Weinstraßenhölle - Markus Guthmann - E-Book

Weinstraßenhölle E-Book

Markus Guthmann

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Beschreibung

Grausiger Fund im alten Steinbruch auf dem Pechsteinkopf: In einem Weinfass liegt eine aufgeschwemmte Leiche. Die Ermittlungen für Oberstaatsanwalt Röder gestalten sich schwierig, denn offenbar dümpelte der Tote schon sehr lange in dem alten Fass. Als sich dann auch noch ein Raubmord an einem dubiosen Transportunternehmer ereignet, entpuppt sich der Pechsteinkopf als mörderische Büchse der Pandora.

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Markus Guthmann wurde 1964 in Pirmasens geboren und lebt heute mit Familie und Hund an der Deutschen Weinstraße. Seit über dreißig Jahren schreibt er erfolgreich im Nebenberuf und hat vor einigen Jahren den Weg zur Kriminalliteratur gefunden.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Şafak Oğuz/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-474-2

Pfalz Krimi

Originalausgabe

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Für Michi, Alex, Felix und Lotte

Geht’s Dir im Leben einmal gutUnd ist Dir nichts zu teuer,Dann, lieber Freund, mit frohem Mut,Trink »Forster Ungeheuer«!

Doch geht es Dir erbärmlich schlechtIn dieser Welt Gemäuer,Dann, lieber Freund, und dann erst rechtTrink »Forster Ungeheuer«!

Emil Helfferich, 1878–1972

PROLOG

Der Mann schob das Gerümpel zur Seite. Erst das Fass, dann die runden Bohlen und Bretter, die an der Wand standen und die er gelegentlich zum Verschieben schwerer Lasten benötigte. Die Arbeit fiel ihm nicht leicht, er keuchte, und seine Lungen pfiffen hörbar. Er kramte einen riesigen altmodischen Schlüsselbund hervor und schloss die uralte Tür auf, die sich hinter dem Krempel versteckte. Sie knarzte und krachte in den Angeln.

Das Gewölbe, das sich wie das Tor zur Unterwelt vor ihm auftat, war feucht und dunkel. Die Petroleumlampe, die der Mann bei sich trug, spendete kaum Licht. Etwa ein Dutzend Fässer stapelten sich im Raum, aber nur eines stand aufrecht in der Mitte. Der Fassdeckel fehlte, und ein Kopf ragte heraus, der mit einer Art Pranger an der Öffnung fixiert war. Es war schwer zu sagen, ob der Mensch im Fass noch lebte oder schon tot war.

»Es scheint dich niemand zu vermissen«, sagte der Mann und griff nach einer der Weinflaschen, die in einer Holzsteige neben dem Fass standen. Er kramte einen Korkenzieher aus seiner Hosentasche hervor und öffnete die Flasche mit einem knallenden Geräusch. Dann nahm er einen blechernen Trichter, der ebenfalls in der Kiste lag, und rammte ihn der wehrlosen Person in den Rachen, nachdem er deren Mund mit dem für Tiere bestimmten Lefzengriff brutal geöffnet hatte. Er begann, den Inhalt der Flasche in den Trichter zu schütten, und achtete sorgsam darauf, dass sich sein Opfer nicht verschluckte. Immer wieder hielt er kurz inne, um sicherzustellen, dass es nicht erstickte. »Ich wollte das nicht, und du weißt das. Du hast mich gezwungen. Ich hätte sonst niemals auf wehrlose Menschen geschossen.«

»Es war Krieg«, krächzte der Delinquent.

»Das ist keine Entschuldigung, du Schwein.« Er öffnete eine weitere Flasche, steckte den Trichter zurück in den Schlund des Gequälten und fuhr fort, ihm den Wein mit der notwendigen Sorgfalt einzuflößen.

»Es war Krieg«, hörte er, als sein Opfer auch diese Prozedur überstanden hatte. »Es war Krieg, und wir alle hatten zu gehorchen.«

»Nein, ich wollte nicht gehorchen, aber ich musste deinen Befehlen folgen, sonst wäre ich nicht mehr hier, und du wärst nicht auf dem Weg dorthin, wo du längst hingehört hättest: in die Hölle.«

Die Gestalt im Fass schüttelte sich, versuchte, sich mit letzter Kraft zu wehren, aber der Mann zwang noch eine dritte Flasche Wein in sie hinein. Dann schmetterte er die leere Glasflasche in eine Ecke des Raumes, schmiss den Trichter zurück in die Kiste, griff nach einer Offiziersmütze, auf deren Stirnseite über dem Schild ein blecherner Totenkopf prangte, und stülpte sie dem Gefangenen über den Kopf.

»Ich wollte das nie, und es ist unermesslich traurig, dass dein Tod die vielen Unschuldigen nicht wieder lebendig macht«, sagte er und setzte sich auf eine Kiste. Aus der Tasche seines Arbeitskittels zog er eine Kladde hervor und begann, sich mit ungelenker Hand Notizen zu machen.

EINS

Die Eisheiligen hatten in diesem Jahr zwei Wochen zu früh Einzug gehalten, und so war es kein Wunder, dass Pfingsten in der Pfalz bei makellos blauem Himmel und sommerlicher Wärme gefeiert werden konnte. Dennoch blickten die pfälzischen Winzer dem neuen Weinjahr zunächst noch mit skeptischem Optimismus entgegen, wussten sie doch, dass damit nur die erste, wenn auch wichtigste Wachstumsperiode für ihren Wein begonnen hatte.

Röder hatte sich eine Rieslingschorle gemischt und es sich in einem Liegestuhl bequem gemacht. In der vorangegangenen Woche hatten er und Manu Urlaub gehabt, den sie im Allgäu beim Wandern verbracht hatten. Heute, am Pfingstmontag, war die Familie der Mittelpunkt aller Aktivitäten, und Röder betrachtete zufrieden das fröhliche Treiben in seinem Garten.

