Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Ostfriesland - Gaby Kaden - E-Book

Weihnachtsanektötchen – Spannende Geschichten aus Ostfriesland E-Book

Gaby Kaden

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Beschreibung

Wenn eisige Winter an der Küste von fliegenden Stiefeln und verlorenen Leichen flüstern, lockt das Licht einer warmen Teestube. Doch aufgepasst, dort warten nicht nur zärtliche Erinnerungen! In den tiefen Kellern Ostfrieslands lauern Geheimnisse aus alter Zeit. Sie erzählen von gefährlichen Tieren und diversen Verwechslungen. Wer aber glaubt, ein ordentlicher „Schluck“ könnte den Spuk vertreiben, muss aufpassen, dass es ihn nicht erwischt.

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Die Kurzgeschichten spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieser Kurzgeschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com, Fotos: Sabine StenzelEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9759-7

WeihnachtsanektötchenSpannende Geschichten aus Ostfrieslandvon Gaby Kaden

Wenn kühne Träume wahr werden!

Wie alles begann …

… im vergangenen Herbst hatte ich die Idee zu einem Buch mit kleinen kriminellen, spannenden, humorvollen, aber auch besinnlichen Anekdoten aus meiner Wahlheimat Ostfriesland. Anekdoten, die um die Weihnachtszeit spielen. Eine Idee, die mich immer mehr begeisterte!

Ich wusste auch schon, wie das Buch heißen sollte und wen ich nach Geschichten von früher fragen konnte.

Und ich wusste, wer das „Covergirl“ sein sollte: meine Nachbarin und liebe Freundin Anne Hallen (84).

In ihr sah ich die „Miss Marple Ostfrieslands“!

Träumen darf man ja. Aber auch kühne Träume?

Nun stellte sich die Frage: Finde ich einen Verlag, der ein solches Buch mit mir herausbringt? Würde Anne sich als Covergirl zur Verfügung stellen und konnte ich meine Freundin, die Fotografin Sabine Stenzel, überzeugen, ein Fotoshooting mit Anne dafür zu machen? Die beiden letzten Fragen beantworteten sich schnell. Beide Mädels sagten spontan JA!

Und mal ehrlich – ist Anne nicht ein supergeniales Covergirl? Nun fehlte nur noch ein Verlag.

Wenn kühne Träume wahr werden …

… kurz vor Weihnachten klingelte das Telefon, der Verleger meiner Küstenkrimis rief an, es gab einiges zu besprechen. Ganz am Ende des Gesprächs fragte er mich, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch mit spannenden Geschichten, die in Ostfriesland spielen, zu schreiben. „Halleluja!“

Meine kühnsten Träume wurden tatsächlich wahr!

Ich sagte JA! Den Titel hatte ich ja schon, der Verleger war begeistert! Ich ging ans Werk!

So entstand Weihnachtsanektötchen aus Ostfriesland.

Als ich dann den ersten Abzug des Covers sah, konnte ich die Freudentränen nicht zurückhalten. So, genau so, hatte ich es mir vorgestellt! Danke an alle, die mitgewirkt haben.

Weihnachtsanektötchen aus Ostfriesland

Moin tosamen

und Herzlich Willkommen zu Anekdötchen und Anektötchen aus Ostfriesland. Zusammengetragen aus vielen Erzählungen während ostfriesischer Teestunden oder bei lecker Bohnsopp (Kinnertön, Rezept am Ende des Buches zur Geburt eines ostfriesischen Babys). Bei Beerdigungen, beim Boßeln, Klönen, Geburtstags- oder anderen Feierlichkeiten gehört. Geschichten von früher und heute. Passiert oder erzählt um die Weihnachtszeit! Von mir dann:

Geschüttelt, gemixt und niedergeschrieben.

Spannend, humorvoll, wahr, fantastisch, erfunden,

tragisch oder mysteriös, für Momente auch besinnlich.

Vor allem aber unterhaltsam.

Auch Fantasie ist hier im Spiel, denn es ist doch viel unterhaltsamer, interessante Geschichten zu schreiben, die nicht unbedingt immer ganz der Wahrheit entsprechen, als langweilige, aber wahre Geschichten.

