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Das Watt. Unendliche Weiten. Grauer, nasser Schlick wohin man schaut. Auf seinem Fußmarsch über den trockengelegten Meeresboden, stößt Nils-Henning Örstedt, trotz jahrelanger Erfahrungen in diesem Teil des Nordens, immer wieder auf neue Phänomene. Dieses Mal, wird er jedoch von einer erschreckenden Erkenntnis aus seiner sonst so ruhigen Bahn geworfen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Sabine, muss Kommissar Heller ein weiteres Mal erkennen, dass Nordfriesland nicht so unschuldig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.
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Seitenzahl: 197
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Sie saßen am Strand, so wie Gott sie geschaffen hatte, blickten in die Weite und träumten sich beide in die Ferne.
Sie waren jetzt schon so lange zusammen, die Kinder waren groß und nun war es einfach mal Zeit, an sich selbst zu denken.
Von der See her kam der kühlende Morgenwind, der sich aber schon mit den ersten Sonnenstrahlen vermischte und ab und zu ein bisschen Wärme auf die Haut blies.
Dann begann das Schauspiel.
Parallel zum steigenden Wasserpegel stieg die Sommersonne am Horizont höher und warf langsam die wärmenden Strahlen erst auf das spiegelglatte, auflaufende Wasser, um sich dann immer näher an das Ufer heranzuarbeiten.
Die beiden saßen hier jeden Morgen, exakt an dieser Stelle des Strandes, und bestaunten dieses Schauspiel und immer wieder war es neu und faszinierend.
Immer wieder anders.
Immer wieder aufregend.
Immer wieder unverbraucht.
Die Sonne nahm langsam, aber merklich an Stärke zu und begann, den noch von der Nacht feuchten Sand zu trocknen und auch unter ihren Füßen zu erwärmen.
Das Wasser kroch wie ein langsames Urtier in Richtung Küste.
Ruhig, kraftvoll und trotz aller Gefahren, die der nasse Riese mit sich bringen konnte, friedlich.
Die Farben der Sonne teilten sich in tausend Farben in dem flüssigen Spiegel.
Immer näher spülte das Wasser auf den Strand, doch die beiden standen an ihrem Platz und waren fest entschlossen, nicht zu weichen.
Die Sonne brach sich jetzt selbst in der Hälfte im Meer, also im unteren Teil des Horizontes, und die andere Hälfte stand unverrückbar und machtvoll am Himmel und erkämpfte sich den Job als Tagesbeleuchtung zurück.
Und während die beiden die glühende Scheibe beobachteten, achteten sie nicht darauf, dass das Wasser bereits in ihrer Nähe und an einigen Stellen um sie herumgelaufen war.
Zu faszinierend und aufregend waren diese Augenblicke, wenn die Sonne aufging.
Erschrocken blickten sie sich um, dann sahen sie wieder in die Sonne und es sah so aus, als wollten sie sich ihrem Schicksal ergeben.
Als die erste Welle dann jedoch in ihre unmittelbare Nähe lief, breiteten sie ihre Flügel aus und flogen in Richtung Sonne.
Jeder Morgen als Silbermöwe an der Nordseeküste ist einfach immer wieder ein Erlebnis.
Das Watt.
Unendliche Weiten.
Ein zum großen Teil unerforschter Lebensraum einer abwechslungsreichen und wilden Natur.
Viele Geheimnisse, verborgen unter feuchtem Sand, im tiefen Schlick und zu wenig geschätzt von denen, die nicht darauf angewiesen sind.
Auf ihrer Reise durch dieses salzig-duftende Erlebnis befand sich die kleine Wattwandertruppe unter der Leitung von Nils-Henning Örsted.
Nils, wie ihn hier in seiner Heimatstadt Husum alle nennen, studierte nach seinem Schulabschluss Biologie, zog hinaus in die Welt, lebte im Anschluss eine Zeit lang in der Arktis, um dann bewaffnet mit einem langen Bart und seiner tiefen, sonoren Stimme hier in seinem Heimatort ordentlich aufzutrumpfen.
Dachte er.
Die Sache ist aber die: Hier im echten Norden tragen viele Männer Bärte und tiefe Stimmen, die gibt’s hier auch zuhauf!
Also musste ein neues Alleinstellungsmerkmal her und das fiel ihm eines Nachts, als er auf der Couch eingeschlafen war, siedend heiß aus seinen Träumen auf seinen inneren Merkzettel.
