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"Jeder intelligente Katholik ist im Innern auch immer ein Protestant." "Was müsste Luther heute sagen?" ist eine sehr persönliche Annäherung an den Reformator durch den Jesuitenschüler und Katholiken Heiner Geißler. Könnte Martin Luther auch heute die Welt verändern? Was müsste er jetzt in den christlichen Kirchen reformieren? Geißler spannt einen Bogen zwischen Luther und Papst Franziskus. Und er zeigt, warum es zu einem Unglück für die ganze Menschheit werden muss, wenn die Einheit der Kirchen von den Verantwortlichen weiter verhindert wird.
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Das Buch
Heiner Geißler hörte durch seine Großmutter zum ersten Mal etwas von Luther. Jetzt schreibt er dieses Buch, um den Mann kennenzulernen, der die Welt verändert hatte. Er entdeckt Luther als einen der ganz Großen der Geschichte - nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten. Der Herausforderer des Papsttums, der große Reformator – mit einer falschen Lehre?
War Luther ein Pazifist oder ein Opportunist? Woher seine Polemik, ja sogar sein Hass auf Bauern, Wiedertäufer und Juden? Heiner Geißler schildert, wie Luther mit seiner Lehre Teile der katholischen Theologie zerstörte. Er geht der Frage nach, ob die lutherische Theologie, wie Max Weber meint, mit dem Kapitalismus zusammenhängt. Er zeigt, was in beiden Kirchen noch geschehen muss, wenn das Reformationsjubiläum 2017 nicht misslingen soll. Eine Voraussetzung ist, dass bis dahin die zentrale Aussage der Reformation zur Rechtfertigungslehre revidiert wird. Und er stellt die Frage: Wie weit darf die Uneinsichtigkeit von Theologen und Kirchenführern noch gehen, mit der die Spaltung der Kirchen aufrechterhalten wird?
Der Autor
Dr. Heiner Geißler, geboren 1930, war 25 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages, Landesminister, Bundesminister, Schlichter von Stuttgart 21 und gilt als einen der besten politischen Redner der Bundesrepublik. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, u.a. von Sapere aude!.
Heiner Geißler
Was müsste Luther heute sagen?
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-0587-5
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Lektorat: Julia KühnUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagmotiv: getty images / Imagno / contributor
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Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Kapitel I
Erste Berührungen mit dem deutschen Protestantismus – Luther und die Bundestagswahlen – Die Großmutter – Erfahrungen mit Nazis – Grausam wie die Henker – Kajetan und Judith Holz – Bei den Jesuiten – Anmerkungen zu Kapitel I
Kapitel II
Die geschichtliche Situation – Der Blitzschlag – Dies irae – Luthers Sündenangst – Sündenkataloge – Metanoeite – Der Mensch: ein Klumpen Sündendreck – Ablass für das Schwängern der Jungfrau Maria – Rechtfertigungslehre – Kopernikus und Luther – Die Erbsünde – Jesus oder Augustinus – Unerträgliche Sündenmoral – Anmerkungen zu Kapitel II
Kapitel III
Die Gerechtigkeit Gottes? – Gott und Alan Michaels – Die Pest – von Gott geschickt? – Luthers unbrauchbare Antwort – Luthers Gottesbild – Anmerkungen zu Kapitel III
Kapitel IV
Der halbe Jesus – Glauben oder saufen? – Nächstenliebe statt liturgisches Brimborium – Anmerkungen zu Kapitel IV
Kapitel V
Der sprachgewaltige und mediengewandte Luther – Luther und die Renaissancepäpste – Das Finanzierungssystem – Weitere innerkirchliche Missstände – Das Erzübel: die Kurie – Luther und der 1. Tag des Papstes Franziskus – Der charismatische Luther – Anmerkungen zu Kapitel V
Kapitel VI
