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Advent in der Pfalz: Die Zeit der Weinfeste ist nahtlos in die der Weihnachtsmärkte übergegangen. Der Besuch der Märkte ist für Oberstaatsanwalt Röder und seine Familie Pflicht, aber die romantische Stimmung wird durch einen erschlagenen Weihnachtsmann nachhaltig getrübt. Erste Spuren führen ins Drogenmilieu, und die Tat scheint schnell geklärt. Doch als ein zweiter Mord geschieht, muss Röder tief in ein äußerst dunkles Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte eintauchen.
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Seitenzahl: 292
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Markus Guthmann wurde 1964 in Pirmasens geboren und lebt heute mit Familie und Hund an der Deutschen Weinstraße. Seit beinahe dreißig Jahren schreibt er im Nebenberuf und hat vor einigen Jahren den Weg zur Kriminalliteratur gefunden. Guthmann ist Mitglied im Syndikat, der größten Vereinigung deutschsprachiger Kriminalautoren, und hat viele erfolgreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten veröffentlicht. Mit »Weinstraßenrache« liegt nunmehr der sechste Band der erfolgreichen Krimireihe mit dem unkonventionellen Oberstaatsanwalt Dr.Benedikt Röder und seinem Freund, dem Edelwinzer Hellinger, vor.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-903-5 Pfalz Krimi Originalausgabe
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Für Alex und Felix, zwei echte »Pälzer«
Die besinnlichen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr haben schon manchen um die Besinnung gebracht.
Joachim Ringelnatz (1883–
PROLOG
Die grelle Lampe brannte unbarmherzig auf den jungen Mann herab, der auf der anderen Seite des Tisches zusammengesunken und erschöpft auf einem Stuhl saß. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Schlaf- und Essensentzug waren eine wirkungsvolle Folter bei dieser Art von Verhör.
Ein Blinder konnte sehen, dass der junge Mann am Ende seiner Kräfte war, und der Verhöroffizier war sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ein beliebiges Geständnis nur so aus ihm hervorsprudelte. Aus Erfahrung wusste er, dass er noch einmal hart zulangen musste, bevor der Beschuldigte vollends zusammenbrechen und auspacken würde. Dann wäre der Zeitpunkt gekommen, die Strategie von böse auf gut zu wechseln. Er würde den verständnisvollen Zuhörer mimen und schließlich seinem Gefangenen das gewünschte Geständnis abnehmen wie ein Priester seinen Schäfchen die Beichte. So war das immer, und daran würde sich heute nichts ändern.
Er wollte es hinter sich bringen, auch deshalb, weil er pünktlich zu Hause sein wollte. Seine Frau wartete auf ihn, sie hatten ihren zweiten Hochzeitstag zu feiern. Er freute sich schon auf den Abend, und Stolz stieg in ihm auf, weil es ihm gelungen war, mit einem Genossen zwei Flaschen Jack Daniel’s Black Label gegen ein französisches Unterwäsche-Set zu tauschen, das nun originalverpackt und in hübsches Geschenkpapier gehüllt auf seinem Schreibtisch lag.
Der Oberleutnant verweilte noch einen Augenblick bei den angenehmen Vorstellungen, erfreut darüber, wie weit er es gebracht hatte. Denn ein gewisser Dienstgrad und gute Beziehungen waren eine unabdingbare Voraussetzung für solche Geschäfte und förderten die weitere Karriere. Dann musterte er wieder den jungen Mann, der ihm in einem verdreckten Unterhemd gegenübersaß. Der Junge murmelte etwas.
»Du redest nur, wenn ich es dir erlaube«, fuhr ihn der Oberleutnant an und entnahm einem rosaroten Aktendeckel ein paar Papiere. Er tat so, als würde er sie sortieren. »Du bist also in Dresden aufgewachsen und zur Schule gegangen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon alles gesagt«, erwiderte der Junge schwach.
»Beantworte meine Frage.«
»Ich brauche einen Arzt.«
»Du sollst auf meine Frage antworten«, schrie der Oberleutnant.
»Ich brauche einen Arzt«, wiederholte der Junge.
Der Arm des Oberleutnants schoss unvermittelt hervor, packte den verschwitzten Haarschopf des Jungen und schlug seinen Kopf brutal auf die schmutzige Tischplatte.
»Du redest nur, wenn du gefragt wirst, du Stück Scheiße. Wie oft soll ich dir das noch sagen?« Er machte eine Pause, aber er ließ den Kopf nicht los. »Pack endlich aus.«
Der Junge nickte schwach und hauchte etwas Unverständliches, woraufhin der Oberleutnant zufrieden seinen Griff lockerte.
EINS
Die Tage in der Pfalz waren kurz geworden, und die Adventszeit hatte begonnen. Feuchtes, kühles Wetter herrschte vor, das konnte die Pfälzer aber nicht davon abhalten, einen der vielen schönen Weihnachtsmärkte zwischen Zweibrücken und Speyer zu besuchen.
Die Märkte versprühten eine der Jahreszeit angemessene romantische Melancholie, die angesichts der vielen angebotenen heißen Getränke und Pfälzer Spezialitäten aber schnell wieder aus den Gemütern vertrieben wurde. Sie folgten ohne nennenswerte Unterbrechung den Weinfesten, bevor sie nahtlos in die Silvester- und Neujahrsmärkte übergingen. Nach einem kurzen Intermezzo, der »Pälzer Fassenacht«, konnte danach die Weinfestsaison entspannt aufs Neue beginnen.
Hatten die Weihnachtsmärkte und ihre Beschicker Hochsaison, bedeutete das für die Winzer eine einigermaßen ruhige Zeit. In den Kellern ruhte der Wein, und die tägliche Kontrolle der Lagerfässer verführte manch einen Experten zu dem einen oder anderen Genusserlebnis in mehr oder weniger geselliger Runde.
