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2012 steht in den USA im Zeichen des Präsidentschaftswahlkampfs und auch Europa schaut gespannt zu. Warum sind so viele Amerikaner gegen Obamas Gesundheitsreform? Was bewegt sie beim Thema Klimaschutz? Und wie ist es grundsätzlich mit der vielbeschworenen 'Wertegemeinschaft' des Westens bestellt? Was trennt und was verbindet Amerikaner und Europäer? Christoph von Marschall erklärt die unterschiedlichen politischen Kulturen dies- und jenseits des Atlantiks und entlarvt typische Vorurteile auf beiden Seiten. Ein Muss für alle, die die Supermacht besuchen oder verstehen wollen.
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Seitenzahl: 315
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Christoph von Marschall
Was ist mit den Amis los?
Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deISBN (E-Book): 978-3-451-33924-0ISBN (Buch): 978-3-451-30575-7
Vorwort
Die Idee zu diesem Buch
Amerikaner sind ein anderer Stamm
Crashkurs Alltag in Amerika
Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus
Von der Freiheit, versichert oder nicht versichert zu sein
Wo Krankheit den Ruin bedeuten kann
In Michelle Obamas Krankenhaus
Das Obama-Paradox
Ein Mann, zwei Präsidentschaften
Reformerfolg und Ansehensverfall
Mogeln bei den Treibhausgasen
Obamas Weihnachtsgeschenk
Auf dem Zenit der Macht
Färbt der Präsident die Haare?
Doppelte Enttäuschung, verschiedene Ursachen
Wünscht sich Amerika die Republikaner zurück?
Der Staat ist für Amerikaner das Problem, für Deutsche die Lösung
Solidarität mit den Reichen
Weg mit dem Bildungsministerium
Das Erbe der Tea Party
Konsumlust versus schlechtes Gewissen
Der Retter und sein Dämon
Die Regierung als guter Kapitalist
Der Staat als Krisengewinnler
It’s the Economy, Stupid
Der Klempner kennt den Hypothekenzins
Reichtum hilft, reicht aber nicht
Vorbild Deutschland
An der Ölpest scheiden sich die Geister
Die Trägheit nach der Katastrophe
Mehr Kontrolle heißt: mehr Kosten
Die verlorene Dekade für die Mittelschicht
Die Energiewende kommt aus der Provinz
Deutsche predigen Revolution von oben, Amerikaner Evolution von unten
Amerikas Zukunft am Mississippi
Wechselnde Förderpolitik in den USA
Die Gesellschaft: eine permanente Bürgerinitiative
Kinder sind Reichtum
Solidarität praktiziert der Bürger, nicht der Staat
Nachbarschaftskontrolle erwünscht
Der Millionär als Mäzen
Mehr Freiwillige für die Politik
Die freie Rede des Geldes
Vom Nutzen der Ungleichheit
Reiche in Handschellen
Die Todesstrafe stirbt langsam
Der Waffenkult
Sehnsucht nach Heilung und Helden
„Pistolen machen Menschen höflich“
Ein Jahrzehnt nach 9/11: Wie der Anschlag Amerika verändert hat
Die Bankentürme in Frankfurt
Die Zivilgesellschaft wehrt sich
Expedition nach Guantanamo
Der Lagerarzt
Die Militärkommission tagt
Deutsche Irrtümer
Die Männer vom Mars
Lehren aus Vietnam, Irak und Afghanistan
Im Zwiespalt zwischen Bush und Saddam
Die Fabel vom Friedenspräsidenten
Soziale Wohltaten im Rüstungsetat
Die gute und die böse Weltmacht
Selbsthypnose als Kraftquelle
Die Vereinten Nationen – keine höhere Instanz
Europa – der Kontinent der sympathischen Träumer
Russland und China – ein besiegter und ein neuer Rivale
Nahost – ewiger Konflikt, ewige Klischees
Wikileaks – deutsche Helden, amerikanische Bastards
Totgesagte leben länger
Ökonomie versus Demografie
Der Atlantik wird breiter
Für Zofia
„Die spinnen, die Amis!“, sagen viele in Europa, wenn ein Amokläufer in den USA wieder einmal unzählige Unschuldige erschießt, doch die Mehrheit dort eine Verschärfung der Waffengesetze weiter unbeeindruckt von sich weist.
„Die spinnen, die Amis!“, heißt es kopfschüttelnd in der Alten Welt, wenn ein amerikanischer Präsident den Mut hat, eine Krankenversicherung für alle Einwohner vorzuschlagen, aber rund die Hälfte der Bürger eine staatlich organisierte Solidarversicherung im Gesundheitswesen, wie sie in Kontinentaleuropa üblich ist, ablehnt.
„Die spinnen, die Amis!“, empört sich Europa, wenn sich die Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten per Giftspritze quälend lange hinzieht, weil die modernen Henker keine geeignete Vene für die Kanüle finden oder der tödliche Cocktail die rasche Wirkung verweigert, und dennoch kein Aufschrei durch die USA geht: Schluss mit der Todesstrafe!
„Die spinnen, die Amis!“, rief die halbe Welt, als die von der Wall Street ausgehende Finanzkrise auch andere Länder im Herbst 2008 mit in den Abgrund sog – und erst recht, als der US-Kongress die Verschärfung der Bankenaufsicht, die alle auf dem Höhepunkt der Krise gefordert hatten, auch in Amerika, schon 2010 wieder aufweichte.
„Die spinnen, die Amis!“ Da hat jede und jeder seine bzw. ihre Lieblingsbeispiele, je nach persönlichen Vorlieben, vom Umgang mit Energie bis zur Behandlung von Terrorverdächtigen in Guantanamo, von der Größe der Autos und Kühlschränke bis zum Einsatz militärischer Gewalt, von der ergebenen Hinnahme der Ölpest im Golf von Mexiko und anderer menschengemachter Umweltkatastrophen bis zum Spott über die XXL-Formate der Kaffeebecher, Trippleburger und T-Shirts. Denn das ist ja das Interessante und Verblüffende an jedem Gespräch über Amerika: Jeder hat eine Meinung zu den USA, unabhängig davon, wie viel oder wenig sie oder er über das Land und seine Bewohner weiß. Bei Brasilien, China, Indien, Japan, Korea, Russland oder Südafrika würden viele Europäer vor einem raschen Urteil zurückscheuen. Vielleicht weiß man’s ja doch nicht so genau. Nicht so bei Amerika. Da fühlen sich nahezu alle zu einem klaren Urteil berufen – und dieses Urteil fällt, je nach Weltanschauung, geradezu begeistert oder ziemlich skeptisch bis ablehnend aus, in Deutschland zumeist Letzteres.