Lasst euch überraschen, denn ich habe Wahres in meine Fantasie und meine Fantasie in Wahres einfließen lassen! Habt Spaß und nehmt es mit einem Augenzwinkern. Ach übrigens … es wird nicht nur gemordet!

Die Protagonisten …

… sind hier gar nicht alle aufzuzählen. Wer aber auf jeden Fall dabei ist, das sind natürlich einige Protagonisten aus meinen Kriminalromanen:

Tomke und Hajo, Carsten und Michaela mit den Kindern Marie und Felix, Oma Jettchen und Tant’ Fienchen – sie dürfen nicht fehlen.

Und nicht zu vergessen …

Danke an ganz viele Helferlein, die mir Geschichten zugetragen und Ostfriesland noch nähergebracht haben (schließlich bin ich eine „Zugezogene“).

Danke an Ulrike Hinrichs-Eiben, an Hermann Hildebrand, an Anne Hallen für ganz viel spannendes „Material“ von früher.

An Thomas von der Insel Spiekeroog (das ist der Mann mit dem Hut aus meinen Küstenkrimis), der mir Geschichten aus seiner Jugend auf der Insel erzählt hat.

Danke an Gesche, seine Frau, für ihre Beiträge und Einblicke in das echte Ostfriesland.

Danke an Hermann Hallen für Ideen und manche Übersetzung up Platt und seinen unermüdlichen Humor.

Danke noch mal an Anne Hallen, die für das Cover zur Verfügung stand (den Braten haben wir natürlich anschließend gegessen). Meine „Miss Marple Ostfrieslands“!

Danke noch mal an meine Freundin Sabine Stenzel für die Coverbilder dieses Buches. Wir haben schon gemeinsam den einzigartigen Bildband KÜSTENBLICK gestaltet.

Danke immer wieder an Kerstin fürs „Mitlesen“.

Danke ganz besonders an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von den CW Niemeyer Buchverlagen. Danke dafür, dass ich meine Ideen umsetzen durfte, danke, Carsten Riethmüller, für das wieder einmal geniale Cover. Danke für all die Unterstützung, Gestaltung und mehr.

Un nu geit dat los …

„Sünnerklaas, du gode Bloot,gev mi ’n Stückje Zuckergood.Nich to vööl un nich to minn,smiet mi ‚t man to’d Schösteen in,… mit’n langen Band doran,dat ick’t ock man griepen kann!(Ostfriesisches Kindergedicht zu Weihnachten von Toni Wübbens 1850–1910)

O du tödliche

Das gelbe Postauto fuhr so schwungvoll auf die Einfahrt des schneebedeckten Grundstückes, dass es schlingerte und mit laufendem Motor mitten auf dem Wendeplatz zum Stehen kam. Renate Bohrmann, die Postbotin, atmete tief durch, griff sich ein Bündel Briefe aus der gelben Kiste auf dem Beifahrersitz und verließ den Wagen. Sie hatte es eilig, schließlich war heute, zwei Tage vor Weihnachten, unheimlich viel los. Aber auf das jährliche Weihnachtsgeld, das es von manchen Kunden gab, wollte sie nicht verzichten. Hier in Nummer siebenundzwanzig war das eben auch so.

Also warf sie die Post der Familie Etzelsberger nicht in den Kasten, sondern klingelte, setzte ihr schönstes Lächeln auf und bereitete sich auf ein freundliches: „Frohe Weihnachten, hier habe ich Ihre Post“, vor. So wie jedes Jahr eben. Der beleuchtete Weihnachtsbaum neben der Haustür war über und über mit goldenen Geschenkpäckchen dekoriert. „Fake!“, murmelte Renate.