Der frauen- und ehefreundliche Luther – Wojtyla und Luther: Sünde auch in der Ehe – Die Sexualethik der katholischen Kirche – Die unheilvolle Rolle des Paulus – Luthers Frauenbild und menschenfreundliche Ehetheologie – Frauen als Bischöfinnen – Maria Magdalena – Die »ianua diaboli« – Häusliche Gewalt und Ehescheidung – Sakramente und wiederverheiratete Geschiedene – Zölibat – Priesternot überall – Wider die weltweite Diskriminierung der Frauen – Philipp von Hessen, die Bigamie und der Sexmissbrauch – Luther und die Missbrauchsfälle – Hexen – Teufel und Intoleranz – Heilige – Anmerkungen zu Kapitel VI
Kapitel VII
Luther und die Confessio Augustana – Der Tod Zwinglis – Luther und die Bauernbewegung – Todesstrafe für die Täufer – Die Gewaltfrage – Die Befreiungstheologie – Der realistische Pazifismus des Evangeliums – Anmerkungen zu Kapitel VII
Kapitel VIII
Enttäuschte Liebe – Luther und die Juden – Der Macht- und Autoritätsanspruch der Kirche – Widerstand gegen das Finanzgebaren der Kurie – Kein Konsens – Papst oder Evangelium – Anmerkungen zu Kapitel VIII
Kapitel IX
Die Folgen der Reformation – Wie soll 2017 an die Reformation erinnert werden? – Anathema, anathema! – Bedenken aus der Provinz – Ein Glaubensbekenntnis – Luthers Abgrenzungskriterien sind heute obsolet – Offene Fragen – Diskussion statt Dogma – Ökonomisierung der Kirchen – Organisationsform einergemeinsamen Kirche – Führungsgestalt – Was kann sofort verändert werden? – Zusammenlegung von Caritas und Diakonie – Absetzbewegungen – Ökumenische Gottesdienste – Anerkennung der Taufe – Abendmahlsgemeinschaft – Absurde Ereignisse – Laien- contra Priesterkirche – Liebe und Barmherzigkeit – Anmerkungen zu Kapitel IX
Epilog
Anmerkungen zum Epilog
Anmerkungen
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Empfehlungen
Von der Großmutter über Luther zu den Jesuiten
Erste Berührungen mit dem deutschen Protestantismus – Luther und die Bundestagswahlen – Die Großmutter – Erfahrungen mit Nazis – Grausam wie die Henker – Kajetan und Judith Holz – Bei den Jesuiten
Im Laufe meines bisherigen Lebens bekam ich eine umfassende, aber nicht gerade theologisch vertiefte, positive Vorstellung vom deutschen Protestantismus, aber ich hatte mein Leben lang kein festes Bild von Luther, er war mir irgendwie fremd geblieben. Ich bin katholisch, war Jesuitenschüler, hatte an der Philosophischen Hochschule der Gesellschaft Jesu scholastische Philosophie studiert, die dreißigtägigen Exerzitien des Ignatius von Loyola hinter mich gebracht, während meines Jurastudiums nichts mehr von Luther gehört und mich als Landes- und Bundesminister der CDU, also einer politischen Union von evangelischen und katholischen Christen, in erster Linie für die politischen Überzeugungen der deutschen Protestanten interessiert. Dabei spielte Luther ebenso wenig eine Rolle wie auf den etwa 15 evangelischen Kirchentagen, die ich besucht und auf denen ich geredet hatte. Ich kam in enge Berührung mit dem deutschen Protestantismus, war drei Jahre Leiter des politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, war beeindruckt von protestantischen Gestalten wie Bischof Hanns Lilje, Prälat Hermann Kunst, Eugen Gerstenmaier, Richard von Weizsäcker, Ernst Albrecht, vor allem von Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller, Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh und von der großen Diakonieanstalt Bethel, von der evangelischen Diakonie überhaupt, und war gleichermaßen erstaunt über den preußischen Wilhelminismus, Bismarcks Kulturkampf und die Kollaboration von so vielen Evangelischen mit den Nazis. Doch das Evangelische interessierte mich von Anfang an. Die theologischen Differenzen waren mir klar, aber ich entdeckte in vielen Diskussionen etwa mit Richard von Weizsäcker, Ernst Albrecht oder Wolfgang Schäuble auch Unterschiede protestantischen und katholischen Denkens in der Politik. Hing das möglicherweise mit Luther zusammen? Wie war zu erklären, dass sozusagen geopolitisch in den Anfängen der Bundesrepublik in überwiegend katholischen Gegenden die CDU immer besser gewählt wurde als die SPD, während es in den evangelischen umgekehrt war?
