Weiberwirtschaft - Maria Linke - E-Book

Weiberwirtschaft E-Book

Maria Linke

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Köln 1945: Grete Weidenhaupt hat vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Krieg gewartet. Sie muss die Eckkneipe »Zum goldenen Pfau« alleine weiterführen, um sich und ihre Tochter Lotte durchzubringen. Die wächst zwischen Bierfässern und Schnapsgläsern auf und hat erstaunliches Vergnügen an der Buchhaltung. Doch kann eine »Weiberwirtschaft« funktionieren? 2015: Hanna Guenther, 42, stößt im Haus ihres Vaters auf einen alten Koffer. Er enthält die Tagebücher ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter Lotte. Doch was hat es mit den Tischwimpeln, Aschenbechern und dem Zimmermannshalstuch auf sich? Hanna taucht ein in die Geschichte des »Goldenen Pfaus« - und ahnt nicht, wie sich dadurch ihr ganzes Leben verändern wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Als alleinerziehende Mutter von drei Töchtern stößt Hanna Guenther schon mal an ihre Grenzen. Aber sie gibt ihr Bestes, auch deshalb, weil sie selbst ihre Mutter früh verloren hat und leider kaum etwas über sie weiß. Erst als ihr Vater ins Seniorenheim umzieht, entdeckt sie einen alten Koffer mit den Tagebüchern ihrer Mutter Lotte, dazu Fotos und jede Menge Kneipenutensilien. Hannas Großmutter Grete Weidenhaupt betrieb nach dem Krieg die Kölner Eckkneipe »Zum goldenen Pfau« und zog ihre Tochter quasi hinter dem Tresen groß. Später übernahm Lotte dann selbst die Geschäfte.

Fasziniert von der Lebensgeschichte ihrer Mutter und Großmutter, findet Hanna heraus, dass es den »Pfau« immer noch gibt. Sie macht sich auf den Weg nach Köln, nicht ahnend, dass diese Reise in die Vergangenheit ihr Leben auf den Kopf stellen wird.

Die Autorin

Maria Linke studierte Romanistik und Italianistik. Nach Stationen in großen Publikumsverlagen lebt sie heute als Übersetzerin und Autorin mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

Von Maria Linke ist in unserem Hause außerdem erschienen:

Mittenrein ins Leben

MARIA LINKE

Weiber-

wirtschaft

ROMAN

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1659-8

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2018

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: Arcangel Images/© Lee Avison

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Die schwarzweiße Tracht, bestehend aus Manchesterhose und Weste, kragenlosem Biesenhemd (›Staude‹), Schlapphut (›Obermann‹) und Bündel (›Charlottenburger‹) für Hab und Gut, ist die Zunftkleidung aller Reisenden. Sechs Perlmuttknöpfe an der Jacke symbolisieren die sechs Arbeitstage, acht Knöpfe an der Weste den Acht-Stunden-Arbeitstag. Die jeder Mode trotzende Kluft ist nicht nur ein Relikt aus mittelalterlichen Bauhüttentagen, sondern auch praktisch. Die Hosen mit dem weiten Schlag verhindern, dass Sägemehl in die Schuhe kommt. Den gleichen Zweck erfüllt auch der breitkrempige Hut. (…) Der geschnitzte Wanderstock, der ›Stenz‹, war im Zunftzeitalter ein bewährtes Mittel, um Wegelagerer oder wilde Tiere in die Flucht zu schlagen. Vereinsabzeichen der Zunftgesellen ist die ›Ehrbarkeit‹. (…) Die Ehrbarkeit erlangt nur, wer im Besitz eines Gesellenbriefs ist, nicht mehr als 30 Lenze zählt, unverheiratet, kinderlos, schuldenfrei und nicht vorbestraft ist. Dem Heimatort darf sich der Reisende mit Ausnahme bei Krankheits- oder Todesfällen nur im Umkreis von 50 Kilometern nähern. Drei Jahre und einen Tag bleiben die Wandergesellen in der Regel nirgendwo länger als drei Monate.«

Auszug aus: Ulrich Hossner, »Drum Brüder lasst uns reisen«, Welt, veröffentlicht am 5. 12. 2000.© Axel Springer Syndication GmbH/WeltN24 GmbH

Prolog

Manchmal lagen Monate dazwischen, und sie glaubte schon, er sei überwunden, aber dann war er auf einmal wieder da und kam in regelmäßigen Abständen. Im Traum umgab sie dunkle Enge, und sie versuchte verzweifelt, sich daraus zu befreien. Der Druck auf Brust und Schultern schnürte ihr die Luft ab, es roch unerträglich scharf nach Rauch, und es war so warm, so warm. Jedes Mal fuhr sie schweißgebadet aus dem Schlaf und lag einen Moment lang schweratmend da, bis sie vollkommen wach war. Und dann kam die Erinnerung.

Sie war ein kleines Mädchen gewesen, als der Traum begonnen hatte. Alle sagten zu ihr, nein, du kannst unmöglich heute noch wissen, was du geträumt hast, als du drei oder vier Jahre alt warst. Aber sie wusste es noch ganz genau. Und sie konnte sich auch noch sehr gut daran erinnern, wie sie damals wimmernd in ihrem Bettchen gelegen hatte. Es war das alte Gitterbett ihrer großen Schwester gewesen, eine Seite war heruntergeklappt, weil sie das Gitter schon nicht mehr brauchte, und in der Steckdose neben der Tür steckte ein Nachtlicht, das grünlich schimmerte.

Wenn sie später, als junges Mädchen und erwachsene Frau, aus diesem Alptraum aufschreckte, wusste sie im ersten Moment nie, wie alt sie eigentlich war. Sie zog die Knie ans Kinn und rollte sich zusammen, das überwältigende Verlangen nach ihrer Mutter überfiel sie so heftig wie damals.

Und auch das wusste sie noch: Sie hatte sich im Bettchen auf alle viere gehockt, war vor und zurück geschaukelt, als ob die Bewegung ihr Sicherheit geben würde, und hatte dabei rhythmisch gerufen: »Liebe Mama, komm noch mal! Liebe Mama, komm noch mal!«

Irgendwann war dann die Tür zu ihrem Zimmer aufgegangen, ein Lichtschein vom Flur war hereingefallen, jemand war an ihr Bett getreten, hatte sie auf den Arm genommen, beruhigt und gestreichelt. Aber es war immer ihr Vater gewesen, nie ihre Mutter.

Mit den Jahren verlosch der brennende Wunsch nach ihrer Mutter. Sie wachte nicht mehr schreiend auf, sie rief nicht mehr mitten in der Nacht nach jemandem, der nicht kommen konnte. Sie war alt genug, um zu verstehen, dass die Mutter tot war und nie, nie wiederkommen würde. Was blieb, war der Traum. Aber als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, verging auch er und kam nicht mehr zurück.

Sie vergaß den Traum und das Gefühl, das er mit sich gebracht hatte. Auch die Erinnerung an ihre Mutter verblasste immer mehr.

1

Hannas Schuhe quietschten auf dem blankpolierten Linoleumboden. Ein dumpfer Geruch nach Desinfektionsmitteln und Kantinenessen lag in der Luft. Sie rümpfte unwillkürlich die Nase. Wie jemand bei diesem Geruch gesund werden sollte, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen. Krankenhäuser deprimierten sie, und dieser Geruch trug entschieden dazu bei.