Im Haus erkannte sie Licht, und durch das gekippte Fenster drang leise Musik. Auf dem Parkplatz standen beide Fahrzeuge der Anwohner, somit musste jemand da sein. Aber niemand öffnete. Renate ging auf die Fußspitzen, reckte und streckte sich, um einen Blick in den Flur zu werfen, jedoch war dort niemand zu sehen. Vielleicht sind sie hinterm Haus, überlegte die junge Frau. Einen Versuch war es wert, schließlich hatte man ihr hier im letzten Jahr einen Zehn-Euro-Schein zugesteckt. Ein nettes Weihnachtsgeschenk. Das wollte sie sich heute nicht entgehen lassen. Mit dem Bündel Briefe in der Hand umrundete sie das Haus. Sicher alles Weihnachtsgrüße, bemerkte sie, denn auf fast allen Umschlägen stand in besonders schöner Schrift: Eva und Otto Etzelsberger. Manche Briefe waren mit bunten Sternen oder Tannenbäumen beklebt.

Auch hinterm Haus, beim Blick durch die geschlossene Terrassentür, konnte sie keinen der Bewohner entdecken.

„Da muss doch jemand zu Hause sein“, überlegte sie nun. „Hoffentlich ist nichts passiert und Frau Etzelsberger oder sogar beide liegen irgendwo zusammengeklappt oder gar tot in der Ecke. Das würde mir noch fehlen. Wo sind sie nur?“, fragte sie sich weiter. Schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Renate klopfte mit den Fingerknöcheln an die Scheibe, rief laut: „Hallooo! Hallo, Herr Etzelsberger, Frau Etzelsberger, ist jemand da?“, jedoch kam keine Reaktion.

„Mist, verdammter! Na, vielleicht habe ich Glück und muss hier morgen auch noch mal Post liefern“, hoffte sie und machte sich auf den Weg zur Vordertür, um die Briefe doch in den Kasten zu werfen.

Auf Höhe der Garage wurden ihre Schritte langsamer, und sie blieb stehen. Von irgendwoher drang eine Stimme an ihr Ohr. Also war doch jemand zu Hause. Konzentriert versuchte sie zu orten, aus welcher Richtung diese kam. Aus der Garage, ja, aus der Garage drang eine Stimme – bei geschlossener Tür. Das war komisch. Die Autos standen im Hof, im Haus meldete sich niemand, doch in der Garage, bei geschlossener Tür …

Renate setzte schon an, nochmals zu rufen, doch dann stutzte sie. Sie machte ein paar Schritte auf die Garagentür zu und lauschte. Was sie nun hörte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

„Wo bist du, mein Gott?“, drang es an ihr Ohr. Renate erkannte die Stimme der Hausherrin.

„Du wolltest schon lange hier sein.“

Dann herrschte einen Moment Stille, sodass Renate vermutete, dass hinter der Tür telefoniert wurde. Es war ganz klar die Stimme von der Etzelsberger. Dann vernahm sie:

„Verspätung? Und jetzt?“

Stille. Und dann:

„Nein, nur bewusstlos!“

Stille.

„Du wolltest es tun. Du wolltest Otto doch heute endlich erledigen. Wir haben keine Zeit mehr.“

Stille.

„Nein, morgen ist es zu spät! Ich halte das nicht länger aus!“

Stille.

„Wieso ich?“

Stille.

„Ich kann das nicht, er ist schließlich mein …“

Scheinbar wurde sie unterbrochen, denn es herrschte wieder Stille.

„Was soll ich denn jetzt machen? Ich habe ihm mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen. Er liegt betäubt vor meinen Füßen, aber sicher wacht er gleich wieder auf. Und dann?“

Stille.

„Noch mal draufschlagen? Oh nein! Ich kann kein Blut sehen.“

Stille.

„Erwürgen? Nein … das kann ich nicht. Das schaffe ich nicht.“

Stille.

„Mit einem Schal? Mit meinem Schal? Ich glaub, mir wird schlecht.“

Stille.

„Es war deine Idee, dass wir ihn …“

Stille.

„Mit dem Beil? Ich weiß gar nicht, ob wir ein Beil …“

Stille.

„Verdammt, du hast versprochen, dass du ihn …“

Renate hatte genug gehört. Sie lief zu ihrem Wagen und griff sich ihr Handy vom Armaturenbrett. Mit schnellen Fingern wählte sie den Notruf.