Auf Röders Kugelgrill dampfte bereits der Anzündkamin für Holzkohle und verbreitete einen aromatischen Geruch. Der Duft steigerte seine Vorfreude und damit den Appetit auf das bevorstehende Grillvergnügen. Allerlei Sorten von mariniertem Fleisch und Gemüse für den vegetarisch angehauchten Teil der Familie türmten sich auf dem ausgedienten Barriquefass, das ihm, dem unangefochtenen Grillmeister, als Ablage diente. Feli und Laura, seine beiden jüngeren Töchter, duschten gerade die Familienhündin Lotte mit der Gießkanne ab. Obwohl sie eine angeblich wasserliebende Golden-Retriever-Hündin war, schien ihr die Prozedur wenig zu gefallen. Röders demenzkranke Mutter wuselte unterdessen zwischen den Gartensträuchern umher und zupfte ständig irgendwelche trockenen Blütenblätter von imaginären Rosenstöcken.

Es war ein Auf und Ab mit ihrer Krankheit. Neulich erst hatte sie einen Töpferkurs besucht, eine Aufgabe, in der sie vollkommen aufging, und die Familie hatte sich sehr darüber gefreut, dass die Oma eine solche Lebensfreude dabei entwickelte. Allerdings waren sie alle etwas irritiert gewesen, als sie erfuhren, dass das Thema »Urnentöpfern« lautete. Nachdem der erste Schock überwunden war, machten sie es zum Running Gag in sämtlichen Gesprächen. »Papa, stell dir vor, Oma schenkt dir das zu deinem fünfundfünfzigsten Geburtstag«, war nur einer der Kommentare, die Röders Töchter vom Stapel ließen. Röder hatte das witzig gefunden, bis er erfuhr, dass seine Mutter die ganze Nachbarschaft mit ihren etwas morbiden künstlerischen Kreationen überzogen hatte. Überhaupt schien sie sich in ihren lichten Momenten sehr mit dieser speziellen Art von bildender Kunst auseinanderzusetzen.

Manu spielte mit Leonie, ihrem ersten Enkelkind, das auf Marie-Claires Schoß saß. Leonie war ein schokobrauner Wonneproppen mit süßen krausen schwarzen Haaren, der vor lauter Freude gluckste und auf den Knien der stolzen Mutter auf und ab wippte. Röder seufzte vor Rührung, denn die Kleine war ein echter Sonnenschein, auch wenn er manchmal – halb im Scherz, halb im Ernst – mit seinem Schicksal haderte, hatte er es doch nun mit sechs Frauen zu tun. Wobei in der stolzen Zahl die Hündin noch nicht einmal eingerechnet war.

Als Marie-Claire an Weihnachten vor anderthalb Jahren verkündet hatte, dass sie ein Kind erwartete, hatte Röder noch geglaubt, er würde endlich männliche Verstärkung in der Familie bekommen. Aber daraus war wieder nichts geworden. Alle seine Nachkommen schienen weiblich zu sein, und er war dazu verdammt, als einziger Mann in einem Frauenhaushalt zu leben, wäre da nicht wenigstens sein frischgebackener Schwiegersohn Rolfi.

Röder döste wohlig vor sich hin und ließ das vergangene turbulente Jahr vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Feli, seine mittlere Tochter, hatte nach ihrem Abitur, das sie gar nicht mal so schlecht wie erwartet abgeschlossen hatte, eine Ausbildung zur Winzerin begonnen. Natürlich kam als Ausbildungsbetrieb nur das VDP-Weingut von Hellinger in Frage, wo sie schon lange im Weinverkauf und auch im Keller gejobbt hatte. Sie waren von diesem Berufswunsch dennoch überrascht worden, und Hellinger hatte extra seinen Ausbilderschein bei der Handwerkskammer gemacht, damit er sie ausbilden konnte. Zuvor hatte er noch nie einen Lehrling gehabt, aber seinem besten Freund und dessen Tochter konnte er keinen Wunsch abschlagen, zumal Feli ein Talent für Weinbau zu haben schien. Hellingers Sohn Max hatte sich ebenfalls als großer Fürsprecher erwiesen, denn Feli hatte viele Nächte als sein Babysitter verbracht, wenn der alleinerziehende Hellinger beruflich zu tun gehabt hatte oder einfach nur auf der Jagd nach amourösen Abenteuern gewesen war. Nun war sie im zweiten Lehrjahr, das angehende Winzerinnen und Winzer typischerweise in einem anderen Lehrbetrieb verbrachten. Feli hatte es an die Mosel, nach Valwig aufs Weingut Steuer verschlagen. Rudi Steuer, der Winzer, war ein alter Freund von Hellinger und glich ihm auch im Charakter, nur dass der eine in der Pfalz und der andere an der Mosel das Beste aus den Reben herausholte. Röder war schon mehr als einmal Zeuge ihrer freundschaftlichen wie konkurrenzbewussten Diskussionen gewesen, bei denen die Winzer wortreich die Vorzüge ihrer Weinbauregionen und ihre eigene Potenz als Weinmacher sowie zu fortgeschrittener Stunde auch für andere Lebensbereiche anpriesen.

Zu Hause wohnte nur noch die Jüngste, Laura, die schon angekündigt hatte, gleich nach dem Abitur ausziehen zu wollen, um in Heidelberg Jura zu studieren und in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten.