Dass die Amis spinnen, habe auch ich oft gedacht, bevor ich mit meiner Frau nach Washington zog, um eine neue Aufgabe als Korrespondent der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel zu übernehmen. Mich trieb die Neugier, wie Amerika denn nun wirklich ist. In den sieben Jahren, die wir nun in den USA leben, habe ich einiges besser verstehen gelernt – aus eigenem Erleben, aus unzähligen Gesprächen mit Amerikanern und aus den Erfahrungen meiner Frau. Sie arbeitet in der medizinischen Forschung in den National Institutes of Health (NIH): unter Amerikanern mit einem amerikanischen Arbeitsvertrag und einer amerikanischen Krankenversicherung. Dabei haben wir Einblicke in den praktischen Alltag amerikanischer Familien sowie in die Köpfe und Herzen gewonnen, die anderen Ausländern ohne solche Zugänge verschlossen bleiben.
Wer hier lebt, kann gar nicht anders, als die Welt auch mit amerikanischen Augen zu betrachten. Die tägliche Arbeit, der Austausch mit Nachbarn und Freunden, die Reisen durch das riesige Land erzwingen das geradezu. Der Korrespondent soll ja nicht nur berichten. Er soll auch erklären, warum die Amerikaner vieles ganz anders sehen als die meisten Deutschen und die meisten Europäer.
Wer im Ausland lebt, lernt aus der Ferne auch das eigene Heimatland besser kennen. Er beginnt zu vergleichen: Warum regeln die Deutschen ihre Krankenversicherung und ihre Finanzaufsicht, ihre Energieversorgung und den Klimaschutz, ihre Waffengesetze und ihr Strafsystem anders? Was sind die Vor- und Nachteile der deutschen und was die Vor- und Nachteile der amerikanischen Variante? Gewisse Grenzen des Verständnisses für die USA bleiben dennoch. Auch heute noch halte ich manches, was Amerikanern selbstverständlich erscheint, für absurd. Oder für Ideologie. Doch das Ausmaß dieser blinden Flecken, die sich der pragmatischen Erklärung entziehen, ist kleiner geworden.
Und auf einmal spinnen nicht mehr nur die Amis. Mitunter erwische ich mich plötzlich bei dem Gedanken: „Die spinnen, die Deutschen!“ Den meisten Korrespondenten-Kolleginnen und -Kollegen geht es nicht anders. Mit der Zeit entdecken wir immer mehr gute Seiten am Alltag und den Lebenseinstellungen der Amerikaner. Und finden im Vergleich manche deutsche Haltungen und Sitten fragwürdig. Worauf gründet sich, zum Beispiel, der deutsche Glaube an die Allzuständigkeit des Staats? Warum geben Bürger ihr Mitgestaltungsrecht so gerne an anonyme Behörden ab? Theater und Museen gibt es auch in den USA zuhauf, und viele sind sogar besser als in Deutschland, obwohl sie nicht von staatlichen Subventionen leben, sondern von den freiwilligen Zuwendungen der Bürger und der Wirtschaft. Die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden nötigen Respekt ab. Den Stolz auf ihr politisches System und die Begeisterung, mit der sich Amerikaner alle vier Jahre in den Präsidentschaftswahlkampf stürzen, würden wir uns für Deutschland wünschen. Amerikaner zeigen weniger Sozialneid und mehr Respekt vor anderen Meinungen. Im Vergleich mit der in Deutschland verbreiteten Bedenkenträgerei, dass dieses oder jenes sowieso nicht funktionieren könne, wirkt die zupackende „Can do“-Mentalität oft höchst erfrischend. Und zudem konstruktiver. Gewiss, sie hat auch ihre Schattenseiten – wenn über dem ansteckenden Optimismus die berechtigte Skepsis (zum Beispiel beim Demokratieexport per Militärintervention) oder gewisse Sicherheitsvorkehrungen (zum Beispiel auf Ölplattformen oder in Atomkraftwerken) zu kurz kommen, mitunter mit dramatischen Folgen.
Auf viele Neuankömmlinge aus Deutschland wirkt Amerika im Alltag lebenswerter und liebenswerter, als sie sich das aus der Ferne vorstellen konnten. Das geht den meisten meiner Kolleginnen und Kollegen so, ganz unabhängig davon, ob sie für eine linksalternative, liberale oder bürgerliche Zeitung berichten – oder, im Rundfunkbereich, für eine „rot“ oder „schwarz“ dominierte Sendeanstalt. Zu Einwanderern werden nur wenige. Bei aller Faszination an der Neuen Welt bleiben die meisten von uns im Herzen und in ihren gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen Deutsche. Und Europäer. Aber unsere neuen Erfahrungen machen uns Wanderer zwischen beiden Welten zu Kulturvermittlern. Wenn es in den Heimatredaktionen oder in den Leserbriefen und Hörer-E-Mails wieder mal heißt, „Die spinnen, die Amis!“, dann fühlen wir uns herausgefordert, die Hintergründe und Motive für amerikanische Haltungen zu erklären, die von der anderen Atlantikseite gesehen irrational anmuten – typisch amerikanisch-verrückt.
So ist auch dieses Buch entstanden: aus den Begegnungen mit mehreren zehntausend Deutschen bei meinen zahlreichen Vortrags- und Lesereisen in den Jahren 2007 bis 2011.Ein bisschen früher als andere hatte ich mich an Barack Obamas Fersen geheftet und ihn von Februar 2007 an regelmäßig zu Wahlkampfauftritten begleitet. Damals lautete die herrschende Meinung noch, Hillary Clinton werde George W.Bush beerben und die erste Präsidentin der USA werden. Aus diesen Erlebnissen entstand eine Biografie: „Barack Obama. Der schwarze Kennedy“. 2009 schrieb ich ein Buch über seine Frau: „Michelle Obama. Ein amerikanischer Traum“. Es erzählt ihren – typisch amerikanischen – Aufstieg vom schwarzen Arbeiterkind zur ersten First Lady, die von Sklaven abstammt; und ihren Lebensweg, der von einem rein afroamerikanischen Wohnviertel ins Weiße Haus führte. Es ist zugleich das erste Buch, das beschreibt, wie sie in ihrer neuen Rolle auftritt und wie sie ihr Amt ausfüllt.
