Weil Liebe unbezahlbar ist - Maria Fischer - E-Book

Weil Liebe unbezahlbar ist E-Book

Maria Fischer

0,0

Beschreibung

Maria Fischers Leben verlief alles andere als geradlinig. Schon im Kindesalter verliert das einst fröhliche "Schwarzwaldmädel" beide Eltern, wird auf ein katholisches Internat geschickt und wächst später bei seinen strengen Großeltern auf. Schließlich flieht Maria mit ihrer vermeintlich großen Liebe in die Unabhängigkeit nach Amsterdam. Doch ihr Traummann entpuppt sich als gewalttätiger Zuhälter, der sie dazu zwingt, ihren Körper für Geld zu verkaufen. Es folgen turbulente Jahre mit tiefsten Tiefen - bis Maria endlich das findet, wonach sie jahrelang gesucht hatte: bedingungslose Liebe und wahre Freiheit. Fortan kann sie nicht anders, als von diesem Gott zu erzählen, der den wahren Wert und die Würde in jeder Frau sieht. Und der die Macht hat, aus aller Scham und Schuld zu befreien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 261

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorinnen:

Maria Fischer wurde 1952 in Breisgau im Schwarzwald geboren. Sie arbeitete als Unternehmerin in unterschiedlichen Bereichen und genießt nun ihr Rente in Hamburg. Sie liebt es, Menschen von Jesus zu erzählen und Zeit mit ihrer Tochter und Enkeltochter zu verbringen.

Priska Lachmann lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Seit ihrem Theologiestudium an der LEE University im US-Bundesstaat Tennessee und an der Universität Leipzig arbeitet sie als Autorin, Bloggerin und freie Redakteurin.

Für Jesus Für Sonya

Vorwort

Als ich Marias Geschichte zum ersten Mal hörte, war ich direkt fasziniert. Gleichzeitig fragte ich mich: Wie können all diese Erlebnisse in ein einziges Leben hineinpassen? Wie viel Schmerz kann man als Mensch ertragen, und wie um alles in der Welt hat Maria es geschafft, immer wieder aufzustehen und weiterzugehen?

Als ich sie dann persönlich kennenlernen durfte, beeindruckte mich vor allem ihre fröhliche Art. Ihr Lachen ist ansteckend, und sie ist voller Herzlichkeit. Von Selbstmitleid, Wut, Hass und Vorwürfen gegenüber all den Menschen, die ihr wehgetan haben, keine Spur. Maria ist ein Beispiel dafür, dass ein Lebensweg schwer und voller Steine sein kann, aber mit Jesus und seiner Liebe Vergebung, Freude und tiefer Frieden möglich sind. Und gleichzeitig ist Marias Leben auch mit Jesus an ihrer Seite alles andere als perfekt. Holprig ist es. Voller verrückter Begegnungen und Neuanfänge. Eigentlich ist es zu viel für ein einzelnes Leben. Und doch ist es alles so passiert.

Maria wurde in den 70er-Jahren schon Geschäftsfrau, rutschte dann ab und erlebte Schreckliches, doch schaffte den Absprung und wurde schließlich vermögende Unternehmerin in Brasilien. Bis heute sind die von ihr gegründeten Geschäfte in Rio an der Copacabana zu finden, und Alcione, eine berühmte Sängerin in Brasilien, erzählt bis heute begeistert von der deutschen Frau Maria Fischer, die ihr zu ihrem Markenzeichen verholfen hat. Maria ist Pionierin, Menschenfischerin (wie diese Bezeichnung zu ihrem Namen passt!), eine stetig und hart arbeitende Frau sowie eine hingebungsvolle Mama, Oma und Freundin. Ihr Leben zeigt, dass durch Jesus Wunder möglich sind und ein Leben sich radikal ändern kann. Es zeigt aber auch, dass das Leben nicht auf einmal perfekt gelingt und es keine Tiefschläge mehr gibt, nur weil Jesus Teil des eigenen Lebens geworden ist. Das größte Wunder in ihrer Geschichte ist für mich ihre tiefe Freude, ihre Liebe zu den Menschen und ihre innere Heilung trotz all der schweren Dinge, die sie durchleben musste.

Marias Geschichte ist schwer, doch wenn man diese Frau im Heute erlebt mit ihrer Warmherzigkeit und ihrem tiefen Lachen, dann spürt man ihre ungezähmte Lebendigkeit und die Leichtigkeit, die immer noch in ihr stecken. Maria ist ein Unikat, eine dieser Frauen, die man niemals wieder vergisst, wenn sie einem begegnet sind, und die man auch nicht mehr missen möchte.

Priska Lachmann

Die Namen einiger Protagonisten wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

TEIL 1

Ja, ich sage es noch einmal: Sei mutig und entschlossen! Lass dich nicht einschüchtern und hab keine Angst! Denn ich, der HERR, dein Gott, stehe dir bei, wohin du auch gehst.

