichte Frau auf der Welt oder gar auf dieser Feier war, denn Safiye hielt Lucys spiegelblanken Armreif in der Hand und drehte ihn hin und her, um Glühwürmchen in dem wogenden, durchsichtigen linken Ärmel ihres Kleids zu fangen. Dies alles auf die Gefahr hin, in Brand zu geraten, aber andererseits sah Safiye von dort, wo Lucy stand, so aus, als wäre sie selbst aus Feuer, während Flammen­teilchen die Muskeln ihres Arms tanzend zum Leben erweckten. Entweder das, oder das Feuer nahm sie sich ­zurück.

Sie verließen die Wiedersehensfeier früh und eilig zusammen mit einer kleinen Gruppe Gäste, die die Vortäuschung totalen Erfolgs nicht länger aushalten konnte. Nachdem sie in Lucys Bett gefallen waren, standen sie tagelang nicht mehr auf. Wie könnten sie auch, wenn Lucys Fingerspitzen sämtliche Wünsche von Safiye zu befriedigen wussten und jeder neckende Strich von Safiyes Zunge Lucy an den Rand des Wahnsinns trieb? Sie schliefen ein, während sie heimlich für sich Pläne schmiedeten, mitten in der Nacht davonzuschleichen. Ihre Leidenschaft füreinander schlug sie nämlich vollkommen in den Bann der anderen, und das mussten sie schlicht furchterregend finden. Also planten sie ihre Flucht, wachten aber ineinander verschlungen auf. Es hing ganz von Lucy ab, ob Safiye bleiben oder gehen würde. Und wer wusste schon, was Safiye aus heiterem Himmel und mit Erfolg von Lucy verlangen würde? Hör auf zu atmen. Trink keinen Tee mehr. Die Lage verbesserte sich, als ihnen klar wurde, dass sie miteinander reden sollten. Sie verstanden nun besser voneinander, wovor sie Angst gehabt hatten: sich selbst in der anderen zu verlieren. Im Gegenteil, je mehr sie liebten, desto mehr gab es, was sich zu lieben lohnte. Manchmal war es notwendig, einige Monate voneinander getrennt zu sein, anderen Menschen wertvolle Dinge abzunehmen und dabei Methoden anzuwenden, die sie nicht miteinander besprachen. Lucy schickte Safiye Gemälde und orangefarbene Blüten, und Safiye sandte einen beständigen Strom potenziell zu porträtierender Personen in Lucys Richtung. Die Liebenden stritten deshalb. Lucy kam es so vor, als versuchte Safiye sie dazu zu bringen, »solide« ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Lucy hatte sich selbst geschworen, nur Gesichter zu malen, die sie fesselnd fand, und es ärgerte sie, sich ständig neue Ausreden ausdenken zu müssen, um ein Porträt abzusagen.

»Alles in Ordnung, du machst nur keine besonders guten Geschenke«, sagte Lucy mit einem Lächeln, das sie beschwichtigen sollte. Geschenke waren nicht wichtig, wenn sie zusammen waren, und Geschenke sollten auch nicht wichtig sein, wenn sie getrennt waren. Aber Safiye war außer sich vor Wut.

»Wovon redest du da? Sag nie wieder, dass ich keine guten Geschenke mache!«

Wenn Lucy etwas von dem zurücknehmen könnte, was sie jemals gesagt hatte, wären es diese Worte zu Safiye. Hätte Lucy sie nicht gesagt, wäre Safiye nicht losgezogen, um das Geschenk zu stehlen, was ihr das Gegenteil beweisen sollte, und sie wäre nicht erwischt worden.

Die Liebenden verbrachten Weihnachten zusammen, dann gingen sie auseinander – Lucy nach Grenoble und Sa­fiye nach Barcelona. Sie schrieben sich an die Hauptpostämter der jeweiligen Städte, und Anfang April schrieb Safiye über die Romantik des Sant-Jordi-Tages. Lucy, hier ist es Brauch, sich jedes Jahr am 23. April Bücher und Rosen zu schenken. Sollen wir?