Im Juni 2011 war ich dann der erste deutsche Korrespondent, dem Präsident Obama ein Interview gab – aus Anlass des Besuchs der Kanzlerin Angela Merkel und ihrer Ehrung mit der Freiheitsmedaille, dem höchsten zivilen Orden der USA.
Die Obamas wirkten auf viele Deutsche anfangs wie ihr Wunschbild von Amerika. Doch diese Sicht wurde bald erschüttert. Sie waren zwar anders als Bush und seine Republikaner, aber sie handelten deshalb noch lange nicht wie Europäer. Auch sie waren und blieben – Amerikaner. Sowohl die Faszination, die das neue Glamourpaar auf die Deutschen ausübte, als auch die Irritationen, die sie auslösten, bekam ich bei Vorträgen und Debatten in Deutschland hautnah zu spüren. Immer wieder mündeten die Fragen – anfangs zu den Erwartungen an Obama, später zum Verlauf seiner Präsidentschaft – in der Bitte, zu erklären, warum Amerikaner in so vielen Bereichen „anders ticken“ als die Deutschen. Warum stößt die allgemeine Krankenversicherung auf so viel Widerstand? Warum gelingt es ihm nicht, Guantanamo zu schließen? Warum beschimpfen ihn so viele Amerikaner als „Sozialisten“? Und warum hassen sie oft gerade das, was wir an ihm lieben?
Viele Diskussionen endeten mit der Aufforderung: Schreiben Sie ein Buch mit solchen Beispielen aus der politischen Praxis!
Ist dies also ein Buch über Barack Obama? Ja – und nein. Die Beispiele stammen aus seiner Amtszeit. Man könnte sie aber ebenso gut in anderen Präsidentschaften finden, vergangenen wie künftigen. Im Kern geht es darum, was Amerikaner und Europäer unterscheidet. Die Obama-Präsidentschaft hat diese Unterschiede im Denken über die Rolle des Staats und der Bürger, über soziale Gerechtigkeit und Eigenverantwortung, Privatwirtschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt nur in besonderer Weise sichtbar gemacht.
Deshalb richtet sich dieses Buch an alle, die Wegweiser und Leitplanken suchen, um Amerika besser zu verstehen. Und ganz besonders an alle, die so wie wir für ein paar Jahre in die USA ziehen. Es soll ihnen helfen, sich auf diesem fremden Stern zurechtzufinden. Die Stämme, die dort leben, und ihre Gesellschaftsordnung– Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat – könnten bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Kopie Europas aussehen. In vielen Dingen fühlen und denken sie jedoch ganz anders als wir.
Der Papierform nach sind Amerikaner und Europäer gar nicht so unterschiedlich – könnte man meinen. Sie haben eine sehr ähnliche Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die USA, die Bundesrepublik Deutschland und alle weiteren EU-Länder sind Demokratien, Rechtsstaaten mit nahezu identischen Grundrechten und Marktwirtschaften. (In den USA zieht man freilich die Bezeichnung Kapitalismus vor, die in amerikanischen Ohren positiv klingt, jedoch in Deutschland negativ besetzt ist.) Sie haben dieselben kulturellen Wurzeln und geistigen Väter und Mütter: das römische Christentum samt seinem Ableger aus der Reformationszeit, den protestantischen Kirchen, die Aufklärung und den Gedanken der Bürgergesellschaft aus der Französischen Revolution.
Doch als meine Frau und ich in diesem Land ankamen, waren wir plötzlich in der sprichwörtlichen „Neuen Welt“. Die Entfernungen, die Siedlungsdichte, die Bevölkerungszusammensetzung, die Infrastruktur, das Klima und die Naturgewalten – so vieles ist anders als in Deutschland und in Europa. Natürlich gibt es hier wie dort Großräume mit enormer Bevölkerungsverdichtung: Chicago, Houston, Los Angeles, New York und Berlin, London, Madrid, Paris. Aber seit wir die Weite in der dünn besiedelten Mitte der USA „er-fahren“ haben, verstehen wir besser, warum viele Amerikaner anders mit Naturraum, Bodenschätzen und Energie umgehen. Allein der US-Staat Montana ist größer als das vereinte Deutschland. Dort leben aber nur 990.000Menschen, nicht 82Millionen. Auf dem Highway kann man lange fahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen. Ungenutztes Land ist im Überfluss vorhanden.
In den „Lower 48“ – den 48 der 50Bundesstaten, die flächenmäßig eine Einheit bilden, ohne Alaska und Hawaii – liegen mehr als 5000Kilometer zwischen der Atlantikküste in Maine und der Pazifikküste in Washington State. Sowie 2800Kilometer zwischen der Nordgrenze zu Kanada in North Dakota und der Südspitze von Texas. Da sind, wie gesagt, Alaska – das allein vier Mal so groß wie Deutschland ist – und Hawaii noch gar nicht mitgerechnet. Und ebenso wenig die zu den US-Territorien zählenden Inseln in der Karibik und im Pazifik.
Alle 27Staaten der EU zusammen sind der Fläche nach nicht mal halb so groß wie die USA.Aber sie sind annähernd vier Mal so dicht besiedelt. Europäer sind Enge gewohnt und haben es verinnerlicht, dass natürliche Ressourcen begrenzt sind. Wer durch die USA reist, wird genau den umgekehrten Eindruck gewinnen: Raum und Ressourcen sind noch lange nicht erschöpft.
Touristen aus Europa staunen über die vergleichsweise niedrigen Benzinpreise in Amerika. Sie freuen sich darüber, solange sie in den USA tanken. Und werden später zu Hause kopfschüttelnd erzählen, dass die Amerikaner zu große Autos fahren und verschwenderisch mit Energie umgehen. Kein Gespür für die Umwelt! US-Bürger halten es dagegen für eine soziale Frage, dass der Staat den Benzinpreis niedrig hält und nicht durch „Ökosteuern“ künstlich erhöht, um so den Verbrauch zu drosseln. Sie haben im Schnitt längere Anfahrtswege zur Arbeit und längere Transportwege für Waren. Ein Benzinpreis von weit über vier Dollar pro Gallone (ca. 3,8Liter), wie im Sommer 2011, bedeutet für viele Familien, dass sie auf die Fahrt in den Urlaub verzichten und im Alltag an Kinokarten und anderen Vergnügungen sparen müssen, weil das Geld stattdessen fürs Tanken draufgeht.