Wattwanderungen.
Okay, Wattwanderungen waren jetzt nichts großartig Neues, aber Wattwanderungen mit Geschichten und Gedichten aus Nordfriesland. Die ganze geballte kulturelle Vielfalt des Nordens in freier, ungezügelter Natur.
Das machte hier noch niemand und das würde laufen wie fließend Wasser die Wände herunter.
Wer einmal in einem Iglu gewohnt und die globale Erderwärmung beobachtet hat, weiß, wovon dieser Mann spricht.
Seit zwei Jahren machte er das jetzt. Ging mit den Touristen ins Watt und rezitierte Storm, Achim von Arnim, Hebbel, Lenz, Klaus Groth, Wilhelm Busch und von Eichendorff.
Nun waren nicht alle diese Dichter aus dem Norden, hatten aber wenigstens zu ihren Lebzeiten darüber geschrieben, gedichtet und die Landschaft in einer wunderbaren Sprache beschrieben.
Das musste für die Aufnahme in seine Gedichtsammlung reichen.
Sein Repertoire wuchs unaufhörlich und seine Kunden und Kurzwegbegleiter genossen es sichtlich.
Hier draußen die frische Luft, das Wissen, dass man auf dem Grunde des Meeres stand und dennoch atmen konnte und zusätzlich seine doch eher eigenwilligen Interpretationen verschiedenster Dichter.
Darüber hinaus machte er natürlich immer wieder auf die Gefahr des Klimawandels aufmerksam.
Ein Thema, das er im Zusammenhang mit Meer und Wattwanderungen, der sich verändernden Flora und Fauna hier vor Ort, dem Verschwinden verschiedener Kleintierarten und dem Auftauchen neuer nicht außer Acht lassen konnte.
Er war jedoch nicht hier, um Moral und Anstand zu predigen, sondern nur dafür , den Menschen zu zeigen, wie zerbrechlich diese Welt war, in und auf der man lebte, und wie einfach es sein konnte, sie zu erhalten, sie zu schützen.
Nun denn.
An diesem Nachmittag gingen er und seine fünfköpfige Gefolgschaft über den feuchten Meeresboden, der vor ihnen und unter ihren nackten Füßen lag.
Noch schwieg er.
Die Erhabenheit des Wattenmeeres kroch langsam und unaufhörlich in die Besucher und ließ sie immer ruhiger werden.
Gerade als er überlegte, mit welchem Poem er seine Kunden beeindrucken wollte, rief eine Teilnehmerin, dass es schier nicht zu begreifen sei, wie man so ein Naturwunder nur so verkommen lassen könne, und er wurde schlagartig aus seinen Gedanken gerissen, öffnete die Augen und wäre beinahe über einen gelben Gummistiefel gestolpert, der mit dem Schaft nach unten im sandigen Boden steckte.
Er blieb vor der weißen, mit grauem feuchten Schlick bedeckten Schuhsohle stehen und drehte sich zu seiner Truppe um.
„Wir leben hier in Nordfriesland“, hob er an, „direkt an und in einem der bedeutendsten Naturräume der Welt. UNESCO-Weltnaturerbe. Das hier ist nur ein Stiefel, aber wenn man bedenkt, dass jedes Jahr zehn Millionen Tonnen Müll in die Weltmeere gekippt werden, dann haben wir hier mit diesem einen Stiefel ja noch mal richtig Glück gehabt.“
Er lächelte seine Zuhörer an und hoffte, dass sie den kleinen Spaß verstehen würden.
Er bückte sich langsam nach vorn, griff nach dem Schuh und wollte ihn aus dem Sand ziehen, aber irgendetwas schien ihn festzuhalten. Er drehte und ruckelte an dem gelben Schuh und dann löste er sich mit einem Ruck und Nils hielt ihn seinen Mitläufern triumphierend entgegen.
Die Truppe, die bis vor ein paar Sekunden noch einen gesunden und motivierten Eindruck gemacht hatte, stand jetzt schweigend, zum Teil mit geöffneten Mündern und aschfahl hinter ihm. Eine der Frauen, die heute mit dabei waren, schien noch nie einen derartigen Schuh gesehen zu haben.
Anders konnte Nils-Henning ihre Mimik nicht deuten.