Lucy machte sich vergnügt an die Arbeit. Als Erstes ließ sie sich Papyrus kommen und fertigte ein Buch von Hand, Blatt für Blatt, band die Blätter zwischen den Pappdeckeln zusammen. Dann füllte sie jede Seite aus dem Gedächtnis, zeichnete knospende Englische Rosen und blühende Chinesische Rosen, rankende Bourbon-Rosen so rosa wie Pfefferkörner und silbrige Moschusrosen, die in Blumenbeeten schlummerten. Sie nahm jede Rose, die sie je gesehen hatte, gestaltete sie so lebensecht, wie sie konnte (wo sie jedes Blütenblatt schattierte, wurde das raue Papier ganz seidig), und in dieser bleibenden Form würde sie sie Safiye darbringen. Die Herstellung des Rosenbuchs fiel zufällig in eine Zeit in Lucys Leben, in der sie Geld verdiente, ohne jemanden anlügen zu müssen. Sie hatte sich mit einem unverbesserlichen Spieler zusammengetan, der bemerkt hatte, dass sie seine Nerven auf das Wundersamste beruhigte. Wann immer sie neben ihm saß, gewann er beim Blackjack, weshalb sie sich darauf geeinigt hatten, dass sie zehn Prozent von jedem seiner Gewinne bekam. Dieser Mann spielte nur, wenn der Einsatz hoch war, also gewann er viel, und beide waren glücklich. Lucy hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde, wenn ihre Glückssträhne abriss. Sie konnte nur hoffen, dass der Spieler nicht versuchen würde, ihr Gewalt anzutun, weil sie dann ihm Gewalt antun müsste. Das wäre schade, denn sie mochte den Mann. Er begrapschte sie nie, er fragte immer, wie es Safiye ging, und er war sehr in seine Frau verliebt, die ihn ebenfalls liebte und glaubte, er sei Nachtwächter. Die Frau des Spielers wäre schier wahnsinnig vor Angst geworden, wenn sie gewusst hätte, wie kurz sie jede Nacht davor war, ihre sämtlichen Ersparnisse zu verlieren, aber sie hegte keinerlei Verdacht und packte ihrem Ehemann leichte Mahlzeiten für die Arbeit ein, Mahlzeiten, denen der Mann nicht einmal einen Blick zu schenken wagte (sein Magen rumorte jedes Mal, wenn er die Glücksgöttin herausforderte), also aß Lucy die Mahlzeiten, die sie sehr mochte. Der Geschmack von in Kräutern eingelegten Oliven blieb ihr noch lange auf der Zunge, sodass sie das ganze Grün der Trauben schmeckte, wenn sie Wein trank.

Von dort, wo Lucy neben ihrem Spieler saß, konnte sie durch ein Flügelfenster auf eine lange Straße sehen, die zum Fuß eines Berges führte. Und was Lucy am besten an dem Flügelfenster gefiel, war, dass der Berg die Straße ­entlangzuwandern schien, wenn sich die Nacht in Dämmerung verlor. Er ging auf Zehenspitzen, als wartete er darauf, verscheucht zu werden. Soweit ein vollkommen vergäng­liches Gebilde aus Fleisch und Blut sich erinnern (oder vorhersagen) kann, wie es ist, aus Stein zu sein, verstand Lucy den Wunsch des Berges, am Fenster einer Spielhölle zu lauschen und sich an der herausdrängenden Hoffnung und Trostlosigkeit der Spieler zu wärmen. Sie wünschte dem Berg, er würde eines Tages zu einem Kieselstein schrumpfen, durch das Glas krachen und in eine Ecke rollen, um dann glücklich das Tavernentreiben in sich aufzusaugen, solange es diesen Ort gab. Lucy versuchte, Safiye etwas über den Blick durch das Flügelfenster zu schreiben, fand aber, dass ihre Beschreibung des Berges etwas derart Schmachtendes hatte, dass es sich unangenehm las. Sie schickte den Brief nicht ab.