Amerika unterscheidet sich nicht nur durch seine schiere Größe, sondern ist in Wahrheit eine andere Welt. Wir fühlten uns nach unserer Ankunft wie auf einem fremden Stern. Simple Erledigungen wachsen zu hohen Barrieren: ein Bankkonto eröffnen, ein Mobiltelefon kaufen, ein Auto anmelden. Auch in Deutschland ist das für einen Ausländer gar nicht so einfach – fragen Sie mal einen Betroffenen nach seinem Leidensweg. Uns dagegen erschien das deutsche System sehr logisch und nachvollziehbar – bis wir ins Ausland zogen. Wir kannten es schließlich nicht anders.
Für die USA mussten meine Frau und ich umlernen. Um zum Beispiel ein Bankkonto zu eröffnen, muss man Identität und Wohnsitz nachweisen, es gibt aber kein Einwohnermeldesystem. Auch dieser Umstand wird gerne zu einem Grundpfeiler der unbegrenzten Freiheiten verklärt. Für uns war es ein Stolperstein. Unsere deutschen Pässe belegten zwar die Personendaten, aber keine US-Anschrift. Wie weist man die nach? „Bringen Sie einfach eine an Sie adressierte Strom- oder Wasserrechnung mit“, sagte Angela in der Citibank-Filiale im nächsten Einkaufszentrum. Rechnungen? Die konnten wir noch gar nicht haben. Wir waren gerade erst angekommen und würden noch Wochen auf den Umzugscontainer warten müssen. Eine Wohnung hatten wir gefunden und einen Mietvertrag unterschrieben. Nun brauchten wir ein amerikanisches Konto, auf das wir Geld aus Deutschland überweisen wollten, um davon wiederum die Kaution und die erste Miete zu bezahlen. Doch unser Mietvertrag beeindruckte Angela wenig. So ein Papier kann theoretisch jeder Beliebige ausfüllen und unterschreiben. Sie brauchte eine Unterlage von einer vertrauenswürdigen Instanz in Amerika. Vermieter oder Makler zählen nicht dazu, das lernten wir bei der Gelegenheit. Energieversorger oder der US Post Service dagegen schon. Zu unserem Glück ist Angela eine Latina und hatte Verständnis für die Nöte von Neuankömmlingen. „Sie können schon Post an Ihrer künftigen Adresse empfangen?“, fragte sie. „Dann lassen Sie den Makler doch einfach einen Brief an Sie schicken. Wenn ein Poststempel auf dem Umschlag ist und er ankommt und Sie ihn mitbringen, dann reicht mir das.“ So kamen wir zu unserem Bankkonto.
Eine Kreditkarte, die übliche Bezahlungsform selbst im Zeitschriftenladen und im Supermarkt, gab es deshalb noch lange nicht. Wenn wir mittellose Stundenten aus Südamerika oder Afrika mit einem Studienplatz an einer amerikanischen Universität gewesen wären – kein Problem. Denen werden Kreditkartenanträge hinterhergeworfen. Es gibt schließlich den direkten Bezug zu einer Institution in den USA.Die Verdienstbescheinigung eines deutschen Medienkonzerns, der Kontoauszug der deutschen Citibank – damals noch ein Tochterunternehmen der US-Citibank – und die Schufa-Auskunft, die uns als zuverlässige Kreditnehmer auswies, interessierten niemanden in den USA.Die Kreditkarte bekamen wir nach drei Monaten, in denen regelmäßig Zahlungen auf unserem Konto eingegangen waren. Der Mobiltelefonanbieter verlangte, dass wir tausend Dollar als Kaution hinterlegen, bis die ersten Rechnungen zuverlässig bezahlt sind. Ein Auto kaufen und anmelden durften wir erst, als wir den US-Führerschein gemacht hatten – wofür wir aber zunächst auf die Zuteilung einer „Social Security“-Nummer warten mussten, was mehrere Wochen in Anspruch nimmt. Diese Nummer ist – neben dem Führerschein – der wichtigste Identitätsnachweis in den USA.
Die ersten sechs Wochen waren ein Abenteuer und ein wertvoller Crashkurs in Sachen kultureller Unterschiede: immer wieder überraschend, oft frustrierend, aber mindestens ebenso oft versöhnlich. Denn die meisten Menschen sind hilfsbereit, jedenfalls solange man höflich bleibt und sich nicht beschwert. Wer seinen Ärger offen zeigt, hat verloren. Dann schalten viele Amerikaner auf stur.
Nach ungefähr sechs Wochen bis drei Monaten haben die meisten Neuankömmlinge aus Europa die wichtigsten Hürden genommen. Eines Tages sind sie plötzlich nicht mehr mit dem Sich-Zurechtfinden und Sich-Einrichten beschäftigt. Sie sind angekommen und können auf einen neuen Alltag unter diesen oft wundersamen Eingeborenen umschalten.
Das Wertvollste an diesem Crashkurs: Die ersten Wochen zwingen dazu, sich mit den verschiedenartigsten Milieus in den USA auseinanderzusetzen, auch solchen, mit denen man später nur noch selten zu tun hat: Wir hatten unvermittelt Koreaner im Haus. Sie behoben im Auftrag des Vermieters den Wasserschaden an der Wand, den ein Wolkenbruch und ein schadhaftes Fallrohr in den zwei Monaten Leerstand vor unserem Einzug hinterlassen hatten. Sie sprachen kein Wort Englisch, wurden vom Vorarbeiter, der beide Sprachen beherrscht, morgens gebracht und angewiesen und später wieder abgeholt. Tags drauf kam Sam, ein rastalockiger Schwarzer, um den Internetanschluss zu legen. Er fragte den Neuankömmling aus Europa vertrauensvoll, ob das bei der Wiederwahl George W.Bushs wohl mit rechten Dingen zugegangen sei? Er kenne nur Leute, die garantiert nicht für Bush gestimmt haben. Sam war allerdings auch noch nie in einem der rund 20US-Staaten gewesen, die verlässlich republikanisch wählen.