Röder steuerte seinen Wagen durch das offene Hoftor des Weinguts Hellinger. Er kam gerade aus dem Baumarkt, wo er Wandfarbe und andere Malutensilien gekauft hatte, denn er wollte das ehemalige Kinderzimmer seiner ältesten Tochter streichen und es zu seinem neuen Arbeitszimmer umgestalten. Sie hatten in ihrer renovierten Gründerzeitvilla zwar keine wirklichen Platznöte, und rein rechnerisch hatte sich die zur Verfügung stehende Quadratmeterzahl pro Person erhöht, seit Marie-Claire in Gießen Journalismus und Turkologie studierte. Röder überlegte dennoch kurz, ob er im Vergleich zu seinen Frauen über oder unter dem Familiendurchschnitt lag, was die Quadratmeternutzung anging, und der Gedanke an sein bisheriges, winziges Arbeitszimmer im Keller ließ ihn ahnen, dass er womöglich sogar noch hinter Lotte, ihrer Golden-Retriever-Hündin, rangierte.
Röder stieg aus, schloss die Wagentür und ging zu Hellingers Probierstube hinüber. Er wunderte sich über die große Buddha-Statue, die auf dem ausgedienten Barriquefass neben dem Eingang thronte, wo vor Kurzem noch ein rustikaler blauer Krug mit herbstlichen Blumen gestanden hatte. Vor dem Buddha brannte ein Teelicht in einem Glasgefäß, und eine Räucherkerze verströmte einen exotischen Duft. Aus der Weinstube fiel nur gedämpftes Licht, was Röder ebenfalls wunderte. Normalerweise war sie um diese Jahreszeit gut beleuchtet, weil Hellinger im Advent viele Kunden hatte, die für das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel seine mehrfach prämierten Weine kauften. Er galt als einer der besten Winzer der Pfalz, wenn nicht sogar von ganz Deutschland, und selbst für seine Gutsweine konnte er überdurchschnittliche Preise erzielen.
Auch Röder war gekommen, um seine Vorräte aufzustocken, doch er blieb stehen, als er aus dem Raum ein Summen hörte. Unangenehme Erinnerungen beschlichen ihn, denn erst letztes Jahr im Spätsommer hatte er seinen Freund in einer mehr als peinlichen Situation erwischt. Er verdrängte die Bilder, betätigte aber zur Sicherheit die Klingel, damit Hellinger wusste, dass ein Kunde vor seiner Probierstube stand.
Das Signal schrillte normalerweise über den gesamten Hof, umso überraschter war Röder, als statt des gewohnten, beinahe infernalischen hochtönenden Rasselns ein dezenter Gong ertönte, der eher in einem Hindutempel zu erwarten gewesen wäre. Starr vor lauter Irritation über die wunderlichen Veränderungen im Weingut seines Freundes schwebte Röders Finger noch über dem Klingelknopf, als Hellinger bereits vor ihm stand.
»Servus, Ben. Bitte jetzt nicht noch mal klingeln, das würde die Meditation stören.«
»Grüß dich«, antwortete Röder etwas unsicher. »Wieso Meditation? Das ist doch deine Probierstube. Komm, lass uns reingehen, und ich meditiere bei einer Rieslingschorle mit.«
»Nein, das geht jetzt nicht.«
Röders Blick blieb an Hellingers Beinen hängen, und er staunte nicht schlecht über die lila Leggings, die dieser trug. »Hey, was hast du denn für geile Hosen an?«
»Das sind original Jane-Fonda-Aerobic-Hosen. Die waren in den Achtzigern der letzte Schrei. Und sie sind saubequem.«
»Kaum zu glauben, dass sie dir noch passen«, sagte Röder mit leicht gehässigem Unterton.
»Du hast aber auch ein schönes Renault-Hemd an«, entgegnete Hellinger.
»Wieso Renault-Hemd? Das ist doch von Lacoste.«
»Aber auch nicht mehr das neueste«, sagte Hellinger und bildete mit seinen Fingern in schönster Kanzlerinnengeste die Raute der Fahrzeugmarke, mit der er auf den auseinanderklaffenden Stoff zwischen zwei Knöpfen in Röders Bauchgegend deutete.
»Du bist doch ein blöder Sack. Du hast ja in letzter Zeit auch nicht mit mir trainiert.«
»Ja, weil ich meinen diesjährigen Geburtstag so groß und aufwendig gefeiert habe und noch dazu wie immer mitten in der Weinlese steckte. Du hingegen hättest genug Zeit zum Trainieren gehabt.«
Hellinger feierte seinen Geburtstag beinahe jedes Jahr mit einer traditionellen Weinlese für seine Freunde, bei der es reichlich zu essen und zu trinken gab. Vor sechs Wochen allerdings war er fünfzig geworden und hatte an diesem Tag eine besonders aufwendige Party geschmissen.
»Ich ertrinke gerade in Arbeit«, widersprach Röder. »Und ich kann wohl kaum etwas dafür, dass die Pfalz so kriminell ist.«
»Also geht’s dir nicht besser als mir, aber du hast eine Plauze bekommen, während ich durch meine Arbeit in den Weinbergen immer noch gestählt bin.« Hellinger klopfte feixend auf seinen flachen Bauch.
»Du Angeber, jetzt lass uns eine Schorle trinken, oder ich decke mich bei deiner Konkurrenz ein.«
»Wenn du dir das leisten kannst. Dein Beamtensalär als Oberstaatsanwalt ist ja nicht schlecht, aber deine Familie ist anspruchsvoll.«
»Was ist nun mit der Schorle?«, drängte Röder, der das Gespräch in eine andere Richtung lenken wollte und zur Türklinke griff.