Die meiste Aufmerksamkeit der Familie hatte in den vergangenen anderthalb Jahren aber Marie-Claire auf sich gezogen. Als sie schwanger geworden war, hatte sie ihr Studium in Gießen aufgegeben und war vorübergehend wieder bei ihnen eingezogen, um das Kind im Kreis der Familie auf die Welt zu bringen. Sie hatte Rolfi, der eigentlich Kojo Rudolf Acquah Benyi III. hieß, während des Studiums kennengelernt. Seit dem vergangenen Winter war er Marie-Claires Mann und hatte kürzlich eine Stellung an der Universität Mannheim angenommen, um Volkswirtschaft zu lehren. Er hatte dort eine der raren Juniorprofessuren ergattert.

Nun wohnte die junge Familie in Lambrecht, wo Rolfis Eltern ein kleines Haus mit Garten besaßen, das sie der jungen Familie überlassen hatten. Sie selbst waren nach Südfrankreich ausgewandert. Für das kommende Wintersemester hatte Marie-Claire auch wieder berufliche Ziele, denn sie wollte sich in Landau einschreiben, um an der dortigen Hochschule ein Lehramtsstudium zu beginnen.

Röder und Manu waren aus allen Wolken gefallen, als die jungen Leute ihnen eröffnet hatten, dass sie unbedingt heiraten wollten. Bis dahin waren sie eigentlich der Meinung gewesen, dass in der Generation ihrer Kinder das Heiraten und Kinderkriegen nicht mehr an erster Stelle stand, zumal die Reihenfolge diesmal bereits andersherum verlaufen war. Doch Marie-Claire und Rolfi sahen das anders. Sie beteuerten, dass sie diesen Schritt nur aus Liebe und keinesfalls aus Tradition oder anderen altmodischen Beweggründen gehen wollten. Jedenfalls waren Marie-Claire und Rolfi seit drei Monaten standesamtlich verheiratet und planten, eine Trauung in Weiß zu gegebener Zeit nachzuholen. Als i-Tüpfelchen kam hinzu, dass sie dieses Jahr das jüngste Brautpaar in Lambrecht waren und somit am morgigen Pfingstdienstag als Hauptakteure bei der traditionellen Geißbockversteigerung in Deidesheim mitwirken durften. Röder und seine Familie freuten sich auf diesen Top Act pfälzischer Tradition und natürlich auf das dazugehörige Weinfest.

Er seufzte vor Glück und nahm einen großen Schluck von der Schorle, die er neben sich im Gras abstellte. Zu spät bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass Lotte, die übertriebene Körperhygiene überhaupt nicht mochte, sich von Feli und Laura losgerissen hatte. Von oben bis unten einshampooniert rannte sie durch den Garten, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Röders Töchter sprinteten ihr nach und versuchten, die Leine zu erhaschen, die die aufgeregte Hündin hinter sich herzog. Genau vor Röder schien Lotte gestellt zu werden, sie schlug jedoch einen zirkusreifen Haken und riss dabei Röders Dubbeglas um, dessen Inhalt ihm über die Füße schwappte. Zu allem Unglück verfing sich auch noch die Hundeleine im Gestell des Holzkohlegrills. Zusammen mit dem glühenden Anzündkamin wurde er mehrere Meter mitgeschleift, ehe er mit lautem Scheppern auf eine alte Konifere stürzte, deren trockene, am Boden liegende ätherische Nadeln sofort Feuer fingen. Der ganze Strauch stand mit einem Schlag lichterloh in Flammen. Wie ein trockener Weihnachtsbaum brannte das Gewächs explosionsartig ab.

»Feuer!«, schrie Röder. Er sprang auf und rannte zum Gartenschlauch, der neben dem Hundeshampoo im Gras lag. »Feli, lauf in den Keller und hol den Feuerlöscher! Ihr anderen holt Eimer und die Gießkanne!«

Es ging rasend schnell, die Flammen schlugen bereits mannshoch, als Röder das Wasser andrehte und sofort erbärmlich zu fluchen begann, denn aus der Düse tröpfelte nur ein mickriges Rinnsal. Dafür schoss das Wasser aus einer undichten Stelle in der Mitte des Schlauchs. Mittlerweile stieg eine riesige Rauchsäule über der Konifere auf.

»Ach ja, wir wollten dir noch sagen, dass du den Schlauch reparieren musst, denn Lotte hat damit gespielt und darauf herumgebissen, als ihr letzte Woche weg wart«, sagte Laura gänzlich unaufgeregt.

»Ich rufe die Feuerwehr«, schrie Manu und lief ins Haus, während Röder halbwegs erfolgreich mit dem kaputten Schlauch die Gießkanne füllte und damit zurück zum Busch rannte, auf dem das bisschen Wasser jedoch einfach verpuffte.

»Jahwe, Jahwe«, rief Röders Mutter, die einen Augenblick innehielt, ehe sie sich wieder den unsichtbaren Rosen widmete.

Als Feli mit dem Feuerlöscher angerannt kam, drohte der Brand bereits auf die umliegenden Bäume und Sträucher überzugreifen. »Der ist schon zwei Jahre abgelaufen«, rief sie und ließ das Gerät vor lauter Aufregung auf Röders nackten Fuß fallen, woraufhin der augenblicklich vor Schmerz aufschrie. Dann griff er den Löscher, zog den Sicherungsring und betätigte den Hebel. Tatsächlich machte das Ding keinen Mucks. Röder stieß weitere üble Verwünschungen aus und schüttelte die rote Flasche wie ein Wilder, bis sich im Inneren hörbar ein Pfropfen löste. Eine erhebliche Menge Löschpulver landete in Röders Gesicht, bevor es ihm gelang, den Strahl auf das Feuer zu richten. Er spritzte den gesamten Inhalt in die Flammen, aber der Strauch brannte einfach weiter. Immerhin hatte Röder den Brand deutlich eindämmen können, und Laura kam jetzt mit einem intakten Schlauch aus dem Vorgarten angerannt. Gerade als es Röder und seinen Frauen mit Hilfe des Schlauches und der eilig herbeigeschafften Gefäße gelang, den Brand vollständig unter Kontrolle zu bringen, hörten sie das Martinshorn der Feuerwehr. Im nächsten Moment musste Röder noch einmal mehr schimpfen, als er mit seinem sowieso schon lädierten Fuß in eine der glühenden Holzkohlen trat, die überall im Gras verteilt herumlagen. Sein anschließender Veitstanz sollte noch lange Gesprächsthema in der Familie sein.