Josua 1,9

Kapitel 1

Es ist dunkel in dem großen Saal. Nur ein Scheinwerfer ist direkt auf einen großen, schwarzen Tisch in der Mitte der Bühne gerichtet. Ich bin die letzte Künstlerin, die an diesem Abend die Bühne betreten wird. Ich bin das Highlight der Show. Schnell wische ich mir noch einmal über die Nase, damit man keine verräterischen weißen Spuren sehen kann, die eventuell noch von der Koks-Line vorhin hängen geblieben sein könnten. Ohne Drogen würde ich das, was mich nun erwartet, nicht ertragen.

Ich betrete die Bühne. Ein aufgeregtes Johlen, Pfeifen und Klatschen empfängt mich. In der Luft hängt der Geruch von Alkohol und Rauch. Die Stimmung ist aufgeheizt und wartet darauf, sich zu entladen. Ich setze mich lasziv auf den Tisch. In meinen Händen halte ich einen riesengroßen, braunen Teddybären. Dieser Bär wird heute, wie sonst auch, meinen Freund spielen. Er ist mein „Showgefährte“ und dient dazu, den Männern zu zeigen, was sie mit mir machen dürfen, wenn sie nur gut genug bezahlen.

Innerlich bin ich tot, ich schalte meine Gefühle ab in dem Moment, als ich mich auf den Tisch lege, die Musik beginnt und ich mit meiner Show anfange. Ich weiß, wie lasziv ich mich bewegen und wie ich stöhnen muss, damit die Männer im Publikum begeistert sind und nachher Geld bezahlen, um mich im echten Leben zu bekommen und auf solch eine intime Weise berühren zu können. Und das mache ich nur, damit mein Zuhälter, der eigentlich mein Ehemann ist, zufrieden mit mir und meinem Verdienst ist und mich später nicht bestraft. Denn wenn er schlechte Laune hat, dann ist es so schlimm, dass ich sofort sterben möchte. Glücklicherweise bin ich sehr gut in diesem entwürdigenden Geschäft und er verdient so viel mit mir, dass er oft zufrieden ist und mich nicht ständig grausam schlägt und misshandelt.

Ja, das war mein Leben. Schockiert dich das? Ich war auch schockiert, dass ich so ein Leben führen musste. Dabei wollte ich doch Krankenschwester werden. Oder ein Restaurant führen. Ich träumte von der großen Liebe. Ich wollte die große Freiheit erleben. Aber das hier? Das war alles andere als frei sein. Ich war gefangen. Bei meinem Ehemann. In Drogen. In einem Leben, das ich mir nicht mal in meinen Albträumen so hätte vorstellen können. Wie ich dorthin kam? Und wie wieder raus? Das erzähle ich dir.

***

Mein Leben begann beschaulich Anfang der 50er-Jahre in einem hübschen, großen Forsthaus in der Wintererstraße in Freiburg. Wunderschön, mitten im Schwarzwald. Mit Balkonkästen voller roter Pelargonien, gut duftendem, selbst gekochtem Essen wie zum Beispiel Spätzle, Dampfnudeln oder Linsen. Besonders mochte ich, wenn es „Himmel und Erde“ gab. Das ist Kartoffelbrei mit Apfelmus. Dazu gab es oft Blutwurst. Aber auch Leber mit angebratenen Zwiebeln aß ich sehr gerne.

Unser Haus stand direkt am Waldrand auf einem Hang. Wenn meine drei Brüder und ich zur Schule gingen, mussten wir immer den Hang hinunterlaufen. Ich war das Nesthäkchen und die Prinzessin meines Papas. Er konnte mir keinen Wunsch ausschlagen. Das genoss ich sehr. Hinter unserem Haus hatte meine Mama Gemüsebeete angelegt und erntete dort Kartoffeln, Möhren, Kohl, Zwiebeln und alle möglichen anderen Sorten Gemüse. Die Äpfel pflückten wir von unseren Bäumen. Es waren grüne Äpfel, die noch leicht säuerlich schmeckten. Morgens begrüßten mich unsere Hühner, wenn ich wieder mal nachschauen musste, wo sie ihre frisch gelegten Eier versteckt hatten. Mama füllte regelmäßig Milch in Gläser und stellte diese dann auf die Fensterbank, damit die Sonne darauf schien. Später rührte sie Zucker dazu, und so entstand unser Joghurt.

Mein Papa ging manchmal auf die Jagd und brachte Wild mit, was meine Mama dann später in der Küche verarbeitete. Das Einzige, was sie im Supermarkt kaufte, war Diät-Früchtejoghurt für sie selbst und manchmal Reis für uns alle. Materiell fehlte es uns an gar nichts. Auch musste meine Mama die ganze Hausarbeit nicht allein schaffen, denn wir Kinder halfen, wo wir konnten – oder manchmal auch mussten.

