Wir verstehen die Welt nicht mehr - Christoph von Marschall - E-Book

Wir verstehen die Welt nicht mehr E-Book

Christoph von Marschall

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Beschreibung

Als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde verfügt Deutschland über enormen internationalen Einfluss.Doch wie verlässlich und fair ist die Außen- und Europapolitik des angeblichen Musterknaben wirklich? Was halten unsere Nachbarn und wichtigsten globalen Partner von uns? Christoph von Marschall untersucht, wie international handlungswillig die deutsche Politik tatsächlich ist, und kommt zu keinem erfreulichen Ergebnis. Er schreibt Regierung und Gesellschaft ins Stammbuch, wie sie von einem unsicheren Kantonisten zum Mitgaranten einer liberalen Weltordnung werden können – indem Deutschland sich von vielen kleinen Lügen über seine Sonderrolle trennt und nicht weiter vorgaukelt, dass es mit der Vertretung eigener Interessen stets das Gute in der Welt befördert. Heinrich August Winkler, Historiker: "Christoph von Marschall legt den Finger in deutsche Wunden: das jahrelange Ausweichen der offiziellen Politik vor außen- und sicherheitspolitischen Grundsatzdebatten, die Selbstisolierung Berlins in der Migrationskrise, die fatale Neigung zur moralischen Selbstüberhebung über die anderen Europäer. Marschalls Buch, ein einziger Aufruf zu nüchterner Verantwortungsethik, erscheint zur rechten Zeit." Sigmar Gabriel, Ex-Außenminister (SPD): "Wir sind kurz davor, an unserem moralischen Rigorismus zu ersticken. Da hat von Marschall Recht. Alle (Verbündete) eint, dass sie den Deutschen den nicht unberechtigten Vorwurf machen, dass sie sich überall heraushalten wollen, wo sie Verantwortung übernehmen müssten; sei es wirtschaftlich, sei es in der Migrationsfrage, sei es militärisch. Wir haben einen neuen deutschen Sonderweg, obwohl wir eigentlich keine Sonderwege mehr gehen wollten. Es gibt eine neue deutsche Frage unter umgekehrten Vorzeichen. Eine Frage an uns Deutsche: Wie wollt ihr eurer Verantwortung in der Welt gerecht werden? Da hat von Marschall Recht, auch wenn ich nicht alle seine Schlussfolgerungen teile. … Er legt den Finger in die Wunde: Eine strategische Debatte über den Westen, das transatlantische Verhältnis und Deutschlands Rolle in der Welt hat in der deutschen Öffentlichkeit nicht stattgefunden. Dafür ist die Politik mit verantwortlich." Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz: "Marschalls Buch ist ein Beitrag zu einer überfälligen Debatte. Wir müssen bereit sein, mehr Verantwortung zu übernehmen. … In unserer bisherigen politischen Kultur haben wir eine zu große Neigung, außenpolitische Themen aus dem Bauch mit Emotionen und Moral zu betrachten. Außenpolitik muss vernunftgesteuert sein."

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Christoph von Marschall

Wir verstehen die Welt nicht mehr

Deutschlands Entfremdung von seinen Freunden

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

 

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

 

ISBN (E-Book): 978-3-451-81199-9

ISBN (Buch): 978-3-451-38074-7

Für Zofia

Inhalt

1. Wer weist den Weg?

Die Gärtner von Schloss Bellevue

Wie das Buch entstand

Vom Unwillen, über Sicherheitspolitik zu reden

Wer überzeugt die zögernde Gesellschaft?

Deutschland als Landschaftspfleger

2. Wie überwinden die Deutschen ihre Lebenslügen?

Abschied von alten Gewissheiten

Die liebste Illusion: Alle werden wie wir

Die liberale Ordnung kann ohne die USA überleben

Deutschland als unsicherer Kantonist

Was Europa kann: Regeln für Handel und fürs Digitale

3. Wie europäisch sind wir?

Die Sonntagsredner: Wege weisen, ohne sie zu gehen

Die Eurokrise: Neigung zum Rechtsbruch

Die Migrationskrise: Deutsche Alleingänge

Gasgeschäfte: Wie man Eigennutz als europäisch verkauft

Brexit: Das falsche Narrativ

Krieg und Frieden: Die Sehnsucht nach Neutralität

4. Wie transatlantisch sind wir?

Die moralischen Oberlehrer

Ein Deutscher im Weißen Haus

Misserfolg entzaubert nicht

Trumps Wirbelstürme

5. Wie global handlungswillig sind wir?

Die Drückeberger

Vor und zurück im globalen Engagement

China: Euphorie und Misstrauen

Russland: Verklärung und angstvolle Überschätzung

6. Was erwarten unsere Freunde von uns?

Vom Nachteil der Ungleichzeitigkeit

Frankreich: Im Gefühl der Dringlichkeit

Polen: Die Bremser vom Dienst

Europa: Ungeduld mit den Mustereuropäern

USA: Ungeduld mit dem Trittbrettfahrer

7. Vom Predigen zum Handeln

Was Deutschland besser machen kann

Wandel in den Köpfen

Europapolitik

Umgang mit den USA

Sicherheitspolitik und globale Handlungsfähigkeit

Zurück im Garten von Bellevue

Über den Autor

1. Wer weist den Weg?

Die Gärtner von Schloss Bellevue

Berlin, Schloss Bellevue, im März 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat zur Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes an den Historiker Heinrich August Winkler geladen. Zur Vorspeise gibt es Pastinakencreme im Maultaschenteig, als Hauptgang Gewickelten Huchen (ein Fisch, der auch als Donausalm bekannt ist) mit Sellerie und Schnittlauchkrapfen, zum Nachtisch Schokolade, geeisten Milchkaffee und Mandelkrokant. Kredenzt werden Weine aus Rheinhessen und Baden. Das Menü spiegelt die Biografie des 79-jährigen Geschichts­professors, der mit seinen Büchern über Deutschlands langen Weg nach Westen und die Geschichte des Westens zum Nationalhistoriker der Bundesrepublik geworden ist: 1938 in Königsberg geboren, der Heimat des Philosophen Immanuel Kant, Flucht nach Süddeutschland, Studium der Geschichte in Münster, Heidelberg und Tübingen, Professor in Freiburg und Berlin.