Hellinger drückte mit der Hand gegen das Holz. »Komm, wir gehen woandershin, wir können da jetzt nicht rein.«
»Aha«, sagte Röder, und im selben Moment tönte aus der Probierstube wieder das monotone Summen: »Ommm…«
»Na, irgendwo muss Linda doch ihre Yogastunden abhalten. Und der am besten geeignete Raum dafür ist nun mal meine Probierstube«, erklärte Hellinger leichthin, doch Röder meinte, eine gewisse Resignation in seiner Stimme zu hören. »Das ist aber nur ein Provisorium, sie sucht schon nach geeigneten Räumen in der Umgebung.«
Linda war eine gemeinsame Freundin aus Schulzeiten, die schon damals mit Hellinger ein Verhältnis gehabt hatte. Sie heiratete aber kurz nach dem Abitur einen bekannten Grünen-Politiker in Hannover, von dem sie sich vor wenigen Jahren wieder scheiden ließ und daraufhin in die Pfalz zurückzog. Nach einigen – beziehungsweise im Falle von Hellinger zahllosen– Liebesirrungen waren sie im Sommer vor einem Jahr erneut ein Paar geworden, und Linda war bei Hellinger und seinem Sohn Max eingezogen. Beide könnten gegensätzlicher nicht sein, denn Linda hatte man schon in der Schule eher der alternativen Szene zuordnen müssen, während Hellinger stockkonservativ gewesen war, was durch sein damaliges Engagement in der Jungen Union noch unterstrichen wurde. Gegensätze zogen sich aber ja bekanntlich an, und die beiden stritten sich mal so heftig, wie sie sie sich ein andermal liebten.
»Lass uns in den Weinkeller gehen«, sagte Hellinger und stürmte voran. Er hatte den alten Fasskeller erst kürzlich renoviert und nach den Bedürfnissen eines modernen Weingutes umgestaltet. Die meisten seiner Weine kelterte und lagerte Hellinger zwar in der modernen Halle, die er vor einigen Jahren errichtet hatte, aber seine Spezialitäten bewahrte er immer noch im Keller auf. Weil er die jahrhundertealte Patina mit Hochdruckreinigern von den Steinen hatte entfernen lassen, wirkte der eindrucksvolle Gewölbekeller aus heimischen Kalksteinen nun bedeutend heller. Früher hortete Hellinger hier zwischen den Fässern alle möglichen alten Gerätschaften. Seit der aufwendigen Sanierung säumten nur noch helle Fässer den breiten Mittelgang. Sie lagen auf mächtigen, alten Eichenbalken.
»Dein Keller ist klasse geworden«, sagte Röder und bestaunte die moderne, aber dezente Beleuchtung.
Hellinger lächelte und ging zu einigen ausrangierten Fässern, die aufrecht standen und nun als Tische dienten. »Das Probiereck habe ich erst heute aufgebaut und nehme es mit dir zum ersten Mal in Betrieb.«
»Ich fühle mich geehrt«, antwortete Röder.
»Ich will es für gelegentliche Weinproben im kleinen Kreis nutzen«, sagte Hellinger und nahm zwei der bereitstehenden Gläser, in die er je einen Schluck aus einer ebenfalls bereitstehenden Flasche Weißwein füllte.
»Was, ist das alles? Ich dachte, wir trinken eine Schorle«, sagte Röder entsetzt.
»Mein Fassweinkeller bleibt exklusiv. Schorle können wir oben saufen.«
»Das geht aber gerade nicht, oder muss ich dich daran erinnern, dass deine Probierstube zu einem Ashram umfunktioniert wurde?«
»Jetzt trink mal, mich interessiert deine Meinung. Und außerdem will ich wissen, ob du in all den Jahren unserer Freundschaft endlich etwas über Wein gelernt hast.«
Röder schwenkte den Wein fachmännisch im Glas, hielt ihn gegen das Licht und roch daran, bevor er geräuschvoll einen kleinen Schluck schlürfte.
»Du sollst dir nicht die Zähne putzen, sondern die Flüssigkeit sensorisch mit deinen Geschmacksknospen in Verbindung bringen«, sagte Hellinger.
»Jetzt lass mich doch erst mal…«, nuschelte Röder, während er den Wein zwischen seinen Zähnen hin und her spülte. Dann schluckte er und sagte: »Ein Riesling. Süßer Pfirsich, so wie reife Weinbergpfirsiche, und gleichzeitig ein Duft von Kräutern. Mineralisch und sehr ausgewogen, und ich meine, so etwas bei dir noch nie getrunken zu haben.«
»Ja, und? Schmeckt er dir?«
»Ausgezeichnet. Selten einen so leckeren Wein getrunken, der außerdem nur moderat Säure und Alkohol enthält. Den hast du wirklich toll hingekriegt, ist vielleicht sogar einer deiner besten«, sagte Röder begeistert.
»Der Wein ist nicht von mir«, entgegnete Hellinger zögerlich. Er wirkte etwas konsterniert. »Das ist ein Engehöller Bernstein, Großes Gewächs, und stammt vom Weingut Lanius-Knab in Oberwesel. Ich habe mich bei der letzten VDP-Tagung mit dem Winzerpaar angefreundet. Wie du weißt, ist es Sitte unter VDP-Winzern, dass wir uns gelegentlich die eigenen Weine gegenseitig zuschicken.«
»Na ja, so gut ist er auch wieder nicht«, ruderte Röder zurück.
»Das klang aber eben noch ganz anders«, blaffte Hellinger, der offensichtlich ein wenig schmollte.
