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Mit diesen zwei aufregenden Novellen in einem Buch liefert Bestsellerautorin Chloe Gong ihren Fans lang ersehntes Bonusmaterial zu ihren Lieblingscharakteren. Was macht man, wenn man für tot gehalten wird? Roma und Juliette sind in Zhouzhuang, als sie plötzlich von den im Umland auftauchenden Leichen russischer Mädchen erfahren und kurzerhand beschließen, dem mysteriösen Fall gemeinsam nachzugehen. Der Fall bringt sie nicht nur näher zusammen, sondern ist auch näher an ihnen dran, als ihnen lieb ist. Benedikt und Marshall sind dabei, den Wissenschaftler Lourens zu finden und nach Zhouzhuang zu bringen. Auf ihrer Zugfahrt ereignet sich ein Mord, doch unter Zeitdruck geben sie selbst vor, als Ermittler der Sache auf den Grund zu gehen. Doch möglicherweise finden sie mehr heraus, als sie jemals erwartet hätten …
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CHLOE GONG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
1. Auflage 2024
© 2024 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing Division unter dem Titel Last Violent Call. © 2023 by Chloe Gong. All rights reserved.
Published by Arrangement with TRIADA US, INC., Sewickley, PA 15143 USA.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Carolin Moser
Redaktion: Sabrina Cremer
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, dem Original nachempfunden
Umschlagabbildung: © 2023 by Janice Sung
Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95761-241-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-374-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-375-1
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www.lago-verlag.de
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Welch elende Angelegenheit
1: September 1931
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Welch elender Mord
1: Januar 1932
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Für Juliette und Roma
Zweimal Klopfen bedeutete »Die Luft ist rein« und dreimal Klopfen »Dorogaya, um Himmels willen, ich habe keine Hand frei«. Dieses System hatten sie eingeführt, da Juliette Cai die schlechte Angewohnheit hatte, sich auf ihren Ehemann zu stürzen, wenn er durch die Haustür kam, selbst wenn er bloß ein paar Stunden weg gewesen war, um Einkäufe zu tätigen. Nur eine Kombination aus Glück und Geschicklichkeit hatte es Roma einmal erlaubt, sie mit einer Hand aufzufangen, ohne die Tüten Birnen in seiner anderen Hand fallen zu lassen.
Draußen näherten sich Schritte. In der Küche schlug die sonnenblumenförmige Uhr vier Uhr nachmittags. Roma hatte diese Zeit für seine Rückkehr veranschlagt. Er war nur in die nächste Kleinstadt gefahren.
Doch als Juliette von ihrem Schreibtisch aufsah, schob sie nicht schnell ihren Stuhl zurück, um auf Romas Klopfen zu warten. Sie bewohnten eines der wenigen niedrigen Wohnhäuser in Zhouzhuang, die sich an den Rand des schmalen Kanals pressten. Manchmal erwachte Juliette am Morgen vom Echo des plätschernden Wassers, wenn Boote die Durchgangsstraße benutzten. Dann tappte sie in Nachtwäsche nach draußen, wo die Sonne gerade erst über die Häuser am anderen Kanalufer spähte, die Keramikziegel der Dächer in zartes Gold getaucht waren und die Wölbungen von den Spiegelungen des träge strömenden Wassers erhellt wurden. Zwitschernde Vögel und anregende Luft, verstärkt durch die absolute Ruhe des Orts zu dieser Stunde.
Doch ihr Haus war auch das einzige am Rande des letzten Kanals, bevor alles zu Wasser und feuchtem Wald wurde. Die Ortsmitte bestand aus einer Reihe Häuser, deren Türen meist offen standen und wo Nachbarn plauderten. Dagegen überquerte selten jemand die hohe Steinbrücke, um den äußeren Weg zu nehmen, sofern er sich nicht dem Haus nähern wollte, das sich neben die Trauerweide duckte. Dessen Fenster waren mit kugelsicherem Glas ausgestattet und es hieß, dass dort ehemalige Bandenmitglieder aus der Stadt wohnten.
Als Juliette jemanden an der Hauswand entlangschlurfen hörte, zog sie das Messer aus der Scheide an ihrem Bein, marschierte zur Tür und stieß sie auf.