Safiye hatte eine Arbeit als Kammerzofe angenommen – eine durchaus passende Anstellung für sie, da sie die erforderliche Geduld besaß. Es kann Monate dauern, bevor man herausfindet, wo sich der Safe des Hauses überhaupt befindet, ganz zu schweigen vom Code, der einem dessen Inhalt erst zugänglich macht. Aber war das wirklich Safiyes Plan? Erneut hatte Lucy das Gefühl, sie sollte zu einem konventionellen Leben verleitet werden. Safiye begann immer wieder ärgerliche Unterhaltungen über »die Zukunft«, die Notwendigkeit von Sicherheit und die Wahrscheinlichkeit, einmal zu oft einen üblen Streich zu spielen. Hin und wieder unterbrach Lucy ihre Arbeit an dem Rosenbuch, um kurze Nachrichten zu schreiben und zu verschicken: Safiye – ich war so beschäftigt, ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ich fürchte, ich werde dir nur eine kleine Aufmerksamkeit zu diesem Sant-Jordi-Tag, von dem du geschrieben hast, schicken können. Wenn wir uns sehen, werde ich dich um Verzeihung bitten. Safiye antwortete: Egal wie klein deine Aufmerksamkeit ist, meine ist mit Sicherheit kleiner. Du wirst lachen, wenn du sie siehst, Lucy. Lucy schrieb zurück: Wetteifernd wie immer! Was du auch tust, lass dich nicht erwischen. Ich liebe dich, ich liebe dich.

Am 23. April kam ein von Safiyes Hand adressierter Umschlag für Lucy im Postamt an. Darin lagen ein Schlüssel an einer Halskette und eine Straßenkarte von Barcelona, auf der schwarze Rosen über einen kleinen Abschnitt gemalt waren. Lucy stülpte den Umschlag von innen nach außen, aber er enthielt keine begleitende Notiz. Sie hat mir nicht einmal ein Buch geschickt, dachte Lucy und schüttelte ­unwillkürlich den Kopf. Sie hatte das selbst gemachte Buch noch nicht losgeschickt, und als sie in der Schlange anstand, um es aufzugeben, dachte sie darüber nach, es zu behalten.

Die Frau vor ihr las eine Zeitung, und Lucy sah Safiyes Gesicht – vielmehr eine mangelhaft gezeichnete Reproduk­tion dessen – und las das Wort »Barcelona« in der Überschrift. Ein lebenswichtiger Teil ihres Herzens zog sich zusammen, oder ihr Blut wurde zu dick, um hindurchzufließen. Sie las genug, um zu verstehen, dass die Polizei in Zusammenhang mit einem Mord und einer Serie weiterer Verbrechen nach einer Kammerzofe suchte, von der sie glaubte, sie hätte sie unter anderen Namen begangen.

Mord? Unmöglich. Nicht Safiye. Lucy schritt rückwärts, bis sie eine Wand fand, an die sie sich lehnen konnte. Sie hielt inne, bis sie in der Lage war, zum Bahnhof zu gehen, wo sie sich Fahrscheine und eine Zeitung kaufte, von der sie eine einzige Seite las, während sie auf den Zug wartete. ­Sie würde gehen, wohin die Karte in ihrer Tasche sie führte, sie würde Safiye finden, Safiye würde alles erklären, und sie würden lachen. Natürlich würden sie den Kontinent ver­lassen müssen. Sie würden vielleicht sogar ihren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise verdienen müssen, wie Safiye es wollte, aber bitte, bitte, bitte, bitte. Dieses Bitten in ihr dauerte während der gesamten Reise an, während dreier ­Zugwechsel und während des größten Teil des Tages. Ein Berg schien jedem Zug, den sie nahm, zu folgen – wann immer sie sich umsah, war er dort und hielt Schritt. Ihr gefiel der Gedanke, es könnte ihr Berg sein, den sie dort sah, der, den sie zuerst in Grenoble gesehen hatte und der nun alles daransetzte, ihr die Treue zu halten, bis sie Safiye gefunden hatte.