»Der Wein ist klasse, aber er kommt natürlich an einen Pfälzer – und speziell an deine Weine– nicht heran. Dazu ist er einfach nicht gehaltvoll genug«, erklärte Röder und blickte auf das Etikett des zweifellos leckeren Weines, der für einen Riesling gerade mal acht Volumenprozent aufwies. »Das wollte ich eigentlich gleich zu Anfang sagen.«
»Spar dir deine Lobhudelei, ich kenne die Weinsprache besser als du. Aber du hast absolut recht, der Wein ist Spitzenklasse, und außerdem kann man ja nicht das ganze Jahr nur seine eigene Plörre trinken«, sagte Hellinger und schenkte fleißig nach.
»Da hast du wiederum recht. Und Konkurrenz belebt das Geschäft«, ergänzte Röder, bevor er schnell das Thema wechselte. »Du, Achim, ich wollte da noch was mit dir besprechen.«
»Schieß los.«
»Sonntag in einer Woche ist an der Hütte an der Weilach doch wieder die Nikolausfeier. Laura hat in den letzten Jahren immer gern das Gedicht vorgetragen, aber nun ist sie schon ein bisschen zu alt dafür. Deshalb wollte ich dich fragen, ob Max das übernehmen kann.«
Röder und Hellinger waren seit Jahrzehnten Mitglieder im Pfälzerwald-Verein. Die Dürkheimer Ortsgruppe betrieb ihre Hütte in der Nähe von Leistadt; die urige Schenke war ein beliebtes Ausflugsziel für die Menschen in der näheren Umgebung. Mit seiner Familie hatte Röder schon viele schöne Stunden dort verbracht, besonders als die Kinder noch klein gewesen waren. Die Hütte lag mitten im Wald, verfügte über mehrere hundert Sitzplätze im Freien und einen großen Spielplatz. Auch heute genossen er und Manu noch regelmäßig die kleine Wanderung von ihrer Haustür zur Hütte, um dort unter alten Bäumen eine zünftige Pfälzer Mahlzeit einzunehmen.
Hellinger warf sich stolz in die Brust. »Du menschd, weil Max so gut babble konn wie soi Vadder?«
»Du haschd’s erfasst.«
»Ei, isch denk, des konn er mache. Zumal isch weeß, dass mer dort immer ä guder Schorle fer de Vadder krieht.«
»Darauf konnschde wette«, sagte Röder und stieß mit seinem Freund an.
»Ach, hier seid ihr.«
Röder und Hellinger fuhren herum, als Manu den Keller betrat. Sie trug einen weiten rosafarbenen Jogginganzug aus Baumwolle und hatte eine zusammengerollte Gymnastikmatte unter dem Arm. Röder wunderte sich ein wenig über ihre legere Aufmachung, denn Manu legte normalerweise viel Wert auf gute Kleidung.
»Hast du etwa auch da oben Yoga bei Linda gemacht?«, fragte er erstaunt.
»Was soll denn diese Frage? Hast du seit Neuestem etwas gegen Sport?«
»Nein, es ist alles in Ordnung, mein Schatz«, antwortete Röder. »Ich frage mich nur, ob ich vielleicht in einer Szene von ›Flashdance‹ gelandet bin, wenn ich euch beide so vor mir sehe in eurem Achtziger-Jahre-Retrolook.« Er spielte auf Hellingers Leggings und den rosa Jogginganzug von Manu an und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Wir machen Yoga und keinen Jazzdance, das ist ein gewaltiger Unterschied, mein Lieber«, sagte Manu mit einem schnippischen Unterton. »Ein bisschen mehr Sport könnte dir übrigens auch guttun. Yoga fördert die Fettverbrennung.«
»Ich zäppel uns mal ein bisschen Rotwein«, sagte Hellinger, der sich der Diskussion unter Eheleuten entziehen wollte, und griff nach einem Weinheber. »Meine Roter-Teufel-Cuvée von vor zwei Jahren ist jetzt schön ausgereift.«
Während Manu Röder mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, lamentierte der einmal mehr über die wenige Zeit, die ihm bei seinem derzeitigen Arbeitspensum für Sport blieb. Unterdessen ging Hellinger zu einer Reihe von Fässern auf der anderen Seite des Raumes, öffnete das Spundloch des obersten Fasses und zog mit der riesigen Pipette eine ordentliche Portion Rotwein, die er auf drei langstielige Weingläser verteilte. »So, jetzt probiert den mal.«
Röder und Manu beendeten ihr Geplänkel, schwenkten und prüften die Farbe des Weines, bevor sie ihn probierten.
Hellinger hatte seine Kreation »Roter Teufel« genannt, nach dem »Roten Baron« Manfred Freiherr von Richthofen. Die Idee, eine seiner bordeauxähnlichen Cuvées nach dem berühmt-berüchtigten Flieger zu benennen, war ihm vor ein paar Jahren gemeinsam mit Röder gekommen, nachdem er seinen nagelneuen Ultraleicht-Doppeldecker auf diesen Namen getauft und später unter dramatischen Umständen zu Schrott geflogen hatte.
»Ein intensiver Geschmack nach Brombeere und vielleicht auch ein wenig Vanille«, begann Röder. »Ich würde sagen, der Dornfelder dominiert, das Weiche kommt vom Regent. Die Süße liefert der Portugieser, und ich tippe auf wenigstens dreizehn Umdrehungen.« Er nahm einen weiteren großen Schluck und blickte triumphierend zuerst zu Manu und dann zu Hellinger.
»Na ja, so ähnlich«, sagte Hellinger und dehnte das letzte Wort. »Was ist deine Meinung, Manu?«
Manu hielt das Glas gegen die weiß getünchte Wand und schaute sich die Farbe des obersten Millimeters sowie die langsam herabfließenden Tränen genau an. »Man sieht, dass der Wein noch keine drei Jahre alt ist.« Dann roch sie zum wiederholten Male am Glas und sagte: »Er hat starke Aromen. Spritzig, bissig und sehr nobel.«
»Sehr gut«, sagte Hellinger lächelnd. »Mach weiter.«
Manu hielt das Glas am langen Stiel und schwenkte es kräftig, wodurch sich die Geruchsaromen verstärkten und sich laut Theorie andere Duftnoten bemerkbar machen sollten. »Gut, dass ich mir noch nicht die Hände eingecremt habe, denn die Duftstoffe versauen die olfaktorische Wahrnehmung ungemein.«
Hellinger nickte anerkennend.