Ein Bekannter meines Papas aus Afrika hatte unserer Familie eine kleine Gazelle geschenkt. Ich zog sie mit der Flasche auf, und mein Papa baute ein Gehege mit einem zwei Meter hohen Zaun, damit sie nicht einfach davonspringen konnte. Er tat alles für mich. Und mein Leben war voller kleiner und großer Abenteuer.

Manchmal schaffte ich es morgens, wenn ich früher wach war als meine Mama, meinen Lieblingsrock und meinen Lieblingspullover anzuziehen. Das musste ich heimlich machen, weil meine Mama meine auserkorene Farbkombination aus Rot und Grün nicht leiden konnte. „Das sticht sich, die Farben passen nicht zusammen“, sagte sie jedes Mal und ich musste mich wieder umziehen. Aber der rote Rock mit den Plisseefalten war so schick!

Leider musste ich dann ohne Frühstück aus dem Haus flitzen, damit sie mich nicht doch noch sah und zum Umziehen zwingen konnte. Aber das war es mir wert. Wenn ich von der Schule heimkam und meine Mama mich sah, bekam ich jedes Mal Ärger für meine farbenfrohe Kombination. Aber das war mir egal. Immerhin hatte ich sie angehabt!

Ich hatte kein enges Verhältnis zu meiner Mama. Aus keinem mir bekannten Grund hatten wir nie einen wirklich guten Draht zueinander gefunden. Sie zeigte mir, wie man Strohsterne bastelt und wie man mit der Strickmaschine umgeht, aber sie war streng mit mir und versuchte, mich gut zu erziehen. Mein Papa machte diesen Mangel wett, indem er mich mit Liebe überschüttete und verwöhnte. Er war sensibel und ich liebte ihn über alles. Es ging mir so gut mit ihm und ich wusste, dass ich später mal einen Mann wie ihn heiraten wollen würde.

Da wir, um zur Schule zu kommen, eine Stunde laufen mussten, schnitzte mir mein Papa im Winter aus Brettern Skier, damit ich nicht noch länger brauchte. Es bedeutete mir viel, dass er sich so viel Zeit für mich nahm, denn er war sehr bekannt und beliebt in Freiburg. Er war beruflich Forstamtmann vom Schwarzwald und zu allen immer freundlich und sozial. Ihm zu Ehren baute sein Bruder, der Bildhauer Alfons Fischer, später einen Brunnen an die Stelle der Toreinfahrt, an der früher unser Elternhaus gestanden hatte. Bis heute kann man ihn besichtigen.

Mein Papa nahm mich aufgrund seines Berufes oft mit auf die Jagd. Ich saß mit ihm auf Hochsitzen, lernte Baumnamen und die Wirkung von Heilkräutern kennen. Sonntags waren wir immer in einer katholischen Kirche in Herdern. Dort waren wir alle getauft worden und hatten auch die Erstkommunion und Firmung mitgemacht.

Meine drei älteren Brüder Michael, Martin und Hubert spielten oft mit mir im Wald, obwohl ich fünf Jahre jünger war als sie. Vielleicht lag es daran, dass ich risikofreudig war und jeden Streich, jeden Wettkampf mitmachte – und sie im Frechsein oft noch übertraf. Außerdem war ich hart im Nehmen, wie man umgangssprachlich sagt. Einmal, ich war damals ungefähr sechs Jahre alt, sind meine Brüder und ich Schlitten gefahren. Es war das erste Mal, dass ich allein auf einem Schlitten saß, und ich traute mich direkt, den steilen Hang vor unserem Haus hinunterzufahren. Doch nach einigen Metern bergab fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wie man bremst. Ich begann zu schreien. Meine Brüder dachten wohl, es sei vor Freude. Ich fuhr mit hohem Tempo den ganzen Berg hinunter, über die Straße und direkt in einen Steinpfosten hinein. Mein Kopf flog gegen den Pfosten und so kam ich schließlich zum Stehen. Ich lag da, mein Kopf dröhnte und blutete, und ich erspürte vorsichtig mit meiner Zunge, ob ich noch alle Zähne im Mund hatte. Ich wusste nicht, was los war, und obwohl ich tapfer sein wollte, schossen mir die Tränen aus den Augen. Mein Kopf! Alles tat weh. „Maria, Maria, alles okay?“ Huberts Gesicht erschien über mir. Er packte mich und hob mich hoch. Dann trug er mich nach Hause.

Mama schimpfte, aber sie versorgte mich, verband meine Wunden und kümmerte sich um mich. Aber solche Unfälle waren keine Seltenheit, sondern passierten mir immer mal wieder. Nicht viel später, an einem Sonntagmittag, hatten meine Brüder und ich Spüldienst, während unsere Eltern Mittagsschlaf machten. Wir wechselten uns als Geschwister regelmäßig ab mit dem Spülen, Abtrocknen und Geschirreinräumen. Normalerweise verlief das immer friedlich. Doch an diesem einen Sonntag wollten wir alle abwaschen. Wir begannen zu streiten, und ich spürte, dass ich keine Chance gegen meine älteren Brüder hatte. Sie waren mir körperlich und auch in ihren Argumentationen überlegen. Die Wut und Verzweiflung krochen in mir hoch und ließen mich explodieren. In einer Kurzschlussreaktion schlug ich voller Wucht mit meiner Faust gegen die Fensterscheibe. Diese zerbrach darauf in tausend Einzelteile.

