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Ist der Glaube an Gott irrational und einfach nicht mehr zeitgemäß? Oder gibt es im Gegenteil gute Gründe, die für die Existenz Gottes sprechen? Kann man den Glauben an Gott und das Elend der Welt miteinander vereinbaren? Kann auch ein Leben ohne Gott einen Sinn ergeben? Die vielen Fragen und Antworten aus Gesprächen mit seinen Söhnen, ihren Freundinnen und Freunden, mit Berufsschülern und Abiturienten, ihren Eltern, mit Mitgliedern der katholischen und evangelischen Jugend ebenso wie mit Studenten und politisch interessierten Jugendlichen hat Heiner Geißler in sieben Gesprächen zusammengefasst.
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Seitenzahl: 173
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Heiner Geißler
«Wo ist Gott?»
Gespräche mit der nächsten Generation
Ihr Verlagsname
Ist der Glaube an Gott irrational und einfach nicht mehr zeitgemäß? Oder gibt es im Gegenteil gute Gründe, die für die Existenz Gottes sprechen? Kann man den Glauben an Gott und das Elend der Welt miteinander vereinbaren? Kann auch ein Leben ohne Gott einen Sinn ergeben?
Die vielen Fragen und Antworten aus Gesprächen mit seinen Söhnen, ihren Freundinnen und Freunden, mit Berufsschülern und Abiturienten, ihren Eltern, mit Mitgliedern der katholischen und evangelischen Jugend ebenso wie mit Studenten und politisch interessierten Jugendlichen hat Heiner Geißler in sieben Gesprächen zusammengefasst.
Dr. Heiner Geißler, geboren am 3. März 1930, drei Söhne, vier Enkelkinder, studierte als Mitglied des Jesuitenordens vier Jahre Philosophie in München und anschließend Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen. Er war Richter, dann Jugend-, Sozial- und Sportminister in Rheinland-Pfalz. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Bonn. Zahlreiche sozialpolitische Neuerungen wie die Einführung von Sozialstationen, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sowie das erste Kindergarten-, Krankenhausreform- und Sportförderungsgesetz wurden von ihm durchgesetzt.
Als Generalsekretär machte Heiner Geißler die CDU zu einer modernen Programmpartei. Zu seinen bekanntesten Buchveröffentlichungen zählen: «Die Neue Soziale Frage», «Abschied von der Männergesellschaft», «Der Irrweg des Nationalismus», «Bergsteigen», «Das nicht gehaltene Versprechen: Politik im Namen Gottes», «Zeit, das Visier zu öffnen», «Intoleranz». Heiner Geißler war begeisterter Bergsteiger, Kletterer und Gleitschirmflieger. Er starb am 12. September 2017.
Für Dominik, Lucile, Michael,
Annett, Nikolai, Mechtild, Helena,
Hannah, Merle und Paul
Auch während der politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte hat mich die Frage nach dem Sinn des Lebens immer umgetrieben. In einem meiner politischen Bücher (1990) habe ich in einem kurzen Kapitel die Frage gestellt: Existiert Gott? Und kam zu dem Ergebnis, dass es sich mit den Gottesbeweisen ähnlich verhalte wie mit der Seilsicherheit beim Bergsteigen: Die Kletterseile haben alle eine Sturzgarantie, aber wenn es ernst wird, und es kommt zum Sturz, weiß man nie, ob sie nicht doch reißen. Aus dieser Erkenntnis entwickelten sich viele Gespräche mit meinen Söhnen, ihren Freunden, mit Berufsschülern und Abiturienten, ihren Eltern, mit Mitgliedern der katholischen und evangelischen Jugend ebenso wie mit Studenten und politisch interessierten jungen Menschen. Die – fast unendlich – vielen Fragen und Antworten habe ich in diesem Buch niedergeschrieben und in sieben Gesprächen zusammengefasst.
Heiner Geißler
Gleisweiler, im Juni 2000
Über die Zweifel der Menschen, die Gottesbeweise und über Antworten der Weltreligionen
Mitte der neunziger Jahre sind in Srebrenica in Bosnien-Herzegowina über 10000 Zivilisten von serbischen Milizen brutal ermordet worden. Das ist doch entsetzlich. Warum lässt Gott so etwas zu?
Es gibt noch viel schlimmere Beispiele. Von 1940 bis 1945 haben die Nazis sechs Millionen Juden vergast, zu Tode geschlagen oder sonst wie umgebracht. Darüber regt sich die ganze Welt heute noch auf, völlig zu Recht.
Aber dann ist es doch umso schlimmer!