Gestern war ihr Vater ins Krankenhaus gekommen. Insgeheim hatten sie schon lange damit gerechnet. Seine zweite Frau Ilse, Hannas und Monikas Stiefmutter, war vor zwei Jahren gestorben. Daraufhin hatten Hanna und ihre Schwester Monika den Vater so gut es ging zunächst in seinem Haus versorgt. Er hatte ihnen schon vor Ilses Tod Sorgen bereitet. Zuerst war ihnen nur seine Vergesslichkeit aufgefallen. Es kam vor, dass er verzweifelt im ganzen Haus seine Brille suchte, und wenn er schließlich eine seiner Töchter um Hilfe bat, stellte sich heraus, dass sie in der Brusttasche seines Hemdes steckte. Diese Vorfälle häuften sich, und bald kam es immer wieder zu Aussetzern. Er ging zum Einkaufen in den Ort und kam stundenlang nicht wieder, weil er den Weg nicht mehr fand. Eine Geschichte hatte sich Hanna besonders eingeprägt. Vor zweieinhalb Jahren hatte die Nachbarin ihn mitten im Winter sogar am Hauptbahnhof in Köln aufgegabelt. Er wusste nicht mehr, wie er dorthin gekommen war, und noch viel weniger wusste er, wo er hinwollte.

»Stell dir vor«, hatte sie zu Hanna gesagt, »da stand er da, inmitten all der Menschen in der Bahnhofshalle, und als ich ihn ansprach, da erkannte er mich nicht und guckte mich nur misstrauisch an. Er hatte seine Einkaufstasche dabei, aber er war viel zu leicht angezogen für die Jahreszeit, und dann hatte er auch nur Hausschuhe an.«

Geistesgegenwärtig hatte sie ihn untergehakt und ihm erklärt, dass sie jetzt ein bisschen spazieren fahren würden. Als sie ihn ablieferte, erzählte sie mit einer Mischung aus Erheiterung und Besorgnis, er habe gemeint, er würde sie zwar nicht kennen, aber sie sei ihm sym­pathisch, und deshalb käme er gerne mit. Was für ein Glück, dachte Hanna noch heute, dass Frau Schneider ihm begegnet war. Es hätte ja Gott weiß was passieren können.

Trotzdem war das alles noch vergleichsweise harmlos. Ilses Tod gab ihm dann sozusagen den Rest. Ständig kam es vor, dass er seine Töchter mit seiner Frau verwechselte, die Enkelkinder nicht mehr erkannte, und Monikas Mann schlug er einmal die Tür vor der Nase zu, nachdem er ihn angeschrien hatte, wenn er ihn beklauen wolle, müsse er schon früher aufstehen. Es war unmöglich, ihn weiter alleine in dem großen Haus wohnen zu lassen. Und der polnischen Pflegekraft, die seine Töchter eingestellt hatten, konnte er schon gar nicht mehr zugemutet werden. Immer häufiger fanden Hanna und ihre Schwester sie in Tränen aufgelöst vor, wenn sie zu ihrem Vater kamen. »Ich habe Opa lieb«, sagte die Frau zu Hanna, »aber er versucht immer, mich zu schlagen.«

Es war schwierig, einen geeigneten Heimplatz für den Vater zu finden. Zunächst hatten sie noch gehofft, dass er in einer Wohngruppe für Demenzkranke möglichst lange den Schein eines normalen Alltags aufrechterhalten könne, aber schließlich mussten sie einsehen, dass er eine Gefahr für sich und die Umwelt wurde. Monika fand ein geeignetes Heim für Demenzkranke, und dort be­kamen sie einen Pflegeplatz für ihn. Bevor er jedoch dort aufgenommen werden konnte, war er so schwer gestürzt, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste.

»Papa?« Hanna öffnete die Tür zu dem Einzelzimmer, in dem ihr Vater lag.

Wie zusammengeschnurrt lag er in dem Gitterbett, das am Fenster stand. Hannas Herz zog sich vor Kummer und Liebe zusammen, als sie ihren Vater so daliegen sah. Man hatte zwar darauf verzichtet, ihn zu fixieren, weil er seit dem Sturz bewusstlos war, aber ihn in diesem vergitterten Bett liegen zu sehen, war schrecklich.

Hanna trat zu ihrem Vater und ergriff seine Hand, die reglos auf der Bettdecke lag. Sie war kalt, aber sein Brustkorb hob und senkte sich noch, und das Überwachungsgerät neben seinem Bett zeichnete den Herzschlag auf. Um den Kopf hatte er einen dicken Verband, und der dünne Schlauch aus seiner Nase, der mit einem Beutel am Infusionsgalgen verbunden war, zeugte davon, dass er über eine Magensonde künstlich ernährt wurde.

»Ach, Papa«, sagte Hanna bekümmert, »wenn du mich nur hören könntest. Wir brauchen dich doch, Monika und ich. Und die Kinder brauchen ihren Opa. Du kannst doch nicht einfach hier so still im Bett liegen. Du musst wieder gesund werden.« Ihr war klar, dass sie Unsinn redete. Demenz war ja nicht heilbar, und letztendlich ging es gar nicht um seine Kopfverletzung. Aber tief im Inneren hoffte sie immer noch, dass er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen, sie ansehen und wieder derselbe sein würde wie früher. Ihr großer, starker Vater, den sie über alles liebte.

In diesem Moment atmete ihr Vater rasselnd tief ein und aus. Hanna hob hoffnungsvoll den Kopf. Aber er öffnete nicht die Augen, und das Überwachungsgerät piepste unbeeindruckt weiter.

Als sie das Zimmer verließ, kam ihr ein junger Arzt entgegen. »Entschuldigung«, sagte Hanna, »können Sie mir Auskunft zum Zustand meines Vaters geben? Friedrich Graf?«

»Tut mir leid, ich bin nicht von dieser Station«, antwortete der Mann, ohne stehen zu bleiben. »Wenden Sie sich bitte an die Stationsschwester.«

Das tat Hanna, und nach einigem Hin und Her stand sie schließlich im Vorzimmer des Chefarztes, der kurz an der Tür erschien und ihr, zwar nicht unfreundlich, aber doch kurz angebunden und sichtlich unter Zeitdruck, erklärte, es gebe leider keine Hoffnung mehr auf Besserung. Er sagte es nicht explizit, aber es hörte sich trotzdem so an, als würden sie hier im Krankenhaus jeden Tag mit dem Ableben des Patienten rechnen.