Prominente Gäste geben ihm die Ehre, darunter Ex-Bundespräsident Joachim Gauck und Daniela Schadt, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), Bundestagsvizepräsident Thomas Opper­mann (SPD), der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Bundestags, Norbert Röttgen (CDU), und Carsten Schneider, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Die offiziellen Reden ebenso wie die Tischgespräche drehen sich um die Unruhe, die die Wahl Donald Trumps in die Weltpolitik gebracht hat. Wie soll Deutschland auf ihn reagieren? In den deutschen Medien dominieren Unmut und Spott über Trump. Einige Kommentatoren fordern einen Bruch mit diesen USA oder zumindest ­größere ­Distanz.

Der Bundespräsident empfiehlt in seiner Rede, »unsere gewachsenen transatlantischen Kontakte und Gespräche zu vertiefen, statt sie über Bord zu werfen«. Er kritisiert »diejenigen, die mit einer gewissen kulturellen Hochnäsigkeit dem Bruch mit den USA das Wort reden«. Europa habe es »mit ganz ähnlichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu tun« wie die USA: die Verrohung der politischen Sprache, insbesondere im Netz; die zunehmende Polarisierung und eine schwindende Bindekraft der politischen Mitte; das Auseinanderdriften von Lebenswelten, insbesondere zwischen Großstädten und ländlichen Räumen. In Amerika habe »diese Entwicklung schon tiefe und weithin sichtbare Gräben gerissen«. Aber »auch bei uns kann man sie schon bemerken. Noch sind es erste Risse, doch sie sind keineswegs harmlos.«

Winkler, der die Wertegemeinschaft des Westens als »normatives Projekt« beschreibt, ruft ebenfalls dazu auf, die Zusammengehörigkeit mit den USA nicht infrage zu stellen. Deutschlands Einbindung in den Westen ist für ihn ein kategorischer Imperativ im Kant’schen Sinne. Er sorgt sich um den Fortbestand dieser historischen Errungenschaft. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Zerbricht der Westen? In seiner Dankesrede sagt er, die transatlantische Partnerschaft sei »selten so angespannt wie heute, aber auch selten so wichtig wie heute« gewesen. Deutschland habe sich der politischen Kultur des Westens viel zu spät geöffnet. Sie sei »keine gesicherte Errungenschaft« und müsse immer neu verteidigt werden.

In den Monaten zuvor hatte der Bundespräsident ein Stockwerk tiefer die Parteivorsitzenden empfangen. Es sollte sondiert werden, welche der rechnerisch möglichen Koalitionen sich nach der Bundestagswahl 2017 zum Regieren zusammenfinden könnte. Und wie die künftige Regierung ihre Aufgabe versteht: eher konservativ im Bewahren des Erreichten? Oder veränderungsbereit und der Zukunft zugewandt, um Deutschlands Interessen vorausschauend in einer Welt mit vielen Umbrüchen zu verteidigen?

Wenn man den Raum der Sondierungsgespräche von der Eingangshalle betritt, so beschreiben es Ortskundige, fällt der Blick auf eine Büste und ein Gemälde. Die Büste zeigt den Sozialdemokraten und ersten Präsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert. Das Gemälde stammt von Canaletto: ein Stadtpanorama von Dresden in seiner Blütezeit, lange bevor »Elb-Florenz« im »Feuersturm« der Bomben am Ende des Zweiten Weltkriegs unterging.

Man darf Büste und Gemälde als symbolische Orientierungspunkte für das Amtsverständnis Frank-Walter Steinmeiers nehmen: die erste deutsche Demokratie und ihr Scheitern; der verbrecherische Krieg, der Untergang, die Teilung des Landes und die Lehren daraus; die glückliche Entwicklung nach 1945, die zunächst unverdient war und wie ein Geschenk der vorigen Kriegsgegner über die Deutschen kam; der Aufbau einer stabilen Demokratie und eines verlässlichen Rechtsstaats im westlichen Teil, der Bundesrepublik, sowie ihr Aufstieg zu Europas führender Wirtschaftsnation; in der Summe war dies der Einbettung in die Europäischen Gemeinschaften und die NATO zu verdanken; dieser Weg führte schließlich zur Einheit und eröffnete den Deutschen aus der DDR dieselben Chancen, die ihnen über Jahrzehnte verwehrt geblieben waren.

Und nun, 2018? Der erste Koalitionsversuch nach der Bundestagswahl, »Jamaika«, ist unter anderem daran gescheitert, dass das Regierungsprogramm zu sehr auf Absichern des Status quo und zu wenig auf Zukunft und Veränderungsbereitschaft ausgerichtet war. So begründet es jedenfalls die FDP.

Besonders scharf stellt sich die Richtungsfrage in der Außen- und Sicherheitspolitik: Kann Deutschland ein Sonderfall bleiben, für dessen Rolle in Europa und in der Welt andere Regeln gelten als für andere große EU-Staaten?

Diese Sonderstellung bestätigen sich zwar die Deutschen in ihren internen Debatten über die Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin. Sie wird aber von den Verbündeten immer weniger akzeptiert. Ob Frankreich oder Polen, ob die EU als Ganzes oder die USA: Sie alle erwarten, dass Deutschland sich normalisiert. Dass es in gemeinsamen Unternehmungen dieselben Rechte und Pflichten übernimmt, die andere für sich akzeptieren – jedenfalls als prinzipielle Haltung. Es müssen nicht jedes Mal alle alles mitmachen. Und je nach Einzelfall dürfen sich die Beiträge, die jedes Land leistet, unterscheiden.

Viele in Deutschland tun sich schwer mit einem klaren Bekenntnis. Wie aber soll das gemeinsame Europa funktionieren, wenn die Bundesrepublik diese Grundhaltung nicht für sich akzeptiert?

Wie das Buch entstand

In den Tischgesprächen nach der Ordensverleihung sprechen wir über Deutschlands Rolle in der Welt. Ich erzähle von meinem Forschungsprojekt zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen, aus dem dieses Buch entstanden ist. Im Zentrum stehen die internatio­nalen Umbrüche der jüngsten Jahre: die vielfältigen Krisen der EU, der Brexit, die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, die Wahlerfolge populistischer Parteien vielerorts, der Aufstieg Chinas und das aggressive Vorgehen Russlands. Gegen die auf Regeln und Ausgleich bedachte liberale Weltordnung wird immer öfter verstoßen. Und die USA, die diese Regeln in früheren Jahrzehnten zwar nicht immer, aber noch am ehesten durchzusetzen versuchten, fühlen sich unter Trump offenbar weniger dazu berufen; er polemisiert gegen diese Ordnung.