Totenstille folgte auf das Geräusch von splitterndem Glas. Wir wagten es nicht, uns zu rühren. Unsere Eltern mussten doch wach geworden sein? Es war so laut gewesen! Wir warteten auf das Donnerwetter, das uns erwarten würde. Doch es blieb still. Unsere Eltern schliefen immer noch. „Okay, wir beseitigen jetzt das Chaos“, flüsterte Hubert bestimmt. „Ich baue den Holzrahmen aus.“ Lösungsorientiert und zielstrebig, wie er war, machte er sich direkt ans Werk und stellte den ausgebauten Rahmen mit den restlichen Glassplittern vorsichtig in unseren Hof. Er beauftragte mich, das verbliebene Glas vom Rahmen zu lösen. Also hockte ich mich hin und begann vorsichtig mit der mir aufgetragenen Arbeit. Immer darauf bedacht, mich nicht zu schneiden.

Was ich jedoch nicht bedacht hatte, war, dass auch auf dem Boden schon Glassplitter herumlagen und ich, wie so oft, keine Schuhe trug. Es kam also, wie es kommen musste: Ich stieß mir eine große Scherbe in den rechten Fuß. Das Blut spritzte und ich schrie wie am Spieß. So laut, dass unsere Eltern tatsächlich aufwachten und mein Papa schnell ins Krankenhaus mit mir fuhr. Ich hatte mir die Arterie und Sehne vom rechten großen Zeh durchtrennt. Bis heute erinnern mich die Narbe und mein steifer großer Zeh an diese Geschichte.

Dann gab es da noch Bella, unseren Jagdhund. Zu ihr hatte ich eine sehr enge Beziehung. Wenn ich durch die Wälder streifte, war sie immer an meiner Seite und passte auf mich auf. Eines Tages, als ich mal wieder mit ihr spazieren ging, verlor ich die Zeit aus den Augen. Es war ein sehr heißer Tag, der Schweiß tropfte mir von der Nase und mein T-Shirt klebte an meinem Rücken. Die schwüle Luft drückte und die Hitze flimmerte vor meinen Augen. Plötzlich begann Bella an ihrer Leine zu ziehen. Sie war groß und stark, und wenn sie richtig zog, hatte ich keine Chance mehr, sie festzuhalten. Ich schimpfte mit ihr, rief sie bei Fuß, doch obwohl sie gut erzogen war, hörte sie nicht auf mich. Sie lief in hohem Tempo direkt nach Hause und ich rannte hinterher. Kaum waren wir zurück, und ich hatte die Haustür hinter uns zugeworfen, donnerte es draußen. So laut, dass ich zusammenzuckte. Was folgte, war eines der schlimmsten Gewitter, die ich in meinem Leben jemals erlebt habe. Ich steckte meinen Kopf in Bellas Nacken und hielt sie fest. „Danke dir“, flüsterte ich. Hatte sie mir doch das Leben gerettet.

***

Es war ein warmer Sommertag. Nicht zu schwül, nicht zu trocken. Genau richtig, wenn man sechs Jahre alt ist, Schmetterlinge beobachten, Blumen pflücken und die nackten Füße in eine der kalten Wasserquellen im Wald halten möchte. Meine Mama hatte mich mit einem Korb, in dem sich Pausenpakete befanden, zu den Arbeitern meines Papas geschickt. Er hatte Sträflinge eingestellt, die aus dem Gefängnis kamen und Strafarbeit verrichteten. Sie arbeiteten für ihn in der Baumschule und wurden nachts immer wieder zurück ins Gefängnis gefahren. Ich sollte die Brote abliefern, warten, bis die Männer fertig waren mit Essen, und dann auf jeden Fall mit Mamas Korb wieder zurückkommen. Sie hatte mich warnend angesehen und mir nachdrücklich gesagt, ich dürfe ihn auf keinen Fall vergessen oder unterwegs verlieren.

Die Sträflinge freuten sich, als ich kam. Ich stellte ihnen den Korb hin, und sie setzten sich an einen Holztisch in einer kleinen Holzhütte für ihre wohlverdiente Mittagspause. Ich war stolz auf meine Leistung, erwachsenen Männern allein Essen gebracht zu haben. So groß war ich schon! Ich wartete in der Nähe im Gras und beobachtete gerade ein paar Käfer, wie sie einen Baumstamm hochkletterten, als einer der Sträflinge mich rief: „Willst du dich nicht zu uns setzen? Du kannst auch ein Wurstbrot von uns bekommen!“ Ich stand auf, weil ich höflich sein wollte, außerdem hatte ich tatsächlich auch ein bisschen Hunger. Ich ging zu dem Mann, der mich gerufen hatte. Er wirkte freundlich. Sein brauner Bart war etwas struppig und seine Kleidung schmutzig. Er setzte mich auf den Tisch und gab mir ein Wurstbrot in die Hand. Dann setzte er sich mir gegenüber und betrachtete mich ruhig. Das Brot war lecker, doch es war mir unangenehm, wie er mich anstarrte.