»Wir haben getan, was wir konnten«, fügte er hinzu. »Aber Ihr Vater ist, abgesehen von den Sturzverletzungen, in einer schlechten körperlichen Verfassung, nicht zuletzt durch die ausgeprägte Demenz. Wir können ­leider nicht davon ausgehen, dass er noch einmal aufwacht.«

Hanna schluckte. »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte sie. Ein wenig hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Aber Sie wissen ja, wie das ist – irgendwie glaubt man doch immer an Wunder.«

Der Arzt sah nicht so aus, als würde er daran glauben, aber er nickte höflich und sagte: »Ja, sicher, aber in diesem Fall kann ich Ihnen leider nichts Positives sagen. Bleiben Sie so lange bei ihm, wie Sie möchten. Wir können nicht ausschließen, dass er Ihre Nähe doch noch spürt.« Schon halb im Gehen fügte er hinzu: »Es tut mir leid, Frau Guenther.«

Hanna schaute auf die Uhr. Es war elf Uhr abends. Seit vier Stunden hielt sie jetzt Nachtwache am Bett ihres Vaters. Die Kinder waren bei Ute, ihrer besten Freundin, die es sich seit Hannas Scheidung nicht nehmen ließ, Hannas Töchter wie ihre eigenen zu versorgen. Hanna hatte sich für die kommenden Tage Urlaub genommen. In der Zahnarztpraxis, in der sie arbeitete, hatten alle Verständnis dafür, dass sie bei ihrem Vater sein wollte. Monika würde sie morgen früh um sechs ablösen, aber heute Nacht wollte Hanna mit ihrem Vater alleine sein. Sanft streichelte sie seine reglose Hand und betrachtete ihn.

Sie hatte als Kind nichts vermisst. Geliebt von Vater und Stiefmutter, mit einer großen Schwester, die sich fast so liebevoll wie eine Mutter um sie kümmerte, hatte sie eine sorglose, schöne Kindheit gehabt. Alle waren lieb zu ihr, lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. An ihre wirkliche Mutter, deren gerahmtes Porträtfoto im Flur zwischen den Türen der Kinderzimmer hing, konnte Hanna sich nicht mehr erinnern, weil sie noch zu klein gewesen war, als sie starb. Es redete auch kaum jemand von ihr. Ilse nicht, weil sie sie gar nicht gekannt hatte. Monika, die große Schwester, nur äußerst selten. Hanna vermutete schon früh, dass es ihr weh tat, von der Mutter zu erzählen, und sie ließ sie in Ruhe. Sie wollte nicht, dass Monika sich damit quälte.

Aber vor allem redete der Vater nicht von ihr. Mit Ilse, seiner zweiten Frau, hatte das nichts zu tun. Er hatte schon in den ersten Jahren nach ihrem Tod kaum von ihr gesprochen. Dass er das Bild der Mutter im Flur aufgehängt hatte, war das Äußerste, was er an Erinnerung zuließ. Vielleicht hielt er es für falsch, zu viel über sie zu reden, dachte Hanna manchmal. Vielleicht wollte er keine alten Wunden aufreißen. Auch Fotos gab es kaum. In ihrer Familie wurde nicht, wie in anderen, ausgiebig gefilmt oder fotografiert. Es gab ein einziges Foto von der Hochzeit, auf dem ihre Mutter wie eine schöne fremde Frau an der Seite ihres Vaters stand. Aber das fand Hanna eher zu­fällig, als sie in der Schreibtischschublade ihres Vaters herumkramte. Und als sie die Schublade das nächste Mal aufzog, war es nicht mehr da.

Als Hanna ein Teenager war, hatte sie viel darüber nachgegrübelt und sich manchmal auch Ute, die schon damals ihre beste Freundin war, anvertraut, wenn einer dieser langen Nachmittage, an denen sie kichernd die Köpfe zusammengesteckt und BRAVO gelesen hatten, in den frühen Abend überging, es draußen langsam dunkel wurde und Hanna die Teelichter auf der Fensterbank anzündete, um es im Zimmer gemütlich zu machen. »Ich wüsste schon gerne, ob ich ihr ähnlich bin, also nicht nur im Aussehen, sondern auch vom Wesen her. Ich habe so gar keine Vorstellung davon, wie sie war. Es ist komisch, nichts über seine Mutter zu wissen.«

»Warum fragst du nicht einfach deinen Vater?«, hatte die pragmatische Ute vorgeschlagen.

Hanna hatte abgewehrt. »Nein, er sagt ja sowieso nichts. Und Ilse will ich auch nicht fragen. Am Ende denkt sie noch, dass ich mich bei ihr nicht wohlfühle oder sie etwas falsch macht. Du weißt doch, wie sie ist. Ich will ihr nicht weh tun.«

Ute hatte mit den Schultern gezuckt. »Dann weiß ich auch nicht. Monika?«

»Nein.« Hanna hatte den Kopf geschüttelt. »Sie hat mir ja schon ein bisschen erzählt, aber ich glaube, die Erinnerung wird immer blasser, sie war ja auch noch ein Kind damals. Und so richtig darüber reden will sie nicht. Da kommt sie sehr nach Papa. Immer alles schön für sich behalten. Als ob sie selbst weniger davon hätte, wenn sie es mir erzählt.«

»Na, da bist du auf jeden Fall ganz anders.« Ute hatte gelacht. »Bestimmt hast du zumindest das von deiner Mutter.«

Danach waren andere Themen wichtiger gewesen und hatten das Problem verdrängt.

Jetzt, im stillen, dämmrigen Krankenzimmer, ging ihr all das wieder durch den Kopf. Wenn ihr Vater tot war, war ihre letzte Verbindung zur Vergangenheit abgerissen. Ein zusammenhängendes Gespräch mit Friedrich war ja schon lange nicht mehr möglich gewesen, ganz zu schweigen davon, dass sie ihn nach Ilses Tod hätte bitten können, wenigstens jetzt doch einmal sein Schweigen zu brechen und von der Mutter zu erzählen. Aber er war zumindest körperlich noch anwesend gewesen, und wenn er auch immer mehr darauf angewiesen war, von seinen Töchtern wie ein Kind versorgt zu werden, so hatte Hanna doch immer noch das Gefühl gehabt, einen Vater zu haben.

Aber wenn auch er starb …

Hanna holte tief Luft. Sie stand auf und ging leise zur Tür, um sich einen Tee zu holen. Auf dem Flur brannte Licht, aber alles war still und leer. Hanna blickte auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Die Nachtschwester hatte vermutlich gerade auch mal im Stationszimmer die Beine hochgelegt. Hanna huschte zum Besucherzimmer, wo der Automat für Tee und Kaffee stand. Als sie mit dem heißen Getränk leise wieder zurückging, hörte sie hinter der Tür eines Zimmers lautes Schnarchen, offensichtlich von zwei Patienten, immer im Wechsel. Das Geräusch entlockte ihr ein Lächeln, aber fröhlich machte es sie nicht.

Im Zimmer ihres Vaters war es unverändert still. Nur das Beatmungsgerät piepste leise. Hanna machte es sich auf ihrem Stuhl am Bett so bequem wie möglich. Es würde eine lange Nacht werden.

2

Dass es so viel Arbeit ist, hab ich nicht gedacht.« Hanna pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Erschöpft fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht. Vor vier Stunden hatten sie angefangen, die persönlichen Dinge ihres Vaters durchzusehen, und sie waren noch nicht über das Erdgeschoss hinausgekommen.

»Ich habe ja gesagt, lass uns besser einen Entrümpler bestellen, und dann wird der ganze Schrott weggefahren.« Über Monikas Wange zog sich eine Schmutzspur. Sie war im Vorratskeller gewesen, um zu sichten, was Ilse alles an Eingemachtem hinterlassen hatte.