Mein Projekt zielt auf die Frage, welche Herausforderungen sich daraus für die deutsche Außen- und Europapolitik ergeben und was sich an ihr ändern muss. Die Bundesrepublik ist das Produkt dieser Ordnung, auf die nun immer weniger Verlass ist. Die Deutschen haben von ihr ganz besonders profitiert. Was können, was müssen sie tun, um diese Ordnung zu erhalten – oder, falls das nicht gelingt, um sich an die veränderten Bedingungen anzupassen? Diese Fragen stelle ich freilich nicht in dem Sinne, in dem sie gewöhnlich in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert werden: Wie sollte die Welt nach unseren Vorstellungen aussehen? Wie sollten sich andere verhalten? Und was gefällt uns am Vorgehen anderer Mächte nicht? Ich frage umgekehrt: Welche Erwartungen haben unsere engsten Partner an uns, voran die direkten Nachbarn, Frankreich im Westen und Polen im Osten? Welche Erwartungen hat die EU als Ganzes an Deutschland? Welche haben die USA, unser wichtigster Verbündeter in der Verteidigungspolitik und Terrorabwehr? Und: Welche dieser Erwartungen sind berechtigt, weshalb wir auf sie eingehen sollten? Was also sollten wir an der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik verbessern?

Die Tischpartner stimmen zu: Deutschland sollte besser zuhören, die Einwände der Partner ernster nehmen und nicht zu sehr auf einer Sonderrolle beharren.

Was ist falsch an der deutschen Außenpolitik?

Als Außenminister hat Steinmeier im Review 2014 eine Debatte über die deutsche Außenpolitik angestoßen und in einer Rede provokativ die Frage gestellt: »Was ist falsch an der deutschen Außenpolitik?« Schon damals zeigten Umfragen für den Review, wie weit die Erwartungen ausländischer Autoritäten an Deutschland und die Bereitschaft der deutschen Bürger, mehr zu tun, auseinanderliegen. Die Minister und Fachleute aus anderen Ländern wünschten unter anderem, Deutschland solle Europa führen, die EU revitalisieren, die Spannungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden überbrücken, Russland europäisieren und die USA multilateralisieren. Ziemlich ehrgeizige Erwartungen. Man könnte sie auch unrealistisch nennen. Im Kontrast dazu stand eine Umfrage unter Deutschen, ebenfalls für den Review 2014, ob ihr Land sich international mehr engagieren solle. Ja sagten nur 32 Prozent, Nein sagten 60 Prozent. Es sei Aufgabe der Politikerinnen und Politiker, diesen Graben zwischen ausländischen Erwartungen und deutscher Handlungsbereitschaft zu überbrücken, betonte Steinmeier damals. Denn »Deutschland ist ein bisschen zu groß und wirtschaftlich zu stark, als dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie kommentieren könnten«.

Die ZEIT-Stiftung und der German Marshall Fund of the United States (GMFUS) haben mein zehnmonatiges Forschungsprojekt ermöglicht. Dafür danke ich ihnen. Sie haben mich als ersten »Helmut Schmidt Fellow« ausgewählt. Das nach dem früheren Bundeskanzler benannte Stipendium wird für Projekte vergeben, die den transatlantischen Beziehungen und der europäischen Integration dienen.

Für mein Vorhaben habe ich einige Zeit in Paris und in Warschau verbracht und mir von den Beratern und Vordenkern der Staatspräsidenten und Minister die jeweiligen Erwartungen an Deutschland erläutern lassen. Ebenso war ich in Brüssel und habe die gleichen Gespräche mit Vertretern der Europäischen Union und der NATO geführt. Das Europäische Parlament hat mich als Experten eingeladen, um bei einer Anhörung zu den Beziehungen EU–USA mit Abgeordneten zu diskutieren. In Berlin habe ich mit Steinmeiers Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Joachim Gauck, mit den aktuellen und früheren Ministern Ursula von der Leyen, ­Heiko Maas, Sigmar Gabriel sowie ihren Beratern gesprochen. Während der zehn Monate des Projekts lebte ich ganz überwiegend in den USA, hatte ein Büro beim GMFUS, einem der angesehensten Think Tanks in der US-Hauptstadt. Zudem bin ich einer der wenigen deutschen Journalisten in Washington, die über einen Zugangspass zum Weißen Haus verfügen. Das erlaubte mir Einblicke hinter die Kulissen der Trump-Präsidentschaft und den regelmäßigen Austausch mit Regierungsangehörigen und amerikanischen White-House-Korrespondenten. Allen diesen Gesprächspartnern in Amerika und Europa danke ich für ihre Anregungen und Unterstützung.

Diese Erfahrungen auf beiden Seiten des Atlantiks geben dem Buch seine Struktur. Ich gehe zunächst den Fragen nach, inwieweit die deutsche Selbsteinschätzung, eine pro-europäische, pro-westliche und global denkende Gesellschaft zu sein, sich im tatsächlichen Handeln widerspiegelt. Und inwieweit das Selbstbild mit der Fremdwahrnehmung durch unsere Nachbarn und Partner übereinstimmt. Wie europäisch, wie transatlantisch und global handlungswillig ist Deutschland in der Wirklichkeit? Es folgen Kapitel, in denen ich darlege, welche Erwartungen andere an uns haben, ganz voran die Nachbarn Frankreich und Polen, die EU und die USA. Im Schlussabschnitt mache ich praktische Vorschläge, was Deutschland an seiner Außen- und Sicherheitspolitik ändern könnte, um die regelbasierte Ordnung als Erfolgsgrundlage zu erhalten und um unseren wichtigsten Partnern das Gefühl zu geben, dass wir gemeinsame Interessen verfolgen.

Vom Unwillen, über Sicherheitspolitik zu reden

Amerikaner, Franzosen und Polen schauen anders auf die Welt als die Deutschen. Zwei Erkenntnisse ziehen sich wie ein roter Faden durch die Gespräche der zehn Monate. Erstens das Drängen der Partner, in der gemeinsamen Verteidigungspolitik voranzukommen. Deutschland müsse militärische Fragen ernster nehmen. Das ist nicht nur ein Lieblingsthema Trumps oder eine fixe Idee der Polen, die die Ostflanke der NATO von Putin bedroht sehen. Es ist auch das Hauptanliegen der Franzosen. Für meine Gesprächspartner in Paris hat es eine höhere Priorität als die Weiterentwicklung der Eurozone. Es geht dabei gar nicht so sehr um Geld; um das geht es zwar auch.

