Was ist Homosexualität? -  - E-Book

Was ist Homosexualität? E-Book

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Beschreibung

Umreißt man heute die Ambivalenz, Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Homosexualität, so ist die Antwort auf die Frage gar nicht so einfach. Lange Zeit hätte man einfach gesagt: das Gegenteil von Heterosexualität, pervers, nicht den sexuellen Normen entsprechend, die innerhalb der westlichen Welt weitgehend akzeptiert waren. In einer globalisierten Welt, die gewachsene Strukturen und kulturelle Identitäten in Frage stellt, befindet sich auch die wissenschaftliche Betrachtung menschlicher Sexualitäten im Umbruch. Die Begriffe ändern sich, aus 'homosexuell' wurde 'schwul/lesbisch', dann 'LSBT*I', bzw. 'LGBT/GLBT', als weiterer Oberbegriff entwickelte sich 'queer', der auch die Heterosexualität in Teilen mit umfasst. Mit der zunehmenden Akzeptanz sexueller Vielfalt wächst aber auch die Sehnsucht nach einer klaren Ordnung, zeichnet sich eine neue Diskriminierung nicht-heterosexueller Lebensweisen ab. In dieser Situation bilanzieren die Autorinnen und Autoren dieses Bands, was in über hundert Jahren ‹Homosexualitätsforschung› geleistet wurde und vor welchen Herausforderungen eine sozialwissenschaftlich orientierte Sexualwissenschaft heute steht. Jeder Beitrag (einige in englischer Sprache) gibt einen allgemeinverständlichen Überblick über sein Themengebiet und schließt mit einer ausführlichen Literaturliste, die zu weitergehenden Studien einlädt. "Auch einer nichtwissenschaftlichen, aber am Thema interessierten Leserschaft kann das Buch empfohlen werden – um leichte Kost für eilige Leser handelt es sich bei diesem fast 600 Seiten starken Werk aber nicht. Lobenswert ist das ausführliche Autorenverzeichnis im Anhang, das bei einer besseren Einordnung und Nachvollziehbarkeit der unterschiedlichen Argumentationen hilft. Durch ein nicht minder ausführliches Register lassen sich wichtige Personen und Schlagworte schnell und unkompliziert lokalisieren. […] hier handelt es sich um eine in diesem Umfang wohl einmalige Zusammenstellung, die sich auf der Höhe des aktuellen Forschungsstands befindet und gewiss noch einige Zeit als Grundlagenwerk gelten dürfte. (Matthias Meitzler in "Zeitschrift für Sexualforschung", Heft 2/2015)

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WAS IST HOMOSEXUALITÄT?

FORSCHUNGSGESCHICHTE,GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGENUND PERSPEKTIVEN

HERAUSGEGEBEN VON FLORIAN MILDENBERGER, JENNIFER EVANS,RÜDIGER LAUTMANN & JAKOB PASTÖTTER

Männerschwarm Verlag Hamburg 2014

WAS IST HOMOSEXUALITÄT?

Vor zwanzig Jahren hätte eine solche Frage vermutlich einige Überraschung ausgelöst, doch die Antwort wäre sehr einfach gewesen: Das Gegenteil von Heterosexualität. Nicht-Normal. Pervers. Es gab so etwas wie sexuelle Normen, die innerhalb der westlichen Welt akzeptiert waren, auch wenn sie in einigen wenigen Zirkeln bereits kritisch hinterfragt wurden. Selbst von den emanzipatorischen Schwulen- und Lesbengruppen wurden die Normen der so genannten «Zwangsheterosexualität» als für die Selbstinszenierung sinnvoll empfunden. Sie gaben Halt. Und umgekehrt stabilisierte eine fest umrissene Homosexualität das Konstrukt einer Heterosexualität, ja hatte es erst hervorgebracht. Beide bedingten einander. So ist auch zu fragen, ob eine Dekonstruktion der Homosexualität nicht zwangsläufig zu einer Beseitigung der Heterosexualität führt. Umreißt man mit einem Sammelband die Ambivalenz, Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Homosexualität, so ist das Ergebnis heute weit weniger eindeutig. Die Abgrenzungen sind verschwommener, neue Begrifflichkeiten hinzugetreten. Aber wenn die Homosexualität sich auflöst, was geschieht dann mit der Heterosexualität? Welche Bedeutung kommt dann eingeführten und kaum mehr hinterfragten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu? Was bedeutet es, wenn die sexuellen Rollen nicht mehr eindeutig sind, Begriffe zu Worthülsen werden? Wer hinterfragt was und zu welchem Zweck?

Wissenschaft ist immer sexualisiert. Wer Wissenschaft betreibt, egal welchem biologischen oder sozialen Geschlecht sich die Person zugehörig fühlt, Sexualität spielt immer eine Rolle. Über Jahrhunderte wurde dabei zunächst suggeriert, Wissenschaft sei männlich, weil fast ausschließlich Männer als Gelehrte tätig waren. Es geht also um «Gender», nicht (nur) um «Sex».

Diese Situation änderte sich in der westlichen Hemisphäre im 19. Jahrhundert. Ungewollt beförderte der Streit um die weibliche Emanzipation auch die Diskussionen um sexuelle Verhaltensweisen. Mancher Universitätsprofessor fürchtete die «Vermännlichung» der Frau durch die Emanzipation und zugleich die «Verweiblichung» der Männer, wenn sie im Berufsleben von Frauen umgeben wären. Vermännlichung und Verweiblichung aber standen auch für jeweils unmännliche oder unweibliche Praktiken, ausgedrückt durch das sexuelle Begehren. Vieles, vielleicht alles änderte sich, als die von den Hütern des Gestern bezeichneten Personen sich von Objekten in Subjekte verwandelten – als der Conträrsexuale oder die Urninde nicht mehr Projektionen von Ärzten, Juristen oder Feuilletonisten waren, sondern sich selbstbewusst präsentierten. Schon bevor der Begriff der «Sexualwissenschaft» gefunden war, bemühten sich Karl Heinrich Ulrichs, Magnus Hirschfeld, Mitstreiter und Kontrahenten um die Auffindung, Identifizierung und Instrumentalisierung von Wissenstraditionen, Personen oder Texten in der Geschichte in allen Kulturen der Welt, um das eigene Selbst in der Tradition der menschlichen Entwicklung zu verankern. Die eigene Sonderrolle wurde zwar nicht abgestritten, aber man war doch bemüht, sich als Teil des produktiven evolutionären Erbes zu begreifen und nicht als Produkt der Degeneration, wie es mancher Antagonist behauptete. Daran hat sich trotz vieler neuer politischer und gesellschaftlicher Utopien, die seit 1900 entwickelt wurden, wenig geändert. Homosexualitäten finden immer innerhalb von Ordnungen statt, sie definieren keine eigene. Die Begriffe ändern sich, aus «homosexuell» wurde «schwul/lesbisch», dann «LSBT*I» bzw. «LGBT/GLBT» und vielleicht bald als nächster Oberbegriff «Queer», der dann auch die Heterosexualität in Teilen mit umfasst. Die eine Bezeichnung steht für unzählige Individualitäten. Doch denken so vor allem die sozialwissenschaftlich Vorgebildeten, für die Medizin und Biologie sind starre Kategorien geradezu fachlich vorbedingend.

Je mehr die Begriffe in den letzten Jahrzehnten verschwammen, die Sicherheiten dahin schwanden, ob in sozialer Hinsicht oder in Bezug auf die Koordinaten von Lebensformen, in den Wissenschaften oder im realen Leben, desto stärker wuchs bei uns – den HerausgeberInnen – der Wunsch, etwas Ordnung in Überlieferung, Deutung, Gegenwart und Zukunftsperspektiven zu bringen. Als Universitätsprofessoren bzw. Organisatoren von Fachgesellschaften müssen wir uns immer wieder fragen lassen, wofür wir stehen und welches Wissen wir vermitteln. Wenn es zu einem Thema (z.B. Queer) irgendwann mehr als ein Dutzend Einführungsbücher gibt, deren AutorInnen auf bisweilen gleiche, häufig aber unterschiedliche Quellen rekurrieren oder Präzeptoren benennen, dann wird es Zeit, einen Überblick zu schaffen. Gleiches gilt, wenn es kaum Literatur gibt, z.B. zur meist unhinterfragten Heterosexualität.

Für wen ist ein solches Buch gedacht? Für Studierende, KollegInnen, Interessierte. Ein quellengesättigtes Überblickswerk, das auch in Zeiten von digitaler Beliebigkeit und ständiger Weiterentwicklung bei allgemeiner Verfügbarkeit der Literatur Sicherheiten gibt. Ein Buch, das Perspektiven für die eigene Forschung gewährt. Eine Inspirationsquelle, die nicht nur Studierende, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit für die Themen begeistern kann. Oder eine der neuen alten Berufsgruppen, deren Akteure sich auch mit Homosexualitäten beschäftigen müssen, z.B. LebensberaterInnen, SozialarbeiterInnen oder LehrerInnen. Auch Angehörige von Organisationen, die in den letzten Jahren erfahren mussten, dass die Negation von Sexualität kein Zukunftsmodell ist (Kleriker), werden im vorliegenden Buch viele wertvolle Informationen finden. Was sie damit machen, ist eine ganz andere Frage.

Es war ein langer Weg, bis dieser Sammelband erscheinen konnte. Rüdiger Lautmann hatte 1993 sein «Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte» unter Mitwirkung zahlreicher KollegInnen und Freunde herausgebracht. Ein paar Jahre später war plötzlich ganz allgemein und nicht nur in endokrinologischen Vorlesungen von «gender» die Rede. Neue Fragestellungen tauchten auf, andere wurden weniger relevant. Noch Anfang der 1990er Jahre wurden die Gedanken Sigmund Freuds oder Karl Marx’ gerne für sexualwissenschaftliche Analysen herangezogen. Um 2000 herum waren die akademischen Debatten erfüllt von den Überlegungen Judith Butlers, Michel Foucaults und Thomas Laqueurs, dessen Theorien dann schon 2005 wieder obsolet erschienen. Florian Mildenberger hatte erstmals 2003 überlegt, ein aus Biographien und Themenaufsätzen bestehendes Werk auf den Weg zu bringen. Doch das von Volkmar Sigusch und Günter Grau verantwortete «Personenlexikon der Sexualforschung», an dem Rüdiger Lautmann, Florian Mildenberger und Jakob Pastötter mitschrieben, behob das Problem der fehlenden Kenntnisse über die Biographien bedeutender Sexualwissenschaftler weitgehend. Rüdiger Lautmann dachte an eine Neuausgabe des eigenen Handbuchs und 2009 trafen er und Mildenberger sich erstmals. Die noch sehr vage Idee eines Readers, Quellenwerks oder Sammelbandes war geboren, 2010 stießen Jakob Pastötter und Jennifer Evans dazu. Von Anfang an war klar, es sollte kein «schwules Geschichtsbuch» werden, sondern die ganze Vielfalt des mit dem Oberbegriff «Homosexualität» verbundenen Begehrens umfassen. Es folgte eine längere Suche und Auswahl der möglichen AutorInnen. Das vorliegende Werk beantwortet nicht alle Fragen zu Homosexualitäten in Geschichte und Gegenwart. Wie könnte man auch behaupten, alle Strömungen abgedeckt zu haben? Zu differenziert und multiperspektivisch hat sich das Feld entwickelt. Zudem ist es die Aufgabe von Wissenschaft, Fragen zu stellen, die eigene Position stets neu zu bedenken.