Hanna warf ihrer Schwester einen empörten Blick zu. »Das ist typisch! Du willst immer gleich alles wegschmeißen! Wir müssen doch zumindest ein paar Erinnerungen retten. Und du weißt ja auch gar nicht, was wir noch alles finden. Papa war das letzte Jahr schließlich schon ziemlich verpeilt, und es kann ja sein, dass er irgendwo noch Geld versteckt hat.«

Monika zuckte mit den Schultern. »Ja, kann sein. Ich meine ja nur, wenn ich mir angucke, was uns alles noch bevorsteht, dann verzweifle ich langsam.«

Sie hatte recht. Das Haus war groß, viel zu groß, und deshalb hatten sie auch beschlossen, es zu verkaufen. Monika und ihr Mann besaßen selber ein Haus, das auch für sie mittlerweile schon fast zu groß wurde, weil ihre Kinder erwachsen und längst ausgezogen waren. Und Hanna wohnte mit ihren drei Töchtern in der Doppelhaushälfte, die ihr Exmann ihr bei der Scheidung überlassen hatte. Kurz hatte sie sogar überlegt, ob es nicht schön wäre, mit den Kindern ins Elternhaus überzusiedeln, aber sie war berufstätig, und allein schon der Gedanke, einen so großen alten Kasten mitsamt weitläufigem Grundstück zu unterhalten, bereitete ihr Unbehagen.

Aber das Haus barg natürlich auch Erinnerungen. Erinnerungen an eine fröhliche Kindheit mit Freiheiten, von denen die Kinder heute nur träumen konnten.

Die riesige, altertümliche Wohnküche mit dem Schmutzraum davor – wunderbar geeignet für verdreckte Hunde und Kinder, die man erst einmal säubern musste, bevor sie ins Haus durften. Das langgezogene Wohnzimmer mit dem Kachelofen und der Wand mit der schwarzgrundigen Tapete mit gezeichneten Pariser Stadtszenen, vor der Hanna als Kind immer gesessen und sich Geschichten ausgedacht hatte. Für Hanna gehörte das alles zu ihren frühesten Kindheitserinnerungen. Sie war ein Jahr gewesen, als ihre Eltern – damals hatte ihre leibliche Mutter noch gelebt – das Haus in einem Dorf in der Nähe von Köln gekauft hatten. Und heute noch, mit zweiundvierzig, schwor Hanna, sie könne sich ganz genau daran erinnern, wie sie während des Umzugs mit ihrer Oma auf dem Fußboden vor der schwarzgrundigen Tapete gesessen habe. Alle erklärten ihr immer wieder, das sei unmöglich, sie sei viel zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern, und sie wüsste das nur, weil irgendjemand es ihr erzählt habe, aber Hanna ließ sich nicht davon abbringen.

Überhaupt war das ganze Haus eine einzige Kindheitserinnerung. Die lindgrün gestrichene Holzveranda vor der Eingangstür mit dem schönen alten Fliesenboden und dem umlaufenden schmalen Steinsims, auf dem man so gut seine Schätze ausbreiten konnte. Die geräumige Eingangsdiele mit dem Fenster zum Hof und der breiten ­geschwungenen Holztreppe, die in den ersten Stock hin­aufführte. Das Geländer eignete sich sehr gut zum Run­terrutschen, wobei der dicke Knauf am Ende der Treppe verhinderte, dass man ungebremst auf den Fliesenboden plumpste. Die Treppe in den zweiten Stock hinauf war schon wesentlich schmaler, aber dort oben waren ja auch nur noch Speicher und Kinderzimmer. Dafür befand sich an dieser Treppe ein kleines Fenster mit breitem Fensterbrett, auf dem kleine Mädchen wunderbar sitzen und über den Garten blicken konnten.

Und überhaupt – der Garten! Weitläufig, mit großen alten Obstbäumen, Beerensträuchern, Gemüsebeeten und Blumenrabatten. Wie oft hatte sie als Kind in der Astgabel auf dem Apfelbaum gesessen und gelesen. Der Garten hatte zahllose Verstecke geboten, von der kleinen Bank ganz hinten hinter den Rhabarberstauden bis hin zur Höhle unter dem großen Goldregen. Ilse hatte sie oft gesucht, war ängstlich rufend durch den Garten gelaufen, weil sie im Anfang ihrer Ehe immer Angst gehabt hatte, als Stiefmutter etwas falsch zu machen. Ständig fürchtete sie, der freiheitsliebenden Sechsjährigen, die ganz selbstverständlich nicht nur in Haus und Garten spielte, sondern das Dorf und den angrenzenden Wald ebenfalls als großen Spielplatz betrachtete, könne etwas passieren, weil sie nicht gut auf sie aufpasste.

Und es war ja auch genug passiert. Einmal war Hanna im Sommer barfuß herumgelaufen und hatte sich einen rostigen Nagel eingetreten. Er war glatt durchgedrungen, und die Spitze ragte oben aus dem Fuß heraus. Das Brett, auf dem er sich befand, lag wie eine Schuhsohle ­unter ihrem Fuß. Ilses Auto war an jenem Tag in der Werkstatt, und sie musste den Notarzt rufen. Hanna fand es beeindruckend, im Krankenwagen mit Blaulicht ins Krankenhaus transportiert zu werden. Der Fuß tat noch nicht einmal besonders weh, und nachdem der Nagel her­ausgezogen, der Fuß verbunden worden war und sie eine Tetanusspritze bekommen hatte, waren sie mit dem Taxi wieder nach Hause gefahren. Ein anderes Mal war sie im Winter beim Schlittschuhlaufen auf dem Schlossweiher eingebrochen. Zum Glück war sie nicht alleine, sondern mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen. Sie hatten sie herausgezogen und sie mehr oder weniger nach Hause getragen, weil alles an ihr sofort gefroren und sie so steif war, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ilse hatte fast einen Herzinfarkt bekommen, als sie sie ablieferten. Sie hatte sofort heißes Badewasser eingelassen, Hanna aus den Kleidern geschält und in die Wanne gesetzt. Weitere Folgen hatte das Erlebnis nicht gehabt. Na ja, vielleicht war sie danach ein bisschen vorsichtiger geworden.

»Lass uns weitermachen.« Hanna zuckte mit den Schultern. »Es nützt ja nichts. Wir müssen einfach alles in die Hand nehmen und gucken, was wir behalten und was wir weggeben wollen. Und ich möchte es ehrlich gesagt auch hinter mir haben. Je länger ich mich hier aufhalte, desto mehr wird mir bewusst, dass jetzt nur noch wir beide ­übrig sind.« Ihr traten die Tränen in die Augen, und sie wischte sie rasch weg.

Monika zeigte nicht gerne ihre Gefühle, und Hanna wollte sich ihr gegenüber keine Schwäche anmerken lassen.

Aber dieses Mal reagierte ihre große Schwester un­gewohnt weich und nahm sie in den Arm. Tröstend strich sie Hanna über die Haare. »Ist ja schon gut, Kleine«, sagte sie, ganz wie früher. »Wir schaffen das schon!«

Es dauerte drei Tage, bis sie die persönlichen Dinge ihres Vaters so weit aussortiert hatten, dass das Entrümpelungsunternehmen kommen konnte. Von den Möbeln hatten sie lediglich den Schreibtischsessel des Vaters behalten, einen alten, großen Holzsessel mit Lederbezug, und ein kleines, besonders schön bemaltes Jugendstilschränkchen, das ihre Stiefmutter mit in die Ehe gebracht hatte. Monika hatte eigentlich auch den Schreibtisch behalten wollen, aber als sie ihn ausräumten, rieselte an ­allen Ecken Holzstaub heraus. »Holzwürmer«, stellte Mo­nika erschüttert fest. »Nee, den will ich nicht – am Ende steckt er mir noch meine anderen Möbel an.«

Jetzt standen sie staubverschmiert, wie immer, wenn sie im alten Haus gearbeitet hatten, in der Eingangsdiele.