Viel wichtiger ist den Franzosen aber, dass Deutschland sich bereit erklärt, Bedrohungen und Abwehrstrategien, inklusive der Rolle des Militärs, offen zu diskutieren. Und sich nicht mehr verschämt mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte behilft, die es den Deutschen angeblich nicht erlaube, eine ähnliche militärstrategische Kultur wie die Franzosen oder die Briten zu entwickeln. Diese Haltung wird in Paris und anderswo als Ausrede empfunden. Hinzu kommt eine europäische Dimension. Die ständige strukturierte Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik – Kürzel PESCO für Permanent Structured Cooperation – ist das derzeit ehrgeizigste Projekt zur weiteren Integration Europas. Wer in Deutschland weiß überhaupt von den Zusagen, die die Bundesregierung da gemacht hat? Öffentlich diskutiert werden sie kaum. Das nötige Geld, um die PESCO-Zusagen zu erfüllen, hat die Regierung im Bundesetat nicht eingeplant.

Generell treffen die wachsenden Erwartungen der Partner auf einen erkennbaren Unwillen in der deutschen Öffentlichkeit, eine offene und ehrliche Debatte über die Sicherheitspolitik und einen fairen deutschen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung zu führen. Die Ausreden sind vielfältig: Man werde doch nicht Trump zuliebe die Verteidigungsausgaben erhöhen. Oder: Die Polen sollten sich nicht so haben mit ihrem historischen Russen-Komplex.

Das sind freilich keine validen Antworten, wenn ­Emmanuel Macron und seine Verteidigungsministerin Florence Parly darauf hinweisen, dass Deutschland PESCO beigetreten ist. Die Verpflichtungen und der Geldbedarf für die Ausrüstung sind ganz ähnlich wie in der NATO. Europas Rüstungsindustrien müssen fusionieren. Es ist ein Beitrag zur Einheit Europas. Und die liegt den meisten Deutschen ansonsten am Herzen.

Das leitet nahtlos zu der zweiten zentralen Erkenntnis über. Eine deutsche Patentantwort auf die Frage nach der Zukunft der regelbasierten Weltordnung lautet: Europa solle eine größere machtpolitische Rolle übernehmen und so die Lücke füllen, wenn man sich auf die USA nicht mehr verlassen könne. Doch auch da ist der Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit groß. Auf zwei Grundfragen zur Zukunft des transatlantischen Verhältnisses geben Franzosen, Polen und Deutsche ganz unterschiedliche Antworten. Wie soll Europa, erstens, mit Trump umgehen? In Deutschland ist die Sicht auf ihn von Abwehr, Spott und Empörung geprägt; am besten gehe man auf Distanz zu ihm. Polens Regierung sieht sich in weitgehendem Einklang mit Trump. Franzosen reagieren viel gelassener auf ihn als die Deutschen; man habe schon mehrfach US-Präsidenten erlebt, mit denen der Umgang schwierig war; Emmanuel Macron hält die Beziehung zu den USA für so wichtig, dass er sich um ein gutes persönliches Verhältnis zu Trump bemüht.

Die zweite Frage, bei der Europäer unterschiedliche Antworten geben: Was wird künftig der Kern der transatlantischen Beziehungen sein? Polen sagen: die Sicherheit und die NATO. Deutsche: Handel und Investitionen. Franzosen: die Erhaltung der multilateralen Ordnung; sie dürfe nicht einem System bilateraler Beziehungen mit transaktionalen Interessen – wenn du mir dies gibst, gebe ich dir das – ­weichen.

Wie kann bei so unterschiedlichen Antworten auf Kernfragen eine gemeinsame europäische Position entstehen? Wie will die EU, wenn sie intern so uneinig auftritt, zu einer Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA werden?

Diese Fragen bewegen den Historiker Heinrich August Winkler und die weiteren Gäste bei den Feierlichkeiten. Sie möchten den Spielraum deutscher Europa- und Außenpolitik erweitern. Sie möchten Europa stärken. Sie wünschen ein Umdenken im öffentlichen Diskurs. Wo immer ich in Deutschland im ersten Halbjahr 2018 mit Amtsträgern und außenpolitischen Fachleuten rede, ist diese Nachdenklichkeit zu spüren. Deutschland muss sich auf eine neue Rolle in den internationalen Beziehungen einstellen. Der Abschied von lieb gewordenen Haltungen, die durch die Jahrzehnte seit dem Kriegsende 1945 getragen haben, ist unausweichlich. Die Gesellschaft muss sich öffnen für die Erwartungen der europäischen Nachbarn und der amerikanischen Verbündeten. Wer aber trägt diesen Bewusstseinswandel, der hinter den Kulissen längst begonnen hat, in die Öffentlichkeit, um die Bürger mitzunehmen?

Wer überzeugt die zögernde Gesellschaft?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in den ersten 16 Monaten noch keine so kraftvolle Rede zu diesen Fragen gehalten wie sein Vorgänger Joachim Gauck bei der Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz 2014. Es ist ja auch noch früh in seiner ersten Amtszeit. Mit dem Instrument einer Grundsatzrede soll das Staatsoberhaupt aus gutem Grund sparsam umgehen. Es darf sich nicht inflationieren. Wenn Steinmeier sich aber eines Tages entschließt, eine Rede darüber zu halten, was an der deutschen Politik falsch läuft und was sich ändern muss, dann wäre ihm die Aufmerksamkeit gewiss.

Was können andere beitragen: die Kanzlerin? Der Außenminister? Die Verteidigungsministerin? Die Experten für Außen- und Sicherheitspolitik im Deutschen Bundestag, womöglich in einer konzertierten Aktion? Oder die Think Tanks, von denen es in Berlin doch mittlerweile eine beträchtliche Zahl gibt?

Sie alle könnten und müssten mithelfen, höre ich in den vielfältigen Gesprächen in Berlin immer wieder. Zugleich ist der Glaube, dass die konkreten Personen dies leisten werden, begrenzt. Aus unterschiedlichen Gründen.

Angela Merkel könnte die Aufgabe zu einem Hauptanliegen ihrer vierten Kanzlerschaft machen. Einerseits hat sie Deutschlands Rolle verändert und ausgeweitet, zumindest in kleinen Schritten: Deutschland beteiligt sich an dem von Frankreich geführten Einsatz zur Terrorabwehr in Nordafrika, trainiert Kurdenmilizen im Irak und rüstet sie mit Waffen aus und ist seit Jahren der zweitgrößte Truppensteller in Afghanistan nach den USA. Merkel bekennt sich konsequent zur Zusage an die NATO, den deutschen Verteidigungsetat bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhöhen.