Einleitend schildert der Wiener Professor für Sozialgeschichte Franz X. Eder, was Homosexualität in unserer Vorstellung, aber auch in früherer Zeit war. Gibt es sie denn noch, die eine Homosexualität, über die man so leicht reden kann, mit der es sich aber auch leichter identifizieren lässt als mit diversifizierten Queerismen? Inversion, Hermaphroditismus, Bisexualität, Freundschaft oder Queer – alles spielt hinein, doch Eindeutigkeit lässt sich nicht entdecken.

Das würde frühere ForscherInnen mindestens verblüfft, wenn nicht gar verärgert haben. War die strikte Trennung in hetero/homo doch ein zentrales Anliegen sowohl für emanzipationsbegeisterte als auch überkommene Strukturen bewahrende Gelehrte. Die Berliner Anglistin Sylvia Mieszkowski schildert, wie das hybride Kunstwort Homosexualität geprägt wurde. Früh, eventuell schon zu Zeiten des «ersten Schwulen der Weltgeschichte» Karl Heinrich Ulrichs, war die Erforschung der Homosexualität untrennbar mit der Betrachtung der Heterosexualität verbunden. War Ulrichs eventuell auch noch der «Großvater von Queer»?

Wer nach Queer fragt, muss auch sagen, was dazu gehört. Vielleicht ist an Queer so verstörend, dass es nichts auszuschließen vermag, auf jeden Fall aber auch die Aspekte und Teile der Heterosexualität umfasst. Deren Definition und Entwicklung im gesellschaftlichen Rahmen schildert der Braunschweiger Wissenschaftshistoriker Heiko Stoff. Er zeigt auf, wie das eine das andere bedingt. Heterosexualität kann es ohne Homosexualität nicht geben – biologisch wie performativ. Oder anders herum: wenn die eine homosexuelle Veranlagung/ Lebensform/sexuelle Betätigung nicht existiert, verfügt der Mensch über unzählige Möglichkeiten einer heterosexuellen Lebensform/Betätigung oder Veranlagung. Mit Magnus Hirschfeld gesprochen: mindestens 43046721 Variationen.

Die geographische Schlüsselregion für die Definition von Homosexualitäten ist die westliche Hemisphäre. Die verschlungenen Wege der Definition, Abgrenzung und Ausgestaltung von Homosexualitäten ist das Thema des niederländischen Soziologen Gert Hekma. Er räumt auf mit dem selbst die Kulturwissenschaften durchwabernden Vorurteil, erst durch die Entwicklung der modernen Medizin im 19. Jahrhundert habe auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem eingesetzt, was man in dieser Ära «Homosexualität» zu nennen begann. Zugleich macht er die Ambivalenzen in einer emanzipatorischen Bewegung deutlich – der Drang nach Verselbständigung musste nicht zwangsläufig nur Beziehungen zwischen Erwachsenen implizieren. Der Wunsch nach einer schwulen, lesbischen oder queeren Identität beinhaltet trotz gegenteiliger Behauptungen vieler Akteure auch Verkürzungen.

Zu denjenigen, die in der kommerzialisierten und auf Assimilierung in die bestehende Gesellschaft hoffenden homosexuellen Minderheit keinen Platz finden, gehören heute Personen aus den nicht-westlichen Kulturen, vor allem den islamisch geprägten Räumen. Der in Münster lebende Islamwissenschaftler und Indologe Thomas K. Gugler beschreibt, wie der im Westen geprägte Homosexualitätsbegriff auf orientale Kulturen traf, trifft und dort Irritationen hervorruft. Es wird deutlich, wie schwierig es ist, mit dem Repertoire und den Begriffen des Westens Gemeinschaften und Sozialverhalten zu deuten, die ihrerseits vor dem Problem stehen, die Verhaltensweisen aus Gesellschaften zu übernehmen und zu interpretieren, die mit vielen positiven Elementen (z.B. Coca Cola?) verbunden sind. Eine differenzierte Betrachtung lässt die Frage sinnvoll erscheinen, ob nicht manche pakistanische Tunte in ihrer Welt emanzipierter ist als ihr Berliner Pendant.

Das Spielen zwischen den Geschlechtern oder auch der Zwang zum Versteck macht alles, was mit dem Begriff Trans* verbunden ist, für Voyeure, Historiker oder Kulturwissenschaftler interessant. Die australische Germanistin Katie Sutton widmet sich in ihrem Aufsatz dem verwickelten Verhältnis der Homosexualitäten zu den Transvestiten, Transsexuellen und Transgender. Vom ungewollten Nebenprodukt der homosexuellen Emanzipationsbewegung verwandelten sie sich – gerade in den letzten Jahren – zum Lieblingsobjekt der Identifikation und Forschung. Doch wie vor ihnen die Schwulen oder Lesben sind Trans* ungern Objekte anderer Leute Interessen oder Einordnungswünschen.

Nicht anders verhält es sich mit Queer. Queerstudien und Homosexualitäten schienen in den späten 1990er Jahren einander zu ergänzen, Queer eventuell nicht mehr zu sein als ein anderer Ausdruck für Homosexualität. Dass die Ätiologie von Begriff und Akteuren anders ist, macht der Berliner Kulturwissenschaftler Volker Woltersdorff rasch deutlich. Queere Politik bedeutet etwas anderes als die exklusiv schwul-lesbischen Integrationsbemühungen. Die historische Geburtsstunde wird bei Queer nicht mit vergangenen Heroen konnotiert, sondern fällt in die Zeit des Leidens und Sterbens der «Plague Years» der 1980er Jahre. Diese noch junge Geschichte begünstigt auch die Offenheit gegenüber Bündnissen mit anderen Gruppen, die sicher nicht zum Mainstream der Homosexualitäten gehören und sich wohl auch nicht dazu zählen.

Sowohl Trans* als auch Queer lassen sich nicht denken ohne den von seinen interventionistischen medizinischen Konnotationen befreiten Genderbegriff. Das Verhältnis von Homosexualitäten und Gender behandelt die kanadische Historikerin Kirsten Leng. Der hier zuweilen unterschätzte Einfluss der «women’s studies» tritt hervor. Ebenso der Queer-Bezug. Alles bedingt einander und bezieht das nächste Fachgebiet ein. Homosexualitäten scheinen zu komplex zu sein, als dass sie von einer einzigen Disziplin allein beforscht werden könnten.

Dies verdeutlicht auch die Historikerin Laurie Marhoefer in ihrem Beitrag zu den Kulturtheorien. An diesem Aufsatz entzündete sich eine kurze Debatte innerhalb der Herausgebergruppe, die erahnen ließ, wie wichtig es war, Autoren außerhalb Europas in das Projekt einzubeziehen. Florian Mildenberger und Jakob Pastötter hatten einen Aufsatz über Foucault & Co erwartet, bekamen aber etwas ganz anderes. Auf die Verblüffung folgte die Freude ob der neuen Perspektiven. Marhoefer stellt die grundsätzliche Frage nach dem Sinn einer kulturtheoretischen Betrachtung von Homosexualitäten, da dies voraussetzt, dass es ein klar umgrenztes «zivilisiertes» Gebiet gibt. Doch was ist dann mit dem Rest der Welt? Aber wenn es eine bestimmte Referenzebene gibt, ist dann nicht alles sozial konstruierbar? Und wenn das so ist, wie wird man in Zukunft über die heutige Gegenwart reden?

Eine Problematik verbindet die jüngere Vergangenheit mit der Jetzt-Zeit und auch die nähere Zukunft: HIV/AIDS. Der am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Zürich forschende Historiker Lukas Engelmann macht deutlich, welche Zäsur mit dem Aufkommen von AIDS verbunden war. Es war sozusagen der Einbruch der Globalisierung in die westliche schwule Welt. Alles veränderte sich: die Selbstdefinition, das Verhältnis zur übrigen Gesellschaft, den Outsidern, der Politik und der Medizin. Die Formen gesellschaftspolitischen Engagements, wie wir sie heute kennen, wären ohne AIDS nicht denkbar.

Die in Kanada forschende australische Historikerin Jane Freeland widmet sich in ihrem Aufsatz den nicht unbedingt spannungsfreien Verbindungen zwischen den Jüngern Klios und den Homosexualitäten. Es dauerte lang, bis die historisch interessierten Ärzte die Deutungshoheit über ihr eigenes Handeln verloren und Historiker ohne naturwissenschaftliche Verankerung sich der Geschichte der Homosexualitäten zuwandten. Freeland benennt klar die Schlüsselwerke im anglo-amerikanischen Raum, die hierzulande zwar gelesen, aber nicht in ihrer Bedeutung gewürdigt werden. Indirekt wirft der Aufsatz eine Menge Fragen auf, stammen doch die deutschen Schlüsselwerke zur Geschichte der Sexualwissenschaft von einem Arzt.

Jacqueline Davies’ und Udo Schüklenks Beitrag über die Homosexualität und die Philosophie ist einem Bereich gewidmet, der in der Forschung bislang allenfalls indirekt berührt wurde. Umso bedeutender ist es, die einzelnen Bezugspunkte von einer grundsätzlichen Warte aus zu beleuchten, was hier erstmals geschieht. Denn die überkommenen sowie modernen Interpreten des «Naturrechts» liefern für tagesaktuelle Diskurse häufig die theoretische Grundlage bzw. das wissenschaftliche Fundament zur ewigen Wiederholungsschleife von Vorurteilen und Ablehnungen.