Während Röder vor Schmerzen brüllend auf einem Bein hin und her sprang, stoppte der Löschwagen der Feuerwehr mit quietschenden Bremsen vor dem Gartentor. Fünf Feuerwehrleute sprangen heraus, warfen geübt einen Schlauch aus, sprangen über den Gartenzaun, kämpften sich durch die das Grundstück begrenzenden Hecken und hinterließen im Blumenbeet eine Spur der Verwüstung, die einem mittleren Kampfpanzer der Bundeswehr alle Ehre gemacht hätte.

Zum Glück war der Einsatz der Feuerwehr nicht mehr notwendig, und allgemeine Erleichterung machte sich breit. Auch bei Röder, denn er stand mit einem Bein in einem Eimer Wasser, der bei der Löschaktion übrig geblieben war, und erzählte dem Truppführer, den er persönlich kannte, die ganze Geschichte.

Der Feuerwehrmann klopfte ihm auf die Schulter, dass es nur so staubte. »Da haben Sie aber Glück gehabt, Herr Dr. Röder. Das hätte ganz schön ins Auge gehen können. Bei der Trockenheit brennen die Büsche wie Zunder. Nicht auszudenken, wenn das Feuer auf Ihr Haus oder das Ihrer Nachbarn übergesprungen wäre.«

Die Panik hatte sich mittlerweile gelegt, und die Männer von der Feuerwehr erhielten von den Röders erst einmal eine zünftige Rieslingschorle im Dubbeglas, ehe sie die Gerätschaften wieder abbauten und den Garten vollends einebneten. Mit ihnen verschwanden auch die zahlreichen Schaulustigen, die sich vor dem Haus versammelt hatten. Röder hatte die Männer zum Einsatzwagen begleitet und mit seinen direkten Nachbarn geredet, die natürlich wissen wollten, was passiert war. Jetzt humpelte er total verstaubt in den Garten zurück, wo sich Lotte nass und shampooniert im Gras wälzte und anschließend schüttelte, als wenn nichts passiert wäre.

»Komm jetzt mal her, du blöder Sauköter«, schimpfte Röder und empfand große Lust, das Tier mit bloßen Händen zu erwürgen.

Tatsächlich kam die Hündin mit eingezogenem Schwanz und hängendem Kopf zu Röder gekrochen, der eine lange Tirade über Schweinehunde, nichtsnutzige räudige Streuner und Straßenköter zum Besten gab, ehe ihn der treudoofe, schuldbewusste Blick von Lotte zum Aufhören erweichte. Zumal Manu ihm zur Beruhigung eine frische Schorle in die Hand drückte.

»Nun komm mal wieder runter, mein Lieber«, sagte sie gelassen. »Es ist ja alles noch einmal glimpflich ausgegangen. Außer der Konifere und den paar Sträuchern daneben hat nichts und niemand Schaden genommen.«

»Und was ist mit meinem Fuß?« Röder zeigte anklagend auf seinen Zeh, der mittlerweile eindrucksvoll angeschwollen war.

»Ach, du Armer. Ich hole noch eine Schüssel mit kaltem Wasser, damit du ihn weiter kühlen kannst.«

»Papa, wieso bist du auf einmal so grau, oder fängst du schon an zu schimmeln?«, fragte Laura mit Blick auf das Löschpulver in Röders Haaren. Seine Töchter lachten, und die Anspannung der letzten zwanzig Minuten wich ausgelassener Heiterkeit. Wenigstens bei ihnen.

»Ihr seid doch wirklich eine dumme Bagage«, brummte Röder, dem noch nicht wirklich zum Lachen zumute war. »Weiberhaushalt, euch hält kein normaler Mensch im Kopf aus.«

»Telefon für dich, Vadder«, sagte Marie-Claire, die mit der weinenden Leonie auf dem Arm aus dem Haus kam und ihm den schnurlosen Apparat entgegenstreckte. »Es ist Gerald.«

Irgendwie war Röder die Ablenkung willkommen, denn der Vorfall hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte. Andererseits konnte es nichts Gutes bedeuten, wenn Steiner ihn an einem Feiertag anrief.

»Ist bei dir alles in Ordnung? Du klingst so komisch«, fragte Steiner nach der Begrüßung.

»Ach, das erzähle ich dir ein anderes Mal«, wich Röder aus. »Was hast du für mich?«

»Auf dem Waldparkplatz hinter Hardenburg wurde ein Toter in seinem Lieferwagen gefunden. Ich bin jetzt auf dem Weg dorthin und wollte fragen, ob du mitwillst und ich dich abholen soll, denn das ist ja quasi vor deiner Haustür.«

»Es ist Pfingsten, ich dachte, du hast frei. Das ist doch eine Sache für den Kriminaldauerdienst.«

»Ja, ist es, aber heute haben da nur die ganz jungen Kollegen Dienst, und Sybille ist in Elternzeit. Ich kann sonst niemanden schicken, dem ich das zutraue, also muss ich selbst nachsehen, ob die alles richtig machen.«

Röder überlegte einen Augenblick, denn auch in der Staatsanwaltschaft Frankenthal war das ein Job für die Feiertagsbereitschaft, und er selbst hatte noch bis Mittwoch Urlaub. Aber dann entschied er sich doch anders.

