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"Jemand stirbt oder eine Liebe geht zu Ende und nichts wird aufgelöst, man bleibt einfach damit zurück", hat Lucia Berlin über Anton Tschechow und seine Kunst des Erzählens mit offenem Ausgang einmal gesagt. So wenig wie ihr Vorbild richtet Lucia Berlin über ihre Figuren, so nah wie er zoomt sie das Leben heran: eine erste Liebe, eine Amour fou, scheiternde Ehen, kurze Affären. Immer wieder die Familie, vor allem die sterbende Schwester, aber auch der Kampf mit dem Alkohol, die Einsamkeit, das schlechte Gewissen, vor allem den Söhnen gegenüber. Lucia Berlins unsentimentaler, zugleich von tiefen Gefühlen geprägter Blick auf die Wechselfälle des Lebens und der dunkle, pointierte Humor machen diese Erzählerin so einzigartig und zeitlos modern.
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Seitenzahl: 209
Lucia Berlin
Was wirst du tun, wenn du gehst
Stories
Aus dem amerikanischen Englisch und mit einem Nachwort von Antje Rávic Strubel
Stellen Sie sich Tschechows Erzählung Trauer in der ersten Person Singular vor. Ein alter Mann erzählt uns, dass sein Sohn gerade gestorben ist. Es wäre uns peinlich, unangenehm, wir wären sogar gelangweilt, würden also genauso reagieren wie die Gäste des Kutschers in der Geschichte. Aber Tschechows unparteiische Stimme stattet den Mann mit Würde aus. Wir sind durchdrungen vom Mitgefühl des Autors für diesen Mann und tief bewegt, wenn nicht vom Tod des Sohnes, so doch von diesem alten Mann, der mit seinem Pferd spricht.
Ich glaube, das liegt daran, dass wir alle ziemlich unsicher sind.
Ich meine, wenn ich Ihnen die Frau, über die ich gerade schreibe, so vorstellen würde …
»Ich bin eine alleinstehende Frau Ende fünfzig. Ich arbeite in einer Arztpraxis. Ich fahre mit dem Bus nach Hause. Jeden Samstag mache ich die Wäsche und gehe dann zu Lucky’s einkaufen, ich kaufe den Sunday Chronicle und gehe nach Hause.« Sie würden sagen, verschonen Sie mich!
Aber meine Geschichte beginnt so: »Jeden Samstag nach dem Waschsalon und dem Lebensmittelladen kaufte sie den Sunday Chronicle.« Sie hören sich all die zwanghaften, obsessiven, langweiligen kleinen Details des Lebens dieser Frau – Henrietta – nur an, weil das Ganze in der dritten Person geschrieben ist. Sie denken: Verdammt, wenn die Erzählerin der Meinung ist, es gibt irgendetwas an diesem trostlosen Geschöpf, worüber es sich zu schreiben lohnt, muss da auch etwas sein. Ich lese mal weiter und schaue, was passiert.
Nichts passiert, genau genommen. Im Grunde ist die Geschichte noch nicht einmal geschrieben. Ich hoffe jedoch, die Frau mithilfe ausgefuchster Details so glaubwürdig machen zu können, dass Sie nicht umhinkommen, mit ihr zu fühlen.
Die meisten Schriftsteller verwenden Requisiten und Kulissen aus ihrem eigenen Leben. Beispielsweise isst Henrietta ihr bescheidenes Abendbrot immer auf einem blauen Platzdeckchen mit erlesenem schweren italienischen Besteck. Ein sonderbares Detail, scheinbar unpassend für diese Frau, die Ermäßigungsgutscheine für Handtücher von Brawny ausschneidet, aber es weckt die Neugier der Leser. Zumindest hoffe ich das.
Ich glaube nicht, dass ich in der Geschichte irgendetwas erklären werde. Ich esse selbst mit so einem eleganten Besteck. Letztes Jahr habe ich sechs Sets aus dem Weihnachtskatalog des Museum of Modern Art bestellt. Sehr teuer, hundert Dollar, aber die Sache schien es mir wert zu sein. Ich habe sechs Plätze und sechs Stühle. Vielleicht veranstalte ich ein Abendessen, dachte ich damals. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sechs Einzelteile waren, die zusammen hundert Dollar kosteten. Zwei Gabeln, zwei Messer, zwei Löffel. Ein Set. Es war mir peinlich, sie zurückzuschicken; ich dachte, na gut, vielleicht bestelle ich mir nächstes Jahr noch eines.