Andererseits hat die Kanzlerin in ihren ersten drei Amtszeiten wenig getan, um die Gesellschaft über diese Politik zu informieren und für Unterstützung zu werben. Sie handelt lieber still, als laut zu erklären. In den Koalitionsverhandlungen hat sie für das Zwei-Prozent-Ziel nicht gekämpft, sondern sich damit abgefunden, dass ihr Koalitionspartner, die SPD, das nicht will.

Außenminister Heiko Maas gehört einer jüngeren ­Generation an als seine Vorgänger. Sein Vater war Berufssoldat. Lässt ihn das unbefangener über neue Wege nachdenken? Maas redet anders über Russland als Sigmar Gabriel. Natürlich haben die ersten Stellungnahmen eines neuen Ministers immer auch das Ziel, sich vom Vorgänger abzusetzen. Maas ist im Saarland aufgewachsen, gemeinsames deutsch-französisches Handeln ist dort eine Selbstverständlichkeit. Seine Partei, die SPD, ist freilich keine große Unterstützung für neues Denken. Sie ist gespalten. Ein Flügel fällt über Maas her, als er kritisch über Putins Russland redet. Die Funktionärsschicht hält es mit Russlandromantik und pazifistischer Rhetorik.

Die außenpolitischen Köpfe hingegen sind überzeugt, dass Gabriels Versuch, den Bundestagswahlkampf 2017 mit Polemik gegen die Zwei-Prozent-Verpflichtung in der NATO zu führen, sachlich ein schlimmer Fehler war und politisch erfolglos geblieben ist. Maas müsste, wenn er der Fürsprecher einer dezidiert neuen Außen- und Sicherheitspolitik werden wollte, diese erst mal jenseits der außenpolitischen Köpfe in der SPD durchsetzen, inklusive der zwei Prozent für Verteidigung. Er wird zudem mit den täglichen Herausforderungen des Amts mehr als genug zu tun haben.

Ursula von der Leyen ist die erste weibliche Verteidigungsministerin. Sie hat versucht, das Harte, Kämpferische und Männ­liche im öffentlichen Bild von der Bundeswehr zu reduzieren und ihr den Anschein eines normalen Arbeitsplatzes mit Elternurlaub, Kinderkrippe und geregelten Dienstzeiten zu geben. Kann sie den Deutschen aus dieser Position heraus erklären, dass es kein Widerspruch sein muss, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen und die Werteorientierung der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik zu bewahren? In Berlin ist quer durch die Parteien zu hören, sie habe sich in den Konflikten um die Traditionspflege und um angebliche Skandale in der Truppe zu unbeliebt gemacht. Sie könne keine großen Debatten mehr anstoßen und durchhalten.

Die Außen- und Verteidigungspolitiker der Fraktionen im Bundestag verstehen durchaus, dass Deutschland sich bewegen muss – nicht nur die der CDU/CSU, auch die der SPD, der Grünen, der FDP, solange man vertraulich spricht und kein Mikrofon eingeschaltet ist. Sie zeigen aber eine große Zurückhaltung, öffentlich dafür einzustehen, was sie denken. Nur selten sagt einer laut und hörbar, dass Deutschland aus guten Gründen Verpflichtungen in der NATO und der EU übernommen habe und diese ­erfüllen ­müsse.

In der politischen Klasse scheint die Vorstellung zu herrschen, dass man den Bürgern die eigenen Erkenntnisse nicht zumuten könne; dass da draußen im Volk eine pazifistische Grundstimmung dominiere, die es politisch riskant mache, sich mit einem Eintreten für eine Außenpolitik, die andere EU-Partner für selbstverständlich halten, zu exponieren. Wenn ich ihnen berichte, dass ich ganz andere Erfahrungen gemacht habe bei meinen öffentlichen Debatten quer durch die Republik, dass die Bürger, die zu diesen Veranstaltungen kommen, meist wenig über sicherheitspolitische Themen wissen und neugierig sind, mehr zu erfahren, sagen sie, das mache ihnen Mut. Sie würden es demnächst auch versuchen. Viel vernommen habe ich von solchen »mutigen« Auftritten der Verteidigungsexperten bislang nicht.

Die Vertreter der Think Tanks wären begierig, ihre Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zu erklären. Sie beklagen, dass sie außerhalb ihrer Fachgruppen wenig Gehör finden. Die Medien nähmen die Argumente der Experten nur selten auf. Die Redaktio­nen ließen sich überwiegend von derselben Annahme wie die Politiker leiten: Die Bürger interessierten sich nicht für Außen- und Verteidigungspolitik. Zudem sei das alles zu kompliziert und lasse sich nur schwer auf die vereinfachende Art herunterbrechen, in der man gewöhnlich in Talkshows diskutiere.

Gelegentlich ist auch der Verdacht zu hören, in den Entscheidungspositionen der Medien seien Alt-68er überdurchschnittlich vertreten. Sie zeigten eine innere Abneigung, Verteidigungspolitik als legitimen Teil einer verantwortlichen Außenpolitik zu akzeptieren und sich von ihrem Jugendglauben zu verabschieden, dass Militär immer nur Schlechtes bewirken könne. Das gelte insbesondere für die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender. Die Kritik an den Medien, meiner eigenen Branche, ist in Teilen durchaus berechtigt.

Wie also kann man die Debatte über eine zeitgemäße deutsche Außen- und Verteidigungspolitik samt ihrer Bedeutung für eine gemeinsame europäische Politik in das Herz der deutschen Gesellschaft tragen? Wer wird es sich zur Aufgabe machen, das zu tun?

Deutschland als Landschaftspfleger

Aus dem Saal, in dem der Bundespräsident den Historiker Heinrich August Winkler ehrt, geht der Blick in den großen Garten von Schloss Bellevue. Der streitbare amerikanische Kolumnist Robert Kagan beschreibt den Zustand der Welt mit einem Bild aus der Pflege von Garten- und Kulturlandschaft: The Jungle Grows Back. Die aktuellen Schwierigkeiten, die liberale, regelbasierte Ordnung zu erhalten, beruhten auf einer Fehlannahme unter vielen Zeitgenossen. Sie gingen unausgesprochen davon aus, dass diese Ordnung, die dem Westen in den vergangenen sieben Jahrzehnten so viele Erfolge beschert hat, der Normalzustand sei, dem alle zustreben: Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Freihandel, die Vereinten Nationen mit ihrer Grundrechtecharta und dem Gewaltanwendungsverbot.