Safiyes Karte führte Lucy zu einer grob gezimmerten Tür in einer Mauer. Sie sah nicht aus wie eine Tür, die sich öffnen ließ, eher wie eine Abdeckung für einen Fehler im Mauerwerk. Aber der Schlüssel passte ins Schloss, und Lucy betrat einen ummauerten Garten, der von Rosen überwuchert war. Sie watete durch Duftschwaden, hob tauartige Ranken von Wein- und Zaunrosen aus dem Weg. Hellblaue Schmetterlinge wurden von ihren Schritten aufgeschreckt und flatterten in alle Richtungen davon. Safiye hatte gesagt, dass Lucy über die Größe ihres Geschenks lachen würde, und vielleicht hätte Lucy wirklich gelacht, wenn sie sie dort angetroffen hätte. Schließlich hatte man ihr noch nie zuvor einen geheimen Garten geschenkt. Aber in den Zeitungen stand, die Frau, die wie Safiye aussah, hätte ihre Dienstherrin getötet, und Lucy war angst und bange, dass es stimmen und dieses Geschenk der Grund sein könnte. Als die Nacht hereinbrach, wollte sie zwischen den Rosen schlafen, in der Hoffnung, dass diese gekräuselten Lüftchen sie zu einer Antwort tragen würden, aber es war besser, Safiye zu finden, als zu träumen. Zwei Wochen lang huschte sie durch die Stadt und lauschte den Gesprächen über die mörderische Kammerzofe. Sie wagte es nicht, in den Rosengarten zurückzukehren, aber sie trug den Schlüssel um ihren Hals, hoffend und bangend, jemand könnte ihn wiedererkennen. Niemand tat es, und sie beschloss, nach Grenoble zurückzukehren, bevor ihr das Geld ausging. Ihr Spieler lag im Krankenhaus. Es war zu schweren Verlusten am Blackjack-Tisch gekommen, seine Frau hatte herausgefunden, was er angestellt hatte und eine unerwartete Kraft entwickelt (»übermenschliche Kraft«, wie er es nannte), ihm beide Arme gebrochen und war dann zu einem Zimmermann gezogen, der ihr eindeutig schon vorher Gesellschaft geleistet hatte, wenn ihr Mann in finanziellen Angelegenheiten unterwegs gewesen war. Trotzdem freute er sich, Lucy zu sehen. »Fortuna lächelt mir wieder zu!« Was konnte Lucy tun? Sie kochte ihm Suppe, und wenn sie nicht an seinem Bett saß, unternahm sie Streifzüge als Taschendiebin, um ihm dabei zu helfen, seine Krankenhauskosten zu bezahlen. Bis zum heutigen Tag sind sie Freunde: Es beeindruckte ihn, wie sie Verantwortung für ihn übernahm, und sie war ganz und gar darüber erstaunt, dass es ihm niemals einfiel, jemand anderem die Schuld für seine Probleme zu geben – etwas, das sie so noch gar nicht kannte.

Ein paar Wochen nach ihrer Rückkehr nach Grenoble wütete ein Frühlingssturm, der das Moos von den Bergspitzen hinab auf die Straßen wirbelte. Die stürmische Nacht verwandelte das Fenster von Lucys Zimmer in eine Tür. Durch ihren Schlaf hindurch bemerkte sie, dass nicht nur Regen am Glas rüttelte ... jemand klopfte. Im Halbschlaf wankte sie zum Fenster, um den Riegel zu öffnen. Als Safiye schließlich zitternd und nass bis auf die Knochen hereingekrochen war, küssten sie sich lange, küssten sich, bis Lucy hellwach war, weil Safiyes Zähne gegen ihre klapperten. Sie holte ein Handtuch, Safiye vollzog einen herzerweichenden kleinen Striptease für sie, und Lucy wickelte ihre Liebste warm ein und hielt sie fest und stellte ihr nicht all die Fragen, die sie stellen wollte.

Nach einer Weile fing Safiye an zu erzählen. Ihre Stimme war so gänzlich unverändert, dass sie der Erinnerung näher zu sein schien als der Gegenwart.

»Heute habe ich mich nach dir erkundigt, und ich bin dir sogar eine Weile gefolgt. Du hast Hutband und einen Sack Zwiebeln gekauft, und du hast ein gutes Geschäft mit dem Hutband gemacht. Manchmal dachte ich, du würdest mich dabei erwischen, wie ich dich beobachte. Aber jetzt weiß ich sicher, dass du mich nicht bemerkt hast. Es geht dir gut. Ich bin stolz auf dich. Und ich habe nichts weiter zustande gebracht, als einen Schlüssel zu nehmen und alles zu verderben. Ich wollte dir doch ... Ich wollte dir ...«

»Schlaf«, sagte Lucy. »Schlaf einfach.« Für mehr fehlte ihr der Atem. Aber Safiye war gekommen, um ihr zu erklären, was es mit dem Schlüssel auf sich hatte, der Schlüssel, der Schlüssel, es war wie ein Wahn, und sie würde nicht eher schlafen, bis sich Lucy alles angehört hatte.