Sie öffnete und schloss ihren Mund immer schneller und es entwich ihr immer wieder ein leicht stotterndes „Aber …“ Dieses „Aber“ wurde immer lauter und Nils-Henning entschloss sich, noch einmal zu der Stelle zu schauen, wo er den Schuh aus dem Grund gezogen hatte.
Wie soll man es sagen?
Wo einstmals der Schuh aus dem Boden gezeigt hatte, stach jetzt ein nackter Fuß hervor und wies pedantisch darauf hin, dass nach dem Fuß wohl auch noch der Rest kommen könnte, der zu einem Menschen gehört.
Der sonst so in sich ruhende und bedachtsame Nils-Henning kramte mit zittrigen Fingern sein Mobiltelefon aus der mit Klettverschluss verschlossenen Jackentasche und wählte die Nummer der Husumer Polizei, denn das hier, das konnte man ja nun wirklich nicht einfach so liegen lassen.
Steffen Heller genoss diesen Morgen in seiner Wohnung.
Seine eigene kleine Zweizimmerwohnung am Zingel.
Eine eigene Wohnung war, weiß Gott, nichts Neues für ihn.
Aber hier, nicht weit entfernt vom Hafen und dann noch um die Ecke von seiner neuen Arbeitsstelle, das war schon etwas anderes als in Hamburg.
Kein Stau am Morgen, durch den man sich kämpfen musste, keine S-Bahn, auf die man ständig zu warten hatte.
Es war alles ein bisschen kleiner hier, konnte man denken, doch wenn man die Dimensionen bedachte, in und mit denen man hier lebte, eine Stadt am Meer, deren „Vorgarten“, wie er das Wattenmeer gerne scherzhaft nannte, bis zum Horizont reichte.
Da konnte Hamburg nun wirklich nicht mithalten.
Er saß in seinem kleinen Garten, der sich an das Wohnzimmer anschloss, genoss die ersten Sonnenstrahlen, seinen Kaffee und den Gedanken, dass sich daran heute nichts Großartiges ändern würde.
Er hatte frei, keine Verpflichtungen und der Tag gehörte ihm und seinen persönlichen Wünschen.
Dachte er.
Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse, als leise sein Handy klingelte.
Konnte eigentlich nur seine Mutter sein.
Er schaute aufs Display und musste zu seiner Verwunderung feststellen, dass es sein alter Schulfreund Nils-Henning war, der ihn anrief.
Nils-Henning war drei Jahrgangsstufen unter ihm auf dieselbe Schule gegangen, die beiden hatten aber – aus für sie beide unerfindlichen Gründen – seit dem ersten Aufeinandertreffen im Schulhof einen guten Draht zueinander gehabt, der auch später, nach der Schulzeit nicht riss.
„Moin, Nils, alter Muschelschubser“, blödelte er ins Telefon.
Doch die Kurzatmigkeit auf der anderen Seite verriet ihm, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte.
„Was ist los, Nils, erzähl schon“, bohrte Heller nach.
„Watt, Gummistiefel, nackter Fuß“, war die abgehackte Antwort.
„Watt is?“, lachte Heller.
Nils-Henning riss sich zusammen und erzählte ihm in möglichst ruhiger Art, was er heute außer Wattwürmern und Muscheln noch so im Schlick entdeckt hatte.
„Pass auf, Nils, bleib du cool“, versuchte Steffen Heller seinen alten Freund zu beruhigen, „schick die Leute zum Ufer zurück und du wartest da beim Fundort auf mich. Ich bin so schnell es geht bei dir“, dann legte er auf, brüllte innerlich, weil sein freier Tag offensichtlich gerade vor die Seehunde gegangen war.
Während er sich mit einer Hand seine Hose hochzog, versuchte er mit der anderen Sabines Nummer zu wählen, Sabine zu erreichen, um die schnellstmöglichen Schritte einzuleiten und den tiefergelegten Schlickrutscher mit Fuß und dem, was da vielleicht noch dranhing, in trockenere Gefilde zu bringen und vielleicht noch existierende Spuren zu sichern.
Sabine meldete sich nach dem ersten Klingeln und Heller war erleichtert, ihre Stimme zu hören.
Nicht weil es Sabine war, sondern weil das bedeutete, dass er im besten Fall nicht mit hinaus in den Schlick musste und so seinen Tag weiter genießen könnte.