»Ja, ich bin dabei, aber ich muss vorher noch mal kurz unter die Dusche springen.«

Manu war es nicht recht, dass sich ihr Mann am Feiertag absetzen wollte, das konnte er ihr ansehen. Da sie aber merkte, dass er nach dem ganzen Chaos eine kurze Auszeit von der Familie brauchte, säuselte sie: »Geh nur, die Kinder und ich räumen auf und werfen den Grill noch einmal an. Wenn du wiederkommst, essen wir gemeinsam und trinken etwas Schönes. Außerdem müsste Rolfi gleich eintrudeln, und Achim wollte mit Max auch noch vorbeischauen. Die werden uns bestimmt helfen, aber bitte bleib nicht zu lange weg.«

Als Röder frisch geduscht wieder herunterkam, stand Steiner bereits mit einer Schorle in der Hand bei Manu, die ihm soeben haarklein geschildert hatte, was geschehen war. Das Lachen der beiden verstummte, als sie Röder bemerkten.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, echauffierte er sich. »Unsere Hütte wäre beinahe abgefackelt, und dieser saublöde Köter –«

»Komm, jetzt ist es ja gut«, beschwichtigte ihn Manu. »Noch mal: Es ist zum Glück nichts Gravierendes passiert. Jedenfalls nichts, was nicht wieder in Ordnung gebracht werden kann. Gerald will übrigens auch noch auf ein Steak mit zu uns kommen, wenn ihr in Hardenburg fertig seid.«

»Das kann aber dauern«, antwortete Röder patzig.

Auf dem Weg zum Auto schlug Steiner ihm aufmunternd auf die Schulter. »Kopf hoch, alter Freund. Du musst schon zugeben, dass das eine echt heiße Story ist.«

»Haha, ich lach mich tot.«

»Es ist doch alles noch mal gut gegangen, aber sag mal, warum humpelst du denn so?«

»Jetzt halt bloß die Klappe, sonst vergesse ich mich. Ich glaube, es macht sich nicht gut, wenn ein Staatsanwalt einen Kriminalbeamten verprügelt. Erzähl mir lieber, was in Hardenburg passiert ist.«

Steiner verkniff sich das Grinsen und wurde sachlich, während sie in den Wagen stiegen. »Wanderer haben auf dem Parkplatz im Klaustal einen toten Mann in einem Lieferwagen gefunden. Es handelt sich um einen Ford Transit mit bulgarischem Kennzeichen. Den Wanderern war aufgefallen, dass das Fahrerfenster offen stand. Sie riskierten einen Blick in den Wagen und entdeckten die Leiche.«

»Todesursache?«

»Sehr wahrscheinlich ein Schuss durch das geöffnete Fenster aus nächster Nähe, aber mehr weiß ich bis jetzt auch nicht.«

Röder informierte die Bereitschaft seiner Behörde und gab durch, dass er persönlich den Tatort besichtigen würde. Dann war ihm nicht mehr zum Reden zumute, und es herrschte Stille, bis sie den Bad Dürkheimer Stadtteil Hardenburg erreichten. Über dem kleinen Dorf erstreckte sich auf der linken Seite die gleichnamige mächtige Burgruine, die lange Zeit die Hauptresidenz des Leininger Grafengeschlechts gewesen war, das bis zur napoleonischen Zeit das Gebiet an der Unterhaardt regiert hatte. Als ihre Kinder noch klein gewesen waren, waren Röder und Manu häufig mit ihnen auf dem schönen Wanderweg von Bad Dürkheim über den Schlangenweiher dorthin gewandert und anschließend in der urigen Lindenklause eingekehrt, während die Mädels auf dem alten Turnierplatz tobten.

»Wir müssen mal wieder zur Edith gehen«, sagte Steiner, als könnte er Röders Gedanken lesen. »Das ist bestimmt schon zehn Jahre her, dass wir zuletzt mit den Kindern oben waren. Du kannst ja deine Enkelin mitnehmen. Ich helfe dir auch, den Kinderwagen zu schieben, solange du noch humpelst.«

Steiner bog hinter der Ortschaft nach rechts auf den Waldparkplatz ab, vor dem sich eine Bushaltestelle befand. Gegenüber stand das traditionsreiche Waldschlöss’l, und ein Fahrweg führte zur Burg hinauf. Er stoppte sein Fahrzeug vor der Polizeiabsperrung, an der eine Handvoll Schaulustiger lauerte. Unter ihnen stand natürlich Riemer, ein Journalist, den Röder nicht mochte, mit dem er aber dann und wann schon einmal paktiert hatte.

»Herr Dr. Röder, was ist denn da oben passiert? Stimmt es, dass da die Müllmafia dahintersteckt?«, rief Riemer, als er Röder erkannte.

Röder würdigte ihn keines Blickes und betrat den abgesperrten Bereich, der von zwei uniformierten Polizisten bewacht wurde. Die KTU war bereits bei der Arbeit. Die Seiten- und die Hecktür des Transporters standen offen, und etliche Zahlenschilder wiesen auf bereits gesicherte Spuren vor und in dem Fahrzeug hin. Hinter ihnen an der Absperrung wurde eben ein Leichenwagen durchgelassen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kriminaltechniker die Leiche zum Abtransport freigeben würden.