Ist die Philosophie die Grundlage der Geisteswissenschaften, so müssten sich auf sie auch die Naturwissenschaftler beziehen. Merkwürdigerweise kam die Philosophie der Naturwissenschaften ebenso wie die eigene Fachgeschichte bislang nahezu ohne Bezug zu Sexualitäten aus. Der Biologe und Medizinhistoriker Heinz-Jürgen Voß legt in seinem Aufsatz dar, welch entscheidenden Einfluss naturwissenschaftliche Erkenntnisse, häufig eingegangen in die Medizin, für die Konstruktion eines gesellschaftlich sanktionierten Bildes von den Homosexualitäten hatten. Ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse keine Sexualreformbewegung, aber auch kein Wille zur gewaltsamen Gesellschaftsnormierung. Auch emanzipatorisch erscheinende Ansätze können mit der Zeit zu Hütern des Gestrigen avancieren, wie Udo Rauchfleisch am Beispiel der Psychoanalyse und Psychologie aufzeigt. Selbst wenn deren Akteure mittlerweile mehrheitlich bemerkt haben sollten, dass frei gelebte Homosexualität Einzelner nicht den Untergang des Abendlandes herbeiführt, so haben «Regenbogenfamilien» mitunter weiterhin mit Akzeptanzproblemen in der vorgeblich objektiven Psychologie zu kämpfen.

Bei aller Deutungsmacht der Naturwissenschaftler waren es doch Soziologen, die normative und organizistische Modellvorstellungen in empirisch nachprüfbare Theorien überführten oder mit deren Hilfe die Strategien aus Klinik und Labor ad absurdum führten. Der Soziologe Thorsten Benkel widmet sich in seinem Aufsatz der soziologischen Perspektive auf die Homosexualitäten. Gesellschaftliche Wahrnehmung und soziales Handeln bedingten stets einander. Das macht Soziologen in der Rückschau wahlweise zu Helfershelfern des Gestern oder zu Helden der Emanzipation.

Die Kunstgeschichte wird am Beispiel der marmornen Helden und ihrer Interpreten von der Renaissance bis zum Barock behandelt. In seinem Essay lässt der Kunsthistoriker Wolfgang v. Wangenheim die homoerotischen Stars jener Epoche Revue passieren. Zwischen den Knaben und Heroen bei J. J. Winckelmann und J. L. David lauern die versteckten Geschlechterrollen, und manch scheinbares «Schwulenbild» erweist sich dann als zufällig männliche Darstellung mit weiblicher Ätiologie. Und der «schwule» Held der Renaissance ist kein kraftstrotzender Condottiere, sondern ein mit 16 Jahren verstorbener Knabe mit Namen Alessandro Cinuzzi.

Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger schildert anschaulich, wie problematisch die Erforschung von Homosexualitäten für musisch forschende Gelehrte war und ist. Noch vor zwanzig Jahren konnte man mit der These, Franz Schubert sei homosexuell gewesen, einen veritablen Skandal provozieren. Es scheint sich jedoch unter dem Einfluss von Gendergedanken und queeren Ansätzen einiges geändert zu haben.

Die private Lebenswelt der «Urninge» untersucht der Bibliothekar und Historiker Manfred Herzer anhand der Schriften früherer Autoren. Im 19. Jahrhundert, irgendwo zwischen Prostitution und Einsamkeit in den Großstädten, beobachteten Sexualforscher die Vergnügungen der Homosexuellen. Dies geschah keinesfalls objektiv, wie wohl schon den Zeitgenossen klar gewesen war. Doch es ist eventuell die Frage angebracht, wie es beispielsweise dem Misanthropen Albert Moll gelang, so detaillierte Angaben über die homoerotische Subkultur Berlins einzufangen. Zwischen all den Vergnügungslokalen plante manch homosexueller Visionär die unkommerzielle Subkultur bei gleichzeitiger Integration in die bestehende Gesellschaft. Nach Nationalsozialismus und Verfolgungen hat sich sowohl die Subkultur selbst wie auch der kulturwissenschaftliche Blick darauf verändert.

Wie die Situation der Arbeit für die Homosexuellen beschaffen ist, beschreibt der Psychologe Dominic Frohn. Die vorgeblich asexuellen Berufsorganisationen gehen weitgehend von der heterosexuellen Veranlagung ihrer Mitglieder aus. Homosexualitäten erscheinen daher oft als Störung. Antidiskriminierung mag als politische Forderung vielen als hohle Phrase erscheinen, ein Blick in die realen Arbeitswelten lässt die Sprengkraft des Begriffs erahnen.

Das Thema Homosexualität ist auch in der schulischen Ausbildung präsent. Sexualpädagogik spielt hier daher eine wichtige Rolle und ist weit mehr als Aufklärungsunterricht, wie der Sozialhistoriker Martin Lücke in seinem Aufsatz verdeutlicht. Es ist erstaunlich wie auch beunruhigend, wie sehr erziehungswissenschaftliche Ratgeber gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher hinken können. Möglicherweise vermag ein alle Lebens- und Sexualformen gleichermaßen umfassendes Ideal von Queer bestehende Probleme aufzuheben oder zumindest zu minimieren. Was es aber andererseits niemals mehr geben wird, ist das «Normalkind». Das mag Außenstehende womöglich erfreuen, Lehrer und Erziehungswissenschaftler aber wahrscheinlich eher verunsichern.

Wie Homosexualitäten in den gedruckten und digitalen Medien vorkommen, stellen der Germanist Peter Rehberg und sein Mitautor Bradley Boovy dar. Sie schildern, wie die Medienarbeit vorrangig schwule Themen aufgreift und umgekehrt schwule Journale stilbildend für die gesamten homosexuellen oder auch queeren Identitäten wirken. In einem kulturhistorischen Überblick beschreiben sie zudem, wie homoerotische Journale im deutschsprachigen Raum im Widerstreit oder im Kontext gesellschaftspolitischer Probleme und Entwicklungen sich selbst seit den 1950er Jahren diversifizierten. In Reaktion auf die Wahrnehmung des schwulen Körpers als schwach in Zeiten von AIDS setzte sich seit den 1990er Jahren eine Stärke und Selbstbewusstsein betonende Körperpolitik durch. Auch im digitalen Zeitalter spielen die «schwulen Medien» eine zentrale Rolle bei der Selbstdefinition, aber auch bei der Öffnung hin zu anderen sexuellen Akteuren.

Das Querschnittsthema der Homosexualitäten zieht sich durch die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Dabei entstehen häufig neue Theoreme und Bezeichnungen. Ein Handbuch zum Forschungsstand kann daher nicht abschließend sein, sondern es markiert ein Zwischenfazit. Zugleich müssen ältere Erkenntnisbestände mit einbezogen oder ausgewiesen werden.

Hier bietet die Medizin ein höchst ambivalentes Beispiel. Sie hat Homosexuellenforschung einst ermöglicht, aber um den Preis, die Homosexuellen zu pathologisieren. Wir blicken darauf als etwas Abgeschlossenes zurück – und deswegen darf ein Kapitel über die Medikalisierungen des 19. und 20. Jahrhunderts hier fehlen.

Positiv hingegen ist das Verhältnis der belletristischen Literatur zu den Spielarten des Sexuellen. Seit jeher hat sie es in all seiner Vielfalt zur Sprache gebracht und fährt damit fort. Längst hat das Homosexuellenthema die Nische der Subkultur verlassen; es tritt überall auf. Lesbisch-schwule-bisexuelle AutorInnen schreiben für das große Publikum, ebenso wie «heterosexuelle» Federn das LSBTI/LBTQ-Feld beackern. Zugleich zeigt sich in der Forschung eine Verlagerung weg von der Homo-Literaturforschung. Das «Queer-Reading» wird zwar geschätzt, aber als Teil der größeren Kulturwissenschaften. Wahrscheinlich wäre es zielführender, ein eigenes Buch über die Differenziertheit der Erzählebenen herauszubringen und einzuarbeiten, wie sich die an Homosexualitäten abarbeitende Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.

All die Träume der HerausgeberInnen über ein großes Buch wären wohl wie Seifenblasen zerplatzt, wenn uns nicht eine Reihe von Personen zur Seite gestanden wäre. An erster Stelle ist hier Detlef Grumbach zu nennen, der nicht nur als Verleger, sondern auch darüber hinaus hilfreich war und als Klagemauer fungierte. Sodann Jim Steakley: dem unermüdlichen Forscher und Hinweisgeber sei stellvertretend gedankt für die KollegInnen, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen. Auch freuen wir uns über die Sponsoren, die uns bei der Bewältigung der Kosten geholfen haben. Es sind, man muss es so formulieren, die üblichen Verdächtigen: Hannchen-Mehrzweck-Stiftung, Homosexuelle Selbsthilfe e.V., Network e.V. und Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Berlin und Frankfurt/Oder, im Februar 2014 Florian Mildenberger

FRANZ X. EDER

HOMO- UND ANDERE GLEICHGESCHLECHTLICHESEXUALITÄTEN IN GESCHICHTE UND GEGENWART

ABSTRACT

Terms such as ‹homosexuality› and other same sex categories can only be properly understood when seen in their historical contexts and correlations, as for example gender relations, social stratification and cultural patterns of identity and subjectivity. The following ideal types can be distinguished: pederasty/tribadism, effeminacy/masculinization, friendship, inversion, hermaphroditism, homosexuality, bisexuality and queer. These types have been constructed in relation to age, generation, role and gender. Perspectives of future dissolution or re-establishment of recent identity patterns and same sex lifestyles are reflected upon..

«Homosexualitäten» – in keinem anderen Feld der Sexualitätsgeschichte findet sich seit den späten 1970er Jahren so oft die Pluralschreibung wie in dem des gleichgeschlechtlichen Begehrens (Bell / Weinberg 1978; Bei u.a. 1986). Meist soll damit verdeutlicht werden, dass man es in historischer Sicht nicht mit einem einzelnen Phänomen zu tun hat, sondern mit unterschiedlichen, und dass deshalb eine plurale Perspektive vonnöten ist. Skeptiker werfen ein, dass in der Geschichte auch bei gleichgeschlechtlichen Sexualpraktiken nur ein gewisser Handlungsrahmen bestand und sich deshalb das Repertoire der Antike oder des Mittelalters nicht wesentlich von dem heutigen unterschied – sieht man einmal von den Möglichkeiten der materiellen Sexualkultur oder den medialen Vermittlungsformen ab. Homosexualität sei deshalb über die Zeiten hinweg als Kontinuum zu begreifen und mit einem einzelnen Begriff zu fassen.