Aber: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
In ihrer schnellen und rationalen Art beschloss sie, dass Steffen Heller vor seiner Tür auf sie warten solle.
„Ich bin gleich da, Steffen“, sagte sie ruhig und legte auf.
Spitze.
Das war es dann mit dem Genuss und dem freien Tag.
„So eine Leiche kann einem auch wirklich alles versauen“, sagte Heller leise vor sich hin und erhob sich aus seiner bequemen Sitzposition.
Er ließ die Tasse stehen und ging in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Heller legte sich missmutig seine Klamotten an, seine Diensttracht, wie er sie nannte, ein bisschen schicker und offizieller und der Situation angepasst.
Er ging zur Wohnungstür, stellte sich rauchend auf den Bürgersteig, um auf seine Chefin zu warten.
Zigaretten und Feuerzeug.
Alles dabei, der Arbeitstag konnte kommen, er war gewappnet.
Die Kippe steckte in seinem Mundwinkel und er atmete den Rauch tief ein.
Heller legte seinen Kopf zurück und schaute in den blauen Himmel über ihm.
Ein paar Möwen kreisten da oben, um dann kreischend in Richtung Hafen zu fliegen, der nur ein paar hundert Meter von ihm entfernt war.
Eine typische, geradezu stoische Ruhe lag über dieser kleinen Stadt.
Genau die Ruhe, die hier aus dem Wissen erwachsen war, dass man eben machen konnte, was man wollte, und wenn die Natur etwas anderes vorhatte, dann hatte man sich danach zu richten.
Es war exakt diese Grundeinstellung zum Leben, die wie es schien, jedenfalls Hellers Meinung nach, viel zu vielen anderen Menschen fehlte.
Diese Welt brauchte mehr Ruhe, durchdachtere und klügere Schritte, um mit ihr in der Art umzugehen, wie es sich für eine aufgeklärte Gesellschaft in diesem Jahrtausend gehörte.
Und entspannte Ruhe und ein weiter Blick waren der Grundstein, um eben diese Schlüsse zu ziehen.
Sabine, dieses kleine Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen und der hohen Stimme.
Immer eine gesunde Hautfarbe und aktiv von der Zehenspitze bis in die Haarwurzeln. So war sie immer gewesen, schon in der Grundschule.
Sie war nie das typische Mädchen, das am Nachmittag mit einem Puppenwagen durch die Gegend gezogen war und jedem ihr „Kind“ gezeigt hatte.
Nein, Sabine liebte Fußball und hatte ihren Eltern so lange in den Ohren gelegen, bis die kleine Tochter die aktuellsten Stollen unter ihren Bolzpantoffeln hatte.
Sie war immer mehr Junge als Mädchen gewesen, eben mehr ein Kumpel als eine Freundin, und in Kumpels konnte man sich ja nun wirklich nicht verlieben.
So entstand nie auch nur ein kleines Gefühl der Verliebtheit zwischen ihnen, jedenfalls nicht von Hellers Seite aus, bis ihn eines Tages wirre Gefühle mitsamt einer überdosierten Mischung aus Hormonen und Testosteron mitten zwischen die Augen oder wohin auch immer trafen.
Und während Steffen Heller zwischen Pickelcreme und Stimmbruch wanderte, wurde sein eigener Blick auf Sabine ein komplett neuer.
Auf einen Schlag schaute er ihr beim Fußball nicht mehr nur auf ihre talentierten Füße, sondern konnte sie fast gar nicht mehr ansehen, weil es ihm unangenehm wurde und sie ihn anlächelte.
Heller wurde dann immer so komisch und das konnte er sich nicht erklären, deswegen fragte er seinen Vater, der ihm antwortete: „Steffen, du bist verliebt.“ Nein, auf keinen Fall. Heller mochte ja alles sein, aber nicht verliebt in Sabine.
Zum Glück gab es auch noch andere Freizeitaktivitäten außer dem Ballsport und so konnte er dieser ersten großen emotionalen Herausforderung unauffällig aus dem Weg gehen.
Er verbrachte den Sommer am Strand.
In der Schule war es dann schon wieder enger und es kam ihm so vor, als würde er den Schultag über die Luft anhalten, um nicht weiter aufzufallen.
Die Jahre vergingen und Sabine und er blieben auf einer höflichen Distanz zueinander.