»Die Rote Johannisbeere dominiert…« Sie schlürfte einen winzigen Schluck und ergänzte: »Aber da ist auch noch Kirsche und vielleicht etwas Erdbeere zu schmecken.«
»Sehr gut, du bist ein echter Profi«, lobte Hellinger.
»Der Geschmack ist sehr ausgewogen, und die Säure zergeht fein auf der Zunge.« Manu nahm noch einen Schluck und wartete. »Der Abgang ist intensiv und wunderbar lang. Kurzum: Der Wein ist ein Meisterwerk, eine absolute Köstlichkeit. Wegen seines minimalen, aber großartig erdigen Geschmacks ist er eindeutig ein Produkt des Pfälzer Edelwinzers Hellinger, und das Feuerwerk der Aromen spricht für eine Cuvée aus mindestens fünfzig Prozent Cabernet Sauvignon und dreißig Prozent Cabernet Franc. Der Rest ist Merlot und ein wenig Portugieser. Sehr aufwendig in der Herstellung und von dem besten Kellermeister in der ganzen Umgebung zusammengestellt. So etwas bekommt man nicht alle Tage.«
»Wow, ich stelle dich sofort als Sommelière ein!«, rief Hellinger begeistert und gab Manu einen dicken Kuss auf den Mund. »So toll kann kaum jemand meine göttlichen Kreationen beschreiben.«
Manu lächelte, und Röder staunte mit offenem Mund.
»Übrigens hat dein Mann den ›Roten Teufel‹ schon mal als Kopfweh-Cuvée bezeichnet.«
»Dieser Banause«, sagte Manu entrüstet.
»Ich bin halt eher ein Weißweintrinker«, meinte Röder kleinlaut.
»Ich packe euch jetzt mal die Kiste für Weihnachten. Ihr werdet darin auch ein paar Flaschen von der Konkurrenz finden. Aber auf alle Fälle fülle ich euch noch zwei Flaschen ›Roter Teufel‹ für Manu ab.«
»Tu das, Achim, unbedingt. Übrigens haben Linda und ich beschlossen, heute Abend mit euch nach Bobenheim auf den Weihnachtsmarkt zu gehen«, rief Manu Hellinger hinterher, der bereits im angrenzenden Keller verschwand.
»Bin dabei«, antwortete er.
»Aber ich wollte doch anfangen, das Zimmer zu renovieren. Ich könnte für morgen schon mal alles abkleben«, sagte Röder.
»Papperlapapp. Heute gehen wir auf den Weihnachtsmarkt. Es ist gutes Wetter, und der Bobenheimer Belzenickelmarkt ist einer der schönsten hier in der Umgebung. Viele urige Stände und noch nicht kommerziell versaut. Ich weiß gar nicht, vor wie vielen Jahren wir das letzte Mal dort gewesen sind. Abkleben kannst du auch noch morgen, und über das Zimmer müssen wir sowieso noch einmal sprechen.«
»Was gibt’s denn da noch zu besprechen? Das Zimmer wird mein Arbeitszimmer. Du kannst es auch gern jederzeit benutzen.«
»Aber natürlich, mein Schatz, danke. Da bin ich ganz deiner Meinung.« Manu lächelte Röder an und klimperte mit den Augenlidern. Irgendetwas tief in Röders Innerem wurde misstrauisch. Dann sagte Manu: »Komm, gib mir einen Kuss«, und Röder kam dieser Aufforderung nur zu gern nach.
***
Röder war auf der Heimfahrt nicht ganz bei der Sache, denn eine Frage ließ ihn nicht in Ruhe: »Hey, Schatz, ich war ja total beeindruckt von deinen Weinkenntnissen. Hast du etwa heimlich geübt und den Gault-Millau auswendig gelernt oder eine Sommelier-Ausbildung gemacht? Das Weinseminar, das wir mal zusammen besucht haben, ist immerhin schon eine Weile her. Ich wusste echt nicht, dass du das so draufhast und dann noch die Rebsorten kennst.«
»Tja, gelernt ist gelernt«, antwortete Manu. »Wenn du möchtest, gebe ich dir heute Abend eine kleine Lektion, wenn wir die erste Flasche öffnen.«
Röder lächelte und versuchte, sich die Lektion bildlich vorzustellen, während er das Auto auf sein Grundstück lenkte– und heftig erschrak. Seine Mutter stand im Vorgarten und hantierte mit einem Spaten. Sie trug unter der Gärtnerschürze offensichtlich nur Unterwäsche.
»Um Gottes willen, Mutter, was machst du denn da? Und wie bist du angezogen? Wir haben Dezember, es ist saukalt.«
»Ach, da sind ja mein Sohn und seine feine Frau. Ich mache mal wieder eure Arbeit, das Gemüsebeet muss bepflanzt werden.«
»Mutter, das ist nicht das Gemüsebeet, hier im Vorgarten haben wir nur Blumen und Rosen, und du holst dir den Tod.«
»So ein Quatsch, Gartenarbeit hält fit und gesund. Jetzt ist die beste Zeit, um Möhren und Spinat auszusäen«, erklärte Röders Mutter voller Überzeugung. Sie war Mitte achtzig und hatte seit ein paar Jahren Alzheimer. Ihre Krankheit stagnierte glücklicherweise gerade, und sie hatte immer wieder lichte Phasen, aber Röder wusste, dass es jederzeit steil bergab mit ihr gehen konnte.