Plötzlich streckte er seine Hand aus und schob meinen Rock hoch. Seine schmutzigen Arbeiterhände mit Erde unter den Fingernägeln waren viel zu groß für meine kleinen Beine, und für einen kurzen Moment hatte ich Sorge, dass er meinen roten Rock auch schmutzig machen könnte. Ich wusste nicht, was er tat. Aber ich spürte, dass seine Finger meine Unterhose zur Seite schoben und mich dort streichelten, wo ich so empfindlich war. Angst kroch mir den Rücken hoch. Was tat er da? Er zog mich an den Tischrand und beugte sich vor. Sein Kopf verschwand zwischen meinen Beinen und dann spürte ich seine Zunge dort, wo ich sie nicht spüren sollte. Ich hörte die anderen Sträflinge lachen. Sie amüsierten sich. Ich ekelte mich. Empfand Abscheu. War das okay, was er da machte? Sollte das so sein? Durften fremde Männer das etwa? Ich war wie gelähmt und wusste nicht, was ich tun sollte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er endlich von mir ab. Ich sprang vom Tisch, schnappte mir den Korb von Mama, der umgefallen danebenstand, und rannte weg. Ich rannte und rannte. Die Tränen rannen mir übers Gesicht. Ich schämte mich. Zu Hause fragte Mama mich, was passiert sei, und ich stammelte etwas davon, dass ich hingefallen sei und mir wehgetan habe. Ich traute mich nicht, zu erzählen, was wirklich geschehen war. Und so schickte sie mich in den darauffolgenden Tagen noch mehrmals mit Picknickkorb zu den Sträflingen. Ich protestierte zwar und erfand Ausreden, aber da ich mich nicht traute, die Wahrheit zu sagen, bestand meine Mama auf meinen Gehorsam.

Der widerwärtige Mann und seine Freunde taten mir das von dann regelmäßig an – immer, wenn ich da war. Bis irgendwann zufällig mein Papa mittags vorbeikam und sie in flagranti dabei erwischte, wie sie mich missbrauchten. Er war meine Rettung. Mein Papa entließ alle Sträflinge auf der Stelle. Er war so wütend, dass ich Sorge hatte, er könnte den Mann erschießen. Wir sprachen nie wieder über diese Situation, doch vielleicht war sie prägender für mein darauffolgendes Leben, als ich es mir jemals hätte ausmalen können.

***

Die vielen wunderschönen Kindheitserinnerungen mit meinen Brüdern ließen mich den Schmerz dieses grausigen Erlebnisses etwas vergessen. Diese schönen, unbekümmerten Jahre waren Balsam für meine Seele und vielleicht auch der Grund, warum ich später so viel Leid ertragen konnte, ohne zu zerbrechen, denn mit 14 Jahren endete meine beschauliche Kindheit.

Meine Brüder und ich kamen gerade von unseren Nachbarn wieder. Dort hatten wir nachmittags eine Serie gesehen. Zu Hause durften wir abends nur die Nachrichten schauen, daher mussten wir uns Alternativen suchen, wenn wir noch etwas anderes gucken wollten. Also gingen wir schon seit einigen Jahren mit Süßigkeiten bewaffnet zu unseren Nachbarn. Glückselig und erfüllt vom Zucker und den Fernseheindrücken kamen wir laut lachend zur Haustür herein. Unser Papa kam uns aus der Küche entgegen und bat uns, uns zu ihm zu setzen. Er sah ernst und bedrückt aus. Als wir bei ihm saßen, schwieg er lange. Seine Haut war faltig und seine Augen wirkten eingesunken. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er seufzte schwer. Dann sagte er langsam und knapp: „Eure Mama hat Gebärmutterhalskrebs.“ Danach herrschte Schweigen. Vier Worte, die ein ganzes Leben auf den Kopf stellen können. Mein Kopf raste. Ich konnte seine Worte gar nicht begreifen.

Fünf Jahre zuvor hatte unsere Mama Brustkrebs bekommen, diesen jedoch besiegt. Mama war stark und kämpferisch, und wir Kinder lebten weiter unser unbeschwertes Leben. Doch dieses Mal wirkte die Miene meines Papas anders. Ernster. Endgültiger. Wir schwiegen weiter, bis ich mich irgendwann traute und in die laute Stille flüsterte: „Wird sie wieder gesund werden, Papa?“ Er schüttelte den Kopf. Und er sollte recht behalten. Ein paar Wochen später, kurz nach Weihnachten, am 27. Dezember 1965, starb sie. „Bin ich jetzt ein Waisenkind, Papa?“, fragte ich ihn. „Nein, Moggele, noch nicht“, antwortete er und strich mir über die Haare. Moggele, das war sein Spitzname für mich. Es hieß so viel wie Bonbon. Nur mein Papa durfte mich so nennen.