Irgendwann gesellte sich in ihre verabredete und traute Zweisamkeit Dieter.
Dieter war schon als Schüler größer und breiter als alle seine Altersgenossen und auch dementsprechend lauter.
Dieter besaß ein kleines Segelboot und lud regelmäßig zu kleineren Touren durchs Wattenmeer ein.
Heller nahm nur an einer teil, denn sobald er die Nussschale betreten hatte, wurde ihm speiübel, er versuchte es natürlich zu unterdrücken, doch als sie aus der Hafeneinfahrt hinaus auf die offene Nordsee fuhren, konnte er nichts mehr in sich behalten und entleerte sich in immer wiederkehrenden Zyklen ins salzige Meer.
Sabine hatte ihm die ganze Zeit den Rücken und den Kopf gestreichelt und sich um ihn gekümmert, sodass sie von diesem Tag an für alle anderen als verliebt galten.
Ihr eigenes Arrangement zählte für die Welt um sie herum gar nicht.
Sie gingen von diesem Tag an als Dreierclique durch die Schulzeit, halfen sich gegenseitig, lernten miteinander und wurden auch gemeinsam älter, bis irgendwann das Ende der Schulzeit ganz unvermittelt vor der Tür stand.
Auf der Abschlussfeier in einem Restaurant am Hafen schwelgten sie dann gemeinsam in Erinnerungen und Heller wurden seine vielen verpassten Chancen bei seiner langjährigen Freundin bewusst.
Er verließ irgendwann die Party und setze sich auf eine Bank am Hafen, rauchte eine Zigarette und hoffte darauf, von Sabine aus seiner dummen Einsamkeit gerettet zu werden, so formulierte er es in seiner sentimentalen Stimmung für sich selbst.
Irgendwann wollte auch Sabine nach Hause und musste auf ihrem Weg an der Bank vorbei, auf der Heller saß.
So saßen die beiden angetrunkenen Schulabgänger nebeneinander und merkten in diesem Moment, was sie eigentlich schon die letzten Jahre gespürt und nicht zugegeben hatten: Sie waren verliebt – und just in dem Moment, als sie sich zum ersten Mal küssen wollten, tauchte in dem Freiraum zwischen ihren gespitzten Lippen der runde, bleiche und kichernde Schädel ihres gemeinsamen Freundes Dieter auf, sodass jeder von ihnen ihm einen Kuss auf eine seiner fleischigen Wangen gab.
Diese Chance bekamen sie nie wieder, denn Steffen zog nach der Abschlussparty Richtung Hamburg und Sabine nach Kiel, um zu studieren.
Steffen, der immer aus dem kleinen, muffigen Husum wegwollte, verließ auf diesem Weg auch seine Erinnerungen und damit seine Freunde.
Es gab nur noch wenige Menschen, mit denen er in fast regelmäßigen Abständen redete.
Dazu gehörte auch der drei Jahre jüngere Nils-Henning Örsted, der blöderweise in Kiel studierte und das hatte zur Folge, dass Besuche in der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein unmöglich waren.
Sabine dort zufällig über den Weg zu laufen, hätte noch größerer Aufklärungskunst bedurft als das bloße Verschwinden aus ihrem Leben.
Die beiden Männer trafen sich zwischendurch in Hamburg, Lübeck oder Neumünster, alles Städte mit guten Kneipen, die die Nacht hindurch geöffnet hatten.
Diese Freundschaft endete in dem Moment, als Nils-Henning seinem Freund Heller offenbarte, dass er verliebt sei und sich zeitlich etwas einschränken müsse, um die zarten Bande zwischen ihm und der Frau ohne Namen nicht zu gefährden.
Das hatte zur Folge, dass sich Heller komplett von seinen ehemaligen Freunden und Schulkameraden zurückzog und sein Leben in Hamburg mit der Aussicht begann, von jetzt an nie wieder in diese kleine, muffige, graue Stadt am Meer zu ziehen.
Seine Eltern würde er schon noch besuchen, aber dort zu leben, war von jetzt an total ausgeschlossen.
So erweiterte er Stück für Stück seinen Freundeskreis in Hamburg und auch den Radius seiner Spaziergänge und wie es sich für einen echten Nordmann gehörte, liebte er den Hamburger Hafen.