Henrietta isst mit ihrem hübschen Besteck und trinkt Calistoga-Wein aus einem Becher. In einer hölzernen Schüssel hat sie Salat und auf dem Teller Diätkost. Während sie isst, liest sie die Rubrik This World, in der alle Artikel von demselben Menschen geschrieben zu sein scheinen.
Henrietta kann den Montag nicht erwarten. Sie ist in Dr. B. verliebt, den Nierenfacharzt. Viele Krankenschwestern sind verliebt in »ihre« Ärzte. Eine Art Della-Street-Syndrom.
Dr. B. hat seine Praxis über dem Nierenfacharzt, für den ich einmal gearbeitet habe. In den war ich ganz bestimmt nicht verliebt. Ich machte manchmal Witze und sagte, wir hätten eine Hassliebe. Er war so voller Hass, dass es mich daran erinnert haben muss, was aus Liebesbeziehungen wird. Manchmal.
Allerdings war Shirley, meine Vorgängerin, in ihn verliebt. Sie zählte alle Geburtstagsgeschenke auf, die sie ihm gegeben hatte. Den Gärtner mit dem Efeu und das kleine Messingfahrrad. Den Spiegel mit dem mattierten Koalabär. Das Stifte-Set. Sie sagte, er hätte alle Geschenke gemocht außer dem Fahrradsattel aus wuschliger Schafswolle. Den musste sie gegen Fahrradhandschuhe eintauschen.
In meiner Geschichte lacht Dr. B. Henrietta wegen des Sattels aus, er macht sich richtig lustig und ist gemein zu ihr, wie er das auch wirklich oft sein konnte. Das wird sogar der Höhepunkt der Geschichte, wenn ihr klar wird, welche Verachtung er ihr entgegenbringt und wie jämmerlich ihre Liebe ist.
Am ersten Tag, als ich dort arbeitete, bestellte ich Papierkittel. Shirley benutzte welche aus Baumwolle. »Blaues Karo für die Jungs, rosa Rosen für die Mädchen.« (Die meisten unserer Patienten waren so alt, dass sie Gehhilfen benutzten.) Jedes Wochenende schleppte sie die Wäsche im Bus nach Hause und wusch sie nicht nur, sondern stärkte und bügelte sie auch noch. Meine Henrietta werde ich dasselbe tun lassen … Bügeln am Sonntag, nachdem sie ihre Wohnung sauber gemacht hat.
Natürlich geht es in meiner Geschichte viel um Henriettas Gewohnheiten. Gewohnheiten! An sich ist nicht viel gegen sie zu sagen, sie hören bloß nie auf. Jeden Samstag, Jahr für Jahr.
Jeden Sonntag liest Henrietta die rosa Seiten. Zuerst das Horoskop, immer auf Seite 16, das ist die Gewohnheit der Zeitung. Gewöhnlich haben die Sterne flotte Sachen über Henrietta zu sagen. »Vollmond, sexy Skorpion, du weißt, was das bedeutet! Mach dich darauf gefasst, dass es knistert!«
An Sonntagen, nach dem Saubermachen und dem Bügeln, bereitet Henrietta sich etwas Besonderes zum Abendessen zu. Gebratenes Stubenküken. Instant-Füllung und fertige Cranberrysoße. Erbsen in Sahne. Und zum Nachtisch einen Schokoriegel.
Nach dem Abwasch schaut sie 60 Minuten. Nicht, weil sie sich besonders für die Sendung interessiert. Sie mag die Leute. Diane Sawyer, so kultiviert und hübsch, und die Männer alle solide, verlässlich und sachkundig. Es gefällt ihr, wenn sie sorgenvoll den Kopf schütteln. Am besten findet sie die große Uhr. Der Minutenzeiger und das Tick-Tack-Tick der Zeit.
Dann schaut sie Murder, She Wrote, was sie nicht mag, aber es kommt nichts anderes.