»Ich glaube, wir sind fertig«, meinte Monika. »Sollen wir noch mal durchs Haus gehen und gucken, ob wir nichts übersehen haben?«

Hanna nickte. »Ja, das sollten wir auf jeden Fall machen. Komm, wir fangen gleich hier an. In den Keller brau­chen wir ja nicht mehr, da ist ja auf jeden Fall schon alles raus.«

Den Keller hatten sie als Erstes entrümpelt. Das war ganz einfach gewesen – sie hatten alles zum Sperrmüll herausgestellt. Es war ein riesiger Berg gewesen: Gartengeräte, eine alte Couch, alte Stühle, Teppiche, und vor ­allem ganze Paletten von Ilses eingemachtem Obst und ihren selbstgemachten Marmeladenkreationen. Aber als sie am nächsten Morgen nachgeschaut hatten, war nichts mehr da, nicht das kleinste Fetzchen. Und dabei hatte Hanna gerade wegen der Marmelade solche Skrupel gehabt. »Wenn die jetzt nun nicht mehr gut ist?«, hatte sie zu Monika gesagt. »Ist das nicht verboten?«

Monika hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Was soll denn daran nicht mehr gut sein? Auf allen Gläsern steht doch das Datum, und wenn jemand Zweifel hat, kann er es ja lassen. Also, die Gläser, die ich mit nach Hause genommen habe, waren alle gut.«

Die Nachbarin berichtete jedenfalls, sie hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ständig Lieferwagen vorbeigekommen seien und alles aufgeladen hätten, was noch irgendwie zu gebrauchen gewesen war. »Ich habe kein Auge zugetan«, beklagte sie sich. »Ständig standen irgendwelche Wagen mit laufendem Motor vor dem Haus. Ich glaube, für den Sperrmüll ist gar nichts mehr übriggeblieben.«

Sie überzeugten sich davon, dass Wohnzimmer, Esszimmer und Küche nichts mehr enthielten, was sie als Andenken an den Vater behalten wollten. Im ersten Stock lagen Schlafzimmer, Badezimmer, Gästezimmer und Arbeitszimmer, auch hier hatten sie alles Wichtige ausgeräumt.

Monika schaute auf die Uhr, als sie im Arbeitszimmer noch mal alle Schubladen öffneten und in jedes Schrankfach schauten. »Hör mal, ich muss los«, sagte sie zu Hanna. »Kannst du den Rest alleine machen? Wir sind ja so gut wie durch.«

»Ja, klar, mach ich. Sieh zu, dass du in deinen Felden­kraiskurs kommst. Ich gehe noch schnell oben nachsehen, dann breche ich auch auf.«

Hanna umarmte ihre Schwester. »Schon komisch, oder? Dass jetzt gar keiner von den Eltern mehr da ist. Und das Haus.« Unwillkürlich traten ihr die Tränen in die Augen.

Monika nickte. »Ja, wir zwei Waisenkinder.« Sie lächelte schief und gab ihrer kleinen Schwester einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns morgen. Mein Kurs wartet auf mich.«

Nachdenklich trat Hanna im Schlafzimmer ihrer Eltern ans Fenster. Von hier ging der Blick auf den Hof und über den Garten, der jetzt nur noch halb so groß war wie in ihrer Kindheit, weil ihr Vater und Ilse einen Teil des riesigen Grundstücks als Bauland verkauft hatten, als sie vor ein paar Jahren umfangreiche Renovierungsarbeiten im Haus durchführen mussten. Hanna dachte daran, wie sie mitten im Sommer als Fünfjährige mit Windpocken hier im abgedunkelten Zimmer gelegen hatte. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern. Es war heiß, sie hörte, wie ihre Schwester draußen mit ihren Freundinnen in dem großen runden Pool, den ihr Vater und ihre Stiefmutter damals gerade erst angeschafft hatten, her­umplantschten. Sie jedoch lag im Halbdunkel bei heruntergelassenen Rollläden im Bett der Eltern und konnte gar nichts machen. Die schorfigen Pocken hatten furchtbar gejuckt, aber es war ihr streng verboten, daran zu kratzen oder sie gar abzupopeln. »Dann bleiben tiefe Löcher!«, hatte ihr Hausarzt, der alte Dr. Simon, warnend erklärt. Und sie hatte schrecklichen Durst gehabt, das wusste sie noch. Ilse hatte sie unermüdlich mit Eistee und frisch gepresstem Orangensaft versorgt.

Damals hatte sich Hanna noch geweigert, Mama zu Ilse zu sagen, schließlich waren Papa und sie noch nicht so lange verheiratet. Dabei hatte Hanna sie von Anfang an geliebt. Wahrscheinlich hatte sie nur nachgeplappert, was Monika ihr vormachte. Monika, die neun Jahre ältere Schwester, die sich noch richtig gut an ihre echte Mama erinnerte und die aus Eifersucht auf die neue Frau an Papas Seite mit ihren vierzehn Jahren immer nur Ilse sagte. Später dann, als sie sich daran gewöhnt hatten, den Vater teilen zu müssen, war es ganz von selber gekommen, dass Hanna Mama sagte. Und Ilse war so glücklich darüber gewesen, zumal sie keine eigenen Kinder bekommen konnte. Sie hatte die beiden Mädchen mit ihrer Liebe geradezu überschüttet.

Lächelnd schüttelte Hanna den Kopf und wandte sich zum Gehen. Du warst ganz schön verwöhnt, dachte sie. Die kleine Prinzessin, auf deren Befehl hin alle sprangen. Monika war viel genügsamer gewesen. Immer noch lächelnd ging sie aus dem Zimmer die Treppe hinauf.

Auf halber Höhe war das Fenster, aus dem sie mal herausgeklettert war. Weit war sie nicht gekommen. Der wilde Wein am Haus war selbst ihr als Kind nicht so stark erschienen, dass sie daran hätte hinunterklettern können. Einen Fuß hatte sie daraufgesetzt, aber als sie merkte, dass die dicke, verholzte Ranke sie nicht tragen würde, hatte sie das Bein schleunigst wieder zurückgezogen. Ilse hatte sie nie davon erzählt. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie wahrscheinlich noch im Nachhinein einen Riesenschrecken bekommen. Sie hatte gerade um Hanna immer besonders viel Angst gehabt, weil sie ein wildes kleines Mädchen gewesen war. Kein Baum war ihr zu hoch, kein Wasser zu tief – sie musste einfach alles ausprobieren. Aber Mama Ilse war zuverlässig immer zur Stelle gewesen, um die Verletzungen, die dieses riskante Leben mit sich brachte, zu versorgen.

Oben im zweiten Stock waren die Kinderzimmer – in ihrer Kindheit noch ungeheizt, versteht sich. Die Zen­tralheizung hatte der Vater erst einbauen lassen, da ging sie schon längst zur Schule. Wieder überwältigten Hanna die Erinnerungen, als sie durch die beiden leeren Zimmer ging. Hier hatte ihr Bett gestanden, und da am Fenster Papas alter Sessel, der heute noch – neu bezogen – in Hannas Wohnzimmer stand. Im Winter waren die Fenster morgens voller Eisblumen gewesen, die die schönsten Muster auf die Scheiben gemalt hatten.