In die Erhaltung eines Normalzustands, wenn es denn einer ist, muss man nicht viel investieren. Historisch gesehen sei diese Ordnung aber nicht Normalität, sondern eine einmalig erreichte Ausnahme, sagt Kagan. In der Menschheitsgeschichte seien die wenigen Jahrzehnte, seit diese Ordnung eingeführt wurde, ein kurzer Zeitraum. Zuvor galten die Dschungelgesetze: das Recht des Stärkeren, Krieg und Not. Es habe über die Jahrhunderte auch kein kontinuierliches Wirtschaftswachstum gegeben, aus dessen Erträgen sich soziale Errungenschaften finanzieren ließen, die heute zum sozialen Frieden beitragen.

Womöglich gehöre es zudem zur menschlichen Natur, sich nach starken Führern zu sehnen und spirituelle Bedürfnisse zu haben, die Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft mit ihrer Rationalität nicht befriedigen können. Erst die liberale Ordnung habe es auch schwächeren Nationen erlaubt, das Streben nach wirtschaftlichem und sozialem Erfolg zur Priorität zu machen und sich nicht zuallererst um die Sicherheit kümmern und einen Großteil der Ressourcen dafür ausgeben zu müssen, argumentiert Kagan.

Was passiert, wenn nicht mehr genügend Kräfte für den Fortbestand der liberalen Ordnung eintreten? Dann erobert der Dschungel die Gebiete zurück, die nicht mehr gepflegt werden.

Bundespräsident Steinmeier könnte sich ein Experiment erlauben, der Garten von Bellevue ist groß genug dafür. Er könnte eine abgegrenzte Parzelle sich selbst überlassen und die anderen Bereiche in gewohnter Weise gärtnerisch pflegen lassen. Über kurz oder lang entstünde so ein Demonstrationsobjekt für alle, die zweifeln, was passiert, wenn niemand die Ordnung pflegt. Eine solche Gartenparzelle im Park von Bellevue wäre ein Natur-nahes Denkmal, das zeigt, warum auch Deutschland einen Beitrag zum Fortbestand dieser Ordnung leisten muss, der seinem Gewicht in Europa und in der Welt entspricht.

2. Wie überwinden die Deutschen ihre Lebenslügen?

Abschied von alten Gewissheiten

Washington, Deutsche Botschaft, Ende April 2018.

Angela Merkel hat gerade ihren zweiten Besuch in ­Donald Trumps Weißem Haus beendet. Bevor es zurück nach Berlin geht, setzt sie sich mit einigen Journalisten zum Hintergrundgespräch in der Residenz des deutschen Botschafters zusammen. Sie sitzt mit dem Rücken zur breiten Fensterfront, durch die der Blick auf den lang gestreckten, abfallenden Garten in Richtung des ­Potomac-Stroms fällt. Im Minutentakt ziehen Flugzeuge im Lande­anflug auf den Ronald-Reagan-Flughafen hinter ihrem Kopf vorbei, in einer drehenden Bewegung von rechts nach links. Seit dem Terroranschlag auf das Pentagon vor knapp 17 Jahren, am 11. September 2001, dürfen sie nicht mehr über das Stadtgebiet fliegen, sondern müssen sich exakt über dem Potomac halten und dessen Windungen folgen, damit die Flugsicherung sofort erkennt, wenn eine Maschine vom vorgeschriebenen Kurs abweicht.

Die aktuelle Begegnung mit Trump ist atmosphärisch freundlicher verlaufen als die erste vor einem Jahr. Damals handelten die Schlagzeilen davon, dass Trump ihr angeblich den Händedruck während des kurzen Fototermins im Oval Office verweigert habe. Auch die Bilder von ihrem skeptisch-verwunderten Seitenblick, als er in der Pressekonferenz über die angeblichen Lügen der Medien herzog und sich über eine ebenso angebliche Benachteiligung der USA im Welthandelssystem beschwerte, wurde in den Fernsehnachrichten und den Zeitungen gerne als Beleg für das Unverständnis zwischen diesem US-Präsidenten und der Kanzlerin gezeigt. Damals, 2017, passte die Distanz beiden gut ins Konzept. Trump nutzte jede Gelegenheit, um zu demonstrieren, dass nun alles anders sei als unter Vorgänger Obama; der hatte eine enge Kooperation mit Merkel gepflegt. Und Merkel wollte sich vor dem Bundestagswahlkampf 2017 nicht von der SPD in die Ecke einer zu engen Partnerschaft mit Trumps USA drängen lassen.

2018 sind die Voraussetzungen andere: Merkel ist zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt worden, das imponiert Trump. Es steht kein Wahlkampf an, für den Merkel die USA auf Abstand halten müsste. Trump, so sieht sie das, arbeitet seine Wahlkampfversprechen nach und nach ab. Manches davon sei bedauerlich; manches sei aber auch als Erfolg zu bewerten, zum Beispiel die geschlossene Sanktionsfront gegen Nordkorea, die Kim Jong Un zu Zugeständnissen bewegt habe. Trump begrüßt Merkel mit Wangenküssen und sucht mehrfach die Gelegenheit zum Handschlag. Die demonstrative Freundlichkeit hat auch mit Emmanuel Macron zu tun. Der französische Präsident war in der ersten Wochenhälfte zu einem dreitägigen Staatsbesuch mit Galadinner in Washington. Weder Trump noch Merkel wollen, dass ihr nur dreistündiger Arbeitsbesuch so aussieht, als seien die deutsch-amerikanischen Beziehungen weniger wert als die französisch-amerikanischen.

Inhaltlich haben Macron und Merkel ohnehin dieselben zwei Ziele: Trump zu bewegen, dass er die EU von den angedrohten Strafzöllen auf Stahl und Aluminium ausnimmt. Und dass er nicht aus dem Atom-Deal mit dem Iran aussteigt. Das Abkommen sei nicht ideal, aber ein Stein, auf dem man aufbauen könne. Wenige Tage später nimmt Trump die EU für einen weiteren Monat von den Strafzöllen aus. Im Juli führt er sie dann aber doch ein. Aus dem Iran-Abkommen steigt er aus. Nach seiner Darstellung tut er das nicht, um die Diplomatie zu beenden, sondern um mit dem Druck verstärkter Sanktionen ein besseres Abkommen zu erreichen. Die Iran-Entscheidung ist ein klarer Bruch mit der EU. Die Europäer wollen zwar auch nachverhandeln, aber ohne Ausstieg aus dem Atom-Deal.