Es dauerte genau fünfzehn Minuten – Renate kam es wie Stunden vor –, bis mehrere Streifenwagen mit Blaulicht und Signal die Ruhe Ostfrieslands störten und vor dem Haus hielten. Aus jedem der Fahrzeuge sprangen vier uniformierte Polizisten heraus.

„Wo?“, rief einer der Postbotin zu.

„In der Garage“, antwortete sie aus sicherer Entfernung. „Machen Sie schnell, sie bringt ihn um, sie bringt ihren Mann um. Ich habe es genau gehört.“

Und es ging wirklich schnell. Sekunden später hatten zwei Polizisten die Garagentür eingetreten, die Garage gestürmt, der Rest der Truppe rückte nach.

Von drinnen war lautes Geschrei zu hören. Renate hielt es nicht mehr an ihrem sicheren Platz. Sie machte ein paar Schritte Richtung Garage, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah Blut, überall Blut. Dann spürte sie etwas zwischen ihren Füßen. Der Blick nach unten gab ihr den Rest. Sie fiel lautlos um.

Zwei Tage später …

Der Tisch war festlich gedeckt. Der Weihnachtsbaum in der Ecke funkelte, eine CD spielte „O du fröhliche …“.

„Mein Schatz“, meinte Otto Etzelsberger, „eines verspreche ich dir: Für das nächste Jahr kaufen wir unsere Weihnachtsgans wieder tiefgefroren.“ Er hob das Rotweinglas an und prostete seiner Frau zu.

„Das will ich meinen, du aber auch immer mit deinen Ideen. Noch mal schlage ich unserem Braten nicht den Kopf ab. Ich dachte, mir bleibt das Herz stehen, als die Polizisten unsere Garage stürmten. Aber das Schlimmste war, als Otto dann ohne Kopf und flügelschlagend aus der Garage der Postbotin zwischen die Füße gelaufen und sie wie ein nasser Sack in Ohnmacht gefallen ist.“

Kurz herrschte Pause am Tisch, dann lachten die beiden und konnten sich kaum beruhigen.

„Frohe Weihnachten, Eva“, keuchte er nach Atem ringend.

„Frohe Weihnachten dir auch, mein Schatz!“, gluckste Eva zurück. „Dieses Weihnachtsfest werde ich niemals vergessen. Aber jetzt lassen wir uns Otto schmecken.“

„Eine Bitte habe ich, Eva“, meinte Otto Etzelsberger. „Bitte nenne unseren Weihnachtsbraten nie mehr Otto“, und legte seiner Frau eine knusprige Keule sowie eine Portion der leckeren Füllung vor.

„Ach“, meinte Eva dann kauend, „wir müssen Renate noch ihr Weihnachtsgeld geben. Diesmal sollte es aber etwas reichlicher ausfallen.“

„Schmerzensgeld“, lachte Otto.

„Schreckensgeld“, setzte Eva nach.

Bei Oma Jettchen und Tant’ Fienchen am 1. Advent

Alle Jahre wieder zu den Adventssonntagen mit spannenden, skurrilen oder lustigen Anekdoten aus Carolinensiel und umzu!

Wer glaubt, an solch besinnlichen und vorweihnachtlichen Tagen wie einem Adventssonntag würden im Haus auf dem Deich bei Oma Jettchen und ihrer Schwester Fienchen nur Backrezepte ausgetauscht, Gedichte aufgesagt oder Lieder gesungen, der irrt. Es war gute alte Tradition, an diesen Sonntagen Geschichten aus früherer Zeit zu erzählen. Ob diese allerdings immer der Wahrheit entsprachen oder auch Döntjes darunter waren? Wer weiß das schon?

Oma und Tant’ Fienchen erzählten, die Familie hörte zu. Tomke, Hajo, Carsten, Michaela und Marie hingen an den Lippen der beiden alten Ostfriesinnen. Vor allem die inzwischen zwölfjährige Marie, die immer erpicht darauf war, spannende Dinge zu erfahren. Schließlich wollte sie, wie ihr Vater auch, einmal zur Polizei gehen und Kommissarin werden. Außerdem hatte sie seit einiger Zeit schriftstellerische Ambitionen. Nur der kleine Felix interessierte sich eher für seine Autos.