An den Inhalten allein konnte es nicht liegen, von leidigen bildungspolitischen Fragen wie Konfessionsschulen und Religionsunterricht einmal abgesehen, die ja auch in der Union umstritten waren. Der Widerstand des katholischen Zentrums im Kulturkampf Ende des vorletzten Jahrhunderts gegen Bismarck und das evangelische Kaiserhaus spielten sicher eine Rolle. Auch waren die Evangelischen offensichtlich gesamtdeutscher als die Katholiken, die sich im katholisch geprägten Europa der romanischen Länder Frankreich, Italien und Spanien wohler fühlten, während in der DDR, damals Sowjetische Besatzungszone, Katholiken nur rudimentär, Evangelische dagegen massenweise vorhanden waren. Dass diese heute in der absoluten Minderheit gegenüber den Nichtgetauften sind, war am Anfang der Republik nicht absehbar. Sie waren aber geistig immerhin so mächtig geblieben, dass sie zu Trägern der friedlichen Revolution in Ostdeutschland werden konnten.
Um ein Beispiel zu bringen: Bis zur Bundestagswahl 1965 hatte die SPD in dem protestantischen Gürtel um Stuttgart herum – Böblingen, Nürtingen, Esslingen, Leonberg, Reutlingen, Tübingen, Nagold, Calw – immer eine klare Mehrheit. Ab 1965 war dies plötzlich anders. Ich hatte die Tollkühnheit, in Tübingen, einer Hochburg des württembergischen Protestantismus, und in der alten reformatorischen Reichsstadt Reutlingen für den Bundestag zu kandidieren. Im Wahlkampf schaltete die SPD, unterstützt von Walter Jens, mit dem ich mich später gut verstand, folgende Anzeige: »Heiner Geißler, katholisch aus Oberndorf am Neckar, will bei uns Abgeordneter werden. Das gilt es zu verhindern.« Offenbar hielt die SPD diese Konfessionalisierung für einen Wahlkampfhit, der mich so beeindruckte, dass ich mich nicht schämte, in einer Gegenanzeige auf meine evangelisch getaufte Frau hinzuweisen. Am Wahlabend hatte ich einen für damalige Verhältnisse phänomenalen Vorsprung von 16000 Stimmen und war zum Erstaunen des »Reutlinger Generalanzeigers« und des »Schwäbischen Tagblatts« in Tübingen direkt gewählter Bundestagsabgeordneter in Reutlingen und Tübingen. Am nächsten Tag zeigte sich, dass dieses Wahlergebnis nicht nur Folge meines Canvassings und meiner vielen Hundert Hausbesuche sein konnte, denn jenes protestantische, bisher SPD-orientierte Stuttgarter Umfeld hatte ebenfalls mehrheitlich CDU gewählt. Der Grund war klar: Die CDU hatte einen ausgewiesenen Protestanten als Kanzler und Kanzlerkandidat zu bieten, Ludwig Erhard, der eigentlich gar kein richtiges CDU-Mitglied war, weil er seit 1949 keine Beiträge gezahlt hatte. Doch der Bann war gebrochen, das politische Misstrauen gegen die Katholiken geschwunden. Aber noch bis in die 80er Jahre waren ganz offensichtlich die Mehrheitsverhältnisse in der damaligen Bundesrepublik Deutschland abhängig von der konfessionellen Landkarte, wie sie nach der Reformation entstanden war. In meinem späteren Wahlkreis, der Südpfalz, war dasselbe Phänomen erkennbar, dass nämlich in Gemeinden, die gerade mal zwei Kilometer auseinander lagen, je nach Konfession die CDU oder die SPD die Mehrheit hatte. Das hat sich allerdings vollkommen verändert.
Ich schreibe jetzt dieses Buch, weil ich den Mann kennenlernen will, dessen Ideen und Wirken bis heute Wahlergebnisse beeinflussen, dessen Werke 120 Bände mit Zehntausenden Seiten umfassen, über den schon Tausende dicke Bücher mit theologischen Inhalten, die kein normaler Mensch begreifen kann, geschrieben wurden. Könnte man Luther so darstellen, dass auch Nichttheologen, auch Katholiken oder Muslime ihn verstehen? Und könnte man herausfinden, was er wohl heute sagen würde? Er muss ein ganz Großer gewesen sein, ob ein Guter oder Schlechter – wir werden sehen.