Eine solche Argumentation greift jedoch zu kurz. Wer heute von Homosexualitäten spricht, meint nicht nur stattgefundene gleichgeschlechtliche Sexualakte, sondern auch die ihnen Sinn und Bedeutung gebenden kulturellen Zuschreibungen, insbesondere solche, welche die Selbstsicht der Akteurinnen und Akteure und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung bestimmen. Damit eröffnen sich komplexe historische Zusammenhänge, welche die Gleichgeschlechtlichkeit in Geschlechterbeziehungen, soziale Hierarchien und kulturelle Kategorien einbettet: War gleichgeschlechtliches Begehren in der Vergangenheit etwa mit bestimmten Vorstellungen über den ‹richtigen› Mann bzw. die ‹richtige› Frau vereinbar? Besaß die (männliche) «Molly» des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts eine effeminierte Persönlichkeit und konnte deshalb schon als «schwules» Subjekt gelten? Handelte es sich bei Homosexuellen in früheren Jahrhunderten tatsächlich um ein «Drittes Geschlecht», wie manche Sexualwissenschaftler um 1900 behaupteten? Gingen gleichgeschlechtliche Begierden und Praktiken mit der Entwicklung einer besonderen Identität oder Wesensart einher? Existierten womöglich schon im Mittelalter lesbisch-schwule (Sub-)Kulturen und stellten diese Identifikationsangebote für homosexuelle Subjekte bereit? Ließen sich selbst im frühen Christentum «gay people» finden, wie dies John Boswell (1980) vermutete? Die Liste der brisanten Fragen ließe sich noch verlängern.

GLEICH ODER ANDERS – HISTORISCHE MODELLE

Historische und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass gleichgeschlechtliche Praktiken meist nicht nur als Ausdruck sexueller Lüste oder Vergnügungen galten, sondern mit spezifischen Eigenschaften, ja sogar Eigenheiten der betreffenden Personen verknüpft wurden und als Ausdruck ihres sozialen Status oder ihrer rituellen Stellung galten. Mit dem Begriff «Homosexualität» – 1868 wurde erstmals die Formulierung «homosexual» vom österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (pseud. für Karl Maria Benkert) verwendet (Brunner 2005: 12; Herzer 2000: 7; Sigusch 2008: 145 ff.) – eröffnete sich ein semantisches Feld, welches diese Konnotationen und kulturellen Bestimmungen integrierte und seitdem die Wahrnehmung der Gleichgeschlechtlichkeit bestimmte.

In der Definition der Homosexualität fielen in der Folge Verhaltensform, sexuelle Orientierung und Objektwahl zusammen. Das homosexuelle Subjekt galt durch sexuelle Praktiken, erotisches Begehren und eine ihm (angeblich) eigene psychologische Verfassung gleichermaßen charakterisiert. Dadurch sollte es sich kategorial von den Heterosexuellen unterscheiden. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde Homosexuellen deshalb eine spezifische Geschlechteridentität, teils auch eine eigene Geschlechtskategorie sowie eine damit einhergehende Identitäts- und Subjektbildung zugeschrieben (Eder 2011: 25 ff.). In früheren Zeiten und in nicht-westlichen Gesellschaften war eine solche, auf die Wesensart abzielende Kategorisierung hingegen vielfach unbekannt.

Auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion der letzten Jahrzehnte kreiste nicht nur um die kulturelle Einbettung homosexueller Handlungen, sondern auch um die Frage, ob in früheren Sexualkulturen für gleichgeschlechtlich agierende und begehrende Personen spezielle Identitätsformen vorgesehen waren. Wurde nicht-heterosexuelles Begehren als Ausdruck oder Ursache einer bestimmten Andersartigkeit, womöglich auch als Überschreitung heteronormativer Geschlechtergrenzen verstanden? Bei diesen Debatten ging es oft um die Differenz von Handlungs- und Subjektorientierung, eine Einengung, die vor allem der Autorität Michel Foucaults zu verdanken ist. Dieser hatte die Pole im ersten Band seiner «Geschichte der Sexualität» (1976/1977) in einer inzwischen ‹klassischen› Textstelle festgeschrieben: «Die Sodomie – so wie die alten zivilen und kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. […] Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies» (Foucault 1977: 58). Foucaults polare Sicht hat sich in die Sexualitätsgeschichte eingeschrieben und prägte sie über die Jahre hinweg als «Handlungsparadigma» (Borris 2004: 9).

Die Historiographie der Sexualität arbeitete sich entsprechend an der Konfrontation von vormodernen Akteuren und modernen wesensartigen Subjekten ab und eruierte eine bunte Vielfalt von gleichgeschlechtlichen Praktiken und kulturellen Sexualordnungen. Inzwischen lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Homosexualität mehr als nur eine Geschichte besitzt und der Begriff eigentlich nur im Plural verwendet werden sollte. Gerade die Analyse vormoderner und nicht-westlicher Homosexualitäten brachte Modelle zutage, die gleichgeschlechtliche Praktiken jenseits hetero- und homonormativer Kategorien ansiedeln. Sie führte somit dazu, dass sich auch Fragen historischer Kontinuität bzw. Diskontinuität neu stellen. Ziel der nachfolgenden Modellierung ist es, eine monadische, an modernen Kategorien ausgerichtete Sicht auf gleichgeschlechtliche Sexualität zu konterkarieren und die historischen Varianten dieses Phänomens dazustellen.

Derzeit lassen sich folgende idealtypische Modelle unterscheiden: Päderastie / Tribadie, Effeminierung / Maskulinisierung, Freundschaft, Inversion, Hermaphroditismus, Homosexualität, Bisexualität und Queer. Diese Typen wurden meist unter Berücksichtigung von Alters-, Generationen-, Rollen-, Handlungs- und Geschlechterdifferenzen gebildet (Greenberg 1988: 25 f.; Chauncey / Duberman / Vicinus 1989: 9 ff.; Hutter 2000: 145 ff.; Halperin 2003; Borris 2004: 6 ff.). Dass sie auch heute weiter diskutiert werden, resultiert aus der nach wie vor bestehenden Unsicherheit über die Definition von Homosexualität im Spannungsfeld von sexuellem Begehren, biologischem und sozialem Geschlecht sowie Identität. Wie Eve Sedgwick zeigte, wurde und wird Homosexualität in der öffentlichen Diskussion zumeist in Relation zur Heterosexualität gesehen und damit als eine minoritäre Art mit essentiellen Merkmalen definiert. Eine solche Festschreibung ignoriert jedoch, dass es innerhalb der ‹Kategorie der Homosexualität› große Unterschiede nach Geschlecht, Alter und sozialer Zugehörigkeit, aber auch nach den erotischen und sexuellen Vorlieben und Praktiken der so etikettierten Menschen gab und gibt (Sedgwick 1990). Unübersehbar ist auch, dass die historische Modellierung bislang mehrheitlich an mann-männlichen Beziehungen exemplifiziert wurde. Gründe dafür sind in der deutlich umfangreicheren historischen Forschung zur mann-männlichen Sexualität zu suchen, aber auch in dem schmäleren Quellenbestand zur Geschichte der Frauen begehrenden Frauen (Bennett 2000; Finley 2002; Traub 2002; Rupp 2009). Hinfällig ist inzwischen jedenfalls der Mythos, wonach es in der Geschichte eine Abfolge solcher Modelle gegeben hätte. In der Realität bestanden meist mehrere von ihnen nebeneinander.

PÄDERASTIE / TRIBADIE

Der Begriff «Päderastie» taucht in der Geschichte der Homosexualität in unterschiedlichen Bedeutungen auf, für die hier vorgenommene Modellbildung soll er auf die aktive Form der sexuellen Beziehung mit einer ‹untergeordneten›, meist jüngeren Person eingeschränkt werden (Lear / Cantarella 2008; Wallace 2007). Da das Wort vor allem mit der «Knabenliebe» konnotiert ist, wird ihm mit der «Tribadie» ein Äquivalent zur Seite gestellt, welches den aktiven Part einer Frau (sei es nun penetrierend oder klitoral stimulierend) mit einer anderen, ebenfalls sozial niedriger gestellten Frau umfasst (Sorkin / Auanger 2002). Nicht unter die «Tribade» fällt hingegen die ‹Figur› des (mit einer übergroßen Klitoris oder einem Penis) penetrierenden Hermaphroditen, die weiter unten vorgestellt wird. So definiert existierten päderastische und tribadische Beziehungen in vielen Kulturen und zeugten meist von einem ungleichen Verhältnis zwischen einer sexuell aktiven Person und einem / einer passiven Anderen. Ihre Beziehung war dabei nicht notwendigerweise mit geschlechterspezifischen Zuordnungen verbunden, dem aktiven / penetrierenden Part kam nicht per se die männliche, dem anderen die weibliche ‹Position› zu. Die Hierarchie zwischen ihnen wurde soziokulturell bestimmt, etwa durch Alters- oder Generationendifferenzen, durch einen unterschiedlichen sozialen Status oder ähnliche Rollenzuweisungen. Ungleich verteilt waren auch ihre sexuellen Anteile, denn nicht nur die sexuelle Initiative, sondern auch das sexuelle Begehren ging primär vom höher Gestellten, meist auch Älteren, aus. Der / die Jüngere wurde tendenziell als (Lust-)‹Objekt› betrachtet, das aus dem Sex (auch) anderweitige Vorteile ziehen konnte, etwa Geld oder Geschenke erhielt oder am gesellschaftlichen Leben und Prestige des aktiven Parts teilhatte.