Dann mussten wir ins Department for Motor Vehicles (DMV), wo man seinen Führerschein macht. In einer Großstadt wie Washington arbeiten dort fast ausschließlich Afroamerikaner – denn es gibt eine gesetzliche Vorgabe namens „Affirmative action“, sie bevorzugt einzustellen. Je nachdem, an wen man gerät, kann man den Eindruck gewinnen, sie pflegen bis heute einen Zorn über die lange Geschichte der Rassendiskriminierung und lassen ihn an jedem Weißen aus, ob Amerikaner oder unbeteiligter Ausländer. Mich überraschte die Sachbearbeiterin nach bestandener Prüfung mit dem Bescheid, ich bekäme den Führerschein zunächst nur für ein Jahr. Ich glaubte an ein Missverständnis und wies sie auf mein Journalistenvisum für die USA hin, das für mehrere Jahre gültig war. Das eskalierte die Angelegenheit aus ihrer Sicht offenkundig. Ich hatte ihre Autorität in Frage gestellt. Als ich mich aufs Bitten verlegte, sagte sie, das müsse ihr Vorgesetzter entscheiden. Der reagierte zuvorkommend und bewilligte den Führerschein für vier Jahre. Als 2009 die Verlängerung anstand, musste ich nicht wieder aufs Amt. Das ging nun online – und sogar gleich für acht Jahre.
In den Folgejahren haben sich die beiden Anfangseindrücke vom Besuch im DMV als Regel bestätigt. Erstens haben Unterschiede in Hautfarbe und Herkunft auch heute in der Praxis noch enorme Bedeutung. Offiziell soll das nicht so sein. Die USA nennen sich gerne einen „Melting Pot“. Und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten wurde als Beleg für den Übergang in die „post racial era“ interpretiert; eine neue Epoche, in der Hautfarbe und Rasse keine Rolle mehr spielen. Die Rede vom „Schmelztiegel“ stimmt in dem Sinn, dass wohl keine andere Nation in ihrer ethnischen Zusammensetzung so vielfältig ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass alle harmonisch zusammenleben. Sie leben weitgehend nebeneinanderher. Amerika ist vielerorts bis heute segregiert, nur eben nicht mehr wie früher durch Gesetze, die die Rassentrennung regelten. Sondern durch unsichtbare Mauern aus Herkunft, Bildung und Einkommen. Washington ist unübersehbar nach Wohnbezirken gegliedert. Im Nordwesten wohnen fast ausschließlich Weiße, im Südosten fast ausschließlich Schwarze, der Nordosten ist gemischt, dort leben auch Latinos. Wenn ein Afroamerikaner in den Wohngebieten im Nordwesten herumläuft, verfolgen ihn unzählige Augenpaare hinter den Ziergardinen. Ebenso wird jeder Weiße angestarrt, der in Anacostia im Südosten auftaucht.
Man mag einwenden: Ist das so viel anders als in Berlin? In Grunewald leben schließlich auch kaum Türken. Und in Neukölln gibt es keine Millionärsvillen. Sagen wir so: In den USA fallen die Unterschiede krasser ins Auge.
Zweitens ist es generell keine gute Idee, mit amerikanischen Amtsträgern zu diskutieren oder gar ihre Entscheidungen zu hinterfragen. Schon gar nicht im Umgang mit Polizisten oder Personenschützern. Wenn im Rückspiegel ein rot-blaues Blinklicht auftaucht, fährt man rechts ran. In der Regel hat man nichts verbrochen, da will nur ein Streifen- oder Krankenwagen auf Einsatzfahrt vorbei.
Stoppt dagegen die Polizei hinter einem, ist man selbst gemeint – und gut beraten, jetzt bloß nichts falsch zu machen. Bei Fahrzeugkontrollen zeigt sich, wie anders die Sitten in den USA sind. Also ruhig sitzen bleiben, mit beiden Händen auf dem Lenkrad. Allenfalls darf man schon mal das Fenster am Fahrersitz leicht öffnen, um die Kommunikation zu erleichtern. Auf keinen Fall unaufgefordert aussteigen, das kann als Vorbereitung zum tätlichen Angriff missverstanden werden. Und auf gar keinen Fall Richtung Handschuhfach greifen, weil dort die Autopapiere liegen; hinter der Klappe könnte auch eine Waffe verborgen sein. Es ist wirklich so, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt.
Wenn US-Polizisten merken, dass sie einen Deutschen angehalten haben, reagieren sie gerne mit dem Spruch: „You know, this is not the Autobahn.“ Wer dann freundlich lacht, hat gute Chancen, mit einer Ermahnung davonzukommen. Wenn der Uniformierte konkrete Regelverstöße vorwirft, besser nichts abstreiten, sondern zerknirscht um Vergebung bitten. Im besten Fall entwickelt sich ein kurzes Gespräch. Womöglich war der Polizist früher mal als Soldat in Deutschland stationiert. Damit verbinden alle schöne Erinnerungen.
Deutschland ist überhaupt gut angesehen (solange man nicht über seine militärischen Beiträge zu NATO-Einsätzen diskutiert). Deutsche Mieter gelten als zuverlässig und halten die Wohnung in Ordnung. Deutsches Bier wird allgemein gelobt. Deutsche Autos sind Prestigeobjekte.
Nur beim Ankommen helfen diese Sympathien ziemlich wenig. Bei der Erledigung von Formalitäten ist die wichtigste Lehre: Die USA sind ein eigener Kontinent. Sie sind sich selbst groß genug. Wie man Dinge anderswo regelt, weiß kaum jemand – und wenn doch, dann ist das nicht relevant. Andere Länder zählen nicht, egal ob es sich um Deutschland handelt, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, oder um Obervolta.