Schon als Kind musste ich mir ein Bild machen. Genauer gesagt: Andere malten mir ein Bild an die Wand, das für mich schauerlich und voller Geheimnisse war. Ab dem siebten Lebensjahr war ich jeden Sommer in den Ferien bei meinen Großeltern im schon genannten Oberndorf am Neckar und besuchte morgens mit meiner Großmutter Theresia die katholische Messe in der Stadtpfarrkirche St. Michael, die wie eine dicke Glucke mit den Erzengeln Michael, Raphael und Gabriel in den imposanten Seitenfenstern die Mitte der Stadt belegte. Später wurde ich Ministrant und diente vorn am Altar. So lernte ich auch den ehrfurchtgebietenden Stadtpfarrer Gruber kennen, dem ich einmal in der Woche ein Kuvert meiner Großmutter überbrachte. Jedes Mal schenkte er mir ein Bildchen vom hl. Michael mit einem Gebet wie z. B.: »Hl. Schutzengel mein, lass mich Dir empfohlen sein, Deine Gnad und Jesu Blut machen allen Schaden gut.« Darunter stand: 100 Tage Ablass. Manchmal gab es ein Bildchen mit 500 Tagen Ablass. Ich sollte es – so der Pfarrer – meiner Großmutter geben. Eines Tages war das Kuvert nicht verschlossen, und da ich schon immer wissen wollte, was drin war, machte ich es auf und entdeckte einen 20-Reichsmark-Schein. Ich fragte die Großmutter, als ich den hl. Michael bei ihr ablieferte: »Großmutter, gibst du dem Herrn Pfarrer Geld?« – »Pst«, antwortete sie, »der Großvater darf das nicht wissen. Ich bekomme dafür doch einen Ablass.« »Was ist das, ein Ablass?«, wollte ich wissen. »Ich muss dafür 100 Tage weniger im Fegefeuer sein, wenn ich tot bin«, war die Antwort. Ich wusste natürlich als Ministrant, dass es neben Himmel und Hölle auch noch ein Fegefeuer gibt, in dem man seine Sünden angeblich abbüßen kann. Konsequenterweise fragte ich: »Kann ich auch so einen Ablass bekommen?« – »Das brauchst du nicht«, wurde mir beschieden, »du begehst ja noch keine Sünden.« Frech, wie ich war, wollte ich fragen, um welche Sünden es sich denn bei der Großmutter handele, biss mir aber auf die Zunge, weil ich mich dann doch nicht traute, so dass diese interessante Frage leider bis zu ihrem Tode unbeantwortet blieb.
In unserer Straße, der Mauserstraße, benannt nach dem Waffenfabrikanten Mauser, dessen riesige Fabrik unten das ganze Tal ausfüllte, lebten noch andere Kinder. Es waren meine Spielkameraden, unter denen es aber keine Ministranten gab, denn sie waren evangelisch. Ich musste ihnen immer die lateinischen Gebete aufsagen, vom »Confiteor« bis zum »Suscipiat« und »Agnus Dei«. Einmal gab es eine Rauferei, weil ich beim Aufsagen des »Suscipiat«, des schwierigsten Ministrantengebetes, stecken blieb und die anderen mich auslachten. Daraufhin wurde ich von Großmutter belehrt, ich solle zu den Kindern anständig sein, das seien gute Kinder – was ich ja längst wusste – und gute Familien, deren Väter im Krieg waren, nur leider evangelisch, und sie fügte hinzu: »wenn es nur diesen Luther nicht gegeben hätte«. Dasselbe sagte der Stadtpfarrer, weil er sich ärgerte, dass die evangelische Kirche mit ihrem markanten weißen Turm oben am Berg gebaut war und auf die katholische Kirche herunterschaute: »Wenn es diesen Luther nicht gegeben hätte, bräuchte man nur eine Kirche«, und er nannte noch einen Namen, den ich aber nicht richtig verstand, so ähnlich wie »Butzen«, was mich an einen »Apfelbutzen« (schwäbisch für Kerngehäuse) denken ließ. Gemeint war Martin Bucer, der große Reformator aus Straßburg. In meiner Heimatgemeinde Gleisweiler trägt die evangelische Kirche seinen Namen, Bucer, richtig geschrieben mit »c«, während in der vornehmen Kurstadt und pfälzischen Wurstmarktzentrale Bad Dürkheim die ihm gewidmete Straße falsch und wenig vornehm schwäbisch akkommodiert Butzerstraße heißt. Martin Bucer konnte ich damals natürlich nicht kennen. Den Martin Luther kannte ich inzwischen ein bisschen, aber er hatte für mich als Kind durch die Epitheta der Großmutter und des Stadtpfarrers einen negativen Touch bekommen. Er imponierte mir dennoch irgendwie, weil wegen ihm offenbar viele Leute einen eigenen Glauben und eine eigene große Kirche hatten.