Beispiele solcher Sexualbeziehungen finden sich in der antiken Päderastie, bei den römischen Tribaden, den ‹sodomitischen› Konstellationen der italienischen Renaissance oder den Meister-Schüler-Beziehungen in Kriegergesellschaften und -kasten wie dem Nenja-Chigo-‹Paar› der japanischen Samurai (Dynes / Donaldson 1992; Mencacci 1999; Verstraete / Provencal 2006; Hupperts 2007; Vout 2007; Duncan 2006; Puff 2007). Gleichgeschlechtliche Partner wurden dabei andersgeschlechtlichen zumindest temporär vorgezogen, wobei Partnerwahl und sexuelle Praxis oftmals ritualisiert abliefen. In vielen dieser Kulturen fanden die Vorzüge der gleichgeschlechtlichen Knaben- / Mädchenliebe auch Eingang in Literatur und Musik, sie galten als Ausdruck einer elaborierten Ethik, besonderen Ästhetik oder herausragenden Lebensweise (Brooten 1996; Bonnet 1997; Traub 2002; Rupp 2009). Päderasten bzw. Tribaden erhielten dabei nicht automatisch eine gleichgeschlechtliche Orientierung (nach heutigem Verständnis) zugesprochen. Oftmals pflegten sie neben (oder nach) den sexuellen Kontakten zum eigenen Geschlecht auch solche zum anderen und fühlten sich wegen ersterer nicht in ihrer Männlichkeit / Weiblichkeit bedroht. Päderastische Beziehungen galten als Vorrecht von Personen in hoher oder außergewöhnlicher sozialer und kultureller Position. Aufgrund der patriarchalen Struktur der meisten historischen Gesellschaften waren sie überwiegend männlichen Geschlechts. Tribaden und Päderasten bevorzugten Sexualobjekte des eigenen Geschlechts auch deshalb, weil sie sich von ihnen besondere sexuelle oder erotische Freuden erwarteten – aber nicht, weil sie sich als Homosexuelle (im modernen Sinn des Wortes) primär von diesen und nicht von andersgeschlechtlichen Personen angezogen fühlten.

EFFEMINIERUNG / MASKULINISIERUNG

«Effeminierung» galt gerade in der westlichen Tradition als typisches Kennzeichen von Männer begehrenden Männern, analog dazu «Maskulinisierung» als Charakterzug von Frauen begehrenden Frauen. Bei ihnen sollte es entsprechend des seit dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert verstärkten Diskurses über Typen wie «Molly», «Queen» und «Butch» (Trumbach / Hekma / Oosterhuis 1998: 430 ff.) zu einer gleichgeschlechtlichen Objektwahl kommen, weil zumindest ein Teil der Homosexuellen zu viele Eigenschaften des anderen Geschlechts oder zu wenige des eigenen besaß. Die / der «Molly» kann als prototypisch für diese ‹Figur› gelten: Gemeint war damit ein gleichgeschlechtlich agierender Mann, wie er beispielsweise in Londons gleichgeschlechtlicher Community im 18. Jahrhundert durch sein effeminiertes und ‹weiches› Verhalten auffiel. Dieser Habitus hätte sich in den geheimen Männerclubs, welche permanent unter polizeilicher Überwachung standen, ausgeformt und zu einer eigenen Identität entwickelt (Norton 2006; Cassidy 2007). Als Typ hätte sich der / die Molly vor allem durch eine weibliche ‹Maskerade› und eine ebensolche Sprache samt weiblichem Vornamen kenntlich gemacht. Manche von ihnen agierten auch als Darsteller weiblicher Rollen auf der Bühne und verdienten sich als transvestitische Prostituierte ihren Lebensunterhalt. Im Zuge der stärkeren Abgrenzung von Freundschaftsbeziehungen und bündischen Strukturen unter heterosexuellen Männern gerieten die sexuellen Männerbeziehungen und mit ihnen die Mollies ins Fadenkreuz der Polizei und nicht wenige vor ihnen landeten vor Gericht und im Kerker.

Ein vorschneller Kurzschluss von spezifischen Geschlechterrollen bzw. -charakteren und Homosexualität greift jedoch sexualitätsgeschichtlich gesehen zu kurz: ‹Weiche› Männer – etwa solche, die sich nicht den hegemonialen maskulin-martialischen Männerbildern unterwarfen – wurden in früheren Jahrhunderten jedoch nicht generell als homosexuell eingestuft (Martschukat / Stieglitz 2008; Schmale 2003). Im Gegenteil, ‹weiche›, unsoldatische Typen besaßen zu manchen Zeiten sogar größere Attraktivität für Frauen. Gepflegt und kultiviert, galten sie zwar als Antitypus des ‹richtigen Kerls›, waren aber gleichzeitig die sexuellen Lieblinge des weiblichen Geschlechts. Der Bogen reichte dabei von den poetischen Ehebrechern der Antike über die sanften bürgerlichen Männer des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu den Hippies der 1960er Jahre und den ‹Neuen Männern› des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. In männerbündischen Gesellschaften ging offenbar von solchen ‹unmännlichen› heterosexuellen Männern eine besondere Bedrohung aus, was dazu führte, dass man Knaben und Jugendliche verstärkt zur Virilität erzog und sich im Gegenzug die Homophobie verbreitete.

Während sich historische Belege für die heterosexuelle Attraktivität des unmännlichen Mannes zuhauf finden lassen, sind solche für unweibliche Frauen kaum nachweisbar. Maskulinität oder mangelnde Feminität wurde zum einen zwar wiederholt als Eigenheit von gleichgeschlechtlich begehrenden Frauen definiert, zum anderen machte sie Frauen aber nur selten zu attraktiven Sexualpartnerinnen von Männern. Erst im 20. Jahrhundert traten etwa mit der ‹Neuen Frau› in den 1920er Jahren oder dem androgynen Twiggy-Typ der 1960er Jahre auch solche heterosexuell konnotierten Typen auf die Bühne.

FREUNDSCHAFT

Sexualitätsgeschichtlich als besonders schwierig erweist sich die Abgrenzung des Freundschaftsmodells von den homoerotischen, homosexuellen und päderastischen Typen. Kulturelle Vorannahmen und Vorurteile sowie universelle Begriffe sind hier kaum abzustreifen. Lange Zeit wurden historische Quellen zu gleichgeschlechtlichen Freundschaften als implizit erotisiert oder sogar direkt sexualisiert interpretiert – eine Lesart, die sich durch die kritische Kontextualisierung von Texten und Bildern oft als einseitig oder sogar falsch erwies (O’Donnell / O’Rourke 2003). Vorschnelle Interpretationen kamen dabei nicht selten durch den sexualisierten Blick der westlichen Kultur zustande, in dem körperliche Nähe und Intimität zwischen Personen ein- und desselben Geschlechts, etwa Küsse oder zärtliche Berührungen unter Männern, als Zeichen latenter erotischer und sexueller Attraktion gesehen wurden. Dass die Bedeutung solcher Handlungen nicht verallgemeinert bzw. anthropologisiert werden kann, lässt sich beispielsweise an Männergesellschaften des arabischen Raums und deren körperlichem Umgang zeigen. Kontakte zwischen (heterosexuellen) Männern nehmen dort einen Grad an Intimität an, der in der westlichen Sexualkultur als deutliches Indiz für (zumindest latentes) homosexuelles Begehren gewertet wird, im kulturellen Code dieser Gesellschaften aber keineswegs.

In historischen Freundschaftsmodellen galten zärtlich-körperliche Berührungen sowie Affekte und Liebesgefühle unter Männern oft als Ausdruck besonders naher und egalitärer sozialer Beziehungen. Größere Altersunterschiede, soziale Distanz und rituelle Einbindung von Körperkontakten scheinen demgegenüber eher für päderastische Verhältnisse charakteristisch zu sein. ‹Gleichberechtigte› Freundschafts- und Liebesbeziehungen unter Männern oder Frauen wurden in früheren Jahrhunderten meist als sittlich hochwertige, den Familien- und Reproduktionszwängen entzogene und besonders beständige oder herausragende Bindungen angesehen und fanden ebenfalls literarischen Niederschlag. Sexuelle Praktiken wurden in solchen Freundschaftsprogrammen jedoch als schädlich eingestuft, sie gefährdeten den Gleichklang der Seelen und eine Positionierung auf gleicher Augenhöhe. Wenn also in früheren Jahrhunderten von inniger Liebe und Sehnsucht zu einer Person des gleichen Geschlechts gesprochen oder gesungen wurde, mag dies für heutige Betrachter und Betrachterinnen als ein Hinweis darauf gelten, dass die Seelenvereinigung auch körperlich imaginiert oder womöglich vollzogen wurde. In der sozialen und kulturellen Logik der Zeit – etwa bei der Männerfreundschaft und Männerliebe unter antiken Kriegern oder bei Männerpaaren in den Theaterstücken von Shakespeare – war diese sexuelle Dimension nicht automatisch vorgesehen.

INVERSION

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert schrieb sich eine weitere Kategorie in das Begriffsfeld der gleichgeschlechtlichen Sexualität ein – die «Inversion». Diesem Modell zufolge wären sexuelles Begehren, Identität und Subjektivität bei manchen Menschen gleichsam im falschen Geschlechtskörper beheimatet und führten deshalb zu einer homosexuellen Orientierung. Männliche wie weibliche Invertierte würden sich sexuell so verhalten wie das jeweils andere Geschlecht. Invertierte Männer wünschten sich aufgrund ihrer (angeborenen) Wesensart, von Männern penetriert zu werden, ihr weibliches Gegenstück schlüpfte beim Geschlechtsverkehr mit Frauen in die Rolle des Mannes. Bei den Invertierten sollte es also zu einer elementaren Umkehrung des einem Geschlecht zugeschriebenen Wesens kommen, sie stellten damit eine eigene Spezies dar, womöglich sogar ein drittes und viertes Geschlecht. Während man effeminierten Männern und maskulinen Frauen nur graduelle Veränderungen im Geschlechtscharakter attestierte, sah man Invertierte meist als vollständig durch ihre verkehrte Geschlechtsidentität geprägt. Wahrzunehmen sei dies beispielsweise in ihrem Auftreten, ihrer Kleidung, ihrem Gang und ihrer Stimme. Ihr sexuelles Verlangen würde sich in der Art des anderen Geschlechts dem eigenen Geschlecht zuwenden.

Weil sie als Phänotypus der umgekehrten Geschlechterwelt galten, entstanden von «Invertierten» über die Jahrhunderte hinweg faszinierte Beschreibungen und vielfach auch eigene Bezeichnungen wie der «Cinaedus» im antiken Rom oder die «Tunte» der Zwischenkriegszeit (Richlin 2006; Skinner 2005; Invertito 2000). Mit dem gegenwärtigen Begriffsinstrumentarium der Homosexualität ist die Inversion kaum zu fassen, empfanden diese Menschen doch angeblich mit einer Seele, die nicht ihrer leiblichen Morphologie entsprach, und richteten ihr Begehren auf einen Körper des – von ihrem psychischen Standpunkt aus betrachtet – anderen, wenn auch morphologisch eigenen Geschlechts. So gesehen waren sie also eher ‹konträr›-sexuell orientiert, psychisch gesehen sogar ‹hetero›-sexuell oder transgender – etwa als psychische Frau (in einem Männerkörper) auf einen Mann (in einem Männerkörper) hin orientiert. Seitens der psychischen Objektwahl hatte man es mit einer Orientierung zu tun, die sich nicht von der heterosexuellen Mehrheit unterschied. Oder pointiert formuliert: Invertierte waren dem modernen Begriffsverständnis nach nicht ‹homosexuell›, obwohl sie sexuell Personen des eigenen Geschlechts begehrten.