Die USA sind immer noch die größte und modernste Volkswirtschaft der Erde und auch der größte Markt. In vielen Bereichen wirken sie aber alles andere als spitze. Führend sind sie in der Militärindustrie und der Spitzenmedizin. Die Qualität der Infrastruktur bleibt hinter der in Europa zurück. Die meisten Leitungen für Telekommunikation und Stromversorgung verlaufen noch oberirdisch. Nur im Stadtzentrum liegen sie unter der Erde. In vielen Wohnvierteln gibt es Überlandleitungen, und die werden alle paar Monate durch Stürme und Unwetter herabgerissen. Der erste Stromausfall lehrte uns, immer Kerzen und ein Feuerzeug, eine Taschenlampe und ein einfaches, altmodisches Telefon griffbereit zu haben. Moderne, schnurlose Apparate funktionieren nur mit Strom aus der Steckdose. Die alten Telefone holen sich die Energie über die Telefonleitung, funktionieren also auch bei Stromausfall. Viele Straßen sind voller Schlaglöcher. Brücken brechen wegen Korrosion tragender Teile zusammen. Häuser sind bei Weitem nicht so solide gebaut wie in Deutschland. Bei Wärmedämmung und Fenstertechnik sind die USA Jahre hinterher. Wie generell bei erneuerbaren Energien.
Amerika ist eine Servicegesellschaft und der Kunde ist König? Ja, Shoppen macht Spaß und ist oft billiger als in Deutschland, solange es um Kleidung und gängige Produkte der Unterhaltungselektronik geht. Man darf auch anstandslos Waren zurückbringen und sich den Kaufpreis auszahlen lassen. Niemand wundert sich, niemand fragt nach einem Grund. Schwieriger ist es, ein Geschäft mit guter fachlicher Beratung zu finden. Oder einen verlässlichen Kundendienst. Unter den Telefonnummern, die auf der Garantiekarte oder im Internet genannt sind, erreicht man in der Regel keine reale Person, sondern man wird an automatisierte Telefonmenüs verwiesen, die Ratschläge für die gängigsten Pannenursachen haben. Wenn ein Problem nicht in dieses Schema fällt – Pech gehabt. Oder man landet bei einem externen Mitarbeiter der Serviceabteilung in Indien oder auf den Philippinen. Die Löhne sind dort so viel billiger.
Früher dachte ich, der amerikanische Staat sei insgesamt stark, nicht nur im militärischen Bereich. Das glaubte ich erst recht, als nach 9/11 die Terrorabwehr ausgebaut und ein Mammutministerium für Heimatschutz geschaffen wurde. In Wahrheit ist der zivile Verwaltungsteil der US-Bundesregierung schwachbrüstig und völlig unterfinanziert. Entsprechend unzuverlässig ist die fristgerechte Erledigung von Anträgen der Bürger und sind die staatlichen Dienstleistungen. Das lernte ich bei der periodisch anstehenden Vereinbarung über meinen Verbleib im deutschen Sozialsystem während meines begrenzten USA-Aufenthalts. Dem Antrag müssen die Behörden beider Staaten zustimmen. Er blieb in der amerikanischen Social-Security-Behörde viele Monate liegen, weil die Abteilung für die Übersetzung fremdsprachiger Anträge nicht nachkam. (Jedes Land amtiert in seiner eigenen Amtssprache. In deutschen Behörden, die mit dem Ausland zu tun haben, darf man davon ausgehen, dass Sachbearbeiter genug Englisch beherrschen, um den Inhalt des Schriftwechsels auch ohne Übersetzungshilfe zu verstehen. Aber wer versteht schon Deutsch in amerikanischen Ämtern?)
Den begehrten White House Hard Pass, der den ständigen Zugang zum Weißen Haus ermöglicht, bekam ich nicht nach den versprochenen drei bis sechs Monaten. Es dauerte 16Monate. Freilich muss man Zweierlei hinzufügen: Die Bearbeitung meines Antrags fiel, erstens, in die Übergangszeit von der Bush- zur Obama-Regierung. Da mussten der Geheimdienst und die anderen Filterungssysteme viele neue Mitarbeiter „durchleuchten“. Ein ausländischer Journalist steht nicht ganz oben auf der Prioritätenliste. Zugleich war nicht zu übersehen, dass die Mittel begrenzt sind, selbst in manchen Abteilungen des Secret Service des Präsidenten: Meine Fingerabdrücke wurden dort noch ganz altmodisch mit Tinte vom Stempelkissen genommen, nicht digital. Zweitens wird ein solcher „Hard Pass“ sehr zurückhaltend vergeben. Ende 2011 war ich der einzige deutsche Zeitungskorrespondent in Washington, der einen besitzt.
Politiker reden gerne vom Westen. Und von der Wertegemeinschaft, die sie mit dem Begriff verbinden. Je länger ich in den USA lebe und die Unterschiede zwischen meiner deutschen Heimat und meinem aktuellen Gastland beobachte, desto öfter frage ich mich: Gibt es diesen Westen überhaupt noch? Verbindet Deutsche und Amerikaner auch heute noch genug, damit sie auf überzeugende Weise das Wort „wir“ benutzen können? Oder denken sie über ihr Verhältnis nicht längst in der Kategorie von Gegensätzen: „wir“ und „die“? Bezüglich ihrer Werteordnungen haben sie vieles gemeinsam – mehr jedenfalls als zum Beispiel mit Russen oder Chinesen. In welchem Verhältnis stehen das Gemeinsame und das Trennende? Das ist nicht nur eine Frage belegbarer Tatsachen. Es ist in noch höherem Maße eine Frage der Wahrnehmung und der öffentlichen Darstellung – auch in den Medien.
Die fundamentalen Unterschiede zwischen Amerika und Europa sind nicht zu übersehen. Und sie werden in der öffentlichen Debatte gerne noch betont und überhöht. Denn diese Abgrenzung hilft bei der Definition und Bestätigung der eigenen Identität: Wenn die anderen spinnen, dann fühlt man sich selbst doch gleich viel besser.
Wann und wie das geschieht, hängt in hohem Maß von der politischen Konjunktur ab. Als George W.Bush regierte, war das Bedürfnis der Kontinentaleuropäer, sich gegen die USA abzugrenzen, besonders hoch. Unter Obama wurde es erkennbar geringer. „Amerikaner kommen vom Mars, Europäer von der Venus“ – das war 2003 eine besonders populäre Redewendung, als Präsident Bush und Kanzler Schröder über den Irakkrieg stritten. Ein Jahr zuvor hatte Robert Kagan auf diese schon früher gebrauchte idealtypische Gegenüberstellung zurückgegriffen und sie in seinem Essay über „Macht und Ohnmacht“ wiederbelebt: Amerikaner gleichen dem Kriegsgott Mars und sind Menschen der Tat; Europäer orientieren sich an der Liebesgöttin Venus und scheuen die Austragung von Konflikten.