»Wie, Eisblumen?«, hatte ihre jüngste Tochter Bettina gefragt, als sie einmal davon erzählt hatte. »Was sind denn Eisblumen?« Hanna hatte ihr erklärt, dass der Frost auf kalten Fensterscheiben, wenn der Raum dahinter ungeheizt war, Blumen malte. »Okay«, hatte Bettina gemurmelt. Aber besonders überzeugt hatte sie nicht geklungen. Wie sollte sie das auch verstehen – sie kannte ja nur Isolierverglasung …

Die Tür zum Zimmer ihrer Schwester hatte immer ­offen gestanden, und Hanna konnte sich noch gut daran erinnern, wie beruhigend sie es damals gefunden hatte, dass im Zimmer nebenan auch jemand im Bett lag und atmete. Manchmal hatte Monika ihr abends Geschichten erzählt, das war besonders schön gewesen, aber die meiste Zeit hatte sie ihr deutlich zu verstehen gegeben, wie lästig sie die kleine Schwester fand. Doch Hanna war nicht so leicht abzuwimmeln gewesen und ihr öfter auf die Nerven gegangen. Vor allem, wenn sie mal wieder glaubte, eine Maus vorbeihuschen zu hören, auf die Monika doch bitte noch vor dem Einschlafen Jagd machen sollte. Und das eine Mal, als sie friedlich lesend im Bett gelegen hatte und auf einmal direkt vor ihren entsetzten Augen eine dicke schwarze Spinne baumelte …

Neben den beiden Kinderzimmern lag das Spielzimmer. Eigentlich genial, dachte Hanna, als sie kurz in den kleinen, sonnenhellen Raum hineinblickte. Ein großes rundes Fenster, mit einem kleinen dreieckigen Segment zum Öffnen. Früher hatten hier nur Matratzen und Kissen gelegen.

Wie oft hatte sie mit ihren Freundinnen Schiffbruch und einsame Insel gespielt. Beinahe beneidete sie sich selber um die Spiele ihrer Kindheit. Ihren Kindern hatte sie so eine Umgebung nicht bieten können. Hanna setzte sich mit gekreuzten Beinen mitten in das kleine Zimmer und schaute durch das runde Fenster hinaus. Einen solchen Raum entwarf heute niemand mehr, aber für sie war er damals Zuflucht und Abenteuerspielplatz zugleich gewesen.

Draußen rauschten die zwei mächtigen Platanen im Wind. Hanna musterte die Bäume stirnrunzelnd. An manchen Stellen hatten ihre Wurzeln im Hof schon das Pflaster angehoben. Aber so alte Platanen durften doch sicher nicht abgeholzt werden, oder? Sie zuckte mit den Schultern – gleich morgen würde sie sich darum kümmern und mal bei der Stadt nachfragen, was sie am besten tun sollte. Am Ende beschädigten die Wurzeln noch das Fundament, und wenn ein potentieller Käufer danach fragte, musste sie Bescheid wissen.

Langsam erhob sie sich, um in den beiden Kinderzimmern nach dem Rechten zu sehen. Alle Räume waren leer. Die Wand, an der ihr Bett gestanden hatte, war glatt und weiß. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie als Sechsjährige ganze Abende lang mühsam den Putz ab­gekratzt hatte, bis ein richtiger kleiner Krater entstanden war. Warum sie das damals gemacht hatte, wusste sie heute nicht mehr. Sie konnte sich aber noch gut an das fassungslose Gesicht ihrer Stiefmutter erinnern, als sie das Loch in der Wand entdeckt hatte. Hanna hatte es unter dem Kalender mit Bildern von jungen Hunden platziert, der neben dem Bett an der Wand hing. »Ich war ein cleveres kleines Mädchen«, murmelte Hanna zufrieden.

Lächelnd ging sie weiter. Die Tür am Ende des Gangs führte zum Speicher. Als Kind hatte sie sich hier nicht gerne aufgehalten. In den Ecken der alten Dachbalken hausten dicke Spinnen, und wenn man nicht aufpasste, blieb man in den großen Netzen hängen und hatte die Viecher in den Haaren. Deshalb war Hanna jetzt auch froh gewesen, dass sie dort nicht hatte aufräumen müssen. Das hatte Monika mit ihrem Mann erledigt.

Rasch öffnete sie die Tür und blickte einmal hinein. Der Raum war leer, die rohen Holzdielen sauber gefegt, sogar die Balken waren abgekehrt worden. In der dunklen Ecke an der hinteren Giebelseite stand noch etwas. Hanna kniff die Augen zusammen. Ein kleiner Koffer. »Den haben sie wohl vergessen«, murmelte sie. Eigentlich hatte sie die Tür gleich wieder schließen wollen, aber jetzt blieb sie unschlüssig stehen. Sie warf einen Blick in die Runde. ­Alles war sauber – keine Spinne in Sicht. Zur Sicherheit schaltete sie auch noch das Licht an. Schließlich konnte sie den Koffer nicht dort stehen lassen. Was mochte wohl darin sein? Entschlossen ging sie darauf zu. Es war ein alter, brauner, nicht besonders großer Koffer, der von einem Lederriemen zusammengehalten wurde. Sie hockte sich davor, löste den Riemen und klickte den Verschluss auf, um den Deckel aufzuklappen.

Obenauf lag ein sorgfältig gefaltetes Baumwolltuch. Hanna nahm es heraus und faltete es auseinander. Auf dem weißgrundigen Tuch mit breitem rotem Rand war ein Gebäude abgebildet, darunter stand »Tischlerei und Schreinerei Überreutter«. Drumherum weitere Schriftzüge von irgendwelchen Firmen und Handwerkssymbole. Hanna zuckte mit den Schultern. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Das Tuch diente als Abdeckung für ein paar Kladden, Schreibhefte, wie man sie früher in der Schule benutzt hatte. Hanna nahm das oberste heraus und blätterte es auf.

»Lotte Weidenhaupt« stand auf der ersten Seite, »Köln 1957«. Fasziniert starrte Hanna auf die gleichmäßige, geschwungene Handschrift. Spinnen und Schmutz waren auf einmal vergessen. Sie ließ sich auf dem Fußboden nieder und blätterte das Heft durch. Das waren Erinnerungsstücke ihrer Mutter! Weidenhaupt war ihr Mädchenname gewesen! Offenbar hatte sie ein Tagebuch geführt! Der erste Eintrag in diesem Heft stammte vom 4. Mai 1957. Es folgten Einträge in unterschiedlicher Länge und verschiedenen Abständen. Manchmal hatte sie an zwei Tagen hintereinander lange Texte geschrieben, manchmal aber auch wochenlang gar nichts oder nur ein paar Zeilen. Ein richtiges Tagebuch, so wie Mädchen zu allen Zeiten Tagebuch geführt hatten!

Am liebsten hätte Hanna sich auf der Stelle hingesetzt und angefangen zu lesen. Aber dann klappte sie das Heft wieder zu und legte es zurück auf den Stapel. Das musste sie sich in Ruhe anschauen. Ob Monika davon wusste?