HERMAPHRODITISMUS

Nicht die Umkehrung der psychischen Geschlechterdichotomie, sondern die nach Geschlechtern uneindeutige und unklare Kategorisierung innerhalb der heteronormalen Sexualwelt bezeichnet der «Hermaphroditismus» – seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch «Intersexualität» genannt. Von heute aus gesehen, tritt bei Hermaphroditen die enorme Variationsbreite innerer und äußerer körperlicher Geschlechtsmerkmale besonders deutlich zutage und belegt, dass die Konstellation der XY-Chromosomen nur einer der Faktoren ist, welche für die geschlechtliche und sexuelle Ausformung des Menschen verantwortlich sind. Neben biologischen Determinanten wie Genen und Hormonen kommen auch die (tiefen-)psychologische Entwicklung und die soziokulturellen Einflüsse zum Tragen. Historisch gesehen stiftete das gleichzeitige Auftreten männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale – etwa eines Penis und einer Vagina oder einer stark vergrößerten Klitoris bei einem weiblichen Individuum – große Verwirrung nicht nur bei der Geschlechtsbestimmung, sondern auch bei der sexuellen Zuordnung. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit wurden Hermaphroditen deshalb als Monstrositäten und als Teufelswerk bzw. Gottesstrafe eingestuft (Long 2006: 13 ff.). Im Zuge der Verwissenschaftlichung während der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen Zementierung der Zwei-Geschlechterordnung im späteren 17. und 18. Jahrhundert mutierte ihre interpretationsoffene Vielfalt zu einer Abweichung, bei der angeblich auch psychische und sexuelle Entwicklungsstörungen zum Vorschein kamen (Hagner 1995: 80 ff.). Seit dem späten 19. Jahrhundert versuchte man bei ihnen unter allen Umständen eine Geschlechtsbestimmung und -festlegung durchzuführen und diese, wenn möglich, auch chirurgisch umzusetzen.

Dabei tauchte die Frage auf, ob diese Menschen aufgrund ihrer körperlichen Unbestimmtheit auch sexuell orientierungslos seien oder zu einer homosexuellen oder womöglich bisexuellen Orientierung neigten. Da bei Embryos die männlichen Geschlechtsmerkmale erst ‹nach› den weiblichen sichtbar werden, schien es offensichtlich, dass die geschlechtliche Indifferenz mit mangelnder oder unterentwickelter Männlichkeit zusammenging und Hermaphroditen deshalb tendenziell zur Homosexualität neigten (Dreger 1998: 12; Mehlmann 2006: 84 ff.). Angesichts der nach dem Geschlecht uneindeutigen Morphologie der Hermaphroditen blieben phallisch-heteronormative Spekulationen ebenfalls nicht aus: Mit einer übergroßen Klitoris oder einem ‹verkümmerten› Penis ausgestattet, würden ‹homosexuelle› Hermaphroditen eher dazu neigen, einen weiblichen Körper zu penetrieren, das Fehlen des phallischen Teils hingegen ließe auf eine weibliche Sexualform und die Wahl eines männlichen Partners schließen. Aufgrund der geschlechtlichen Uneindeutigkeit animierte der Hermaphroditismus auch zu Mutmaßungen über die Monosexualität, also einer sexuellen Ausrichtung jenseits bipolarer bzw. hetero- / homonormativer Geschlechtsordnung. Hermaphroditische Begierden wären quasi vor oder außerhalb der kulturellen Konventionen platziert und könnten damit auch als ‹unschuldige› sexuelle Unbestimmtheit gelten. Judith Butler (Butler 1991: 142 ff.; Barbin / Foucault 1998) hat in ihrer Kritik an Foucaults sexueller Interpretation des Hermaphroditen Herculine Barbin allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche ‹Unschuld› jenseits der symbolischen Ordnung nicht möglich und auch die hermaphroditische Sexualität unausweichlich der Geschlechtsund Geschlechterkultur ihrer Zeit unterworfen ist.

HOMOSEXUALITÄT

Im Begriff und Modell der «Homosexualität» überkreuzten sich seit dem späten 19. Jahrhundert – nach Meinung mancher schon seit dem späten 17. bzw. frühen 18. Jahrhundert oder noch früher (Bray 1982; Trumbach 1998) – die bisher genannten Modelle und wurden zu einer eigenen Identität. Mit der ‹Einführung› der Homosexualität konnte man deshalb kaum mehr über gleichgeschlechtliche Lust oder ebensolche Handlungen sprechen, ohne dabei an ein bestimmtes Subjekt mit einer distinkten Psychophysis zu denken. Ob es bereits vor der Erfindung dieser Kategorie homosexuelle Subjekte oder identifikatorische Formen des Selbst- und Fremdbezugs – etwa in der Renaissance oder gar im Mittelalter (Hergemöller 1999) – gab, gehört nach wie vor zu den spannendsten Fragen der Sexualitätsgeschichte, wobei die Debatte nicht nur akademischen Wert besitzt, sondern auch für die ‹eigene› Geschichte bzw. Vorgeschichte schwul-lesbischer Emanzipationsbewegung und die Frage nach der konzeptuellen Einheit der historischen Homosexualitätsentwicklung von Bedeutung ist (Mills 2011: 58 f.). Für politische und (straf-)rechtliche Belange ergeben sich ebenfalls strategischargumentative Unterschiede zwischen einer Position, die auf eine angeborene, natürliche Homosexualität verweist, und einer, die sozial konstruierte Formen des gleichgeschlechtlichen oder ‹queeren› Begehrens vertritt.

(HOMO-)SEXUELLE ORIENTIERUNG

Seit der Verbreitung des Homosexualitätsparadigmas wurde ‹hinter› gleichgeschlechtlichen Handlungen eine ebensolche psychische Orientierung vermutet (Tamagne 2007). Äußerte sich die homosexuelle Orientierung nicht manifest, stand seit Sigmund Freuds Sexualtheorie bei gleichgeschlechtlichen Sexualakten zumindest der Verdacht latenter Homosexualität im Raum (Eder 2011: 37 ff.). Da auch vornehmlich heterosexuell agierende Personen (etwa in der Pubertät) gleichgeschlechtliche Erlebnisse machten, musste man allerdings zugestehen, dass sexuelle Orientierung und Objektwahl nicht automatisch in ein und dieselbe Richtung weisen. Schon um 1900 zeigten die ersten sexualwissenschaftlichen Studien, dass bei angeblich als pervers-krankhaft etikettierten Akten wie dem Analverkehr nicht notwendigerweise eine (homo-)sexuelle Orientierung angenommen werden musste. Die Kinsey-Surveys (Kinsey / Pomeroy / Martin 1948; 1953) belegten dann, dass gleichgeschlechtliche Handlungen zum Erfahrungsschatz vieler Menschen gehörten und deshalb per se nichts Anormales, Unnatürliches oder gar Krankhaftes darstellen konnten und die Freudsche These latenter Homosexualität womöglich ins Leere ging.

Die Kategorie der Homosexualität verfestigte sich während des 20. Jahrhunderts. Nun fielen psychische Verfassung, erotisches Begehren und sexuelle Praxis (Halperin 2003: 213) zusammen und umfassten jegliche Form von Liebe, Begehren und Sexualverhalten unter Partnern und Partnerinnen desselben Geschlechts. Bei ‹richtigen› Homosexuellen sollte es deshalb auch egal sein, ob ihr Verhältnis hierarchisch oder egalitär (Freundschaft) war, ob es einen aktiven oder passiven Part gab (Päderastie / Tribadie), ob Geschlechterrollen damit einher gingen (Effeminierung / Maskulinisierung), ob sich die Geschlechtszuordnung umkehrte (Inversion) oder eine solche Kategorisierung überhaupt nicht möglich war (Hermaphroditismus). Homosexuelle/r war man nun nicht, weil man gleichgeschlechtlichen Sex hatte oder die Geschlechterrolle des anderen Geschlechts übernahm, eine bestimmte Position beim Sexualakt bevorzugte, Personen des eigenen Geschlechts liebte oder sich über die eigene Geschlechtermorphologie und -psyche im Unklaren war, sondern weil man eben (zumindest latent oder graduell) ‹homosexuell› war und damit eine festgeschriebene sexuelle Neigung zum eigenen Geschlecht besaß.

Bezeichnenderweise verloren im 20. Jahrhundert die traditionellen Klassifikationen des gleichgeschlechtlichen Handelns immer mehr an Bedeutung. Für die moderne, normalisierte ‹Figur› des / der männlichen und weiblichen Homosexuellen sollte es weitgehend belanglos sein, ob sie sich beim Sex aktiv oder passiv verhielt, einen maskulinen oder femininen Körper besaß, mehr dem Charakter des einen oder anderen Geschlechts entsprach, ob sie penetrierte oder sich ‹nehmen› ließ oder ob sie der / die sozial höher oder niedriger Gestellte, der ältere oder jüngere Part war. Homosexualität implizierte eine ausschließende Wesensart, welche in der Regel auf einer essentiellen psychischen Konstitution – der gleichgeschlechtlichen Orientierung – beruhte und sich dadurch von der Heterosexualität unterschied. Deshalb trat die Emanzipationsbewegung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auch gegen deviante Formen, etwa das ‹tuntige› Auftreten oder ‹perverse› Sexualpraktiken, auf und versuchte solcherart zu einer moralisch ‹einwandfreien› Anerkennung ihrer ‹sexuellen Art› zu gelangen (Riechers 1999).