Als Obama die Wahl gewann, wechselte die europäische Sicht auf Amerika. Er war noch nicht einmal ein Jahr im Amt, da verliehen die Juroren des Nobelpreiskomitees, allesamt Norweger, dem neuen US-Präsidenten den Friedensnobelpreis. Hatten sie eine Brille getragen, durch die man nur Teile der Wirklichkeit erkennen kann? Es stimmt zwar, Obama hatte einen diplomatischeren Umgang mit der Welt versprochen. Aber die Militärmacht nutzt er ganz ähnlich wie Bush. Er hatte die US-Truppen in Afghanistan gerade um 30.000Mann verstärkt, als er zur Preisverleihung nach Oslo aufbrach. Er folgte damit der Strategie, mit der Bush im Irak am Ende erfolgreich war. Und die völkerrechtlich fragwürdigen Angriffe mit unbemannten Drohnen auf Rückzugsgebiete der Taliban im pakistanischen Grenzgebiet hat Obama noch deutlich erhöht.
Ein weiteres Beispiel für die emotionale Abgrenzung der Europäer gegen die USA ist der Umgang mit der Todesstrafe. Natürlich lehne auch ich sie ab und habe die haarsträubenden Beispiele von Fehlurteilen und grausamen Hinrichtungspannen vor Augen. Doch woher kommt es, dass wenige Dutzend Exekutionen pro Jahr unter Bush Entrüstungsstürme in Deutschland hervorriefen, aber 5000 bis 6000 vollzogene Todesurteile pro Jahr in China kaum jemanden erregen? Warum erschienen in den Bush-Jahren so häufig große Berichte über Hinrichtungen verurteilter Mörder in deutschen Medien und sank das Interesse daran, als Obama gewählt war? An den Zahlen kann es nicht liegen. In Bushs letztem Amtsjahr 2008 wurden in den USA 37Menschen hingerichtet, in Obamas erstem Amtsjahr waren es 52.Mit der Person des Präsidenten haben Exekutionen im Übrigen gar nichts zu tun, er hat keinen Einfluss auf die Praxis. Hinrichtungen liegen in der Verantwortung der Bundesstaaten. Wann europäische Medien mehr und wann sie weniger über die Todesstrafe in den USA berichten, hängt offenbar davon ab, wer gerade in Washington regiert. Anders gesagt: Es hat wenig mit Amerika zu tun und sehr viel mit den emotionalen Bedürfnissen der Medienmacher und ihrer Kunden in Europa.
Kurzum: Die Bilder, die sich Europäer von den USA machen und Amerikaner von Europa, richten sich nicht allein nach den realen Ereignissen. Was hervorgehoben wird und was untergeht, hängt auch von der Wahrnehmung der politischen Führungen auf beiden Seiten des Atlantiks ab. Wenn ein „Böser“ wie George W.Bush regiert, wird in Deutschland eher das Trennende hervorgehoben. Und wenn ein „Guter“ wie Obama an die Macht kommt, steigt der Bedarf an Gemeinsamkeiten. Jedenfalls für die erste Zeit. Obamas Versprechen, eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen und was daraus am Ende wurde, ist eine eindrückliche Lehre. Der Eindruck, er wünsche sich für Amerika, was wir in Deutschland und generell in Europa bereits haben, erhöhte die Empathie. Entsprechend groß war dann die Enttäuschung, als sich die Sache anders entwickelte als erwartet. Das Gefühl innerer Nähe schlug bei vielen in neue Entfremdung um.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich Deutsche und Amerikaner auseinanderentwickelt. Die Zeiten, in denen die Westdeutschen den Amerikanern dafür dankbar waren, dass die sie von der braunen Diktatur befreit hatten, sie vor den Sowjets schützten und die GI's mit Jazz, Rock'n'Roll und Blues eine neue, „coole“ Kultur mitbrachten, liegen lange zurück. Die Deutschen wurden freier, selbstbewusster, sozialstaatlicher und USA-kritischer. Bei den Wessis wurde das spätestens mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg und später gegen die Depots für Pershing-Raketenund Cruise Missiles offensichtlich, bei den Ossis nach dem Mauerfall. Nach dem Triumph über den Kommunismus wenden sich die USA zudem vermehrt anderen Kontinenten zu, vor allem Asien und Südamerika.
Alles in allem folgen Amerikaner und Deutsche auch heute noch denselben Werten, aber manchmal stehen diese Werte in einem Spannungsverhältnis, zum Beispiel individuelle Freiheit versus gesellschaftliche Solidarität. Das kann man sehr gut am Beispiel des Denkens über die Krankenversicherung sehen. In der Abwägung zwischen beiden entscheiden sich Amerikaner für den Vorrang der Freiheit, Deutsche für den Vorrang der Solidarität. Zumindest gilt das für die Mehrheit im jeweiligen Land, denn der Streit um Obamas Gesundheitsreform zeigte, dass nicht alle Amerikaner abgeneigt waren.
Auf meinen Vortrags- und Lesereisen in Deutschland war dies die häufigste Frage aus dem Publikum: Warum lehnen so viele Amerikaner eine Pflichtversicherung für alle ab? Die Leute, die mich danach fragten, suchten wirklich nach einer nachvollziehbaren Erklärung. Ihnen ging es nicht darum, die Amerikaner als Karikatur blinder Ideologen vorgeführt zu bekommen, sondern sie wollten deren Haltung verstehen. Nach ihrem Eindruck erfüllten viele deutsche Massenmedien diesen Wunsch nicht. Fernsehen und Boulevardblätter hoben hervor, dass 47Millionen Einwohner der USA keine Krankenversicherung haben, und sie taten so, als sei das ein Skandal und Ähnliches in Deutschland undenkbar. Dabei gibt es auch in der Bundesrepublik Menschen ohne Krankenversicherung, allerdings viel weniger. 211.000 zählte das Statistische Bundesamt 2008, Tendenz steigend. Das entspricht einem Viertel Prozent der Einwohner Deutschlands; der Anteil ist verschwindend gering im Vergleich zu den damals 15Prozent in den USA.Obamas Gesundheitsreform soll die Zahl der Unversicherten um etwa zwei Drittel reduzieren.