Manu kam mit einer Decke aus dem Haus gelaufen und legte sie ihrer Schwiegermutter um die Schultern. Dabei redete sie einfühlsam auf sie ein. Obwohl Röders Mutter schon immer stur gewesen war, was sich mit ihrer Krankheit noch verstärkt hatte, gelang es Manu, sie ins Haus zurückzubegleiten. Röder seufzte, und während Manu seine Mutter in der Erdgeschosswohnung versorgte, stieg er die Stufen zu ihrem Reich hinauf. Als er die Tür aufschloss, lag Lotte, ihre Golden-Retriever-Hündin, winselnd vor der Tür.
»Ach du meine Güte. Lotte, du alter Kojote, war denn niemand mit dir Gassi?«
***
Röder hatte seine Einkäufe aus dem Baumarkt verstaut, und er wusste seine Mutter und den Hund versorgt. Schimpfend war er es gewesen, der mit dem Hund in den Weinbergen den gewohnten Rundgang machte, denn beide noch zu Hause wohnenden Töchter glänzten durch gut begründete Abwesenheit. Felicitas, die nach einigen schulischen Umwegen kurz vor dem Abitur stand, hatte sich mit Freundinnen zum gemeinsamen Lernen getroffen. Laura, die Jüngste, die gerade voll die Pubertät erlebte, bestritt das letzte Hallen-Hockey-Freundschaftsspiel für das laufende Jahr. Röder saß entspannt in seinem Fernsehsessel und wartete auf Manu, die sich zum Ausgehen fertig machte.
»Schläfst du schon?«, fragte Manu, als sie ins Wohnzimmer kam und Röder eine Rieslingschorle im Dubbeglas vor die Nase hielt.
»Ich bin nur kurz eingenickt, während ich auf dich gewartet habe«, antwortete Röder und nahm dankbar das Glas entgegen.
»Ja, jetzt lass uns mal auf die Adventszeit anstoßen, denn du hast vorhin einen ziemlich unentspannten Eindruck gemacht.«
»Wieso unentspannt? Mir geht es gut.«
»Dann stoß endlich mit mir an«, sagte Manu, und Röder folgte. »Ich weiß, dass du in den letzten Wochen viel Arbeit und Stress gehabt hast, aber die Zeit der Besinnung hat begonnen.«
»Du bist gut. Ich habe an die tausend Fälle auf dem Tisch liegen, die ganze Abteilung rotiert, denn leider hören die Pfälzer nicht auf, sich gegenseitig umzubringen. Dann muss ich noch das Haus renovieren und meine Mutter, die Kinder und den Hund versorgen. Ich habe leider nur vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung.«
»Deswegen freuen wir uns über die besinnliche Adventszeit. Und darüber, dass wir sie länger genießen dürfen als andere. Denn wie du weißt, hat der Advent in der Pfalz fünf Wochenenden. Das muss selbst der Oberstaatsanwalt anerkennen«, sagte Manu, aber Röder blickte verständnislos, deshalb hakte sie nach: »Wo waren wir letzte Woche?«
»Beim Weingut Fluch-Gaul in Sausenheim. Es war so warm, dass ich eine Schorle hatte, aber du hast trotzdem Glühwein getrunken.«
»Na, siehst du. Die machen die Adventsausstellung schon eine Woche früher. Quasi erster Advent minus eins. In der Summe ergibt das fünf Pfälzer Adventswochenenden.«
»Schatz«, sagte Röder, der endlich verstanden hatte und einen großen Schluck Schorle zu sich nahm, »wenn ich darüber nachdenke, kann ich dir nur recht geben.«
»Schön, dass du das einsiehst. Du musst mir immer nur recht geben.«
»Na klar«, sagte Röder, dessen Stimmung sich besserte. »Aber du musst mich noch in die Geheimnisse einer Sommelière einweihen.«
»Später, mein Liebster. Heute stehen erst einmal die Weihnachtsmärkte im Vordergrund.«
***
Röder parkte seinen alten Mercedes-Kombi in den Weinbergen vor Bobenheim. Hier standen überall Autos, denn alle offiziellen Parkplätze waren belegt. In Weisenheim am Berg, dem Nachbardorf, gab es seit einigen Jahren ein Parkleitsystem, das einer Großstadt zur Ehre gereicht hätte. Viele Besucher des Belzenickelmarktes parkten bereits dort und spazierten durch die Weinberge nach Bobenheim.
Der Markt fand immer am ersten Advent statt und war daher stets einer der ersten, auf alle Fälle aber einer der traditionellsten Weihnachtsmärkte in der Region. Er war nach der urpfälzischen Version des Weihnachtmannes, dem Belzenickel, benannt. Der Pfälzer Auswanderer Thomas Nast, der vor über einhundertfünfzig Jahren als Karikaturist in den Vereinigten Staaten lebte und arbeitete, hatte, inspiriert durch die Eindrücke seiner Jugend, einen alten, mit Pelzmantel bekleideten Mann mit weißem Rauschebart gezeichnet, der von seinem Schlitten herab Bürgerkriegssoldaten beschenkte, und damit den Weihnachtsmann, den amerikanischen Santa Claus, erfunden und in aller Welt berühmt gemacht.
In diesem Jahr animierte das trockene, kalte Wetter besonders viele Menschen, den Belzenickelmarkt zu besuchen, und so schoben sich Röder und Manu durch die Menge in der Leininger Straße, die jetzt für den Verkehr gesperrt war. Obwohl ihnen verführerischer Glühwein- und Waffelduft entgegenschlug, ließen sie den Hof mit dem Ausschank der Pfadfinder und den Stand des Roten Kreuzes rechts liegen und passierten auch die Stände mit Weihnachtsschmuck und die alte Schmiede, weil sie sich beim Ausschank des Bürgervereins mit Hellinger und Linda verabredet hatten. Der Ausschank war der inoffizielle Mittelpunkt des Weihnachtsmarktes, er stand zwischen der Kirche und dem Bürgerkeller.