Er hatte zum Zeitpunkt des Todes meiner Mama ebenfalls einen Tumor in seinem Körper. Einen Hirntumor. Doch für mich war er unsterblich. Ich wusste, dass er krank war, obwohl er sich nie etwas anmerken ließ. Deshalb rechnete ich nicht damit, dass er tatsächlich sterben könnte. Mein Papa dachte aber scheinbar oft darüber nach, denn er kümmerte sich darum, dass es mir nach seinem Tod gut gehen und dass ich eine gute Ausbildung bekommen würde. Da es keine Frau mehr in unserem Leben gab, die mir beibringen konnte, was eine Frau in den 60er-Jahren alles können musste, meldete er mich in einem Internat an. Genauer gesagt in einem Franziskanerkloster bei Biberach an der Riss.

Kapitel 2

Ich hasste es dort. Hassen, das ist ein hartes Wort, das ist mir bewusst. Aber es spiegelt einfach sehr treffend die Abneigung wider, die ich gegenüber diesem Ort empfand. Meinen unzähmbaren Freiheitsdrang musste ich dort zügeln. Eigentlich sogar komplett unterdrücken, denn er war unerwünscht. Mein ganzes Leben bestand nun aus „Müssen“. Ich musste beten, musste in die Kirche gehen, musste an Gott glauben, musste ein braves Mädchen sein. Es war ein Internat für höhere Töchter und ich sollte dort aufs Leben vorbereitet werden. Die Schwestern waren freundlich zu mir, aber es war alles viel zu einengend. Katholische Frömmigkeit und meditative Ruhe trafen auf meine wilde, ungestüme, laute Art. Wir passten nicht zueinander, das Kloster und ich. Und ich wollte alles, nur nicht dortbleiben.

Ich fand heraus, dass ich dreimal gegen die Regeln verstoßen und dabei erwischt werden müsste, damit ich einen Schulverweis bekommen würde. In mir entwickelte sich ein durchdachter Plan. Doch ich wusste weder, dass mein Papa wohlweislich bereits das komplette Schulgeld für drei Jahre gezahlt hatte, noch, dass er selbst sterbenskrank war. Die Schwestern waren mir gegenüber demnach sehr milde gestimmt und passten sehr gut auf mich auf. Ich jedoch rebellierte, wo ich nur konnte.

Mein erster Regelverstoß, nachdem ich mehrmals versucht hatte, auszureißen und leider immer wieder eingefangen worden war, war, dass ich mich mit einer Zigarette bewaffnet auf der Toilette versteckte. Damit ich erwischt wurde, pustete ich den Rauch unter der Toilettentür hindurch. Die Schwestern schimpften mit mir, aber mehr passierte nicht.

Einige Wochen später schoss ich beim Völkerball mit dem Ball den Schleier der Schwester herunter, die mit uns Sportunterricht machte. Wir waren alle neugierig und wollten wissen, ob sie Haare hatte. Doch auch danach passierte mir nichts. Also entsann ich einen neuen, gewieften Plan: Jeden Morgen um 6 Uhr mussten wir zum Frühgebet in die Kirche gehen. Wir Mädchen aus der Klosterschule saßen in der Mitte, die Jungs der Dorfschule an der Seite. An dem einen Morgen sicherte ich mir einen Platz am Rand und schob mit meinem Schuh einen Liebesbrief, den ich vorher geschrieben hatte, zu den Jungs hinüber. Es war mir egal, wer diesen las. Es war nur wichtig, dass die Schwestern, die oben auf der Empore saßen, diese Aktion auch genau sahen und ich endlich meinen ersehnten Schulverweis bekam.

Ich wurde ermahnt, ich bekam Ärger, aber ich flog zu meinem Leidwesen nicht von der Schule. Derweil ging es meinem Papa immer schlechter. Zu dem Gehirntumor kam noch ein Nierenversagen hinzu. Mir wurde bewusst, dass er wirklich sehr krank war. Im Herbst 1966 fand ich mich im Zug nach Freiburg wieder. Papas zweite Niere wollte nun auch nicht mehr richtig arbeiten und er wurde immer schwächer. Ich konnte es nicht begreifen, wollte es nicht begreifen, dass er vielleicht tatsächlich sterben könnte.

Im Krankenhaus angekommen, saß ich an seinem Bett und betrachtete sein blasses, eingefallenes Gesicht. Ich strich über seine Wangen und er flüsterte leise: „Moggele …“ Mehr konnte er nicht sprechen, ich spürte, dass er sich gerade verabschiedet hatte. Und doch wollte ich es nicht wahrhaben. Ich fuhr zurück ins Kloster und verdrängte immer noch, dass er sterben könnte. Daher traf es mich trotzdem hart und unvorbereitet, als die Schwestern mich kurze Zeit später aus dem Unterricht riefen, um mir das Unwiderrufliche mitzuteilen. Ich konnte es nicht fassen: Papa war tatsächlich von uns gegangen!