(HOMO-)SEXUALITÄT ALS IDENTITÄT

Gemeinsam mit dem Majoritätsmodell der Heterosexualität offerierte die Homosexualität damit Modi für die Individualisierung des modernen Menschen. Auf der Suche nach seiner ‹wirklichen› sexuellen Orientierung sollte er durch sie zu sich selbst kommen und damit seine Identität gewinnen. In den 1960er und 1970er Jahren kam dies im Ruf nach «sexueller Befreiung» und «Selbstverwirklichung» breitenwirksam zum Ausdruck. Die Homosexuellenbewegung propagierte nun eine bewusste lesbische und schwule Identität und verwendete damit Begriffe, welche zuvor abwertend für die Abweichung von der ‹normalen› Sexualität gebraucht wurden. Auch emanzipatorisch gesinnte Historikerinnen und Historiker erkundeten eine über Jahrhunderte zurückreichende ‹eigene› Geschichte und verwiesen auf eine ebenso lange Diskriminierung. Seit den 1980er Jahren lässt sich aber auch eine Heterosexualisierung feststellen: So gingen beispielsweise ‹passagere› gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken in der Pubertät deutlich zurück, und Jugendliche reagierten gegenüber ‹harmloser› mutueller Masturbation mit Aversion und betonten ihre ausschließlich heterosexuelle Orientierung (Schmidt 2004: 321).

Wer sich als lesbisch oder schwul ‹outete›, unterwarf sich ebenfalls dem Kategorisierungsschema von Homo- versus Heterosexualität. Die Differenzbildung funktionierte auch in die Gegenrichtung: Indem man sich als nicht-homosexuell deklarierte, ordnete man sich als heterosexuell zu. Im Alltag blieben die Kategorien Hetero- / Homonormativität mit traditionellen sozialen Schemata verbunden. Wirksam wurden diese beispielsweise in Mutmaßungen, wer bei einem schwulen oder lesbischen Paar denn die ‹Frau› und wer der ‹Mann› sei. Wie Heterosexuelle konnten sich auch egalitär gesinnte (gleichaltrige und ohne Geschlechterrollen auskommende) homosexuelle Paare nicht der symbolischen Ordnung und den mit ihnen verbundenen sozialen Machtbeziehungen entziehen. Dass der Schritt aus dem Verborgenen und die ‹Bekenntnis› zur Homosexualität dabei einen essentiellen Akt der Identitätsherstellung bildete, wurde in der Figur des / der «normalen» oder «gewöhnlichen» Homosexuellen in den 1970er und 1980er Jahren deutlich: Gleich wie die sonstigen sozialen Erfahrungen ausfielen, das «Coming out» («to come out of the closet») und die Anerkennung der eigenen Homosexualität (Sedgwick 1990) sollten zu einem, das weitere Leben prägenden, Differenzerlebnis werden (Dannecker / Reiche 1974; Dannecker 2000: 180 ff.; Hekma 2007).

BISEXUALITÄT

Bei der Kategorisierung von Homo- und Heterosexualität stellte sich seit dem späten 19. Jahrhundert auch die Frage nach einer ‹übergreifenden› Klasse, der man den Namen «Bisexualität» (manchmal auch «Ambisexualität») gab. Der Begriff «bisexual» stammte eigentlich aus dem biologischen Sprachgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts und bezeichnete ursprünglich die Zweigeschlechtlichkeit von Pflanzen (Angelides 2001: 23 ff.). In früheren Jahrhunderten hatte man noch keinen speziellen Begriff für Personen gekannt, deren sexuelles Begehren sich gleichermaßen auf Männer und Frauen richtete – was nicht hieß, dass solche Praktiken nicht bekannt waren und diskutiert wurden. In der Antike sah man kein allzu großes Problem darin, wenn Gott Eros zum ‹fleischlichen Umgang› mit beiden Geschlechtern animierte. Ein aktiver griechischer Bürger konnte einen attraktiven Mann erotisch und sexuell genauso begehren und verführen wie eine ebensolche Frau (Cantarella 1992; Haeberle 1994: 1 ff.; Parker 2011: 130). Im christlichen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit galt die auf beide Geschlechter gerichtete Begierde hingegen als widernatürlich, jedenfalls wider die christliche Weltordnung gerichtet, und womöglich sogar als eine Krankheit. Bisexuell begehrende Menschen besäßen zumeist einen überbordenden Hang zur Wollust und Unkeuschheit und gefährdeten solcherart auch die soziale (Geschlechter-)Ordnung.

Als Terminus für eine spezifische menschliche Sexualform etablierte sich «Bisexualität» erst mit der Sexualwissenschaft um 1900 und erhielt durch Freud eine besondere Konnotation: Nach ihm durchlaufe jeder Mensch eine bisexuelle Phase und fände erst im Zuge der sexuellen ‹Reifung› zu (s)einer individuellen Orientierung (James 1996: 219 ff.). In der Kinsey-Skala konnte man zu Mitte des 20. Jahrhunderts dann nachlesen, dass eine Polarisierung in Hetero- versus Homosexualität in der Praxis von vielen ‹Abstufungen› unterlaufen wurde und manche «dominant» Heterosexuelle auch «gelegentliches homosexuelles Verhalten» zeigten und umgekehrt (Kinsey / Pomeroy / Martin 1948: 638). Spätestens mit der Erforschung der Ansteckungswege von HIV/AIDS wurde in den 1980er Jahren unübersehbar, dass in der alltäglichen Praxis oft eine Gemengelage existierte und die bisexuellen Sexualkontakte als Infektionswege mitbedacht werden mussten.

Bei der Definition der Bisexualität ergaben sich von Beginn an Schwierigkeiten hinsichtlich der Abgrenzung gegenüber der Homo- und Heterosexualität, begehrten doch Bisexuelle sowohl gleich- als auch andersgeschlechtlich und gehörten damit gleichzeitig zu beiden Kategorien und zu keiner. Auch wenn der Begriff «Bisexualität» dem binären Sexualdenken entsprang, konnte diese Begehrensform nicht mehr in die bi-kategoriale Sexualtheorie eingepasst werden. Egal ob man sie zu einer ‹dritten› Sexualform oder eine fluiden Monosexualität erklärte, Fragen nach den Spezifika der bisexuellen Identität oder nach ihrer Platzierung in der Systematik und Theorie der Sexualität ließen sich kaum beantworten (Garber 2000: 15 ff.). Was allerdings nicht hieß, dass die Konstruktion einer eigenen bisexuellen Identität nicht auf die sexual- und genderpolitische Tagesordnung kam und sich die Sexualforschung ihrer annahm und Journale wie das «Journal of Bisexuality» 2001 gegründet wurden. Deren Forschungen zeigen, dass die Fremd- und Selbstzuordnung als ‹Bisexuelle/r› für viele der Befragten nicht als adäquate Kategorie angesehen wird und sie sich gegen eine Einordnung ihres sexuellen Begehrens und Handelns auf einer durch Hetero-, Homo- oder Bisexualität abgesteckten Skala aussprechen (Rust 2001; Callis 2009).

QUEER

Es verwundert nicht, dass sich in den späten 1980er Jahren zunehmend Widerstand gegen die kategoriale Festschreibung von Homo-, Hetero- und Bisexualität regte und ein weiteres Modell auf die Bühne trat. Die Vertreterinnen und Vertreter der «Queer»-Theorie zogen jegliche sexuellen Kategorien und Identitätsformen in Zweifel und wollten an ihre Stelle die Unbestimmtheit von Sexualität und Geschlecht, von Sex/uality und Gender setzen. Sexuelle Identitäten sollten als provisorisch und kontingent gelten und einem permanenten historischen Wandel unterliegen. Insbesondere die im Homosexualitätsmodell postulierte Essentialisierung wurde abgelehnt. Nach Judith Butler (Butler 1991) sollte selbst das Geschlecht (Gender) als Ergebnis performativer Akte und deshalb als kulturelle Konstruktion verstanden werden. Zwischen biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexuellem Begehren würden demnach keine stabilen Relationen bestehen. Wie diese drei Kategorien kulturell zueinander kommen, könne durch eine ‹queere Lesung› an den devianten Rändern der Norm- oder Normalsexualität erforscht werden. Indem das Queer-Modell solcherart sexuelle Uneindeutigkeiten in den Blick nahm, kamen auch Trans- und Intersexuelle, Transvestiten, Cross-Dressing und andere Formen der sexuellen Grenzüberschreitung und -verwischung ins (historische) Gesichtsfeld (Freccero 2006; Downing / Gillet 2011). Betrieb man in den 1980er Jahren im angloamerikanischen Sprachraum noch «Gay and Lesbian Studies», wurden daraus in den 1990ern die «GLBT Studies» oder auch «GLBTQ Studies» als Abkürzung für «Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender and Queer Studies». Homonormative Begriffe wurden nun genauso kritisiert und dekonstruiert wie heteronormative. Der Begriff Homosexualität – wie auch der der Sexualität insgesamt – sollte, wenn überhaupt, nur mehr im Plural eingesetzt werden. Auch die seitens der Vertreterinnen der Lesbenbewegung kritisierte undifferenzierte Ineinssetzung von «Schwulen» und «Lesben» in der Homosexuellenbewegung sei damit obsolet (Rich 1991).

Queer erschütterte nicht nur die Mauern um die Homosexualität, sondern stellte auch die Heterosexualität und die Kategorien Frau und Mann in Frage. Ob sie es wollten oder nicht – damit folgten die Queer-TheoretikerInnen einer zentralen Forderung der neoliberalen Marktwirtschaft: Die Wahlmöglichkeit des sich selbst regierenden und regulierenden Subjekts sollte selbst vor der sexuellen Orientierung und Identität nicht halt machen. In Zweifel gezogen wurde aber Queer auch wegen der radikalen Ausweitung der Performativität von Geschlechts- und Sexualitätseinschreibungen. Schon während der Frühphase wurde angemerkt, dass die Geschlechter- und Geschlechtsidentität sowie die sexuelle Orientierung nicht ‹einfach› per willentlicher Entscheidung gewechselt werden können, sondern in einem langfristigen Prozess signifiziert und habitualisiert werden. Wo dabei die Grenzen der Denaturalisierung bzw. Kulturalisierung von Gender, Geschlecht und Sexualität (auch in der sexualitätsgeschichtlichen Forschung) zu setzen sind, blieb und bleibt umstritten (Jagose 2001: 112 ff.). Diesbezügliche Unklarheiten resultieren auch aus der grundsätzlichen Weigerung der meisten Queer-Proponenten, neue Sexualitäts- und Geschlechtsnormen zu schaffen bzw. anzuerkennen. Nach ihnen sollte man auch Skepsis gegenüber jeglichen ethnischen oder rassischen Kategorien entwickeln – das ist einer der Gründe, warum in den letzten beiden Jahrzehnten Sexualitäten in nichtwestlichen Kulturen, etwa Personen des ‹dritten Geschlechts› in Asien oder in Stammesgesellschaften, in den Fokus gelangten (Bleys 1996; Horswell 2005; Beemyn 2007).