Von Anfang an hatte Safiye eine leichte Abneigung gegen die Art verspürt, wie ihre Dienstherrin, Señora del Olmo, sprach: »Im Kopf dieser Frau herrschte ein interessanter Wechselkurs ... Wenn sie sich daran erinnerte, wie jemand ihr etwas gegeben hatte, dann hatte man ihr immer sehr wenig gegeben und den Löwenanteil für sich behalten. Aber wenn sie daran dachte, wie sie jemandem etwas ge­geben hatte, dann hatte sie so viel gegeben, dass es sie fast ruiniert hätte.« Davon abgesehen hatte Safiye Señora del Olmo weder gemocht noch verabscheut. Lieber hatte sie sich darauf konzentriert, die Schätze des Haushalts, von ­denen es viele gab, im Kopf genauestens zu erfassen. ­Zusätzlich zu diesen Schätzen trug die Frau auch noch einen Schlüssel um den Hals. Sie spielte damit, als sie Gärtner für Gärtner zum Vorstellungsgespräch traf. Safiye wohnte d­iesen Gesprächen ebenfalls bei, machte sich Notizen und las die Empfehlungsschreiben. Keiner der Gärtner schien die Anforderung von Señora del Olmo erfüllen zu können, absolute Diskretion zu wahren: Der Garten musste in ­Ordnung gebracht werden, aber dies musste auch ein ­Geheimnis bleiben. Schließlich hatte Safiye die Dienste ­ihres eigenen grünen Daumens angeboten. Zu dem Zeitpunkt hatte sie sich in ausreichendem Maße das Vertrauen von Señora del Olmo verdient, sodass diese sie durch die Stadt zur Gartenpforte mitnahm, sie öffnete und Safiye ­erlaubte hineinzusehen. Safiye erkannte sofort, dass dies kein Ort war, an dem ein Gärtner seinen Einfluss geltend machen konnte, und sie sah in den Rosen ein immerwährendes Geschenk, ein verwickeltes und verworrenes ­Atelier, in dem Lucy arbeiten und spielen und Farben studieren konnte. Señora del Olmo wies Safiye an, draußen zu warten, betrat den Garten und schloss hinter sich die Tür. Nach einer halben Stunde tauchte die Señora wieder auf, außer Atem und mit geröteten Wangen ...

»Als hätte man sie gerade geküsst?«, fragte Lucy.

»Überhaupt nicht. Eher als hätte man sie gepackt und ­geschüttelt wie ein fehlerhaftes Thermometer. Ich fragte sie, ob noch jemand im Garten gewesen sei, und sie schrie mich fast schon an. Nein! Nein. Warum fragst du das? Die Señora hatte einen prachtvollen Strauß gelber Rosen mit lavendelfarbenen Tigerstreifen gepflückt, so lebhafte Blumen, dass sie die Hand, die sie hielten, wie eine jämmerliche Papprequisite aussehen ließen. Señora del Olmo behielt die Rosen während der Kutschfahrt im Schoß, und als wir zu Hause ankamen, hatte sie sich beruhigt. Aber ich dachte trotzdem, dass noch jemand in diesem Garten gewesen sein musste – sonst hätte die Frage sie nicht so sehr aufgeregt, oder?«

»Als ich dort war, war sonst niemand zu sehen.«

Safiye blinzelte. »Also warst du da.«

»Ja, und dort waren nur Rosen.«

»Nur Rosen ...«

»Wie bist du denn nun an den Schlüssel gelangt?« Sie beobachteten sich jetzt genau, Safiye lauerte auf Skepsis, Lucy auf eine Lüge.

»Am Abend ging ich ins Wohnzimmer der Señora, um zu sehen, ob sie noch etwas brauchte, bevor ich mich schlafen legte. Die einzigen anderen Angestellten waren eine Köchin und ein Mädchen für alles, und sie wohnten nicht bei uns, weshalb sie schon zum Schlafen nach Hause gegangen waren. Ich klopfte an die Tür, und die Señora antwortete nicht, aber ich hörte – ein Geräusch.«