Ob Gott bei diesen Verbrechen eine Rolle spielt, wird ein zentrales Thema unserer Diskussion werden. Aber zunächst will ich euch etwas Schockierendes sagen. Es klingt fast unmenschlich. Aber es ist wahr und bringt uns zum eigentlichen Problem. Der letzte Weltkrieg hat 52 Millionen Tote gekostet. Es sind aber nicht mehr Menschen umgekommen als ohnehin gestorben wären, zu 100 Prozent an jedem Ort, zu jeder Zeit. Die Statistik des Todes ist eindeutig: Von hundert Menschen sterben hundert.
Aber das ist doch nicht in Ordnung! Die einen bringen die anderen um und können deswegen länger leben. Und meistens sind es die Ärmeren und die Schwächeren, die sich weniger gut wehren können oder nicht so gesund leben können, weil sie zum Beispiel nicht genügend zu essen haben.
Ihr habt Recht. Im Lebensalter und in den Todesumständen gibt es himmelweite und himmelschreiende Unterschiede. Aber ich habe auch Recht: Der Tod ist total demokratisch. Er macht alle gleich, egal, ob jemand Präsident ist oder bei der Müllabfuhr arbeitet.
Was glaubst du, warum die Menschen überhaupt über Gott nachdenken?
Ich glaube, dass in einer ruhigen Stunde alle wissen, dass sie irgendwann irgendwie sterben müssen. Und viele wollen sich damit nicht abfinden und sagen sich, wenn ich jetzt mit achtzig oder sechzig oder fünfzig Jahren sterben muss – das kann es nicht gewesen sein. Es muss doch hinterher irgendwie weitergehen.
Aber kann durch die Gentechnologie nicht erreicht werden, dass die Menschen nicht mehr sterben? Durch die moderne Medizin kann man ja heute schon das Leben verlängern. Unser Lehrer sagt, noch vor dreißig Jahren seien die Menschen in Deutschland im Schnitt zweiundsiebzig Jahre alt geworden, heute werden sie achtzig Jahre alt. Wir haben bald nur noch Oldies im Land.
Aber den Tod kann man deswegen doch nicht verhindern. Man kann einen Unfall erleiden oder wird von einem Verbrecher erschossen. Dann ist man auch tot.
Aber vielleicht entwickelt die Gentechnologie irgendwann den schussfesten Menschen, oder zerstörte Organe wachsen einfach nach.
Dann werden aber sieben Milliarden Menschen und ihre Nachkommen immer älter und älter und älter werden. Unsere kleine Erde wäre mit einer solchen Entwicklung vollkommen überfordert. Irgendwann wäre auf der Erde gar kein Platz mehr, und man müsste anfangen, die überzähligen Leute vielleicht auf dem Mars oder auf dem Mond anzusiedeln, falls man dort überhaupt Lebensmöglichkeiten schaffen kann.
Dann müsste eben entschieden werden, wer auf den Mars oder auf den Mond muss und wer hier auf der Erde bleibt.
Ich glaube, dass es allein wegen dieser Frage schon große Kriege geben würde und sich die Menschen dann eben mit Gewalt umbringen würden.
Okay. Die Unsterblichkeit des Menschen auf dieser Welt macht echte Probleme, aber wie steht es mit dem Leben nach dem Tode? Diese Frage beschäftigt doch viele Menschen, und viele haben Angst vor dem Tod.
Der griechische Philosoph Epikur hatte sich darüber schon vor 2300 Jahren eigene Gedanken gemacht. Er selber hatte ein ziemlich pragmatisches Verhältnis zum eigenen Tod. Vor dem Sterben setzte er sich in einen Bottich voll heißen Wassers, trank darin Wein und unterhielt sich, bis sein Tod eintrat. Leider ist das Sterben nicht immer so angenehm. Aber Epikur meinte – und das ist ja nicht so ganz falsch –, man solle sich wegen des Todes nicht so viele Gedanken machen, man könne ihn ohnehin nicht ändern, und oft sei die Angst vor dem Tod schlimmer als der Tod selber. «Solange wir sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir nicht mehr», schrieb er an seinen Freund Menoikeus. Man muss zugeben, dass dies gar nicht so unlogisch ist.
Und er hat damit auch offen gelassen, ob es nach seiner Meinung nach dem Tode weitergeht oder nicht.
Ob es nach dem Tode noch ein weiteres Leben gibt, das hängt eben mit der Frage zusammen, ob es einen Gott gibt. Und deswegen bestreiten diejenigen, die die Existenz Gottes leugnen, auch ein Weiterleben nach dem Tode, und umgekehrt glauben diejenigen an ein Leben nach dem Tode, die an Gott glauben.