Deutsche finden die Versicherungspflicht heutzutage selbstverständlich. Wenn ein Mensch keine Versicherung hat, kann eine Krankheit ihn und die ganze Familie ruinieren, wegen der Behandlungskosten und weil der Verdienst ausfällt. Dieses Risiko sollte man nicht dem Individuum aufbürden, sondern es auf eine Versicherungsgemeinschaft umverteilen.
Das verstehen auch Amerikaner. Sie stoßen sich nicht an der Idee solidarischer Risikoverteilung, sondern am staatlichen Zwang. Für sie ist das in erster Linie eine Freiheitsfrage. Freiwillige Versicherung – ja, gerne. Gesetzliche Pflicht – nein, danke.
Vor einer Generation hätten die meisten Deutschen diesen Gedanken noch auf Anhieb verstanden. Es ist schließlich genau die gleiche Argumentation, die in Deutschland zur Gründung privater Krankenversicherungen führte und die Amerikaner argwöhnisch gegen eine von oben verordnete Pflichtversicherung macht: Der Staat soll Bürgern nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben. Er muss einen sehr, sehr wichtigen Grund anführen, wenn er die Entscheidungsfreiheit begrenzt.
Als unter Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 erstmals eine Krankenversicherungspflicht eingeführt wurde, galt sie zunächst nur für Fabrikarbeiter. Später blieb es bei dem Grundgedanken, dass nur Niedrigverdiener sich versichern müssen – denn wer nicht viel hat, kann das Krankheitsrisiko nicht allein tragen. Wem der Staat es aber zutraute, die Folgen einer Krankheit selbst zu tragen, dem ließ er die Freiheit, sich gar nicht zu versichern oder zu einer privaten Kasse zu gehen. Amerika hält an diesem Freiheitsgedanken fest. In Deutschland dagegen hat sich die Debatte grundlegend gewandelt: Aus einer Freiheitsfrage ist eine Frage der Solidarität geworden. Die Mehrheit behauptet heute: Wer sich privat versichere, handele unsolidarisch, denn er entziehe sich der sozial gerechten Umlageversicherung, in die alle denselben Prozentsatz ihres versicherungspflichtigen Einkommens einzahlen.
Nebenbei bemerkt: In einer anderen Pflichtfrage, dem Wehrdienst, hat Deutschland dagegen kürzlich der Freiheit den Vorrang gegeben. Der Wehrdienst war über Jahrzehnte ein schwerwiegender Eingriff in das Leben junger Männer. Es musste eine glaubhafte Bedrohung von außen vorliegen, um das zu rechtfertigen. Nach Ende des Kalten Krieges wurden nicht nur die politischen, sondern auch die juristischen Zweifel immer größer.
Der Streit um die Krankenversicherung ist für Amerikaner also eine Frage der Freiheit und nicht eine Frage der Sicherheit. Einige meiner Zuhörer bei Vortragsreisen fanden das sogar sympathisch. Tauschen wollten sie deshalb noch lange nicht. Aber wer möchte das schon, wenn er die Praxis des deutschen Krankenversicherungssystems mit dem amerikanischen vergleicht?
Oft habe ich fassungslos den Kopf geschüttelt, wenn mir Amerikaner Beispiele aus ihrem Alltag erzählten: Madolyn lebt in Texas. Sie war 48Jahre alt, als die Ärzte die Knoten in ihrer Brust fanden. Bestrahlung und Chemotherapie kosten Kraft. Sie wäre gerne zu ihrer Schwester nach Kalifornien gezogen, die hätte sie betreut. Aber das ging nicht – mit dem Umzug hätte sie ihren Versicherungsschutz verloren.
Anders als in Deutschland ist die Versicherung nicht an die Person gebunden, sondern an den Arbeitgeber. Ob es eine gibt und wie umfangreich sie ist, hängt vom Anstellungsvertrag ab. In großen Firmen mit hohem Anteil gewerkschaftlich organisierter Beschäftigter gehört meist eine gute Versicherung dazu. In den USA nennt man diese überdurchschnittlichen Absicherungen nach der Luxus-Automarke „Cadillac“-Pläne. Das Management schließt einen Gruppenvertrag für alle Angestellten und ihre Familien ab. Oft gilt der Tarif nur für Vertragsärzte der Versicherung in diesem Bundesstaat. Kleine Firmen bieten in der Regel keine Versicherung an. Sie sagen, sie können sich die Prämien nicht leisten. Wer dort arbeitet, muss hoffen, dass der Ehepartner einen Job mit Krankenversicherung für die ganze Familie findet. Oder er muss sich privat versichern, was vielen Betroffenen zu teuer ist. Sie hoffen, dass sie nicht krank werden.
Wer den Arbeitsplatz wechselt, verliert erst mal seine Versicherung. Im Zweifel gibt es beim nächsten Arbeitgeber eine neue. Aber der Wechsel hat einen Haken. Die meisten Versicherungsverträge enthielten bisher eine Klausel zur „preexisting condition“: Krankheiten, die beim Wechsel in eine neue Versicherung bereits bekannt sind, werden nicht mit versichert.
Für Madolyn hieß das: Nach der Krebsdiagnose konnte sie es sich nicht mehr leisten, zu einem neuen Arbeitgeber zu wechseln oder in einen anderen Bundesstaat zu ziehen. Ihre aktuelle Versicherung in Texas deckte die Kosten der Therapie. Ein Jobwechsel oder Umzug hätte einen Versicherungswechsel erzwungen und der neue Versicherer hätte ihre Krankheit als „preexisting condition“ betrachtet und von der Leistungspflicht ausgeschlossen.
Das ist eines der vielen Details, die sich mit Obamas Gesundheitsreform ändern. „Preexisting condition“ wird als Ausschlussgrund verboten.
Das US-Gesundheitssystem ist pro Kopf ungefähr doppelt so teuer, und doch sind die meisten Menschen schlechter abgesichert als in Deutschland. Laut OECD gaben Amerikaner im Jahr 2008 pro Kopf 7538Dollar im Gesundheitswesen aus, Deutsche 3737Dollar. Besser als in Europa ist in den USA die Spitzenmedizin. Aber die steht nur Menschen offen, die nicht aufs Geld achten müssen. Für eine amerikanische Durchschnittsfamilie dagegen kann es bis heute den Ruin bedeuten, wenn ein Mitglied schwer erkrankt. Nach neueren Studien stürzen die Kosten rund 800.000