Das war in den Sommerferien 1941. Vier Monate später – wir wohnten, der Vater von den Nazis strafversetzt, in Hannover – konnte ich sozusagen am eigenen Leib, besser an der eigenen Seele, erfahren, dass da irgendetwas nicht stimmte mit den beiden Konfessionen. Als elfjähriger Pimpf der Hitlerjugend musste ich kurz vor Weihnachten an einer sogenannten Julfeier in einem Saal am Volgersweg in der Nähe des Hauptbahnhofes teilnehmen. Nach einigen Liedern vom »Bombenfliegermarsch« der Legion Condor bis »Es zittern die morschen Knochen« und »Die Fahne hoch« sprach ein vierzehnjähriger Stammführer mit einer weißen Kordel über der Uniform einführende Worte über die Julnacht, also die germanische Jahreswende, und machte sich lustig über das Baby in der Krippe. Dann rief er plötzlich: »Wir wollen mal sehen: Wer katholisch ist, steht auf!« Ich erhob mich, brüllendes Gelächter im Saal, ich schaute mich um und wusste, warum: Ich war der Einzige – jedenfalls war sonst keiner aufgestanden. Er schrie: »Wir sind hier deutsch, wenn überhaupt evangelisch!« Er kannte mich, er ging zwei Klassen über mir in dieselbe Schule, das Leibniz-Gymnasium in der Alten Celler Heerstraße. Am anderen Tag passte ich ihn auf dem Heimweg in die Bödekerstraße ab, er 14, ich 11. Er hatte als schmächtige Großstadtpflanze keine Chance und hat mich nie mehr belästigt.
1944 ließ ich mich nochmals auf eine Schlägerei mit einem Fähnleinführer ein, als ich am Ostersonntag an einem Sternmarsch der Hitlerjugend teilnehmen sollte, was ich als alter Ministrant ablehnte und mir von meiner Mutter ohnehin verboten worden war. Für Konflikte dieser Art gab es damals keine andere Lösung als Gewalt. Die Sache hätte für mich auch schiefgehen können.
Wie wir noch sehen werden, spielte das Thema Gewalt im Leben Luthers, der offensichtlich über ein erhöhtes Renitenzpotential verfügte, eine große Rolle. Das fing bei ihm schon im Elternhaus und in der Schule an. Als ich las, was ihm als Kind passierte, dachte ich an die Dokumentation der Kindesmisshandlungen, die Professor Köttgen, Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Mainz, in meiner Zeit als Mainzer Minister aufgebaut hatte. Er schätzte die Dunkelziffer von Kindesmisshandlungen auf über 200000 im Jahr, so viel wie heute der Kinderschutzbund. Jeden Tag werden in Deutschland hilf- und wehrlose kleine Menschen auf heiße Herdplatten gesetzt, grün und blau geschlagen, verbrüht und sexuell missbraucht; diese Zahl global auf die ganze Erde zu extrapolieren verbietet sich eigentlich aus medizinischen Gründen, denn die Vorstellung, was in dieser Sekunde mit drei Millionen Kindern auf der Welt geschieht, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.