Die Oberin, so nannte man die Leiterin der Schwesternschaft, versuchte mich zu trösten. Sie drückte mir ein Gebetsbildchen in die Hand, ein Stück Papier mit Gottes Hand darauf. Wie sollte mich das trösten? „Das ist Gottes Hand“, sagte sie. „Gott ist dein Papa, er hält dich immer fest in deinem Leben.“ Ich starrte erst das Bild in meiner Hand an, dann sie. „Ich habe schon einen Papa“, antwortete ich. „Nein“, erwiderte sie. „Dein Papa ist gestorben.“ Unbeholfen war sie, und ich spürte nur unbändige Wut auf das Leben und auf Gott, der mir meinen geliebten Papa genommen hatte, und einen Schmerz, der in einer unbezwingbaren Woge über mich hereinbrach.

Die Schwestern setzten mich in den nächsten Zug und ich fuhr direkt ins Krankenhaus. Nun war ich also tatsächlich eine Waise – mit nur knapp 15 Jahren. Im Krankenhaus wartete schon mein Onkel Robert auf mich, der Mann von Hildegard, der Schwester meiner Mama. Er wollte mich trösten, nahm mich in den Arm und sagte: „Es tut mir leid, Moggele.“ Reflexartig machte ich mich los und schlug auf ihn ein. Ich schrie: „Niemals wieder will ich diesen Namen hören. Niemand darf mich so nennen außer mein Papa!“ Was erdreistete er sich, meinen Kosenamen, mit dem nur mein Papa mich gerufen hatte, in den Mund zu nehmen! Mein Onkel drückte mich, hielt mich fest und sagte nur immer wieder: „Es ist vorbei. Es ist vorbei.“

Ich spürte keinen Schmerz. Mein Herz wurde hart. „Dein Papa hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern. Das waren seine letzten Worte für mich. Daher dachte ich, es sei eine gute Idee, dich Moggele zu nennen.“ Ich starrte ihn entgeistert an. Wie sollte er auch nur ansatzweise ein Ersatz für Papa sein? „Dieses Wort ist mit ihm gestorben“, schrie ich. „Lass mich in Ruhe!“ Ich konnte es nicht ertragen.

Einige Tage später fand die Beerdigung statt. Es war ein schwarzer Tag für mich. Ich lief mit meinen Brüdern hinter dem Sarg her. Ich konnte nicht begreifen, nicht fassen, nicht wirklich fühlen, was hier gerade geschah. Ich hing an Huberts Arm. Er sollte mich stützen, aber ich hatte das Gefühl, eher ihn stützen zu müssen. Ich verspürte keine Verzweiflung, sondern unglaubliche Wut auf Gott und die Welt. Wie konnte er das zulassen? Wieso musste das passieren? Die Schwestern im Kloster sprachen immer von einem liebevollen, gütigen Vater, aber ich erlebte ihn so nicht. Die innere Rebellion gab mir die Kraft, diesen Tag zu überstehen. Nun waren wir tatsächlich Waisenkinder. Kollegen unseres Papas kamen in ihren Forstuniformen, standen an der Seite des Grabes und bliesen in ihre Hörner. Es war eine öffentliche katholische Beerdigung, da unser Papa eine Person der Öffentlichkeit war. Kurz vor seinem Tod sollte er zum Forstamtschef über den Schwarzwald gewählt werden, aber er hatte abgelehnt. Wahrscheinlich wusste er schon, dass er nicht mehr lange leben würde.

Wenig später wurde unser Elternhaus von der Stadt abgerissen. Man hatte darin einen Pilz gefunden und vermutete, dass dadurch unsere Eltern beide erkrankt waren. Heute steht an dieser Stelle ein Heim für Menschen mit Einschränkungen. Mit dem Tod meines Papas hatte ich alles verloren, was ich liebte. Meine Identität, mein Leben, meine Liebesfähigkeit: alles war zerbrochen und ein Stück weit mit ihm gestorben. Die Erinnerungen an ihn konnte mir keiner nehmen, aber ich wurde hart. Die Traurigkeit, Verzweiflung und Wut fraßen mich innerlich auf, und ich wurde immer härter, unnahbarer und negativer. Ich konnte nichts mehr spüren. Ich machte einfach dicht. Hinzu kam noch das Internat, in dem ich mich einfach nicht wohlfühlte. Ich sehnte mich nach Freiraum, nach Abenteuer. Vielleicht auch, um mich wieder spüren und mein Leben, in dem so viel zerbrochen war, hinter mir lassen zu können.

Doch erst einmal wurde mein Freiraum noch mehr beschränkt. Unsere Großeltern, die Eltern unserer Mama, nahmen uns verwaiste Kinder bei sich auf. Sie hatten einen starken Kontrollzwang, waren sehr diszipliniert und wahrscheinlich wollten sie, dass aus mir mal etwas „G’scheites“ wird. Daher mussten sie mir unbedingt meine wilde Seite austreiben.