Der war zwar nur unwesentlich größer als der in Husum, aber hier lag zum Beispiel die alte Rickmer Rickmers, ein Dreimast-Vollschiff, das 1896 als Frachtsegler gebaut worden war und nun als schwimmendes Wahrzeichen Hamburgs galt.
Immer wieder zahlte er den günstigen Eintritt und wanderte gedankenverloren über die Holzplanken des Seglers, bis er eines Tages, als er in Richtung Bug schlenderte, eine freundliche, weibliche Stimme hörte, die ihn darum bat, ein Foto zu machen.
Ihm wurde vertrauensvoll eine kleine Kamera in die Hand gelegt und die lachenden Augen einer jungen Frau durchbohrten jedes seiner Schutzschilder, die er gegen derartige menschliche Angriffe vorzuweisen hatte.
Die junge Frau lehnte sich an den Mast, lächelte und Heller drückte ab.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Vier… und hier hörte er ein wieder verstörend freundliches „Dankeschön“ und die junge Frau stand fast vor ihm und hielt ihm die geöffnete Hand entgegen.
Er legte ihr die Kamera in die Hand, sie bedankte sich und dann heirateten sie.
Das dauerte natürlich ein bisschen, aber sie taten es und für Heller war es eine unbeschreiblich schöne Zeit.
Die ging aber, so fühlte es sich für ihn an, so schnell vorbei wie ein Wochenende nach einer Arbeitswoche voller Überstunden, eben viel zu schnell, aber das ist eine andere Geschichte.
Durch Hamburg, Heirat und Holsten-Bier war es ihm möglich, seine Vergangenheit beiseitezuschieben und damit auch die Gefühle für Sabine langsam abstumpfen zu lassen.
Wichtig an dieser Stelle ist zu sagen, dass Steffen Heller nicht geheiratet hatte, um eine andere Frau zu vergessen. Das war einfach nicht sein Stil, doch die Verbundenheit zu Sabine, seinen alten Freunden und auch zu Husum ließ er bei seinen kurzen Wochenendbesuchen bei seinen Eltern nie wieder aufblühen oder gab ihnen gar Platz, wieder zu wachsen.
Er hielt seine Besuche in Husum immer so kurz und in solchen Abständen, dass es nie reichte, um Sehnsuchtsgefühle oder gar Heimweh aufkommen zu lassen.
Und nach all den Jahren der Abwesenheit, nach den spärlich rationierten Besuchen und dem Übertünchen seiner Erinnerungen saß Heller wieder mit Sabine in einem Raum und die Fragen, die er ihr nie gestellt hatte, bedurften immer noch einer Antwort.
Aber nun gut, das hatte alles noch ein wenig Zeit.
„Die Feuerwehr löscht auch noch morgen“, ging ihm durch den Kopf und er wusste, dass sein Vater damit recht gehabt hatte.
Und während er so auf seinem Freiluftphilosophiekurs dahinschlenderte und sich wieder einmal darüber wunderte, über was man sich alles Gedanken machen konnte, wenn man gerade nichts anderes zu tun hatte, wurde diese Gedankenexkursion jäh von einem Hupen unterbrochen. Auf der anderen Straßenseite stand Sabine an den schwarzen Audi A8 gelehnt, den schicken Dienstwagen, und lächelte ihn an, als wüsste sie, was er gerade gedacht hatte. Heller drückte leicht misstrauisch seine Zigarette aus, überquerte die Straße und die beiden setzten sich in den Wagen.
„Moin, Steffen“, sagte sie in einem fröhlichen Tonfall, „wie läuft der freie Tag?“ Heller schaute sie an und zog als Antwort nur seinen linken Mundwinkel nach oben.
„Doch so gut, na, dann wollen wir mal“, antwortete seine Chefin und gab Gas.
Natürlich alles im Rahmen der Straßenverkehrsordnung.
„Am Dockkoog warten Kollegen auf uns“, begann Sabine, „von dort aus werden wir zu Nils-Henning gehen und den Verbuddelten an Land holen. Das wird ein Spaß.“
Heller war sich nicht sicher, ob er zu diesem Zeitpunkt andere Dinge nicht spaßiger gefunden hätte.
Einen freien Tag zum Beispiel, aber nun.
Wat mutt, dat mutt.
Und schon wieder Watt.
Um die Schlickwüste kam man hier scheinbar wirklich nicht drum herum.