Heute, am ersten Adventssonntag, versammelten sie sich wieder alle in der Stube der beiden ollen Ostfriesinnen in ihrem Haus auf dem Deich. Die Teestunde war inzwischen beendet, Rosinenstuten und Oma Jettchens Quarkstollen (Rezept folgt nach diesem Kapitel) aufgegessen, nun saß man bei Kerzenschein und Grog zusammen. Für die Kinder gab es ausnahmsweise Limonade. Oma kündigte die Geschichte der „Nackten Harlespringer“ an.

Alle warteten gespannt, was es damit auf sich hatte. Nur Fienchen, ihre Schwester, schimpfte, schüttelte den Kopf und winkte ab.

„Dass du aber auch unbedingt über diese Sache reden musst!“, kam es von ihr peinlich berührt, und sie deutete auf die Kinder. Über solche Sachen sprach man nicht.

Jettchen aber ließ sich nicht beirren und erzählte mit spitzbübischem Lächeln, was früher, wenn der Ort voller Gäste war, passierte.

So begann sie.

„Tomke erinnert sich sicher nicht mehr daran, es ist ja auch schon über dreißig Jahre her. Der Ort war damals noch nicht so voll wie heute, aber doch gut besucht, und die Gäste wollten unterhalten werden. So ließen sich Vereine und Geschäfte immer mal etwas einfallen, um die Leute zu bespaßen, aber auch um Geld zu verdienen. Zwei junge Leute aus der Gegend waren besonders geschäftstüchtig. Die beiden gingen noch in die Lehre und verdienten nicht viel. Jedenfalls nicht genug, um am Wochenende die Diskothek, Partys oder Kneipen zu besuchen und sich mit Zigaretten zu versorgen. So kamen sie auf die glorreiche Idee, die Gäste artistisch zu unterhalten, und es gelang ihnen auf ganz besondere Weise. Die Deern“, Oma zwinkerte nun in die Runde, „stellte sich splitterfasernackt auf das Geländer der Friedrichsschleuse, posierte ein wenig, um dann grazil, begleitet von Aaah- und Oooh-Rufen, verbotenerweise in die Harle zu springen.“ Oma war inzwischen aufgestanden und versuchte die Bewegungen nachzuahmen, was zur allgemeinen Heiterkeit der Anwesenden (außer bei ihrer Schwester) führte. „Die Gäste applaudierten“, sprach sie nun weiter, „ihr jungscher Keerl ging mit dem Hut herum und sammelte Spenden. Das Ganze ging gut, bis die Polizei kam, um dem bunten Treiben ein Ende zu setzen. Bevor die Polizisten aus dem Auto gestiegen waren, hatten der Keerl und die Deern allerdings schon das Weite gesucht. Die Spenden verprassten sie dann am Abend bei diversen Veranstaltungen. Das geschah im Sommer Wochenende für Wochenende. Ob die Polizisten nur zu langsam waren oder den beiden einfach ihren Spaß ließen, das ist nicht überliefert.“

Von den Erwachsenen kam Gelächter, der kleine Felix schaute desinteressiert und spielte mit seinem Auto, Marie aber meinte nach kurzem Schweigen mit Blick auf ihre Eltern: „Coole Idee! Übrigens könnte ich mehr Taschengeld brauchen.“

Fienchen wetterte: „Das hast du nun von deinen dummen Geschichten, Schwester. So was aber auch. Setzt dem Kind nur Flausen in den Kopf.“

Carsten und Michaela meinten einstimmig mit Blick auf ihre Tochter: „Wage es nicht!“

Oma Jettchen grinste in sich hinein, tat geschäftig, wollte wissen: „Habt ihr alle noch Grog? Ich hätte da noch eine andere Geschichte.“

Marie klatschte Beifall, die Erwachsenen nickten Jettchen lachend zu, Fienchen schüttelte den Kopf. „Aber nich‘ wieder so was. Nix mit Nackten, Schwester.“