Neugierig untersuchte Hanna den Inhalt des kleinen Koffers weiter. Außer einer Blechdose mit alten Fotos enthielt er noch mehrere kleine, offenbar selbstgenähte Lavendelduftsäckchen, die ihren Duft allerdings schon lange verloren hatten, und ein paar ebenfalls selbstgenähte Kleidungsstücke. Sie hatten jedenfalls kein Etikett.

Hanna zog ein sorgfältig verpacktes, hellblaues Kostüm aus leicht changierender Rohseide mit engem Rock und taillierter Jacke heraus, das sie sehr genau betrachtete, weil es so schick war. »Meine Güte, was ist das bloß für eine Kleidergröße?«, murmelte sie. »Null? Das würde ja höchstens Bettina passen, aber auch nur mit Mühe und Not!« Außerdem enthielt der Koffer einen weiten weißen Sommerrock mit einer ganzen Blumenwiese am Saum, inklusive Marienkäferchen, die auf den Grashalmen saßen, eine dunkelblaue ärmellose Sommerbluse mit weitem rundem Ausschnitt und ein schwarzweißes Minikleid mit graphischem Muster. Die Sachen würden mir schon eher passen, dachte Hanna. So einen Sommerrock hatte sie doch kürzlich erst in einer Modezeitschrift gesehen. Es kam alles eben wieder.

Ganz unten im Koffer lag eine vergrößerte, gerahmte Fotografie. In der Tür der Gaststätte »Zum Goldenen Pfau« stand eine junge Frau mit kurzen lockigen Haaren. Vor ihr hatten sich Männer mit schwarzen Schlapphüten, Hosen mit weitem Schlag und doppelreihig geknöpften Westen aufgebaut. Auf einem Schild, das sie zwischen sich hielten, stand »Gesellschaft Freie Vogtländer«. Neben dem Bild lag, eingerollt in einen dreieckigen Wimpel, eine kleine Papprolle. Sie enthielt eine handgeschriebene Urkunde. In kalligraphischer Schrift stand darauf: »Urkunde für Frau Lotte Graf, die beste Wirtin aller Zeiten. Sie war wie eine Mutter zu uns, und wir haben uns in ­ihrer Herberge stets wie zu Hause gefühlt. Dafür gebührt ihr unser tiefer Dank.« Unterschrieben war die Urkunde mit: »Gesellschaft Freier Vogtländer. Köln, im Dezember 1962.« Hanna betrachtete den Wimpel. Auch darauf stand »Gesellschaft Freier Vogtländer Deutschlands«. Das abgebildete Symbol war das gleiche wie auf dem Tuch.

Beinahe hätte Hanna über ihrem interessanten Fund die Zeit vergessen, aber dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. Ach du lieber Himmel, sie musste ja auch los. Die Kinder waren noch bis morgen bei ihrem Vater, und sie hatte sich an ihrem ersten freien Abend seit langem einmal wieder mit einer Freundin im Kino verabredet. Wenn sie das noch schaffen wollte, musste sie sich beeilen. Zwar hätte sie sich am liebsten auf der Stelle hier hingesetzt und einen Blick in die engbeschriebenen Hefte ihrer Mutter geworfen, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr.

Sorgfältig packte sie die Sachen wieder in den Koffer und machte ihn zu. Sie stand auf, ergriff ihn am brüchigen Ledergriff und nahm ihn mit hinunter. In der Diele drehte sie sich noch einmal um, warf einen letzten Blick auf das alte Haus, dann zog sie die Tür hinter sich zu und schloss ab.

3

Wie konntet ihr den Koffer denn bloß übersehen?«, fragte Hanna ihre Schwester, als sie ihr am Telefon von dem Fund erzählte. Auf die Eröffnung, dass sich in dem Koffer auf dem Speicher Tagebücher ihrer Mutter befanden, reagierte Monika erstaunlich gleichmütig.

»Ich weiß nicht.« Hanna konnte beinahe durchs Telefon hören, wie sie mit den Schultern zuckte. »Ich glaube, ich habe ihn schon gesehen, aber wieder vergessen. Es ist ja auch nichts Wichtiges drin. Was sagst du? Alte Kleider und so? Und Tagebücher interessieren mich schon gar nicht. Wer weiß, was das für Ergüsse sind. Da brauche ich doch bloß an meine Schreibversuche als Teenager zu denken.«

»Ja, aber das ist doch spannend«, wandte Hanna ein. »Es sind ja nicht irgendwelche Tagebücher! Also, ich zumindest weiß doch kaum etwas von unserer Mutter. Ich meine, du hast ja noch viel mehr Erinnerungen, aber ich kenne sie eigentlich gar nicht. Und was ist mit der Blechdose voller Bilder? Und diese Urkunde? Willst du die auch nicht sehen?«

»Doch, natürlich.« Monika klang beleidigt. »Ich habe nur keine Lust, mir seitenweise Tagebuchaufzeichnungen anzugucken. Davon wird Mama auch nicht wieder lebendig.«

»Na, das sehe ich anders«, meinte Hanna. »Aber das liegt vielleicht daran, dass ich mich so gar nicht an sie erinnern kann. Und Papa kann ich ja nun auch nicht mehr fragen«, setzte sie traurig hinzu.

»Er hat wahrscheinlich den Koffer auf den Speicher gestellt«, sagte Monika. »Also wollte er offenbar damals schon nicht mehr daran erinnert werden.«

»Wusstest du denn, dass Mama Wirtin in einer Gaststätte war? Mir hat das nie jemand erzählt.«

»Doch, du weißt doch von der Gaststätte, die Oma gehört hat. Und ein paar Jahre, als Papa studiert hat, hat Mama sie geführt. Da war ich sogar schon auf der Welt, glaube ich, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Papa fand das wahrscheinlich nicht so toll, sonst hätte er ja mal was erzählt. Na ja, wer weiß, was er sich dabei gedacht hat.«

»Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum er so gar nicht von Mama geredet hat? Ich hätte gerne mehr über sie gewusst, aber immer, wenn ich nach ihr gefragt habe, hat er so ein abweisendes Gesicht gemacht, dass ich mich nicht getraut habe, weiterzufragen.«

Monika wehrte ab. »Mir ist das ehrlich gesagt nicht so aufgefallen. Ich wollte selber nicht dauernd darüber reden. Zuerst hat es nur weh getan, und später habe ich einfach nicht mehr so oft daran gedacht.«

»Du warst ja auch schon fast zwölf. Du hattest Erinnerungen an Mama. Aber ich, ich weiß gar nichts.«

»Das ändert sich ja jetzt bestimmt, wo du die Tagebücher gefunden hast«, tröstete Monika die kleine Schwester. »Lies sie, und wenn irgendwas Wichtiges drinsteht, kannst du es mir ja erzählen.«

Hanna war drei Jahre alt gewesen, als sie Mutter und Großmutter an einem Tag verlor. So gut sie glaubte, sich an ihr erstes Lebensjahr und den Umzug aufs Dorf in das große alte Haus erinnern zu können, so wenig konnte sie sich, obwohl zwei Jahre älter, daran erinnern, dass Mutter und Oma, die sie in den ersten drei Lebensjahren begleitet hatten, auf einmal nicht mehr da waren.