Nimmt man die Gewalt gegen Frauen hinzu, erweist sich die von Luther, den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. und fast allen Religionen der Welt sakralisierte Ehe als der für die Menschheit gefährlichste Ort für Körperverletzung, aber auch sexuellen Missbrauch. Es ist nahezu rührend, aber auch tröstlich, allerdings ebenso prototypisch, wie Luther mit den ihm bekannten und ihm zugefügten Misshandlungen umgeht. »Meine Mutter stäupet (schlug) mich um einer einzigen Nuss willen bis aufs Blut.«1 Mit dieser Erziehung sei er schließlich ins Kloster getrieben worden. Er billigte seinen Eltern das Recht zu einer strengen Erziehung zu, erwähnte aber auch, dass sein Vater ihn einmal so hart bestrafte, dass der Junge sich von ihm zurückzog.2 Dennoch erinnert sich Luther in Liebe an ihn, weil er nach Gott alles, »was ich bin und habe«, der Liebe seines Vaters verdanke.3 Diese Erfahrungen übertrug er auf die Erziehung seiner eigenen Kinder: »Ich schlag mein Hänschen nicht gerne, sonst würde es blöd und mein Feind werden – ich wüsste kein größeres Leid.«4 Anderen gegenüber war er hartherzig. 1542 schickte er diesen Hans mit seinem Neffen Florian von Bora auf eine angesehene Schule in Torgau. Als sich herausstellte, dass Florian eine Kleinigkeit gestohlen und dann auch noch gelogen hatte, »ordnete Luther an, ihn unbarmherzig mit Prügel ›bis aufs Blut‹ zu bestrafen«.5
Es ist schwer zu sagen, wie Luther sich heute zur Prügelstrafe stellen würde. Wahrscheinlich würde er sie ablehnen; man spürt aus allen Aussagen, dass er im Grunde seines Innern die Misshandlungen, vor allem auch in den Schulen missbilligte, aber aus übergeordneten Gründen, auf die wir noch kommen werden, die Anwendung von Gewalt für richtig hielt. Hart kritisierte er beispielsweise die Zustände in seiner Trivialschule; noch in den Tischreden kommt er darauf zurück: »Es ist ein Teil der Lehrer so grausam wie die Henker. Auch ich wurde einmal vormittags fünfzehnmal ohne alle Schuld geschlagen: Ich sollte deklinieren und konjugieren und hatte es nicht gelernt.«6 Es gab ein Spitzelsystem, in dem immer ein Schüler den Auftrag hatte, die Schüler aufzuschreiben, die in dieser Lateinschule deutsch sprachen oder sich anderweitig schlecht benahmen, worunter man sich willkürlich vieles vorstellen konnte. Am Ende der Woche erfolgte die Bestrafung. Diese Zustände haben Luther offenbar so mitgenommen, dass er später in den Tischreden immer wieder darauf zu sprechen kam und bereits in der Schrift »An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands …« von 1524 den dortigen Schulpolitikern seine üblen Erfahrungen mitteilte: Hölle und Fegefeuer seien diese Schulen gewesen, »da wir innen gemartert sind über den Casualibus und temporalibus, da wir doch nichts denn eitel nichts gelernt haben durch soviel steupen, zittern, angst und jammer«.7
Luther hat, von seiner Schulzeit einmal abgesehen, objektiv betrachtet, persönlich keine körperliche Gewalt erfahren. Subjektiv glaubte er jedoch, dass z. B. die höllischen Schmerzen, die er wegen seiner permanenten Harnverhaltung durch Blasen- und Nierensteine erleiden musste, ihm vom Satan höchstpersönlich zugefügt wurden. Für ihn wurde das ganze Leben zu einem Dauerkampf zwischen Gott und dem Teufel.
Ich bin froh, dass ich in meinem ganzen Leben weder von Eltern noch von Lehrern geschlagen wurde, dafür haben alliierte Bombenangriffe auf Hannover, die Jabojagden auf Zivilisten in schwäbischen Dörfern, die mit eigenen Augen und Ohren erlebten KZ-Gräuel der Nazis und deren Verfolgung meines Vaters die politische Ausrichtung meines Lebens bestimmt. Am Ende des Krieges lebten wir in Spaichingen im südlichen Württemberg. Dort wurden Häftlinge des örtlichen Außenlagers des KZ Schömberg, das wiederum zum KZ Natzweiler-Struthof gehörte, in einer Strafaktion im Winter 1944/45 nachts an Pfähle gefesselt und mit Wasser übergossen. Bevor sie erfroren waren, hörte man eine Stunde lang ihre unmenschlichen Schreie, und die ganze Stadt flüsterte noch tagelang hinter vorgehaltener Hand über dieses Verbrechen. Mein Kinder- und Schulfreund, der Zigeunerjunge Kajetan, wurde mit sieben Jahren 1937 von den Nazis aus Ravensburg, wo wir seinerzeit wohnten, deportiert – ich habe ihn später als für Roma und Sinti zuständiger Bundesminister wiedergefunden. Meine langjährige Klavierlehrerin, die Halbjüdin Judith Holz aus Tuttlingen, wurde 1943 ebenfalls deportiert und, wie ich später in Erfahrung brachte, in Mauthausen ermordet. Ich war mit fünfzehn Jahren vom Nationalsozialismus restlos bedient, und meine für manche auch in der CDU hypersensible Abwehrhaltung gegen alles Rechtsradikale hat unter anderem hier ihren Ursprung.