»Ein Geräusch? Wie eine Stimme?«

»Ja – nein. Ein Knarren. Eine rostige Klinke, die gedrückt wurde, oder eine Holztür, die aufgeschoben wurde, bis ihre Angeln sich verbogen. Manchmal stelle ich mir vor, dass Bäume, wenn wir sie wachsen hören könnten ... knarren ... und zwar genau so. Ich klopfte wieder, und das Knarren hörte auf, aber eine Stille begann. Eine Stille, mit der ich mich gar nicht wohlfühlte. Aber ich fühlte mich verpflichtet, alles zu tun, was ich konnte ... Würde ich eine Tür geschlossen lassen und es stellte sich heraus, dass jemand noch leben könnte, hätte ich sie nur rechtzeitig geöffnet ... Das könnte ich nicht ertragen ... Also musste ich sehen, ob sich die Tür öffnen ließ. Ich betete, sie möge verschlossen sein, aber sie gab nach, und ich sah die Señora im Mondlicht mit dem Rücken zu mir am Fenster stehen. Sie hielt eine Rose mit den Händen umschlossen, als wollte sie daraus ­trinken. Sie stand ganz gerade, niemand steht so gerade, wie sie dort stand, nicht einmal die Tänzerinnen aus dem Ballett ...«

»Tot?«

»Nein, sie machte nur ein Nickerchen. Natürlich war sie, verdammt noch mal, tot, Lucy. Ich zündete die Lampe auf dem Tisch an und kam näher. Ihre Augen waren offen, und in ihnen lag so etwas wie Begreifen – ich dachte schon fast, sie wollte mich beschwichtigen. Sie sah aus, als hätte sie verstanden, was mit ihr geschehen war, und wollte gerade sagen: Schsch, ich weiß. Ich weiß. Und es gibt keinen Grund, warum du es auch wissen müsstest. Es war der schrecklichste Anblick. Der schrecklichste. Ich wandte den Blick auf den Rest ihres Körpers und bemerkte drei Dinge schnell hintereinander: erstens, dass sich die Farbe der Rose, die sie festhielt, von der der anderen Rosen in der Vase auf dem Fenstersims unterschied. Die in der Vase waren gelb mit lavendelfarbenen Streifen, wie ich dir schon gesagt habe, und die in der Hand der Señora war orangefarben mit braunen Streifen.«

Lucy vermischte im Hinterkopf Farben. Was machte orange aus gelb und braun aus blau oder lila? Rot.

»Ich sah auch ein Loch in der Brust der Señora.«

»Ein Loch?«

»Ein kleines, präzises Loch.« Safiye tippte mitten auf Lucys Brust und drückte sanft. »Es ging durch bis zur anderen Seite. Und trotzdem kein Blut.«

(Es war alles in der Rose.)

»Was noch?«

»Der Stiel der orangefarbenen Rose.« Safiye zitterte wieder. »Wie könnte ich einem Polizisten so etwas erzählen? Wie könnte ich ihm erzählen, dass ich sie so gefunden habe? Der Rose war eine Art Schwanz gewachsen. Lang, gekrümmt, dornig. Ich rannte fort.«

»Du hast erst den Schlüssel genommen und bist dann weggerannt.«

»Ich nahm den Schlüssel und rannte dann fort.«

Die Liebenden schlossen die Augen zu ihren Gedanken und glitten vom Denken in den Schlaf. Als Lucy aufwachte, war Safiye fort. Sie hatte eine Nachricht hinterlassen – Warte auf mich – und das war der einzige Beweis dafür, dass der nächtliche Besuch kein Traum gewesen war.

Zehn Jahre später wartete Lucy noch immer. Das Warten hatte ihr Leben verändert. Zum einen, weil sie von Frankreich nach Spanien gezogen war. Und der einzige Name, den sie nun benutzte, war ihr echter, der Name, den Safiye kannte, sodass Safiye sie finden konnte. Und ihren echten Namen zu benutzen bedeutete, den Ruf, mit dem der Name verknüpft war, sauber zu halten. Sie zeigte das Rosenbuch, das sie für Safiye gemacht hatte, einem Galeristen. Der Mann bat sie, ihm einen Preis zu nennen, also rief sie eine Summe auf, die sie ungeheuerlich fand. Er fand sie vernünftig und zahlte auf der Stelle, dann wollte er wissen, was sie außerdem hatte. Und so brachte Safiye Lucy doch noch zu einem respektablen Lebenswandel.