Es fällt mir schwer, über den Sonntag zu schreiben. Das lange, leere Gefühl von Sonntagen zu spüren. Keine Post und Rasenmäher in der Ferne, die Hoffnungslosigkeit.
Oder wie beschreibt man Henriettas Gier auf Montagmorgen. Das Tick-Tick seiner Fahrradpedale und das Klicken, wenn er seine Tür abschließt, um in seinen blauen Arztanzug zu wechseln.
»Schönes Wochenende gehabt?«, fragt sie. Er antwortet nie. Er sagt nie Hallo oder Auf Wiedersehen.
Abends hält sie ihm die Tür auf, wenn er sein Fahrrad nach draußen schiebt.
»Auf Wiedersehen! Machen Sie’s gut«, sagt sie lächelnd.
»Was soll ich gut machen? Verdammt noch mal, hören Sie auf damit.«
Aber wie gemein er auch zu ihr ist, Henrietta glaubt, dass es zwischen ihnen eine Verbindung gibt. Er hat einen Klumpfuß und hinkt heftig, während sie Skoliose hat, eine Rückgratverkrümmung. Einen Buckel, genau genommen. Sie ist gehemmt und schüchtern, kann seinen Sarkasmus aber nachvollziehen. Einmal hat er gesagt, sie habe zwei Eigenschaften, die sie zur Krankenschwester qualifizierten … »dumm und unterwürfig«.
Nach Murder, She Wrote badet Henrietta, verwöhnt sich mit nach Blumen duftenden Badekugeln.
Während sie sich Lotion auf Gesicht und Hände reibt, schaut sie die Nachrichten. Sie hat Teewasser aufgesetzt. Sie mag den Wetterbericht. Die kleinen Sonnen über Nebraska und North Dakota. Regenwolken über Florida und Louisiana.
Sie liegt im Bett und trinkt Einschlaftee. Sie wünscht sich, sie hätte noch ihre alte Heizdecke mit dem Schalter SCHWACH-MITTEL-HEISS. Die neue Decke wurde als die »Intelligente Heizdecke« beworben. Die Decke weiß, dass es nicht kalt ist, also wird sie nicht heiß. Sie wünscht sich, sie würde heiß werden, wohlig. Die Decke ist zu klug! Sie lacht laut auf. Das Geräusch ist erschreckend in dem kleinen Zimmer.
Sie schaltet den Fernseher aus und trinkt den Tee in kleinen Schlucken, horcht auf die Autos, die an der Arco-Tankstelle auf der anderen Straßenseite ankommen und abfahren. Manchmal bremst eines der Autos quietschend vor der Telefonzelle. Eine Autotür schlägt zu, und schon rast der Wagen davon.
Sie hört, wie jemand langsam vor die Telefonzelle fährt. Laute Jazzmusik dringt aus dem Auto. Henrietta schaltet das Licht aus, zieht die Jalousie neben dem Bett auf, nur ein wenig. Das Fenster ist beschlagen. Im Autoradio läuft Lester Young. Der Mann am Telefon hält den Hörer mit dem Kinn. Er wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Ich lehne mich ans kühle Fensterbrett und beobachte ihn. Ich höre dem süßen Saxofon zu, das Polka Dots and Moonbeams spielt. Auf das beschlagene Glas schreibe ich ein Wort. Was? Meinen Namen? Einen Männernamen? Henrietta? Liebe? Was immer es ist, ich lösche es schnell, bevor es irgendjemand sieht.
Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexico City die Einzige im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen, er wird sich an dich anlehnen.
Wenn meine Söhne zu Hause waren und in mein Zimmer kamen, hatten sie dafür meistens einen besonderen Grund. Hast du meine Socken gesehen? Was gibt es zum Abendessen? Auch wenn jetzt die Glocke am Tor schellt, heißt es: Hallo, Mama! Lass uns zum Spiel der Athletics gehen, oder: Kannst du heute Abend auf die Kinder aufpassen? Aber in Mexiko kommen die Töchter meiner Schwester drei Treppen hoch und durch drei Türen, einfach, weil ich da bin. Um sich an mich zu lehnen oder zu fragen: Qué honda?