Ab 1946 besuchte ich das Jesuiten-Gymnasium in St. Blasien. Dort begegnete mir Luther im Geschichtsunterricht, der nicht anhand eines Geschichtsbuches, sondern auf der Grundlage eines vervielfältigten Manuskripts des Paters und begnadeten Predigers Johannes B. Wiedemann erteilt wurde.
Dabei wurden auch die Reformation durchgenommen und deren Gründe und Ziele dargestellt, nicht unfreundlich, aber ziemlich kursorisch. In der Verteufelung des Papstes erfuhr Luther allerdings keine Gnade. Luther war mir nicht ganz geheuer, aber doch sehr sympathisch, weil er offenbar schon vor 400 Jahren vorausschauend, ohne sie zu kennen, Sündengeschäfte wie die meiner Großmutter Theresia verurteilt hatte.
Ich erinnere mich, dass die Jesuiten in St. Blasien, Pater Johannes B. Wiedemann und Pater Otto Faller, der damalige Rektor des Kollegs, Beichtvater von Pius XII., Herausgeber der Werke des Kirchenvaters Ambrosius, in den höchsten Tönen von Luthers Zeitgenossen Erasmus und Melanchthon, mit denen ich mich erst später beschäftigte, sprachen, sei es wegen ihrer Liebe zur griechischen Sprache, sei es, weil Melanchthon mehrfach – allerdings vergeblich – den Versuch gemacht hatte, an Luther vorbei zu einer Einigung mit der katholischen Kirche zu kommen. Erasmus und Melanchthon lernte ich als Brüder im Geiste kennen, was Diskussionskultur und Kompromissbereitschaft betraf.
Etwas anderes ist mir noch deswegen in Erinnerung geblieben, weil es mir in der damaligen Atmosphäre nach Auschwitz unheimlich vorkam. Pater Wiedemann erzählte im Unterricht, dass der Ordensgründer Ignatius einmal – ich glaube bei Tisch – gesagt habe, er würde es für sich als besondere Gnade Gottes ansehen, wenn er von Juden abstammte, weil es etwas Einzigartiges sei, wenn jemand sagen könne, er sei ein Verwandter Jesu Christi und der Jungfrau Maria. Wie wir erfahren werden, dachte Luther als junger Mann ähnlich, aber dann später völlig anders.
Nach dem Abitur in St. Blasien trat ich 1949 als 19-Jähriger in das Noviziat der Jesuiten in München-Pullach ein. Im Mittelpunkt des zweijährigen Noviziats stehen die tägliche Meditation und geistliche Übungen, einfache Arbeiten im Garten oder in der Küche bis zum Putzen der Waschräume, aber auch praktische Arbeiten in der Fabrik – bei mir war es die Eisengießerei Kustermann in München –, in Altenpflegeheimen, an Sonderschulen. Am Ende des ersten Jahres ereignen sich – so ernsthaft und feierlich kam mir das damals vor – die sogenannten großen Exerzitien des Ordensgründers Ignatius von Loyola: 30 Tage absolutes Schweigen, Kontemplation, Gewissenserforschung, Beten, das Lernen der Unterscheidung der Geister und die totale Selbstverleugnung: »abnegatio sui ipsius«, das bedeutet Zerstörung des alten Menschen, Geburt eines neuen Menschen, eines neuen Heiner Geißler, der »ad maiorem dei gloriam« lebt und dessen höchstes Ziel und wichtigste Aufgabe darin besteht, den Hochmut zu bekämpfen, die Ursünde des gefallenen Engels: Ich bin wie Gott.
Nach zwei Jahren legte ich – so wie Luther bei seinem späteren Eintritt in das Augustiner-Eremitenkloster in Erfurt – die drei Ordensgelübde ab: Armut, Keuschheit und Gehorsam. Im Alter von 23 Jahren trat ich aus dem Orden, mit dem ich mich bis heute eng verbunden fühle, wieder aus, weil ich zwei dieser Gelübde – es war nicht die Armut – nicht so richtig halten konnte.