Señora Lucys Trennung von Safiye bedeutete, dass sie oft Landschaften malte, in denen sie nach ihr suchte. Señora Lucy war in diesen Gemälden kaum zu sehen, aber Safiye dafür immer, und wenn man die Bilder betrachtete, beteiligte man sich an der Suche nach einer verschwundenen Frau, einer unbehaglichen Suche, weil es irgendwie nie dasselbe war, sie in den Bildern zu sehen und sie wirklich gefunden zu haben. Señora Lucy hatte auch andere Themen. Sie arbeitete an ihrer eigenen Darstellung vom Urteil des Paris, und Montse hatte ihre Mittagspausen damit verbracht, für Señora Lucys Studien der Aphrodite Modell zu stehen. Montse war eine unruhige Person. Immer wieder musste man ihr sagen: »Nein, nein, nein, nein, bleib so wie eben!« Dann kam Señora Lucy und neigte Montses Kinn nach oben oder fuhr mit den Fingern durch Montses Haar, damit es wieder genau so über ihre Schulter fiel. Und die Nähe dieses reizenden Stirnrunzelns vernebelte Montses Sinne so sehr, dass sie liebend gern genau so blieb, solange Señora Lucy ebenfalls blieb.

Aber das waren nicht die Bilder, die sich verkauften. Señora Lucys Verschwundene-Frau-Bilder hatten sie berühmt gemacht. Es wurde angenommen, dass die verlorene Frau für die Señora selbst stand, aber hätte jemand Montse darauf angesprochen, hätte sie dem widersprochen. Sie kannte einige dieser Gemälde recht gut, weil sie herausgefunden hatte, wo ein paar von ihnen ausgestellt waren. Jeden Sonntagmorgen spazierte sie wortlos zwischen ihnen hin und her. Safiye durchquerte mit dem Rücken zum Betrachter ein verschneites Tal, und sie hinterließ keine Fußspuren. Auf einem anderen Bild kletterte Safiye eine Leiter aus Wolken hinunter. Wandte man sich zum nächsten Bilderrahmen, war aus ihr eine grauhaarige Frau geworden, die die Augen schloss und zu Staub zerfiel, während sie sich gleichzeitig mit einem kleinen Feger, den sie in der linken Hand hielt, aufkehrte.

»Und der Garten?«, fragte Montserrat.

Lucy lächelte. »Immer noch meiner. Einmal im Jahr gehe ich dorthin. Das Schloss wird nie ausgewechselt. Ich glaube, der Ort ist vollkommen vergessen worden. Außer, dass sie mich vielleicht eines Tages dort treffen wird.«

»Das hoffe ich«, log Montse. »Aber ist das nicht auch gefährlich?«

»Dann glaubst du, was sie gesagt hat?«

»Na ja – ja.«

»Vielen Dank. Dass du das sagst. Auch wenn du es nicht so meinst. In den Zeitungen stand, dass diese Señora Fausta del Olmo erstochen wurde ... Safiyes Beschreibung passt dazu ...«

Montse dachte, dass es selbst jetzt nicht schwierig wäre, aus halbgaren Zweifeln etwas Gehaltvolleres zu machen. Sie könnte ganz schlicht sagen: Ihre Treue rührt mich, Señora, aber ich glaube, Sie warten auf eine Mörderin. Vor der Eigenartigkeit eines solchen Todes fortzulaufen war verständlich. Die Geistesgegenwart zu haben, um den Schlüssel mitzunehmen, eher weniger. Oder man müsste Safiye sein, um es zu verstehen, überlegte Montse. Und sie konnte nicht einmal für sich selbst mit Sicherheit sagen, was sie in einer solchen Situation getan oder nicht getan hätte. Wenn man auf diesem Weg herausfinden sollte, wer man wirklich war, dann wollte sie es nicht wissen. Also ja, Montse könnte Señora Lucys Zweifel schüren, aber es lag nichts Ehrbares darin, diesen Vorteil zu nutzen.

»Und was hat es mit deinem Schlüssel auf sich, Montserrat?«

Lucys Schlüssel schimmerte, und der von Montse wirkte ein wenig traurig und staubig. Vielleicht war er nur vergoldet. Sie rieb mit ihrer Schürze daran.