Ein Auto war auf einer Landstraße in der Eifel aus der Kurve getragen worden. Der betrunkene Fahrer war frontal in ihren Wagen gerast, die beiden Frauen waren sofort tot. Sie waren auf dem Weg zu einer alten Freundin der Großmutter, wohl noch aus Kriegszeiten, wie Hanna beiläufig irgendwann erfahren hatte, weil sie dort in der Eifel Geburtstag feiern und übernachten wollten.

»Wie war das denn damals?«, hatte Hanna unzählige Male von Monika wissen wollen, weil ihr Vater so gut wie gar nicht über die Mutter redete, aber die große Schwester, für die der Unfall ein traumatisches Erlebnis gewesen sein musste, hatte immer nur unwillig abgewinkt. Im besten Fall hatte sie gesagt: »Jetzt hör doch endlich mal auf zu fragen. Ich weiß gar nichts darüber. Ich war doch in England. Meine Gasteltern haben mich ins Flugzeug gesetzt, und dann hat Papa mich in Köln-Bonn am Flughafen abgeholt. Eigentlich kann ich mich nur an den Flug erinnern, weil ich es so aufregend fand, zu fliegen.«

Mehr konnte Hanna ihr nie entlocken. Sie wusste bis heute nicht, wie sich ihre Schwester damals gefühlt hatte, sie konnte es nur ahnen.

In den nächsten zwei Jahren hatten sich der Vater und seine ältere Schwester, Tante Mechthild, um die Kinder gekümmert, aber das war kein Zustand, wie die unverheiratete, ein wenig schrullige und verbitterte Tante oft bemerkte. »Nicht so wild«, war ihre ständige Redensart, wenn Hanna einmal ein bisschen schneller ging. Wenn Hanna vor sich hin pfiff – was sie schon als kleines Mädchen gut konnte, sie konnte sogar auf zwei Fingern pfeifen, und das schon früh –, mahnte Tante Mechthild unweigerlich: »Kindern, die pfeifen, und Hähnen, die krähen, wird man beizeiten den Hals umdrehen.« Den Spruch verstand Hanna nie, und ängstlich fasste sie sich an den Hals, als ob ihr jemand nach dem Leben trachten würde.

Nach einer Weile jedoch gewöhnte sie sich daran, und sie gewöhnte sich auch daran, sich ganz in ihre eigene Welt einzuspinnen, weil niemand sich wirklich um das kleine Mädchen kümmerte, das auf einmal ohne Mutter dastand.

Stundenlang hockte sie oben im Spielzimmer, erfand Phantasiewelten mit ihren Puppen oder spielte Schiffbruch und einsame Insel. Manchmal, wenn das Spiel sie überwältigte und niemand sie sah, war sie tatsächlich die einzige Überlebende einer Katastrophe. Die anderen fanden, sie sei ein ausgeglichenes kleines Mädchen, weil sie so selten weinte, aber ob das auch wirklich zutraf, daran konnte Hanna sich nicht erinnern. Sie konnte das, was sie damals empfunden hatte, ebenso wenig zurückholen wie die Erinnerung an ihre Mutter oder ihre Großmutter.

Heute schien das alles sehr fern. Manchmal dachte Hanna, die Erinnerungen kämen aus einem anderen Leben.

Nach knapp zwei Jahren als Witwer hatte der Vater Ilse kennengelernt. Sie hatte sich den Kindern behutsam und liebevoll genähert. Anfangs war sie überängstlich gewesen, weil sie Kinder einfach nicht gewöhnt war, aber das hatte sie mit ihrer großen Liebe zu Friedrich und seinen beiden Töchtern wieder wettgemacht. Hanna hatte nicht lange gebraucht, um Ilse als Ersatzmutter zu akzeptieren.

Die große Magnolie im Garten von Hannas Doppelhaushälfte stand in voller Blüte. Als Michael und Hanna vor fünfzehn Jahren das Haus gekauft hatten, war es ganz neu gewesen, und der Garten musste erst noch angelegt werden. Hanna hatte sich ausgiebig mit Ilse beraten, welche Bäume und Sträucher sie pflanzen sollten. Als Hanna sich in eine Tulpenmagnolie verliebt hatte, die in ihrem Gartenbuch abgebildet war, hatte Ilse entschieden abgeraten. »Der Garten ist gar nicht groß genug für so einen ausladenden Baum! Guck dir doch nur an, wie groß Tulpenmagnolien werden!«

»Aber ich möchte so gerne eine Magnolie«, hatte Hanna kleinlaut gemeint. »Die sind so schön!«

»Dann musst du eine Sternmagnolie pflanzen«, hatte Ilse kategorisch erklärt. »Die sind auch schön, brauchen aber nicht so viel Platz. Euer Grundstück ist schließlich nicht riesig.«

Ilse konnte sie vertrauen. Sie hatte alles immer nur zum Besten der beiden Mädchen getan, deshalb ließ sich Hanna in solchen Fragen nur zu gerne von ihr beraten. Also wurde eine Sternmagnolie gekauft, ein kleines, dürres Bäumchen, eigentlich nur ein Stecken, das jetzt, fünfzehn Jahre später, über und über mit weißen, sternförmigen Blüten übersät, den Garten jedes Jahr Anfang April zu einem Ereignis machte. Und wenn Hanna die Pracht sah, dachte sie unwillkürlich an Ilse, dankbar und voller Zuneigung.

Auch jetzt, als sie mit dem Koffer zu Hause ankam und ihn im Wohnzimmer abstellte, warf Hanna gewohnheitsmäßig einen bewundernden Blick auf ihren blühenden Hausbaum und dachte an ihre Stiefmutter.

Um den Koffer konnte sie sich jetzt erst einmal nicht kümmern. Sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig am Kino sein wollte.

»Mama, Mama!« Die elfjährige Bettina kam in die Zahnarztpraxis gestürmt, in der Hanna am Empfang saß. Gerade standen zwei Patientinnen an der Theke, und Hanna legte nur mahnend den Zeigefinger an die Lippen. Die Geste kannte Bettina. Sie wartete stumm, bis die beiden Frauen weg waren.

Ihre Töchter durften jederzeit in die Praxis kommen, wenn sie ein wichtiges Anliegen hatten, das sie mit Ute nicht besprechen wollten. Hanna wollte keine abwesende Mutter sein. Es war ihr immer wichtig gewesen, für ihre Kinder da zu sein, vor allem nach der Scheidung von Michael. Zum Glück hatten sie sich einvernehmlich getrennt, es hatte einfach nicht mehr funktioniert zwischen ihnen beiden, und so gab es keinen Streit wegen des Sorgerechts. Alle vierzehn Tage verbrachten die drei ein paar Tage bei ihrem Vater, der mittlerweile wieder geheiratet und mit seiner neuen Frau einen kleinen Sohn namens Jens bekommen hatte. Auch eine Hälfte der Sommerferien war für den Vater reserviert. Die übrige Zeit waren sie bei Hanna.

»Mama, Mama!« Für Bettina gab es kein Halten mehr. »Müllers haben bei sich im Garten kleine Hunde gefunden. Die hat bestimmt einer über den Zaun geworfen«, sprudelte sie hervor. »Ich darf doch einen haben, oder? Biiitte, Mama, ich wünsche mir schon so lange einen. Und sie sind so süß … so klein und gefleckt und …«

»Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage«, unterbrach Hanna ihre atemlose jüngste Tochter. »Was sind das überhaupt für Hunde?«

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.