1. Tischrede 3566 A, in: Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Tischreden, Bd. 1–6, Weimar: Hermann Böhlau, 1912–1921 (= WA TR), hier Bd. 3, S. 415 f. Bei Zitaten aus der Weimarer Ausgabe wurden leichte Modernisierungen zum besseren Verständnis vorgenommen, ggf. wurden lateinische Sätze ins Deutsche übertragen.
2. Vgl. Brecht, Martin: Martin Luther. 3 Bände, unveränderte Sonderausgabe, hier Band 1: Sein Weg zur Reformation 1482–1521. Stuttgart: Calwer Verlag, 2013, S. 18.
3. Vgl. ebd., S. 19 und Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel, Bd. 1–15, Weimar: Hermann Böhlau, 1930–1978 (= WA B), hier Bd. 5, S. 351 f.
4. WA TR 3, 3566 A, S. 416.
5. Brecht, Martin: Martin Luther. 3 Bände, unveränderte Sonderausgabe, hier Band 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546. Stuttgart: Calwer Verlag, 2013, S. 236 f.
6. WA TR 5, 5571, S. 254.
7. Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1–58, Weimar: Hermann Böhlau, 1883 ff. (WA), hier Bd. 15, S. 46,7 ff.
Die theologische Reformation
Die geschichtliche Situation – Der Blitzschlag – Dies irae – Luthers Sündenangst – Sündenkataloge – Metanoeite – Der Mensch: ein Klumpen Sündendreck – Ablass für das Schwängern der Jungfrau Maria – Rechtfertigungslehre – Kopernikus und Luther – Die Erbsünde – Jesus oder Augustinus – Unerträgliche Sündenmoral
Luther war nicht der einzige Kritiker der katholischen Kirche und der Gesellschaft des ausgehenden Mittelalters und des Beginns der Neuzeit. Es war eine Periode des Umbruchs, wie sie in der Geschichte der Menschheit nur selten vorkam. Die Neue Welt war entdeckt worden. Das ptolemäische Denken und das theozentrische Weltbild gerieten ins Wanken, und Europa war durch das islamisch-türkische Osmanische Reich unmittelbar bedroht. Die Erfindung des Buchdrucks hatte ähnlich revolutionäre Folgen wie heute die Entwicklung der Computer und des Internets. Die europäischen Mächte waren in schwere Kriege verwickelt, und die Autorität des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war angeschlagen und wurde vor allem von Frankreich und England bestritten. Die Kirche und ihre Repräsentanten – Päpste, Bischöfe, Würdenträger – befanden sich zum großen Teil in einer geistigen und moralischen Krise. Das Papsttum hatte eine Periode tiefsten moralischen Zerfalls noch kaum zu überwinden angefangen. Politik und Religion waren so miteinander verwoben, dass die Kirche zum Staat und der Staat zur Kirche wurde. Die Klöster zerfielen, und schon damals wurde den Priestern durch den Zölibat eine Last auferlegt, die nur die wenigsten tragen konnten, so dass sich in den Augen der Bevölkerung der »Sittenverfall« auch unter einfachen Priestern rasch verbreitete. Der immense Geldbedarf der Mächtigen führte zur Ausbeutung der kleinen Leute. Vielerorts erhoben sich die Bauern, weil sie den Frondienst nicht mehr zu tragen fähig und willig waren. Krankheiten und früher Tod waren alltägliche Begleiter, und mittels des Ablasshandels wurde sogar mit Sünden und deren Nachlass erhebliches Geld gemacht und die Kirchen bereichert.
Auch wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Nach dem Niedergang des Nationalsozialismus und ebenso des Kommunismus entsteht global eine neue Ideologie: der religiöse Fundamentalismus, der in seiner Aggressivität gestärkt wird durch die technologische Revolution und die damit verbundene Globalisierung von Ökonomie und Kultur. Was Luther angesichts dieser Zustände heute sagen würde, kann niemand wissen. Aber was er mit seinem theologischen Hintergrund sagen müsste, um die Kirchen und die Gläubigen in vergleichbarer Weise wachzurütteln wie vor 500 Jahren und an ihre weltgeschichtliche Mission zu erinnern, das kann ebenso genau beschrieben werden wie die Chancen, die Inhalte, die Bedingungen für die Überwindung des Schismas in der Westkirche und mit der Ostkirche.