Pyreck, der Leiter der KTU und ein alter Haudegen, trat hervor. »Servus, Ben. Was sagt man dazu? Da sitze ich gemütlich mit meiner Frau bei meiner zweiten Schorle auf der Lindemannsruhe, als ich den Anruf erhalte, dass hier unten ein Toter liegt.«

»Hans, altes Haus. Bist du immer noch nicht in Rente?«

»Das hättest du schon gemerkt, wenn du von der KTU keine fundierten Berichte mehr für deine Anklagen bekommst und jeden Prozess verlierst.«

»Jedenfalls schön, dich zu sehen. Was hast du denn für uns?«

»Kommt mit und seht’s euch an«, sagte Pyreck und begleitete Röder und Steiner zur Fahrerseite des Transporters.

Auf dem Fahrersitz saß zusammengesunken und auf die Seite gekippt das Mordopfer. Die Hautfarbe des Mannes war auffallend fahl und gelb, was wohl nicht nur auf die teilweise fehlende hintere Schädelkalotte zurückzuführen war. Im Innenraum des Wagens klebten überall Blut und Hirnmasse.

»So haben wir den Toten gefunden. Der Mörder hat aus nächster Nähe geschossen. Er muss gleich hier gestanden haben.« Pyreck schloss die Fahrertür und hob den Arm, als würde er eine Waffe durch das Fenster halten. »Es ging wohl alles sehr schnell. Die Tatsache, dass die Scheibe hinuntergekurbelt war und der Schuss auf Anhieb saß, deutet darauf hin, dass sich Täter und Opfer vielleicht gekannt haben. Das Opfer hat jedenfalls keinen Argwohn gezeigt, sondern sich wohl sogar ein wenig aus dem Fenster hinausgelehnt, mit dem Täter gesprochen und dann den tödlichen Schuss in die Stirn erhalten.« Pyreck deutete mit einem Kugelschreiber die Flugbahn des Projektils an und zeigte mit der Spitze auf die Einschussstelle auf der Stirn. »Die Rechtsmedizinerin und ich sind uns einig, dass es sich um eine Neunmillimeter gehandelt haben muss. Dummerweise hat das Projektil den Kopf und die Karosserie durchschlagen und liegt jetzt dahinten irgendwo im Wald.« Er wies durch die intakte Beifahrerscheibe auf einen Mann im weißen Overall, der mit einem Metallsuchgerät das andere Ende des Parkplatzes absuchte. »Aus den Löchern im Kopf und in der Karosserie können wir zwar einigermaßen die Flugbahn rekonstruieren, aber ohne Kugel wird es schwer, den Typ der Mordwaffe zu bestimmen.«

Röder nickte, und Pyreck fuhr fort: »Dafür, dass der Mann keinen Verdacht schöpfte, seinen Mörder nah an sich heranließ und ihn vielleicht sogar kannte, sprechen auch drei Zigarettenstummel, die wir auf dem Boden vor der Tür gefunden haben. Das Opfer hatte schon eine Weile hier geparkt und dabei geraucht, denn im Fahrzeug liegt ein Päckchen derselben Marke. Möglich, dass er auf jemanden gewartet hat.«

»Wann ist der vermutete Todeszeitpunkt?«

»Die gestresste Rechtsmedizinerin, die schon längst wieder über alle Berge ist, meint, letzte Nacht zwischen ein und drei Uhr.«

»Kennen wir seine Identität?«, wollte Steiner wissen.

»Ja.« Pyreck rief einen Techniker herbei, der ihnen eine Asservatentüte mit einer Brieftasche darin brachte. »Sein Name war Metodi Kostadinov Bojanov, ein Bulgare. Er ist auch der Halter des Wagens. Unter den Papieren ist ein deutscher Gewerbeschein, der ihn als Transportunternehmer ausweist.«

»Was macht denn ein bulgarischer Transportunternehmer nachts in Hardenburg auf einem Waldparkplatz?«, fragte Röder.

»Das herauszufinden ist euer Job, Jungs.«

»Hat er auch einen Wohnsitz in Deutschland?«, erkundigte sich Steiner.

»Bis jetzt haben wir keine Hinweise darauf gefunden. Hinten liegen ein Schlafsack und eine Isomatte. Gut möglich, dass er im Auto gepennt hat. Sein Ausweis gibt eine Adresse in Pernik an.« Pyreck reichte ihm die Tüte mit der Brieftasche.

Betroffen betrachtete Röder mehrere Schnappschüsse einer fröhlichen Familie mit kleinen Kindern, die in einem Sichtfach neben dem Ausweis steckten.

»Da ist noch ein interessantes Detail an dem Fahrzeug, das euch vielleicht schon aufgefallen ist: Es verfügt vorn und hinten über Warntafeln. Möglicherweise hat er also Gefahrstoffe transportiert.«

»Als wir gekommen sind, hat Riemer etwas von ›Müllmafia‹ geschwätzt«, sagte Röder. »Was weiß der schon wieder, was wir nicht wissen?«

»Keine Ahnung.« Pyreck zuckte mit den Schultern.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über Details und das weitere Vorgehen, bis Pyreck schließlich den Bestattern das Zeichen gab, die Leiche abzutransportieren. Zeitgleich fuhr ein Abschleppwagen vor, der damit begann, den Transporter aufzuladen, während die Kriminaltechniker ihre Utensilien einpackten, die Overalls auszogen und in ihren wohlverdienten Feierabend verschwanden, der hoffentlich nicht wieder von einem Toten durchkreuzt werden würde.

***

Die Spuren der Verwüstung im Garten waren noch deutlich zu erkennen, als Röder mit Steiner im Schlepptau um das Haus humpelte. Seine Mutter schien eine neue Aufgabe gefunden zu haben, sie bearbeitete das Blumenbeet, das die Feuerwehr niedergetrampelt hatte, mit einer Harke. Hellinger stand mit Rolfi am Grill. Beide hatten eine Schorle in der Hand und bogen sich vor Lachen.