Ist der Tod der einzige Grund, warum die Menschen über Gott nachdenken?
Nein, mit Sicherheit nicht. Wenn man einmal über die rasende Ausdehnung des Weltalls nachdenkt, dann kommt man aus dem Staunen genauso wenig heraus wie bei der sensationellen Entzifferung des menschlichen Gen-Codes. Aber damit haben wir natürlich Gott noch längst nicht bewiesen.
Ist es denn überhaupt sinnvoll, über Gott nachzudenken, wenn man ohnehin an allem zweifeln kann?
Es gibt ganze Generationen von Philosophen, die alles in Zweifel ziehen. Ihr kennt es aus dem täglichen Leben, wo man oft sagt, da bin ich aber skeptisch, ob das stimmt, was uns die Lehrerin sagt oder was der Michael gesehen hat. Es gab aber auch einen Philosophen, der etwas ganz Gescheites gedacht hat, nämlich, dass man an allem zweifeln könne, aber nicht daran, dass man selber denkt. Also existiere man auch. Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich –, sagte dieser berühmte Philosoph – ein Franzose. Er hat im 17. Jahrhundert gelebt und heißt René Descartes.
Aber wenn ich weiß, dass ich existiere, dann weiß ich ja noch lange nicht, ob Gott existiert.
Das hat dieser Philosoph genauso gesehen, und deswegen hat er in die Trickkiste gegriffen und behauptet, wenn der Mensch die Existenz Gottes denken könne, dann müsse Gott auch existieren, denn was es nicht wirklich gibt, könne man nicht denken.
Das kann doch auch nicht richtig sein. Ich könnte mir ja zum Beispiel vorstellen, ich sei der Gescheiteste in meiner Klasse, in Wirklichkeit habe ich in Englisch sogar eine Vier.
Stimmt. Natürlich kann ich mir Sachen denken, die nicht wirklich existieren. Aber wenn ich nichts in der Brieftasche habe, dann nützt es mir gar nichts, wenn ich denke, dass 100 Mark darin sind. Ich kann natürlich die Möglichkeit, dass da eines Tages mal 100 Mark reinkommen, nicht ausschließen, aber es ist eben nicht die Wirklichkeit.
Das wäre in der Tat das Beste. Aber leider hilft uns auch die Mathematik nicht viel weiter. Sie ist nämlich selber nicht ohne Widersprüche, abgesehen davon, dass man zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen kommt, je nachdem welche Voraussetzungen man annimmt. Außerdem hat ein Mathematiker namens Kurt Gödel etwas ganz Fundamentales bewiesen, dass nämlich ein Zahlensystem, das in sich widerspruchsfrei ist, niemals vollständig sein kann. Das bedeutet, dass die Mathematik nie in der Lage sein wird, eine vollständige und gleichzeitig widerspruchsfreie Beschreibung der Wirklichkeit zu entwerfen.
Das klingt jetzt aber ziemlich verwirrend. Das heißt doch, dass die Wissenschaft sich mit ihren Erkenntnissen selber blockiert?
Ihr habt sicher schon davon gehört, dass Albert Einstein, wohl der berühmteste Physiker des 20. Jahrhunderts, bewiesen hat, dass sich Teilchen, also beispielsweise auch Informationen über das Internet, niemals schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Deswegen glauben viele Wissenschaftler, dass die Weltraumforschung in der Zukunft keine so große Bedeutung mehr haben wird. Menschen werden vielleicht eines Tages zu anderen Planeten unseres Sonnensystems reisen können. Doch wenn eine Überlichtgeschwindigkeit unmöglich sein sollte, dann braucht man nicht einmal den Versuch zu unternehmen, einen anderen Stern, geschweige denn eine andere Galaxie zu besuchen. Ein Raumschiff, das eine Geschwindigkeit von 1,6 Millionen Stundenkilometer erreichen könnte, würde noch immer fast 300 Jahre brauchen, um unseren nächstgelegenen Nachbarstern Alpha Centaurie zu erreichen.
Im Raumschiff Enterprise gibt es aber einen «Warp-Antrieb», der mit Überlichtgeschwindigkeit arbeitet.
Das ist – leider – noch Science-Fiction. Stephen Hawking, ein anderer berühmter Physiker, den ihr sicher kennt, hat sich damit befasst, und er ist zu dem Schluss gekommen, dass bei einem solchen Tempo durch die Regeln der Quantenphysik die Teilchen, aus denen unser Körper aufgebaut ist, bis zur Unkenntlichkeit durcheinander gewirbelt werden würden, auf Deutsch gesagt: kein Mensch würde so etwas überleben.