Seit den 1980er Jahren verschoben sich auch die Perspektiven der Sexualwissenschaft: Herrschte bis dahin ein deutliches Übergewicht an medizinischen, biologischen und psychologischen Studien, gewannen nun kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen und mit ihnen sozialkonstruktivistische Ansätze an Bedeutung (Eder 2009a: 13 ff., 243 ff.). In der Historiographie der Sexualität ließ sich ein analoger Trend beobachten: Gaben zuvor Medizinhistoriker und -historikerinnen sowie Demografen den Ton an, traten nun vermehrt Sozial- und Kulturhistoriker mit ihren queeren Fragen und Positionen in den Vordergrund. John C. Fout brachte 1990 diese Neuorientierung im ersten Heftes des «Journal of the History of Sexuality» auf den Punkt: «Now the study of human sexuality is being addressed by social historians, sociologists, anthropologists, philosophers, psychologists, literary scholars, classicists, art and film historians, and scholars in other fields from a variety of disciplinary and crossdisciplinary perspectives» (Fout 1990: 1 f.).

Einige queere HistoriographInnen versuchten dabei auch eine ‹eigene› Geschichte zu begründen. Carolyn Dinshaw (1999) lieferte wohl die konsequenteste Anwendung eines solchen präsentistischen Geschichtsverständnisses und konstruierte eine «affektive Verbindung» – eine «Berührung über die Zeit hinweg» – zwischen historischen Queers und der (post-)modernen «queer community». «Queer history is my queer present», lautete ihr Postulat, nach dem deviant-isolierte Sexualitäten aus früheren Jahrhunderte auch die heutigen, identitäts- und abstammungslosen Queers ‹anrühren› sollten – wohl genauso ein Widerspruch zum Postulat des / der angeblich identitätslosen Queer wie die Deklaration einer «queer nation» oder «queer community» (Dinshaw 2001: 202 ff.).

Letztlich mussten aber auch die Queer-Forscherinnen und -Forscher feststellen, dass die Dekonstruktion der Hetero- und Homosexualität recht wenig zu einer Klärung sozial-konstruktivistischer Grundprobleme beitrug – etwa der Frage, welche Kriterien überhaupt noch zur Differenzierung von Selbstwahrnehmungs-, Identitäts- und Subjektivierungsformen in Gegenwart und Geschichte herangezogen werden können (Seidman 1997). Angesicht der queeren Vielfalt von Begehrens- und Lebensstilen lassen sich heute Strategien des Gleichgeschlechtlichen kaum mehr in Identitätskategorien fassen. «Queer- Identitäten» wie der «Glied-», «Kopf-» und «Herzschwule», welche Jörg Hutter und andere (Hutter 2000: 170 ff.) zur Jahrtausendwende vorgeschlagen haben, sind angesichts der Identitätsverweigerung per se zum Scheitern verurteilt und gehen in einer uferlosen Pluralisierung von Fremd- und Selbstbezügen auf. Ob eine solche queere Sicht auf Sexualität auch die Historiographie nachhaltig befruchten kann, wird sich zeigen. Weithin akzeptiert ist heute jedenfalls, dass sexuelle Präferenz und Orientierung nicht automatisch zu einer bestimmten Identität führen müssen und erstere keineswegs die psychophysiologische Basis für letztere darstellt. Ob und wie beides in Verbindung steht, ist weiterhin ungewiss.

FAZIT UND AUSBLICK

Eine Zusammenschau der historischen Modelle macht deutlich, dass auch in früheren und nicht-westlichen Gesellschaften recht divergierende gleichgeschlechtliche Begehrens- und Sexualformen existierten und aufgrund ihrer Variabilität deshalb jeglichen essentiellen Kategorisierungsversuchen mit großer Skepsis zu begegnen ist. Ob und wie sexuelles Begehren mit Geschlechts- und Geschlechterkategorien einher ging und daraus individuelle und kollektive Identitäten entstanden, variiert über die Zeit hinweg viel zu sehr, als dass generelle Aussagen über eine feststehende Sexual- und Geschlechts/er/form der ‹Homosexualität› möglich wären. Auch die Historiographie kann damit keinen überzeitlichen Raster für ‹die› Homosexualität anbieten, welcher als Referenz für eine ‹fixe› oder ‹echte› sexuelle Identität und Orientierung in der Gegenwart gelten könnte. Historische Befunde sind – auch wenn dies von Emanzipationsbewegungen immer wieder postuliert wird – wenig hilfreich für eine anthropologische Verankerung der gleichgeschlechtlichen Sexualität. Umgekehrt trug die Historiographie in den letzten Jahrzehnten sogar maßgeblich dazu bei, dass die zahlreichen Mythen über die gleichgeschlechtliche Sexualität und die sexuelle Identitätsbildung und Subjektivierung zerstört wurden. Selbst wenn damit die biologische, psychologische und soziale Genese der Homo- und Heterosexualität unklar ist, verschreibt sich ein Großteil der Historiker und Historikerinnen einer eher sozial-konstruktivistischen Perspektive. In der aktuellen Geschichtswissenschaft erscheint die zeitspezifische Ausformung der Homosexualität zumeist als kulturell hergestellt und nicht – oder zumindest nicht primär – im Körper, in den Genen oder sonstigen biologisch-anthropologischen Konstanten verortet.

Gerade der historische Rückblick zeigt auch, dass es sich bei den Homo-, Hetero-, Bi- und anderen Sexualitäten um Begehrensformen handelt, die nur aus der jeweiligen Zeit heraus verstanden und mit Sinn sowie Bedeutung versehen werden können. In Anbetracht der Variationsbreite von historischen Praktiken, Identitäten, Rollen, Skripten und den mit ihnen verbundenen Geschlechts- und Geschlechterformen muss ein Blick in die Zukunft davon ausgehen, dass sich die Sexualität auch in den nächsten Jahrzehnten in Abhängigkeit vom jeweiligen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmen entwickeln wird. Zwei mögliche Wege seien hier abschließend skizziert – und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass sich die Geschichte nicht als Lehrmeisterin des Lebens und schon aus Gründen des Zufalls, der Kontingenz und Emergenz nicht als Prognoseinstrument eignet.

Setzt sich der queere Weg fort, den einige westliche Gesellschaften eingeschlagen haben, ist zu erwarten, dass sexuelle Kategorien und Identitäten auch in Hinkunft weiter an Gewicht verlieren werden. Neoliberale Berufsidentitäten, postmoderne Lebenskonzepte und eine dekonstruktive Weltsicht führen dazu, dass sich ehemals essentielle Gewissheiten – wie Mann und Frau, Hetero- und Homosexualität – noch mehr verwischen. An Strahlkraft verlieren dann aber auch die Emanzipationsbewegungen und Identitätspolitiken, für die es angesichts der Verhandlungsmoral und Normal- sowie Toleranzgesellschaft nur mehr recht wenig Aufgabengebiete gibt. Wenn die Neosexualitäten (Sigusch 2005) ihren Siegeszug fortsetzen, erwartet uns eine Sexualkultur, in der König Sex weithin herrscht und sich das Sexuelle gleichzeitig fragmentiert, veralltäglicht und entmythifiziert. «Just fun no drama!» könnte dann endgültig das Motto für jegliche Form homo-, hetero-, bisexueller und queerer Praktiken lauten.

Als alternativer Weg schiene mir – durchaus neben dem gerade Skizzierten – folgende Entwicklung möglich: Wie schon in den letzten Jahren sichtbar geworden ist, macht sich in mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen Angst und Unsicherheit ob der queeren Beliebigkeit breit und führt zu einer Restabilisierung bzw. -etablierung von Geschlechter- und Sexualkategorien. Anzunehmen ist, dass diese Entwicklung vor allem jene Personen betrifft und in Zukunft zunehmend betreffen wird, die sich in der sexuellen Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit nicht zurechtfinden. Wie das Beispiel der USA und Russlands in den letzten beiden Jahrzehnten zeigt, zählen dazu insbesondere die Anhänger religiös-fundamentalistischer und nationalistischer Strömungen. Sie sehen in der Homosexualität wie in jeder nicht-heterosexuellen Vielfalt und Promiskuität einen Ausdruck der generellen Orientierungslosigkeit der werte- und moralrelativen Gesellschaft. Im Gegenzug berufen sie sich auf eine ‹natürliche› und transzendentale Geschlechter- und Sexualordnung und auf die ‹echten› Traditionen der ‹eigenen› Kultur (Herzog 2008; Štulhofer / Sandfort 2005; Borenstein 2008). Gegen öffentliche Manifestationen und Symbole der Homo- und Neosexualität – wie die Regenbogenparaden und GLBTQ-Demonstrationen – treten sie massiv auf und schrecken dabei auch nicht vor tätlichen Übergriffen zurück. Wenn die homophobe Ideologie auch von politischen Parteien aufgegriffen bzw. geschürt wird, ist zu erwarten, dass auch die liberale Gesetzeslage sich ändert. Beispielsweise ist damit zu rechnen, dass die Heirat / Verpartnerung und das Adoptionsrecht von gleichgeschlechtlichen Paaren abgeschafft bzw. wieder in Frage gestellt und die Bestimmungen zum Schutzalter und der Prostitution relativiert werden.

Egal in welchem gesellschaftlichen Rahmen sich die (Homo-)Sexualitäten in Hinkunft entwickeln werden – zu erwarten ist auch, dass die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung weiter an der Dekonstruktion von sexuellen Kategorien in Geschichte und Gegenwart arbeitet (Lautmann 2002). Bedenkt man, welche großen Fortschritte die biologische und hier insbesondere die genetische und neurobiologische Forschung in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, ist von dieser Seite ebenfalls ein Input für eine komplexere Betrachtungsweise der Sexualitäten zu erwarten. Vielleicht erweist sich dann auch, dass die Biologie der Sexualität nicht einseitig deterministisch funktioniert (LeVay 1994), sondern als ein vielschichtiger und variabler biosozialer Prozess (Långström u.a. 2010) und womöglich als ein epigenetisches Phänomen, das gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen genauso zugängig ist wie der Vererbung oder dem Zufall (Rice / Friberg / Gavrilets 2012). Angesichts der historischen Entwicklung können wir jedenfalls darauf verweisen, dass Homo-, Hetero-, Bi- und andere Sexualitäten bisher in recht vielfältigen Konstellationen mit Sex / Geschlecht und Gender / Geschlechtern auftraten. Mit dieser Vielfalt ist wohl auch in Zukunft zu rechnen.

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