»Ich kann mir schon denken, worüber ihr euch so prächtig amüsiert«, sagte Röder mit einem säuerlichen Tonfall in der Stimme.

»Ach, komm, die Geschichte kannst du noch deinen Urenkeln erzählen«, entgegnete Hellinger lachend.

»Nicht genug, dass meine Familie mich verspottet, meine Freunde tun es auch.« Röder ließ sich seufzend in eine Gartenliege fallen. »Ich lege jetzt meinen Fuß hoch und lass mich verwöhnen. Haut mir mal einen Schwenker auf den Grill und bringt mir eine Schorle.«

Feli brachte ihm die gewünschte Schorle. »Schwenker sind alle, aber Tofu-Schnitzel sind noch da. Auf den Schreck hin haben wir alle einen Riesenhunger auf Fleisch gehabt.«

»Wie bitte?«, rief Röder. »Der Tofu-Kram war für euch gedacht, denn ihr esst ja gar kein Fleisch, weil ihr doch angeblich Vegetarier seid und euch die armen Schweine leidtun. Und jetzt erzählt ihr mir, dass ihr alle Steaks verputzt habt, als ich weg war?«

»Jetzt reg dich nicht auf«, mischte sich Manu ein. »Die Mädels haben halt Hunger gehabt, und Achim, Max und Rolfi haben den Tofu auch nicht gemocht. Außerdem wussten wir ja gar nicht, wann du wiederkommst. Ich habe aber noch ein paar Würste aus dem Supermarkt im Kühlschrank, die können wir mit auf den Grill legen.«

»Du meinst diese faden, abgepackten Bio-Würste? Die könnt ihr selbst essen. Ich bestelle Gerald und mir jetzt eine Pizza«, sagte Röder. Er sprang von seinem Stuhl auf und stieß sich dabei den sowieso schon lädierten Zeh am Tischbein, was ihn laut aufheulen ließ.

»Also, ich kann auch zu Hause essen«, sagte Steiner verlegen und machte Anstalten, zu gehen.

»Das kommt nicht in Frage.« Hellinger hielt Steiner am Arm zurück und drückte Röder sanft wieder in den Stuhl. »Lass dir mal von deinen Mädels den Fuß verarzten. Ich fahre kurz nach Hause, ich hab nämlich noch über ein Kilo Grillfleisch im Kühlschrank, das gehe ich jetzt holen. In zwanzig Minuten bin ich zurück.«

Einigermaßen beruhigt, setzte sich Röder wieder hin und ließ sich von Manu und seinen jüngeren Töchtern umschwärmen. Ob er große Schmerzen habe und die Schorle die richtige Mischung, waren nur zwei der besorgten Fragen.

»Boah, fett, ey. Ist der dick!«, entfuhr es Laura, als es ihnen endlich gelungen war, Röder einigermaßen schmerzfrei den eigentlich bequemen Laufschuh auszuziehen. »Und das ist ja eine Megabrandblase da auf dem Fußballen. Boah!«

»Mann, und das alles nur wegen dem blöden Vieh. Morgen wollte ich bei der Geißbockwanderung mitmachen. Da war ich schon ewig nicht mehr, und dieses Mal ist die beste Gelegenheit, weil meine Tochter und mein Schwiegersohn als das Brautpaar dabei sind. Ich habe mich echt darauf gefreut. Wo ist denn eigentlich dieser verdammte Köter?«

»Sie liegt hinten unter dem Baum. Wir haben sie angebunden, damit sie nicht noch mal so ein Durcheinander anzettelt.«

»Durcheinander? Das war ein Anschlag!«, entrüstete sich Röder.

»Das mit deinem Fuß kriegen wir wieder hin«, sagte Manu, aber Röder kannte seine Frau zu gut, um die Zuversicht in ihrer Stimme ernst zu nehmen. »Wir kühlen ihn jetzt erst einmal und machen dann ordentlich Brandsalbe drauf.«

Während er seinen Fuß in kaltem Wasser badete, setzte sich Steiner zu ihm. Sie stießen mit ihren Dubbegläsern an. Steiner zwinkerte ihm zu. »Ich werde niemandem im Amt von deinem Missgeschick erzählen.«

»Du bist ein echter Freund«, sagte Röder ironisch.

»Hast du eigentlich schon vom Fass gehört?«, wechselte Steiner geschickt das Thema.

»Wie? Gibt’s ein Problem mit dem Därgemer Fass?«

»Nein, du kannst beruhigt sein. Du wirst nicht um eines der wichtigsten Restaurants in deiner Nachbarschaft beraubt. Ich meine das Fass vom Pechsteinkopf. Ich spreche von dem, das letzte Woche dort im See aufgetaucht ist.«

Rolfi, der Marie-Claire geholfen hatte, Leonie ins Reisebett zu bringen, war wieder nach draußen gekommen und gesellte sich zu ihnen. »Das stand doch ganz groß in der Zeitung«, sagte er.

»In Oberstdorf lese ich normalerweise nicht die ›Rheinpfalz‹. Also, was ist los?«

»Oben im See am alten Basaltsteinbruch wurde ein Fass mit menschlichen Überresten gefunden.«

»Mord?«, fragte Röder.