Am Koog angekommen, warteten dort schon vier Kollegen, angezogen wie Hochseefischer und bewaffnet mit Schaufeln.
Auch ihnen sprang die Motivation und die Vorfreude auf diesen Einsatz nicht gerade aus dem Gesicht.
Heller und Sabine stiegen aus dem Wagen und begrüßten die vier Männer.
Seine Chefin ging zum Kofferraum des Dienstwagens, kramte zwei Paar Gummistiefel hervor und reichte Steffen das eine Paar.
„Mit deinen sportlichen Schuhen machst du drei Schritte“, grinste sie, „und dann läufst du barfuß weiter. Nimm besser diese hier.“
Heller zog sich die quietschgelben Schuhe an, die ihm aus scheinbarem Zufall auch passten, dann gesellten Sabine und er sich wieder zu den wartenden Männern, um dann sofort hinaus ins Watt zu stapfen.
Die ersten Meter war der Gang nicht kompliziert, doch irgendwann begann sich jeder Schritt anzuhören wie ein leiser Furz.
Der Untergrund wurde feuchter und das Schmatzen hörbar lauter.
Nils-Henning Örsted war schon zu sehen.
Er hatte sich auf den nassen Boden gesetzt und der nackte Fuß, der bis zum Knie aus dem Watt ragte, schien sein Fixpunkt zu sein.
Nils-Henning bemerkte nicht, dass die vermeintliche Rettung nahte!
Heller schaute durch sein Fernglas, um zu sehen, ob mit seinem Freund alles in Ordnung war.
Eine sehr skurrile Szene: Der bärtige Nils-Henning Örsted im Watt sitzend neben einem blassbleichen Unterschenkel, der aus dem grauen Brei emporwuchs.
Er konnte sehen, wie der einsame Entdecker von Gliedmaßen das Stück Mensch ansah und die Lippen bewegte.
Was hätte er darum gegeben, jetzt mitzuhören.
Alles in allem erinnerte ihn dieses Bild eher an den Auftritt eines Bauchredners mit einer sehr hässlichen Puppe.
Heller und die gesamte Truppe beschleunigten ihren Schritt, so gut sie konnten, und irgendetwas sagte Heller, dass sein Freund dort so schnell es ging, Hilfe brauchte.
„Nils“, rief Heller in der Hoffnung, der Watt- und Meeresbiologe würde seinen Kopf heben.
Doch der saß wie festgenagelt auf dem Boden und starrte den aus dem Watt ragenden, nackten Fuß an.
Nils-Henning Örsted saß mit nassem Hintern, nackten Füßen und einem mehr als nur verwirrten Gesichtsausdruck vor dem nackten Unterschenkel und sagte immer wieder ganz leise: „Oh Mann, wie kann das denn passieren?“
Er wiederholte diesen Satz immer wieder gebetsmühlenartig und wandte seinen Blick nicht von dem sandigen Körperteil.
Dann erreichten Sabine, Heller und ihr Team endlich den stotternden Mann.
Heller kniete sich neben Nils und legte ihm seine Hand auf die Schulter, pustete ihm vorsichtig ins Ohr und hauchte ein leises, aber förmliches: „Nils-Henning Örsted, sind Sie zu Hause?“ Der bis zu dieser Sekunde offensichtlich verstörte Mann drehte just seinen Kopf, gewann seine Körperspannung zurück und sah Heller an!
„Moin, Steffen, guck mal, was ich gefunden habe. Hier wachsen Füße aus dem Watt. Habe ich ja noch nie gesehen.“
„Moin, Nils“, antwortete Steffen, „deswegen sind wir jetzt hier, um das rauszufinden. Magst du nicht mal aufstehen?“
Nils-Henning nickte und erhob sich.
Langsam, ganz langsam, und Sabine verfolgte mit fast ungläubigen Blicken, wie aus dem Häufchen Elend im Watt ein Zweimetermann wurde, der aufrecht und imposant vor ihnen stand.
Er fixierte immer noch den Fuß, deutete auf ihn und mit fast verzweifelter Stimme sagte er:
„Aber die Fußnägel hätte er sich bitte noch schneiden können.“
Sabine konnte nur schwer ein Prusten unterdrücken, erahnte aber die fragile psychische Situation, in der sich der Wattriese da vor ihr befand.