So gilt die Erkenntnis weiter, die Merkel am 28. Mai 2017 in einem Bierzelt in Bayern ausgesprochen hatte – nüchtern, aber auch ein wenig enttäuscht. »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.« Es war ihre Schlussfolgerung aus dem ersten NATO-Gipfel und dem ersten G7-Treffen mit Donald Trump als US-Präsidenten, gut vier Monate nach dessen Amtsantritt. Die Lagebeschreibung mündete in eine Aufforderung zu handeln: »Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.«

Was hat die Kanzlerin seither getan, um diesem Aufruf zu folgen und der veränderten Lage gerecht zu werden? Und: Stellt sie die deutsche Gesellschaft auf die daraus folgenden Herausforderungen ein?

Deutschland, das belegt der Koalitionsvertrag 2018, leistet sich die riskante Illusion, es könne weitermachen wie bisher. Denn Deutschland, sagen die Verfechter dieser Sicht, sei doch alles in allem erfolgreich und stabil. Die »Disruptionen«, die Risse in der gewohnten Ordnung, zeigten sich in anderen Staaten: in Griechenland und Italien mit ihren Schuldenkrisen; in Großbritannien mit dem Brexit; in den USA mit der Wahl Trumps; in den Erfolgen nationalpopulistischer Kräfte von Ungarn und Polen über Österreich und die Niederlande bis nach Italien. Im Vergleich dazu ist die AfD in Deutschland eine kleine und moderate Partei. Warum sollen wir uns ändern? Uns geht es gut. Wenn das für andere weniger gilt, dann müssen die sich ändern. Am besten passen sie sich an das deutsche Modell an.

Die liebste Illusion: Alle werden wie wir

Das ist noch immer die unausgesprochene Erwartung der Deutschen an die internationale Entwicklung – Konvergenz mit dem deutschen Modell als Vorbild. Am Ende werden alle wie wir: demokratisch, freiheitsliebend, rechtsstaatlich, sozialstaatlich, pazifistisch. Diese Erwartungshaltung hat sich als Lebenslüge erwiesen. 1989/1990 konnte man sie noch nachvollziehen, als Francis Fukuyama unter dem Eindruck des Falls der Berliner Mauer und des Endes der Ost-West-Spaltung des Kontinents ein Ende der Geschichte proklamierte.

2018 sieht die Welt anders aus: In Peking erhält Präsident Xi umfassende Vollmacht. Er ist ein neuer Kaiser von China. In Russland baut Wladimir Putin den autoritären Staat weiter aus; Andersdenkende werden ermordet; Nachbarn, die sich nicht unterordnen, mit Krieg überzogen. Die Türkei, die man eben noch auf dem Weg zur Demokratie wähnte und mit der die EU über einen Beitritt verhandelte, ist zu einer Autokratie geworden. Nicht mal in Europa entsprechen die Partner den deutschen Erwartungen. Robert Kagans Formel The Jungle Grows Back trifft die Lage.

Mit allen diesen »Disruptionen« bröckeln die Fundamente, auf denen Deutschlands Stellung in der Welt und sein wirtschaftlicher Erfolg ruhen. Dieser Erfolg ist wiederum die Grundlage unseres Sozialstaats, der die inneren gesellschaftlichen Spannungen befriedet. Was geschieht mit Deutschland, wenn diese Fundamente ­wegbrechen?

Sie bröckeln im Übrigen nicht erst seit Trumps Wahl. Zudem betreffen diese Dynamiken nicht nur das Verhältnis zu den USA. Die allmähliche Integration Europas ist zu einem Stillstand gekommen. Die EU ist ein unvollendetes Projekt. Ihr fehlen, zum Beispiel, vertragliche Sicherungen, wie sie sich schützen kann, wenn Länder den Rückwärtsgang bei Demokratie, Rechtsstaat und Grundfreiheiten einlegen. Den Drang nach Freiheit und Marktwirtschaft hatte man sich in der Euphorie nach dem Mauer­fall 1989 wie eine Einbahnstraße vorgestellt. Deshalb wurden keine Vorkehrungen gegen Rückfälle getroffen, als die EU 2004 neben Malta und Zypern acht Staaten aus Ostmitteleuropa aufnahm, die vormals autoritär regiert worden waren. Darunter waren auch Polen und Ungarn, deren nationalpopulistische Regierungsparteien PiS und Fidesz heute die liberalen Grundwerte der EU sowie Grundprinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats infrage stellen. Auch die Währungsunion hatten ihre Gründer zu sehr auf das Prinzip Hoffnung gebaut, wie die Eurokrise zeigt. Und dass ein Land aus freien Stücken aus der EU austreten möchte, war ebenfalls nicht vorgesehen, wie der mühsame Umgang mit dem Brexit belegt.

Deutschland kann sich auf die alten Gewissheiten nicht mehr verlassen. Seinen phänomenalen Aufstieg zur viertstärksten Wirtschaftsmacht der Welt verdankt es der liberalen, auf Regeln basierenden Weltordnung, die die USA nach 1945 geschaffen und durchgesetzt haben. Dazu gehören die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen, die universellen Menschenrechte, ein Weltwährungssystem samt einem Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Stabilisierung dieses Systems sowie einer Weltbank als Entwicklungsagentur, eine Welthandelsorganisation WTO, die den Freihandel zum Ziel hat und die feste Regeln für Zölle und andere Handelshindernisse vorgibt; sowie die NATO als Sicherheitsallianz der westlichen Welt.

In Donald Trumps Präsidentschaft ist kein Verlass mehr darauf, dass die USA diese liberale Ordnung in gleicher Weise verteidigen und ihren Fortbestand garantieren, wie Europa das über Jahrzehnte gewohnt war. Trump hat die NATO »obsolet« genannt und gedroht, dass die USA Verbündete, die nicht ihren Teil zur gemeinsamen Verteidigung beitragen, im Fall eines Angriffs eventuell nicht unterstützen werden. Er wendet sich gegen multilaterale Freihandelsabkommen wie die von Vorgänger ­Barack ­Obama ausgehandelte Transpazifische Wirtschaftspartnerschaft TPP. Er will das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA mit Kanada und Mexiko neu verhandeln; solche Verträge hätten den USA angeblich mehr Nachteile als Vorteile beschert, ­behauptet er. Er zieht bilaterale Wirtschaftsabkommen vor. In solchen ­Konstellationen hat Amerika als größte Volkswirtschaft der Erde mehr Verhandlungsmacht. Mit Strafzöllen auf den Import von Stahl, Aluminium und auf Waschmaschinen aus Asien riskiert Trump einen Handelskrieg. Er blockiert die Ernennung von Richtern, die in der WTO über solche Streitfälle entscheiden sollen. Er tritt aus UN-Organisationen wie der UNESCO und dem Menschenrechtsrat aus. Und kündigt globale Verträge wie das Klimaabkommen von Paris.