Meine Großeltern waren wohlhabend und besaßen ein Freibad und eine Konditorei im Ortsteil Littenweiler in Freiburg. Unser Opa war Konditormeister und unsere Oma Konditoreifachverkäuferin. Neben der Konditorei ging es ein paar Stufen hinauf. Dort war ein Café, in dem sie auch selbst gemachtes Eis anboten. In ihrer Erziehung war unsere Oma, genau wie unsere Mama, hart und streng und unser Opa freundlich, wohlgesonnen und eher gemütlich.

Über dem Café gab es noch zwei weitere Stockwerke: Meine Brüder und ich wohnten im dritten Stock und teilten uns die Wohnung dort. Unsere Großeltern wohnten ein Stockwerk unter uns. Für mich war die Küche zu einem Schlafzimmer umgebaut worden. Meine Brüder waren zu dem Zeitpunkt 21, 22 und 23 Jahre alt. Der Älteste, Michael, war Starkstromelektriker. Er hatte sein Büro im Wohnzimmer. Dort herrschte meist ein solches Durcheinander, dass ich es eines Tages nicht mehr aushielt und für ihn aufräumte. Doch er freute sich nicht darüber, denn danach fand er nichts mehr. Mein zweitältester Bruder, Martin, arbeitete als Waldarbeiter und Hubert lernte Versicherungskaufmann. Wir waren uns in dieser Zeit nicht mehr so nah wie früher. Jeder machte sein eigenes Ding und versuchte, sich sein Leben aufzubauen.

Ich fühlte mich allein und war sauer auf meine Brüder und auf das Leben allgemein. Ich musste tun, was Oma sagte, meine Brüder hielten sich jedoch raus, und wenn sie mir doch mal helfen wollten, nahm ich diese Hilfe nicht an. Ich rebellierte.

In der Zeit des Zweiten Weltkrieges hatten unsere Großeltern im Stadtteil St. Ottilien ein Hotel mit eigener Schlachterei gehabt, wo sie damals Juden versteckten. Vielleicht kam es auch aus dieser Zeit, dass meine Oma so überängstlich war. „Man darf niemandem trauen, sonst hat man ein Messer im Rücken, bevor man ‚Piep‘ sagen kann“ war ihr Standardspruch. Sie berechnete alle Wegstrecken, die ich zurücklegen musste, und ich durfte nicht mal fünf Minuten später nach Hause kommen. Die Welt „da draußen“ war ihrer Meinung nach böse. Ich fühlte mich eingeengt – und war es auch tatsächlich. So musste ich bei ihnen ein Korsett tragen. Da ich mich darin weder bewegen noch gut atmen konnte, zog ich es immer in einer öffentlichen Toilette aus, sobald ich aus dem Haus war, und später wieder an, bevor ich nach Hause kam.

Nach der 9. Klasse machte ich eine hauswirtschaftliche Ausbildung und besuchte ein Jahr lang eine Handelsschule. Mit 16 Jahren war meine Schulbildung beendet und ich sollte, nach der Meinung meiner Oma, nun etwas „Anständiges“ lernen. Mein großer Traum war es, Kinderärztin oder Krankenschwester zu werden und in Entwicklungsländer zu gehen. Davon hielt meine Oma jedoch nicht viel. „Anständig“ hieß bei ihr, dass ich eine Konditorei-Ausbildung machte und Verkäuferin wurde. Meine Talente und Stärken, meine persönlichen Wünsche und Sehnsüchte waren nicht von Belang. „Dann hast du ein Papier in der Tasche“, sagte sie nur beständig zu mir. Irgendwann gab ich nach.

Drei Jahre lang lernte ich von da an in der Konditorei bei meinem Onkel Robert in Freiburg und wohnte weiterhin bei Oma und Opa zu Hause. Die Arbeit war anstrengend, und direkt nach Dienstschluss musste ich sofort wieder nach Hause zu Oma fahren. Sie kontrollierte alles, was ich tat. Ich hatte das Gefühl, zu verkümmern. Ich verstand jedoch auch ihre Sorge um mich.

Schon zu Beginn der Ausbildung geschah jedoch etwas Unvorhersehbares: Ich war gerade dabei, einem netten Pärchen in der Konditorei Kaffee zu servieren, als ich plötzlich umkippte. Die schöne weiß-blau geblümte Kaffeekanne aus Porzellan mit dem goldenen Deckel zerbrach in tausend Stücke und der Kaffee lief heiß über mich und den dunkelbraunen Holzfußboden. Wahrscheinlich schrie die ganze Konditorei vor Schreck, das bekam ich jedoch nicht mit. Ich erwachte erst im Krankenhaus wieder. Dort hatten die Ärzte ein Blutgerinnsel in meinem Kopf gefunden. Dieses war jedoch nicht behandelbar.