Aber kann man vielleicht durch das Nachdenken über diese unglaublichen Dinge zu dem Ergebnis kommen, dass es Gott gibt?
Wir werden sehen, dass man seine Existenz auf jeden Fall nicht ausschließen kann. Gerade die Naturwissenschaften öffnen uns den Blick in eine grandiose, aber auch widersprüchliche Welt, die scheinbar keine Grenzen hat und doch nach bestimmten Gesetzen lebt, so zum Beispiel der Lichtgeschwindigkeit und der Gravitation im Weltall. Beim Blick in dieses Universum stellt man sich fast zwangsläufig die Frage, kann so etwas Faszinierendes aus sich heraus kommen oder muss dafür nicht eine Ursache vorhanden sein, die das alles in Gang gesetzt hat.
Dann könnte man vielleicht Gott doch beweisen?
Und weiß man, wie dieses Universum entstanden ist?
Es ist herrschende Meinung, dass unser Universum vor ungefähr dreizehn bis siebzehn Milliarden Jahren mit einer gigantischen Explosion begann, aus der heraus der gesamte Raum und die gesamte Materie entstanden sind. Auf den Punkt kommen wir später, so hoffe ich, noch einmal zu sprechen.
Wir haben gehört, dass Albert Einstein noch eine ganze Reihe von unverständlichen Thesen aufgestellt hat.
Sie sind zum Teil unverständlich, aber trotzdem bewiesen. So zum Beispiel, dass, je schneller ihr euch bewegt, umso langsamer die Zeit für jemanden vergeht, der euch beobachtet. Und auch je schneller ihr euch bewegt, desto mehr nehmt ihr an Masse zu. Das hat zum Beispiel zur Folge, dass die Triebwerke die Geschwindigkeit eines Raumschiffes zunehmend weniger effektiv erhöhen können. Und dass das Raumschiff, je schneller es sich bewegt, desto kürzer wird. Bei der Lichtgeschwindigkeit, das sind 299783 Kilometer in der Sekunde, hört die Zeit auf, und das Raumschiff hat die Länge null und seine Masse ist unendlich.
Aber das ist doch völlig unmöglich.
Auch Einstein war sich darüber im Klaren. Aber er hat daraus das richtige Fazit gezogen, dass man nämlich die Lichtgeschwindigkeit nie erreichen kann.
Aber ist es dann nicht richtig, zu sagen, dass diese phantastischen Dinge irgendeine Ursache haben müssen und dass diese Ursache Gott ist? Denn stimmt es nicht, dass die Welt voller Wunder ist, wohin man auch blickt: die Blätter auf den Bäumen, von denen keines wie das andere ist, die Tiere, die Schönheit der Farben?
Jedenfalls liegt es nahe, so zu denken. Aber vielleicht kann alles ganz anders sein.
Wie meinst du das?
Zum Beispiel könnte die Wolke von Milliarden von Galaxien, die sich in unserem Universum ausgedehnt haben, bloß ein Fragment sein, ein Teil eines viel größeren Universums, in dem ein Urknall nach dem anderen stattfindet und in dem ganz andere Gesetze gelten.
Aber dafür muss es dann doch auch eine Ursache geben? Die Annahme, dass alles eine Ursache haben muss, widerspricht doch nicht der Vernunft?
Mit Sicherheit nicht. Aber ob man diese Ursache Gott nennen kann, steht auf einem anderen Blatt Papier. Es könnte auch so sein, dass die Gesamtheit der ganzen Welt, von den Bergen angefangen über die Menschen bis zu den fernen Milchstraßen und den schwarzen Löchern, das Absolute darstellt, wie das zum Beispiel andere Weltreligionen für richtig halten. Und können nicht auch die Entwicklung, Unvollkommenheit und Endlichkeit zum Absoluten gehören?
Wenn man nicht glaubt, dass Gott die Welt erschaffen hat, wie kann man dann ihre Entstehung erklären?
Von Anfang an haben sich die Menschen mit den so genannten «letzten Dingen» beschäftigt. Für die Sumerer zum Beispiel begann die Welt mit der geschlechtlichen Vereinigung von Erde und Ozean oder bei den Babyloniern von Süßwasser- und Salzwasserozean, für die alten Griechen entwickelte sich die Welt aus einem Urstoff, wieder andere vertraten die «Schöpfung aus dem Nichts».
Das sind ja eigentlich ziemlich moderne Vorstellungen, oder nicht?
Jedenfalls haben die Alten einiges geahnt. Das werden wir noch bei der Entwicklung des Lebens durch «Zufall und Notwendigkeit» sehen – eine spannende Geschichte, das kann ich jetzt schon voraussagen, die aber schon der alte Demokrit vor 2400 Jahren erkannt hatte.