Hellinger war noch nicht da, und Röder arbeitete sich zur Theke vor, wo er zwei Becher Glühwein bestellte. Er kannte den Vorsitzenden des Bürgervereins, mit dem er ein paar Worte wechselte, bevor er die die gut gefüllten Tassen sicher zu Manu balancierte.
»In die alte Schmiede und in die Chocolaterie müssen wir aber schon noch gehen«, sagte sie, als sie an ihrem Glühwein nippte.
»Wir sind doch eben erst gekommen, und du weißt, mit dir zusammen gehe ich überallhin.«
Röder musste den Flirt mit seiner Frau unterbrechen, denn Hellinger und Linda tauchten aus der Menge auf.
»Das ist aber sehr tamasig, was ihr da trinkt«, meinte Linda, nachdem sie sich alle mit Küsschen begrüßt hatten.
»Tamasig?«, fragte Röder.
»Ich geh mal was zu trinken holen«, verkündete Hellinger mit einem leicht genervten Unterton in der Stimme.
»Ja, das ist das Dunkle und Bremsende der drei Gunas«, erklärte Linda, und Röder blinzelte verständnislos, während Manu an ihren Lippen zu kleben schien. »Nach der ayurvedischen Lehre werden Lebensmittel in die drei Gunas aufgeteilt. Sattva, Rajas und Tamas. Tamas steht dabei für Nahrungsmittel, die das Gleichgewicht im Körper ungünstig verschieben und so unserer Gesundheit schaden.«
»Aha.«
»Alkohol gehört genauso dazu wie Junkfood oder Fertiggerichte und natürlich das ganze fettige Zeugs wie Chips, Pommes und Süßkram. Eine solche Ernährung kann deine geistige, emotionale und spirituelle Gesundheit komplett durcheinanderbringen.«
»Das heißt, ich bin spirituell nicht ganz gesund, denn hier im Glühwein sind Alkohol und Zucker«, meinte Röder provokant.
Linda schaute Röder ernst an und erwiderte: »Tamasige Menschen sind negativ, egoistisch und ignorant. Du hast mal wieder nichts verstanden, wie damals in der Schule.«
Röder wollte etwas Patziges antworten, aber Hellinger kam just in diesem Augenblick vom Glühweinstand zurück. Er hatte das Ende des Gesprächs mitbekommen und verdrehte, für Linda unsichtbar, die Augen. »Hier ist dein Kinderpunsch«, sagte er und stellte die Tasse vor Linda ab. »Aller donn, broscht!« Hellinger stieß mit Röder an und hob die Tasse dann in Richtung der beiden Frauen.
»Aber im Kinderpunsch ist doch auch Zucker«, bemerkte Manu, und Linda nickte.
»Klar, ein Ingwertee wäre besser, aber ich gehe mal davon aus, dass hier nur Fruchtzucker drin ist. So denke ich, dass dies nur Rajas ist, und so etwas kann man sich ab und an gönnen.«
»Wisst ihr was, Jungs? Ihr könnt euch meinen Glühwein teilen, ich hole mir jetzt auch einen Kinderpunsch«, sagte Manu, und Linda blickte anerkennend.
Nach Manus Rückkehr an den Tisch vertieften sich die beiden Frauen in ein angeregtes Gespräch. Röder hörte Wortfetzen wie: »…im Einklang mit sich selbst und der inneren Natur… Lebensenergien, den Doshas… Vata, Pitta und Kapha…«
»Was ist denn in Linda gefahren?«, fragte er Hellinger konsterniert. »Die hat doch früher auch immer ganz schön was weggeputzt.«
»Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist, aber seit zwei, drei Wochen ist es ganz schlimm. Angefangen hat es mit den Yogakursen, die ich ja noch ganz gut finde, aber der ganze esoterische Kram geht mir auf den Sack.«
»Vor allem der Ernährungsquatsch«, pflichtete Röder ihm bei. »Ein guter Schoppen hat noch niemandem geschadet.«
»Genau.«
»Ihr könnt ja noch weitersaufen. Manu und ich gehen mal in den Bürgerkeller, da ist ein Stand mit hinduistischer Kunst.«
»Ja, geht nur, Mädels. Ihr findet uns hier oder im ›Belzenickelhof‹«, antwortete Hellinger.
Als die beiden Frauen entschwunden waren, fragte Röder: »Wo ist denn der ›Belzenickelhof‹?«
»Der ist weiter oben. Das ist der Ausschank der freiwilligen Feuerwehr und mein Treffpunkt mit Max. Die Eltern der Freunde, mit denen er gerade durch die Gegend zieht, haben dort Dienst.«
Röder und Hellinger tranken jeder noch einen Glühwein. Dann gaben sie die Pfandtassen ab und schlenderten die Straße hoch.
»Weißt du, wen ich vorhin getroffen habe?«
»Keine Ahnung«, antwortete Röder.
»Den Hasbach. Er ist mir unten auf der Hauptstraße begegnet, als wir angekommen sind.«
Röder kannte Dr.Hasbach, einen bekannten hiesigen Wirtschaftsexperten, flüchtig. Privat hatten sie nichts miteinander zu tun, aber er gehörte zur lokalen Prominenz. Der Professor an der Wirtschaftshochschule in Worms galt als ausgewiesener Experte für Insolvenzrecht und hatte in der Vergangenheit schon oft für positive Schlagzeilen gesorgt, weil er traditionsreiche Pfälzer Unternehmen vor dem sicheren Untergang bewahren konnte. Allerdings erinnerte sich Röder auch sehr gut an den heftigen Eklat, zu dem es im Oktober gekommen war.