»Jetzt mach mal langsam und lass mich erzählen. Also, im alten Steinbruch, du weißt schon, dem auf der rechten Seite, wenn du das Margarethental hochläufst. Da ist doch das große, hundert Meter tiefe Loch, in dem bis in die achtziger Jahre hinein Basalt gebrochen wurde. Dort haben Steinmetze ein kaputtes Fass gefunden, aus dem eine mumifizierte Hand heraushing.«

»Was hatten denn die Steinmetze da oben zu suchen? Ich dachte, der Steinbruch ist längst geschlossen.«

»Ja, schon, aber hin und wieder fahren noch Steinmetze dort ein, wenn ein Kunde ausdrücklich Forster beziehungsweise Pfälzer Basalt wünscht. Dann sprechen sie mit dem Eigentümer und erhalten die Erlaubnis, auf eigene Gefahr dort runterzufahren und ein Stück Basalt zu brechen. Der Steinmetz, übrigens dein Nachbar Nikolaus hier ums Eck, ist mit ein paar Gesellen dort gewesen. Als sie unten wie schon des Öfteren werkelten, hat sich auf der anderen Seite ein Hangrutsch ereignet, der in den See abgegangen ist.«

»Verdammt, es ist doch hoffentlich niemandem etwas passiert?«

»Nein, zum Glück nicht. Sie sind unbeschadet wieder herausgekommen. Aber der Hangrutsch hat für eine kleine Flutwelle gesorgt, die den Seegrund aufwirbelte. Ein Fass wurde aufgeschwemmt, es landete direkt vor den Füßen der Steinmetze und ist auseinandergebrochen. In ihrer Eile haben die Männer die Leiche nicht sofort gesehen. Sie wollten in dem Moment nur abhauen. Aber dann hat einer der Handwerker die heraushängende Hand bemerkt, und der Chef hat geistesgegenwärtig ein paar Fotos gemacht. Warte mal, ich hab sie auf meinem Smartphone.« Steiner begann, in seiner Bildersammlung zu scrollen. »Hier, das sind sie.«

Röder und sein Schwiegersohn beugten sich über das Gerät. »Das sind aber andere Fotos als in der ›Rheinpfalz‹«, sagte Rolfi und pfiff durch seine gepflegten, ebenmäßigen Zähne, die jetzt, in der Dämmerung, einen erstaunlichen Kontrast zu seiner dunklen Hautfarbe bildeten. Die verwackelten Fotos zeigten das zerstörte Fass, aus dem eine Hand herausragte. Davor lag ein blechernes Totenkopfemblem, das ebenfalls aus dem Fass stammen musste. Röder vergrößerte die Ansicht auf dem Display. Im Inneren des Fasses schien sich eine vollständig erhaltene mumifizierte Leiche zu befinden. Soweit sich das beurteilen ließ, denn die Qualität des eilig geschossenen Fotos war ziemlich schlecht.

»Ja, das mit dem Emblem wollten wir nicht an die Öffentlichkeit bringen, sonst pilgern da bloß Scharen von Schatzjägern und Nazis rauf. Zumal sich dort oben auch ein beliebter Geocache befindet.«

»Das war weise«, sagte Röder. »Was sagt denn die KTU?«

»Nichts.«

»Wieso ›nichts‹? Das Fass muss sofort untersucht werden«, sagte Röder mit Nachdruck.

»Danke für die Nachhilfe, Herr Oberstaatsanwalt. Wir von der Kriminalpolizei wissen schon, was zu tun ist, aber wir kommen da nicht ran, denn der ganze Hang gilt als extrem einsturzgefährdet. Es darf niemand hin, bevor die Geologen vom Landesamt ihn wieder freigegeben haben.«

»Willst du damit sagen, dass da oben ein unbewachter Toter liegt?«

»Nein, will ich nicht. Das Gebiet ist abgesperrt, und wir fahren regelmäßig Streife dorthin.«

»Ihr müsst einen permanenten Posten einrichten.«

»Wenn du mir sagst, woher ich die notwendigen Leute bekomme, besonders am Feiertag, dann gern. Uns geht’s nicht anders als euch«, sagte Steiner in Anspielung auf Röders Personalproblem. Seit vor über einem Jahr einer seiner zunächst vielversprechendsten Staatsanwälte wegen Mordes zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden war, suchten sie Ersatz.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, wollte Röder wissen.

»Morgen kommt ein Spezialist vom LKA, der den See mit einer Drohne unter die Lupe nehmen wird. Er soll so nahe wie möglich heranfliegen und Aufnahmen machen. Und dann müssen wir auf die Geologen warten, damit wir endlich runtergehen und nachsehen können.«

»Gibt es da ein Problem? Soll ich Druck machen?«

»Nein, im Moment nicht, die sind auch gerade im Feiertagsstress. Aber der Behördenleiter hat versprochen, sich morgen bei mir zu melden und so schnell wie möglich Leute zu schicken. Allerdings ist das Ganze vielleicht eher etwas für Archäologen und nicht für die Polizei.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, das SS-Abzeichen spricht dafür, dass es sich um eine Leiche aus dem Krieg handelt.«

»Und wie kommt die ins Fass? Mord verjährt nicht. Auch wenn es wahrscheinlich schwer wird, einen Täter zu ermitteln, wir müssen der Sache nachgehen.«

»Klar, doch Priorität hat jetzt sowieso erst einmal der Bulgare.«

»Ja, sicher«, räumte Röder ein und zog seinen Fuß aus dem Eiswasser.

Hellinger kam von seiner Versorgungsfahrt mit einer prallen Tüte Grillgut von Röders Lieblingsmetzgerei Tempel zurück.

»Achim, du bist mein Held«, sagte Röder, als sein Freund die Steaks auf den Grill warf. Außerdem hatte er noch selbst eingelegte Rinderlende mitgebracht. Röder wusste, dass Hellinger sie zelebrierend zubereiten würde. Er war nicht nur ein vielfach ausgezeichneter studierter Winzer mit dem besten Diplom seines Jahrgangs, sondern auch ein hervorragender Koch, was er gern und mit Freude unter Beweis stellte.