Ihre Mutter Sally schläft lautlos. Sie hat Schmerztabletten und ein Schlafmittel genommen. Sie hört nicht, wie ich im Bett neben ihrem Seiten umblättere, huste. Wenn Tino, ihr fünfzehnjähriger Sohn, nach Hause kommt, gibt er mir einen Kuss, tritt an ihr Bett und legt sich neben sie, hält ihre Hand. Er gibt ihr einen Gutenachtkuss und geht in sein Zimmer.
Mercedes und Victoria haben eigene Wohnungen auf der anderen Seite der Stadt, aber sie kommen jeden Abend vorbei, obwohl ihre Mutter nicht aufwacht. Victoria streicht Sally über die Stirn, schüttelt Kissen und Decken zurecht, malt mit einem Filzstift einen Stern auf ihren kahlen Kopf. Sally stöhnt im Schlaf, legt die Stirn in Falten. Halt still, Amor, sagt Victoria. Ungefähr um vier Uhr morgens kommt Mercedes, um ihrer Mutter Gute Nacht zu sagen. Sie ist Bühnenbildnerin beim Film. Wenn sie arbeitet, dann Tag und Nacht. Auch sie schmiegt sich eng an Sally, singt für sie, gibt ihr einen Kuss auf den Kopf. Sie sieht den Stern und lacht. Victoria war hier! Tía, bist du wach? Sí. Oye! Lass uns eine rauchen. Wir gehen in die Küche. Sie ist sehr müde, schmutzig. Steht vor dem offenen Kühlschrank, starrt hinein, seufzt, macht ihn zu. Wir rauchen und teilen uns einen Apfel, sitzen zu zweit auf dem einzigen Stuhl in der Küche. Sie ist glücklich. Der Film, den sie drehen, ist wunderbar, der Regisseur der Beste. Sie macht ihre Arbeit gut. »Sie behandeln mich respektvoll, wie einen Mann! Cappelini will, dass ich an seinem nächsten Film mitarbeite!«
Morgens gehen Sally, Tino und ich zum Kaffeetrinken ins La Vega. Tino spaziert mit seinem Cappuccino von Tisch zu Tisch und redet mit Freunden, flirtet mit Mädchen. Der Chauffeur Mauricio wartet draußen, um Tino in die Schule zu bringen. Sally und ich reden und reden, wie schon die ganze Zeit, seit ich vor drei Tagen aus Kalifornien gekommen bin. Sie trägt eine lockige rotbraune Perücke, ein grünes Kleid, das ihre jadefarbenen Augen betont. Alle sehen sie gebannt an. Sally geht seit fünfundzwanzig Jahren in dieses Café. Alle wissen, dass sie sterben wird, aber sie hat noch nie so schön und so glücklich ausgesehen.
Ich dagegen … wenn sie mir sagen würden, ich hätte noch ein Jahr zu leben, ich wette, ich würde ins Meer hinausschwimmen, es hinter mich bringen. Aber Sally, bei ihr scheint es, als wäre das Urteil ein Geschenk. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich, eine Woche bevor sie es erfuhr, in Xavier verliebt hat. Sie ist lebendig geworden. Sie genießt alles. Sie sagt, was sie will, macht, was ihr guttut. Sie lacht. Ihr Gang ist sexy, ihre Stimme ist sexy. Sie wird wütend und wirft Sachen durch die Gegend, schimpft. Klein Sally, immer bescheiden und passiv, als Kind in meinem Schatten und einen Großteil ihres Lebens in dem ihres Ehemanns. Jetzt ist sie stark, strahlend; ihr Elan ist ansteckend. Die Leute bleiben am Tisch stehen, um sie zu begrüßen, Männer küssen ihr die Hand. Der Arzt, der Architekt, der Witwer.
Mexico City ist eine riesige Metropole, aber die Leute haben Bezeichnungen füreinander wie auf dem Dorf, wo der Schmied Schmied heißt. Der Medizinstudent, der Richter, die Ballerina Victoria, die schöne Mercedes oder der Minister, Sallys Exmann. Ich bin die amerikanische Schwester. Alle begrüßen mich mit Umarmungen und Wangenküsschen.