Welche Erklärungen haben denn die heutigen Weltreligionen?
Die zentrale Frage ist ja immer das Verhältnis des Menschen zum gesamten Kosmos. Die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen wird in den Religionen Indiens und Ostasiens unterschiedlich und oft gegensätzlich zum Christentum, dem Islam und dem Judentum beurteilt. Zum Beispiel kennen die Hindus den absoluten Urgrund des Seins, das Brahman, in dem das Atman, das heißt die Seele, der Geist des Menschen, aufgeht, mit dem es eins ist.
Und was sagen zum Beispiel die Buddhisten?
Sie glauben an die Wiedergeburt des Menschen, an den Wiedereinstieg aller Menschen in den Kreislauf der Geburten. Von dieser ständigen Begegnung mit Leid und Tod erlöst sich der Mensch durch Wissen, sittliches Leben, Meditation und geht dadurch ins Nirwana ein, ins «Erlöschen», in das Ende von Gier, Hass und Leid.
Im Fernsehen gab es einmal einen Film über Indien, in dem viele große und kleine Tempel gezeigt wurden, aber auch Götterstatuen und viele andere Altäre. Dann glauben die Inder zum Beispiel doch an Götter und nicht an Brahman?
Ich glaube, man kann einen Hindutempel mit einer katholischen Barockkirche vergleichen. Auch die Christen glauben an mehrere «Götter» wie die Inder, sie nennen sie nur anders, nämlich «Heilige», «Engel», so etwas Ähnliches sind die Götter, die «Devas», der Hindus, nämlich eher Heilige oder Halbgötter.
Nun war neulich in der Zeitung zu lesen, dass zum Beispiel in Afghanistan, wo die Taliban eine Art islamistische Theokratie, also eine Theologen-Diktatur errichtet haben, es verboten sei – neben vielen anderen Verboten, die es dort gibt –, zu fotografieren und Bilder herzustellen, und von unseren türkischen Freunden hören wir, dass im Islam insgesamt eine große Abneigung gegen religiöse Bilder, ja sogar gegen jede Form der Malerei und der Bildhauerei vorhanden sei.
Das hängt damit zusammen, dass der Islam einen anderen gedanklichen Ursprung hat als zum Beispiel der Hinduismus. Die großen Weltreligionen haben zwei unterschiedliche Wurzeln, man kann auch sagen entstammen zwei unterschiedlichen Kulturkreisen. Der indogermanische Kulturkreis umfasst die Länder, in denen indogermanische Sprachen gesprochen werden, dazu gehören grob gesprochen vor allem Europa und Indien. Es ist ziemlich sicher, dass der räumliche Ursprung der europäischen und indischen Völker in dem Gebiet um das Kaspische und Schwarze Meer liegt, von wo aus die Menschen vor wahrscheinlich 4000 Jahren nach Norden und Westen und nach Südosten zogen. Der andere Kulturkreis, der semitische, stammt von der arabischen Halbinsel, und zu ihm gehören vor allem die Araber und die Juden. Und weil Jesus ein Jude war, im Übrigen auch Paulus und alle Apostel, die wir aus der Bibel kennen, hat auch das Christentum eine semitische Wurzel.
Du hast aber jetzt immer noch nicht erklärt, warum man in Afghanistan nicht fotografieren darf.
Dies hängt mit der Religion und den mit der Religion verbundenen Vorstellungen von Gott zusammen. Die Religionen semitischen Ursprungs, also der Islam, das Judentum und das Christentum, kennen nicht viele Götter, sondern nur einen Gott, und von diesem einen Gott soll sich der Mensch keine Bilder machen – das steht schon im alten Testament, und daran halten sich bis auf den heutigen Tag weite Teile des Islam und des Judentums. Und weil das «Erschaffen» eine Domäne des einen Gottes ist, sollen die Menschen ihn durch Bilder und Skulpturen nicht «nachäffen».
Aber im Christentum, das hast du vorhin selber gesagt, gibt es Bilder und Skulpturen wie Sand am Meer.
Das Christentum hat sich, wie wir wissen, vom damaligen Palästina nach Europa ausgedehnt, und dort stieß es auf den indogermanischen Kulturkreis, in dem die Menschen viele Götter kannten, wie zum Beispiel die Römer, die Germanen und die Griechen, wie wir schon gesehen haben, und das Christentum hat sich angepasst und auch die darstellende Kunst in seine Vorstellungswelt aufgenommen, ohne den Glauben an einen Gott aufzugeben.
Worin liegen denn nun die Hauptunterschiede zwischen den jeweiligen Weltreligionen?