Hellinger hatte an seinem fünfzigsten Geburtstag ein zünftiges Weinfest in seinem Hof veranstaltet. Neben einem Sekt- und einem Weinstand hatte er zwei Essensstände aufbauen lassen. Der eine wurde von Vito, seinem Lieblingsitaliener aus Grünstadt, betrieben, der die Feiernden mit Pizzen und mit Nudel- und Fleischgerichten versorgte. Gehobene kulinarische Ansprüche wurden von einer Crew des »Cheval Blanc« in Niedersteinbach im Elsass befriedigt. An ihrem Stand gab es Austern, Foie gras, gefüllte Wachteln, Vogesenforellen und andere Spezialitäten. Hellinger belieferte das »Cheval Blanc« schon seit Jahren mit seinen Weinen und hatte sich mit den Eigentümern angefreundet.
Eine alte Freundin von Hellinger war in Begleitung von Dr.Hasbach erschienen, und es war zu einem unangenehmen Zwischenfall gekommen, als sich Hasbach lautstark mit einer der Servicekräfte vom »Cheval Blanc« zu streiten begann. Die Auseinandersetzung gipfelte darin, dass die Frau alles stehen und liegen ließ und den Rest des Tages nicht mehr gesehen wurde. Auf die Gründe des Streits angesprochen, hüllte sich Hasbach in Schweigen. Zum Glück war die Stimmung nur kurz getrübt, denn die von Hellinger engagierte Band spielte schnell wieder zum Tanz auf.
Sie erreichten den Ausschank der freiwilligen Feuerwehr, während des Weihnachtsmarktes »Belzenickelhof« genannt, und Röder reihte sich in die Schlange für den Glühwein ein, während Hellinger zwei Bratwurstbrötchen besorgte. Mit ihren Brötchen in der einen und dem Glühwein in der anderen Hand standen sie vor einem kleinen Zierteich, in dessen Mitte ein Buddha mit roter Nikolausmütze thronte.
Röder zückte sogleich sein Smartphone. »Davon muss ich doch glatt ein Foto für Linda machen.«
»Lieber nicht, die fühlt sich sonst veräppelt«, sagte Hellinger.
»Jedenfalls ist jetzt nicht nur das Getränk tamasig, sondern auch das Essen.«
»Deswegen schmeckt es ja so gut«, meinte Hellinger und stieß mit Röder an.
Sie unterhielten sich noch eine Weile über Röders Mutter und ihre Wunderlichkeiten, dann wurden sie von Hellingers Sohn unterbrochen.
»Papa, Papa!« Max, der mit seinen Freunden den Weihnachtsmarkt unsicher gemacht hatte, kam aufgeregt auf sie zugerannt.
»Was is donn los, moi Kleener?«, fragte Hellinger. Er stellte seinen Glühwein auf ein Weinfass, das als Bistrotisch diente, und Max sprang ihm in die Arme.
»Papa, de Belzenickel is dod.«
»Ach, was de net verzählschd.« Hellinger grinste belustigt.
»Doch, Papa, glaab mer’s: De Belzenickel is dod!«
»Klar, moi Kleener. Morje steht aa in de ›Bild‹-Zeidung: ›Aus für Weihnachten– Josef gesteht alles.‹«
»Ach Vadder, du glaabscht mer widder nix. Loss misch runner, vielleischd glaabd mer jo de Unkel Ben.« Max sprang zappelnd auf den Boden und zog nun an Röders Hosenbein. »Unkel Ben, du glaabschd mer doch, odder? Du bischd doch so ebbes wie ä Bolizischd.«
»Jo, des kemmer so sache«, meinte Röder lächelnd. »Wo hoschd du denn de Belzenickel gsehe?«
»Ei, do hinne leid er«, sagte Max und deutete die Straße hinauf.
»Ei, donn geh mer mol hie.« Röder nahm Max an der Hand und wandte sich an Hellinger: »Bass emol uff de Gliewoi uff. Mer sin glei widder zurick.«
»Beeile eisch, sunnscht werd der Gliewoi kalt. Wahschoin’s hot der Belzenickel nur zu viel vunn dem Zeich krieht. Des verdrahd net jeder.«
Max zog Röder gegen den anschwellenden Strom der Besucher die Straße hoch und blieb vor einem alten Hoftor aus Stahlblech stehen. »Hinner dem Dor leid er.«
»Wie, hinner dem Dor?«
»Ei, du musschd schunn riwwerkrawwele.«
»Was, riwwerkrawwele?«
»Ei jo. Sunnschd sieschd ’ne jo net.«
»Unn wie bischd du do noikumme?«
»Ei, des Haus schtehd doch leer, unn die Kollesche unn isch sinn do noi.«
»Unn wo sinn doi Kollesch jetztert?«, fragte Röder und spähte über das halbhohe Tor in den dahinterliegenden Hof.
»Ei, fort. Die henn Ongschd krieht.«
»Unn du bischd sischer, dass do hinnedro ä doder Belzenickel leid?«
»Hunnertpro. Jetzert geh schunn gucke.«
Röder seufzte und stemmte sich am Tor hoch. Er hatte ein Bein auf der anderen Seite, als ihn ein Mann an der Schulter packte.
»He, Sie. Wollen Sie da etwa einbrechen? Dann rufe ich jetzt die Polizei.«
»De Unkel Ben is vunn de Bolizei, unn do hinne leid ä doder Belzenickel«, rief Max, und in Windeseile bildete sich vor dem Tor eine kleine Menschentraube.
»Ich will gerade nachschauen«, sagte Röder und schwang sich vollends über das Tor.
Er musste nur zwei Schritte weit gehen, dann konnte er einen Schatten am Boden ausmachen. Zweifellos die Umrisse eines erwachsenen Mannes. Ein bauschiger weißer Kunstbart leuchtete schwach in der Dunkelheit.