Sallys Exmann Ramon kommt auf einen Espresso vorbei, beschattet von Bodyguards. Stühle scharren im ganzen Café, als die Männer für ein abrazo aufstehen oder um ihm die Hand zu schütteln. Er sitzt jetzt für die PRI im Kabinett. Er küsst Sally und mich, fragt Tino nach der Schule. Tino umarmt seinen Vater zum Abschied und geht zum Unterricht. Ramon schaut auf die Uhr.
Warte einen Moment, sagt Sally. Sie wollen dich unbedingt sehen, sie kommen ganz bestimmt.
Victoria zuerst, in einem tief ausgeschnittenen Leotard auf dem Weg zum Tanzunterricht. Ihr Haar ist punkig, sie hat ein Tattoo auf der Schulter.
»Verdammt noch mal, zieh dir was über!«, sagt ihr Vater.
»Papi, alle hier kennen mich und sind dran gewöhnt, stimmt’s, Julian?«
Julian, der Kellner, schüttelt den Kopf. »Nein, mi doña, Sie kommen jeden Tag mit einer neuen Überraschung.«
Er hat jedem von uns das Gewünschte gebracht, ohne eine Bestellung aufzunehmen. Tee für Sally, einen zweiten Latte für mich, einen Espresso und dann einen Latte für Ramon.
Mercedes kommt herein, ihr Haar ist wild, ihr Gesicht stark geschminkt, sie ist unterwegs zu einem Job als Model, bevor sie zum Filmset fährt. Jeder im Café kennt Victoria und Mercedes, seit sie Babys waren, und doch werden sie von allen angestarrt, weil sie so schön sind und so skandalös gekleidet.
Ramon fängt an, seinen üblichen Vortrag zu halten. Mercedes war in ein paar sexy Szenen im mexikanischen MTV zu sehen. Eine Peinlichkeit. Er möchte, dass Victoria aufs College geht und sich einen Teilzeitjob sucht. Sie legt die Arme um ihn.
»Aber Papi, wieso soll ich zur Schule gehen, wenn ich doch nichts anderes machen möchte, als zu tanzen? Und warum soll ich arbeiten, wenn wir so reich sind?«
Ramon schüttelt den Kopf und gibt ihr schließlich Geld für den Tanzunterricht, welches für neue Schuhe und auch noch für ein Taxi, weil sie spät dran ist. Sie geht, nicht ohne zum Abschied zu winken und Kusshände ins Café zu werfen.
Ramon stöhnt. »Ich komme zu spät!« Auch er geht, ein Spießrutenlauf durch Handschläge. Eine schwarze Limousine rast mit ihm davon, die Insurgentes hinunter.
»Pues, endlich können wir was essen«, sagt Mercedes. Julian bringt Säfte und Obst und Chilaquiles. »Mama, willst du nicht was davon probieren, nur ein bisschen?« Sally schüttelt den Kopf. Sie hat später Chemo, und davon wird ihr schlecht.
»Ich hab letzte Nacht kein Auge zugemacht!«, sagt Sally. Sie sieht gekränkt aus, als Mercedes und ich lachen, aber sie lacht mit, als wir ihr von all den Leuten erzählen, die sie verschlafen hat.