Das bedeutet freilich nicht, dass die von den USA geschaffene liberale Ordnung zerbrechen muss. Es bedeutet zunächst lediglich, dass Amerikas aktuelle Regierung diese Ordnung nicht mehr so stützt wie Trumps Vorgänger das taten. Diese Entwicklung stellt Deutschland vor die Frage, ob der Fortbestand dieser Ordnung in seinem Interesse liegt – und, wenn ja, was es zu tun bereit ist, um sie zu erhalten, wenn die alte Garantiemacht es nicht mehr tut, jedenfalls nicht im gewohnten Umfang.

Die liberale Ordnung kann ohne die USA überleben

Es gibt Hoffnungszeichen, dass diese Ordnung nicht zum Untergang verdammt ist, wenn die USA, ihr bisheriger Verteidiger, sich von ihr abwenden. Sie kann auch dann überleben. Als Trump den Transpazifischen Wirtschaftspakt TPP 2017 kündigte, warb Japan, die drittgrößte Volkswirtschaft nach den USA und China, dafür, an TPP festzuhalten, nun eben ohne Trumps Amerika. Das Abkommen sei weiter sinnvoll, um der Pazifikregion, die sich im 21. Jahrhundert zum Rückgrat der Weltwirtschaft entwickeln werde, Mindeststandards für Freihandel, Arbeitsbedingungen, Soziales und Umwelt vorzugeben. Das sei besser, als sich Chinas wachsender Dominanz zu beugen. Zudem könne ein solches Regelwerk über kurz oder lang auch illiberale Staaten wie China dazu bringen, diese Regeln anzuerkennen. Beim APEC-Gipfel im November 2017 in Vietnam verkündeten die elf verbliebenen TPP-Staaten ihre Einigung auf ein TPP-11, also ein Abkommen ohne die USA. Im Frühsommer 2018 sind in Washington Andeutungen zu hören, vielleicht würden die USA es sich anders überlegen und doch beitreten.

Diese Entwicklung lehrt, zugespitzt gesagt: Die von Amerika geschaffene Ordnung kann auch ohne Amerika überleben, wenn andere Führungsmächte das wollen und dieses Interesse mit Engagement verfolgen.

Deutschland ist die nächstgrößte Wirtschaftsmacht nach Japan, die Nummer vier in der Welt – und doch weit davon entfernt, sich als eine Führungsmacht in diesem Sinn zu begreifen. Stellt Deutschland sich an die Spitze einer Bewegung, die nach Japans Vorbild nun erst recht den Abschluss eines Transatlantischen Wirtschaftsabkommens (ehemals TTIP) betreibt? Was tut Deutschland, um den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken? Was unternimmt es, um das internationale Handelssystem mit der Welthandelsorganisation WTO im Zentrum zu retten? Und was tut es, um UN-­Organisation wie die UNESCO vor dem Bedeutungsverlust zu schützen? Am Anfang eines solchen Wegs müsste allerdings erst einmal das Eingeständnis stehen, wie reformbedürftig WTO und UNESCO sind. Und die Kritik an ihnen sowie am Klimaabkommen muss nicht rundum falsch sein, nur weil sie von ­Donald Trump kommt.

Generell ist die Absicht dieses Buches nicht, mit der Schilderung der vielen bedauerlichen Entwicklungen Trübsinn zu verbreiten. Sondern: zum Nachdenken und Handeln zu animieren. Die zeitliche Parallelität von Europas Krise und Trumps Aufstieg zum US-Präsidenten hat nicht notwendig zur Folge, dass die EU und die liberale westliche Ordnung zerbrechen. Die deutsche Gesellschaft und Politik muss sich aber darüber klar werden, welche gravierenden Folgen es hätte, wenn kein Verlass mehr auf diese Fundamente ihres Erfolgs wäre. Oder wenn sie ganz wegbrechen. Gesellschaft und Politik sollten aus dieser Erkenntnis heraus handeln. Wenn beides stimmt – dass die liberale Ordnung unsere Erfolgsgrundlage ist und dass sie bedroht ist, weil wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass andere sie für uns ­aufrechterhalten –, dann müssen wir in Deutschland eben selbst mehr tun, um diese Ordnung zu schützen, weil ihr Fortbestand in unserem Interesse liegt.

Bemüht sich die deutsche Öffentlichkeit um diese Selbstvergewisserung? Nein. Auch die Bundesregierung tut wenig, um diesen Prozess anzustoßen. Stattdessen ergötzt sich die Mediengesellschaft mit Blick auf die USA an einer Debatte, in der sie die Position eines vermeintlich unbeteiligten Zuschauers einnimmt. Entweder spottet sie über Trump und sein Amerika. Oder sie beklagt sich über seine Fehlleistungen und Zumutungen und redet seine Amtsenthebung herbei. Sie erweckt nicht den Anschein, als nehme sie ihn ernst und begreife, welche Risiken von ihm für das deutsche Erfolgsmodell ausgehen. Wenig Energie wird der Frage gewidmet, wie Deutschland mit Trump und seiner Regierung umgehen soll, um die eigenen nationalen Interessen zu verteidigen. Oder wie es sich in der EU positionieren muss, damit Europa die gemeinsamen Interessen schützt.

Ähnliche Anzeichen der Realitätsverweigerung zeigen sich in anderen Bereichen des außenpolitischen Meinungsaustauschs, zum Beispiel im Verhältnis zu Russland und China. Sowie im Verständnis, worauf Führungsfähigkeit und Einfluss in den internationalen Beziehungen beruhen. China und Russland sind weder freiheitliche Demokratien noch liberale Marktwirtschaften. Wenn auf die USA kein Verlass mehr ist, kommen diese Länder jedenfalls nicht als alternative Schutzmächte des deutschen Erfolgsmodells infrage. Im Gegenteil, sie bedrohen dessen Grundlagen noch weit mehr als ein unzuverlässiges Amerika.