»Nur Plunder, glaube ich.«

Alle Läden würden bereits geschlossen sein, wenn Montse mit der Arbeit fertig wäre, und am nächsten Tag war Sant-Jordi-Tag, also rannte Montse in die Buchhandlung auf der anderen Straßenseite und wählte etwas mit einem hübschen Einband, um es Señora Lucy zu schenken. Diese Besorgung samt Señoras langer Geschichte brachte es mit sich, dass Montserrat eine Stunde zu spät in die Waschküche zurückkehrte. Sie arbeitete noch bis weit nach dem Abendessen weiter, wrang unter dem wachsamen Blick der Señora Gaeta Bettwäsche aus, verfluchte still die Illusion von Raum, die auf dem Dachboden erzeugt worden war. All diese aufsteigenden Linien, die von der Decke zu den Wänden führten, verhüllten die Tatsache, dass der Raum so eng wie ein Sarg war. Endlich inspizierte Señora Gaeta ihre ­Arbeit, und sie durfte gehen. Sie ließ nur eine einzige Bemerkung über Montses beschämend späte Rückkehr aus der Mittagspause fallen: »Das kannst du dir nur einmal erlauben, Liebes.«

Montse ging nach Hause in das Zimmer mit Bett, das sie sich mit drei anderen Wäscherinnen teilte, die mehr oder weniger ihre Größe hatten. Sie und ihre Bettgenossinnen redeten üblicherweise miteinander, bis sie einschliefen. Sie waren gute Freundinnen, alle vier. Das mussten sie sein. An diesem Abend ging Montse zuerst ins Bett, und die drei anderen gesellten sich nach und nach zu ihr, bis Montse ganz an die Wand gedrückt wurde, zu müde, um noch etwas zur Unterhaltung beizutragen.

Während Montse ihre Zeit nachgearbeitet hatte, waren die anderen Wäscherinnen auf einem Konzert gewesen und hatten einen Blick auf einige der Paare von La Pedrera werfen können, über die am meisten getratscht wurde. Zum Beispiel waren da die Artigas aus dem dritten Stock und die Valdeses aus dem vierten Stock, die sich gegenseitig mit grimmigen Lächeln übertrumpften. Señor Artiga und Señora Valdes waren ein Liebespaar mit der stillschweigenden Zustimmung seiner Frau und ihres Mannes. Señora Valdes’ Ehemann war ein sanftmütiger, sehr viele Jahre älterer Herr, den das, was er als schwerwiegenden Makel in der Gestaltung des Gebäudes wahrnahm, sehr betrübte. Der Aufzug hielt nur in jedem zweiten Stockwerk. Dadurch war man gezwungen, seinen Nachbarn zu begegnen, während man die notwendigen Treppenstufen hinauf- oder hinabstieg. So hatten Señora Valdes und Señor Artiga überhaupt erst zusammengefunden. Señor Valdes hegte die Hoffnung, dass die Zuneigung seiner Frau zu »diesem Laffen« eine vorübergehende Laune war. Artigas Frau konnte nicht so lange warten und hatte einige nicht sehr diskrete Erkundigungen angestellt, was das Engagieren von Auftragsmördern anging, bis ihr Ehemann die Durchführung ihrer Pläne verhindert hatte, indem er ihr schwor, sich selbst etwas anzutun, wenn sie Señora Valdes auch nur ein Haar krümmte. Warum ließ sich Artiga nicht scheiden und bat Señora Valdes, ihren Ehemann zu verlassen und stattdessen ihn zu heiraten? Sie hätte keine Sekunde gezögert, wenn er sie nur gefragt hätte (so erzählte man sich). Dass Señor Artiga so etwas tun würde, war unwahrscheinlich. Seine Geliebte war die entzückendste Gefährtin, die er sich wünschen konnte, aber seine Frau war eine Erbin. Kein Mann, der bei Sinnen ist, verlässt eine Erbin, es sei denn, er verlässt sie wegen einer anderen Erbin. »Vielleicht in einem anderen Leben, meine Geliebte«, sagte Artiga zu Señora Valdes, was sie auf erfreulichste Weise weinen ließ. Und daher kam es, dass sich Artiga und Señora Valdes zwischen ihren nicht so geheimen Verabredungen mit Blicken verschlangen, während Señora Artiga wie eine Besessene wütete und Señor Valdes geduldig darauf wartete, dass sich seine immer weiter schwindende Hoffnung bestätigte. Unterdessen setzten die anderen Bewohner ein Gesuch an die Eigentümer des Hauses auf, in dem sie darauf drängten, die Artigas wie auch die Valdeses auszuquartieren. Der conserje