»Morgen hat Tía Geburtstag. Basil-Tag!«, sagt Mercedes. »Mama, warst du auch auf der Grange-Fete?«
»Ja, aber ich war noch klein, erst sieben Jahre alt, als die Fete an Carlottas zwölftem Geburtstag stattfand, in dem Jahr, als sie Basil kennenlernte. Alle waren da … Erwachsene, Kinder. Es gab eine kleine englische Welt mitten in Chile. Anglikanische Kirchen und englische Landsitze und Cottages. Englische Gärten und Hunde. Den ›Prince of Wales‹-Countryclub. Rugby- und Kricketmannschaften. Und natürlich die Grange School. Eine sehr gute Jungenschule, so wie das Eton College.«
»Und alle Mädchen an unserer Schule waren in Jungs von der Grange School verliebt …«
»Die Fete dauerte den ganzen Tag. Es gab Fußball- und Kricketwettkämpfe und Querfeldeinrennen, Kugelstoßen und Weitsprung. Alle möglichen Wettkämpfe und Schaubuden, wo Essen und andere Sachen verkauft wurden.«
»Eine Wahrsagerin«, sagte Carlotta. »Sie hat mir prophezeit, ich würde viele Liebhaber und viele Schwierigkeiten haben.«
»Das hätte ich dir auch sagen können. Jedenfalls war es wie auf einer englischen Kirmes.«
»Wie sah er aus?«
»Elegant und besorgt. Hochgewachsen und schön, abgesehen von den ziemlich großen Ohren.«
»Und dem Pferdegebiss …«
»Am späten Nachmittag war Preisverleihung, und alle Jungs, für die meine Freundinnen und ich schwärmten, gewannen Preise im Sport. Nur Basil wurde immer wieder aufgerufen, weil er Preise in Physik oder Chemie, Geschichte, Griechisch und Latein gewonnen hatte. Und noch jede Menge andere. Zuerst klatschen alle, aber dann wurde es komisch. Jedes Mal, wenn er wieder aufstand, um noch einen Preis, noch ein Buch entgegenzunehmen, wurde sein Gesicht röter und röter. Etwa ein Dutzend Bücher. Sachen wie Marc Aurel.«
Carlotta fuhr fort: »Dann war es Zeit für den Nachmittagstee, bevor der Ball anfing. Alle liefen herum oder tranken an kleinen Tischen Tee. Conchi ermutigte mich, ihn zum Tanzen aufzufordern, also fragte ich ihn. Er stand mit seiner ganzen Familie zusammen. Ein Vater mit großen Ohren, die Mutter und drei Schwestern, alle mit demselben unseligen Gebiss. Ich gratulierte ihm und fragte, ob er mit mir tanzen wolle. Und ich konnte zusehen, wie er sich in mich verliebte. Er hatte noch nie zuvor getanzt, also zeigte ich ihm, wie leicht es war, man machte einfach Box-Schritte. Zu Siboney. Long Ago and Far Away. Wir tanzten die ganze Nacht oder machten Box-Schritte. Eine ganze Woche lang kam er zum Tee. Dann begannen die Sommerferien, und er fuhr auf die fundo seiner Familie. Er schrieb mir jeden Tag, schickte mir tausend Gedichte.«
»Konnte er küssen, Tía?«, fragt Mercedes.
»Küssen! Er hat mich nie geküsst, nicht mal meine Hand gehalten. Das hätte damals in Chile bedeutet, dass es ernst war. Ich erinnere mich, dass ich einer Ohnmacht nahe war, als Pirulo Diaz meine Hand hielt, während wir uns Beau Geste im Kino anschauten.«
»Es war eine große Sache, wenn ein Junge tú zu dir sagte«, sagt Sally.
»Das ist sehr, sehr lange her. Wir rieben uns Alaunsteine als Deo unter die Arme. Tampons waren noch nicht einmal erfunden, wir benutzten Lappen, die die Dienstmädchen immer wieder wuschen.«
»Und warst du in Basil verliebt, Tía?«
»Nein. Ich war in Pirulo Diaz verliebt. Aber Basil war jahrelang da, in unserem Haus, bei den Rugbywettkämpfen, auf Partys. Er kam jeden Tag zum Tee. Daddy spielte Golf mit ihm, lud ihn ständig zum Abendessen ein.«
»Er war der einzige Verehrer, den Daddy je akzeptierte.«
»Das Schlimmste für die Liebe.« Mercedes seufzte. »Gute Männer sind nie sexy.«
»Mein Xavier ist ein guter Mann! So gut zu mir! Und er ist sexy!«, sagt Sally.
»Basil und Daddy waren gut, aber auf eine herablassende und voreingenommene Art. Ich habe Basil schrecklich behandelt, und trotzdem kam er immer wieder. Jedes Jahr schickt er mir Rosen zum Geburtstag oder ruft mich an. Jahr für Jahr, seit über vierzig Jahren. Durch Conchi oder meine Mutter hat er mich immer wiedergefunden … an allen möglichen Orten. Chiapas, New York, Idaho. Einmal war ich sogar in der Geschlossenen, in einer Psychiatrie in Oakland.«
»Was hat er denn all die Jahre in diesen Telefonaten erzählt?«
»Eigentlich wenig. Über sein eigenes Leben, meine ich. Er ist Präsident einer Lebensmittelkette. Normalerweise hat er gefragt, wie es mir geht. Immer war natürlich gerade etwas Furchtbares passiert … unser Haus war abgebrannt, eine Scheidung oder ein Auto zu Schrott gefahren. Heute, am 12. November, denke er an die entzückendste Frau, die er je gekannt hat. Und im Hintergrund läuft Long Ago and Far Away.«
»Jahr für Jahr!«
»Und er hat dir nie geschrieben oder dich besucht?«
»Nein«, sagt Sally. »Als er letzte Woche anrief, um zu fragen, wo Carlotta sei, sagte ich zu ihm, sie käme nach Mexico City, er könne herkommen und mit ihr zum Lunch gehen. Ich hatte das Gefühl, er will sie morgen überhaupt nicht sehen. Er sagte, es würde nichts bringen, es seiner Frau zu sagen. Ich fragte ihn, ob er seine Frau nicht mitbringen wolle, aber er sagte, das ginge nicht.«
»Da kommt Xavier! Du hast solches Glück, Mama. Du kannst von uns wirklich kein Mitleid erwarten. Pilla envidia!«
Xavier ist an ihrer Seite, hält ihre Hände. Er ist verheiratet. Angeblich weiß niemand etwas von ihrer Affäre. Er ist wie zufällig vorbeigekommen. Wie könnte man diese Spannung nicht spüren? Julian lächelt mir zu.
Auch Xavier hat sich verändert, genau wie meine Schwester. Er ist ein Aristokrat, ein berühmter Chemiker, normalerweise sehr ernst und zurückhaltend. Jetzt lacht auch er. Er und Sally necken sich, weinen und streiten. Sie nehmen danzón-Unterricht und fahren nach Merida. Sie tanzen danzón auf der Plaza unter Sternen, Papierlaternen in den Bäumen, Kinder und Katzen spielen in den Büschen.
Alles, was sie sagen, die trivialsten Sachen wie »Guten Morgen, mi vida« oder »Gibst du mir bitte das Salz«, ist aufgeladen mit solcher Dringlichkeit, dass Mercedes und ich kichern. Aber wir sind gerührt und tief beeindruckt von diesen beiden Menschen in einem Zustand der Gnade.
»Morgen ist Basil-Tag!« Xavier lächelt.
»Victoria und ich finden, sie sollte sich als Punk verkleiden oder als uralte Frau«, sagt Mercedes.
»Oder ich könnte Sally statt meiner schicken!«, sage ich.
»Nein. Victoria oder Mercedes … Und er wird glauben, du wärst immer noch in den Vierzigerjahren, fast genauso, wie er sich an dich erinnert.«
Xavier und Sally gingen zur Chemotherapie, und Mercedes fuhr zur Arbeit. Ich verbrachte den Tag in Coyoacán. In der Kirche taufte der Priester etwa fünfzig Babys auf einmal. Ich kniete hinten nieder, neben dem blutigsten Jesus, und schaute der Zeremonie zu. Die Eltern und Paten standen in langen Reihen im Gang, die Gesichter einander zugewandt. Die Mütter hielten ihre weiß gekleideten Babys. Runde Babys, dünne Babys, dicke Babys, kahle Babys. Der Priester ging durch die Mitte des Gangs, gefolgt von zwei Messdienern, die Weihrauchgefäße schwenkten. Er betete auf Latein. Er benetzte die Finger in einem Kelch, den er in der linken Hand hielt, und malte das Kreuzzeichen auf die Stirn jedes Babys, um es im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen. Die Eltern waren ernst, sie beteten feierlich. Ich wünschte, der Priester würde auch jede Mutter segnen, das Kreuzzeichen schlagen, ihr Schutz verleihen.
Als meine Söhne Kleinkinder waren, malten ihnen in mexikanischen Dörfern manchmal Indianer das Kreuzzeichen auf die Stirn. Pobrecito!, sagten sie. Dass so ein wunderbares Geschöpf dieses Leben ertragen muss!
Mark, vier Jahre alt, im Kindergarten in der Horatio Street in New York. Er spielte mit ein paar anderen Kindern Puppenstube. Öffnete einen Spielkühlschrank, goss ein imaginäres Glas Milch ein und gab es seinem Freund. Der Freund warf das imaginäre Glas auf den Fußboden. Marks Ausdruck von Schmerz, der gleiche, den ich später an allen meinen Söhnen im Laufe ihres Lebens gesehen habe. Eine Verletzung durch einen Unfall, eine Scheidung, einen Misserfolg. Mein wildes Verlangen, sie zu beschützen. Meine Hilflosigkeit.
Beim Verlassen der Kirche zünde ich vor der Statue unserer Heiligen Jungfrau Maria eine Kerze an. Pobrecita.
Sally ist im Bett, ausgelaugt, ihr ist übel. Ich lege ihr in Eiswasser gekühlte Stofftücher auf die Stirn. Ich erzähle ihr von den Leuten auf der Plaza in Coyoacán, von der Taufe. Sie erzählt mir von den anderen Patienten bei der Chemo, von Pedro, ihrem Arzt. Sie erzählt mir, was Xavier zu ihr sagt, von seiner Zärtlichkeit, und sie weint bittere Tränen.
Als Sally und ich endlich Freundinnen wurden, nachdem wir schon lange erwachsen waren, verbrachten wir mehrere Jahre damit, unseren Groll und unsere Eifersucht zu bewältigen. Später machten wir beide Therapien und verbrachten Jahre damit, der Wut auf unseren Großvater und unsere Mutter freien Lauf zu lassen. Unsere grausame Mutter. Später vergingen weitere Jahre mit der Wut auf unseren Vater, den Heiligen, dessen Grausamkeit nicht so offensichtlich gewesen war.
Jetzt aber sprechen wir nur im Präsens. In einem Cenote im Yucatán-Park, auf dem Gipfel des Tulum, im Kloster in Tepoztlán, in ihrem kleinen Zimmer. Wir lachen erfreut über die Ähnlichkeit unserer Reaktionen, den Gleichklang unserer Vorstellungen.
Am Morgen meines vierundfünfzigsten Geburtstages bleiben wir nicht lange im La Vega. Sally will sich vor ihrer Chemo ausruhen. Ich muss mich umziehen für den Lunch mit Basil. Als wir nach Hause kommen, schauen sich Mercedes und Victoria mit den beiden Dienstmädchen Belen und Dolores eine Telenovela an. Belen und Dolores verbringen die meiste Zeit des Tages und auch der Nacht mit Soap-Operas. Sie sind seit zwanzig Jahren bei Sally, leben in einer kleinen Wohnung auf dem Dach. Jetzt, da Ramon und die Töchter aus dem Haus sind, gibt es für sie nicht viel zu tun, aber Sally würde sie nie wegschicken.
Heute ist ein großer Tag bei Los Golpes de la Vida. Sally zieht einen Morgenmantel an und setzt sich ebenfalls vor den Fernseher. Ich habe geduscht und mich geschminkt, behalte aber meinen Morgenmantel ebenfalls an, um mein graues Leinenkleid nicht zu zerknittern.
Adelina wird ihrer Tochter Conchita sagen müssen, dass sie Antonio nicht heiraten darf. Wird gestehen müssen, dass Antonio ihr eigener Sohn, Conchitas Bruder, ist! Adelina hat ihn vor fünfundzwanzig Jahren in ein Kloster gegeben.
Und da sind sie bei den Sanborns, aber ehe Adelina ein Wort sagen kann, erzählt Conchita ihrer Mutter, dass sie und Antonio heimlich geheiratet haben. Und nun werden sie ein Kind bekommen! Nahaufnahme von Adelinas todunglücklichem Gesicht, das Gesicht der Mutter. Aber sie lächelt und küsst Conchita. Mozo, sagt sie, bring uns Champagner.
Okay, es ist ziemlich albern. Wirklich albern aber war, dass wir uns alle sechs die Augen ausheulten, wir schluchzten nur so vor uns hin, als es an der Tür klingelte. Mercedes rannte, um zu öffnen.