Dem Fremden blieb kaum eine Sekunde Zeit, um zusammenzuzucken, bevor sie die Klinge auf seine Kehle richtete.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du hinter mir bleiben sollst. Ich sollte dich von meiner Frau in Stücke schneiden lassen, allein dafür, dass du ein solcher Plagegeist bist.«
Die Stimme kam aus einiger Entfernung, wo eine Gestalt die Kanalbrücke überquerte, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte zu sprechen begonnen, lange bevor er die Szene sehen konnte. Denn Roma Montagow wusste, dass Juliette ihn am Klang seiner Schritte erkennen konnte und es nicht gut aufnehmen würde, wenn sie eine andere Person vor dem Haus hörte.
Roma sprang von der Brücke, kam herüber und tippte Juliettes Ellbogen an, als er nahe genug war. »Glücklicherweise ist sie ach so friedliebend und gutwillig.«
Juliette war gnädig, zog ihre Klinge zurück und schenkte dem Fremden ein Lächeln. Er wirkte jung, nicht älter als siebzehn, und trug ein graues Oberteil, das feiner war als das, was sie für gewöhnlich in dieser Gegend sah.
»Tee?«, fragte sie.
»O mein Gott«, flüsterte der Junge, die Augen entsetzt aufgerissen. »Sie hätten mich beinahe getötet.«
»Falsch.« Juliette war bereits wieder im Haus und drehte die Papiere auf ihrem Tisch um. Sie ging weiter in die Küche und schob mit dem Fuß ein Holzscheit aus dem Weg, sodass es näher am kalten Kamin lag. Routiniert stellte sie den Wasserkocher auf den Herd und holte drei Tassen aus dem Schrank, die sie auf dem blau lackierten Tisch aufreihte. »Du wärst schon längst tot, wenn ich dich umbringen wollte.«
Roma schob den Besucher in die Küche. Er zog einen Stuhl vom Esstisch heran und der Junge fiel schwer hinein. Als der Wasserkocher pfiff, holte Juliette das kochende Wasser vom Herd, während Roma nach den Teeblättern auf der Ablage griff. Er ließ sie von links in die Tassen fallen, während sie von rechts eingoss, sodass sie sich in der Mitte trafen, wo Roma sich vorlehnte und sie auf die Wange küsste.
»Hattest du drei schöne Tage ohne mich?«, fragte er auf Russisch. Der Junge am anderen Tischende schwieg, doch richtete sich neugierig auf. Er schien Roma nicht zu verstehen, doch gab sein Bestes, der Unterhaltung trotz allem zu folgen.
»Ich habe vor Langeweile den Verstand verloren«, erwiderte Juliette, ebenfalls auf Russisch. »Ich glaube, ich hatte innerhalb von fünf Stunden die gesamte Buchhaltung erledigt und deine Socken geordnet.«
Roma unterdrückte ein Lächeln. Er versuchte, vor dem Jungen ernst zu bleiben. Er hasste es, vor Fremden Humor zu zeigen. Weshalb Juliette es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihn absichtlich zu triezen.
»Das tut mir schrecklich leid. Wir müssen dir nächstes Mal mehr Arbeit besorgen.« Er zog ihr ebenfalls einen Stuhl heraus, dann nahm er ihr den Wasserkocher ab und stellte ihn wieder auf den Herd. »Wir können deinen Verstand nicht an Socken verschwenden.«
In den Jahren, seit sie ihr Geschäft aufgenommen hatten – sofern man einen illegalen Waffenring als Geschäft bezeichnen konnte –, trafen Juliette und Roma ihre Kontakte für gewöhnlich gemeinsam, huschten mit einer Tasche aus dem Haus und stiegen in ihr Auto, als wäre jede Fahrt über die Ortsgrenze hinaus ein großes Abenteuer. Doch dieses Mal hatte ein Zulieferer sie am selben Tag treffen wollen, an dem eine Sendung aus der Stadt eintraf, daher war Juliette zu Hause geblieben, um sicherzustellen, dass die Liefermenge stimmte, während Roma zu dem Treffen gefahren war. Er konnte ohnehin besser verhandeln, daher überließ sie ihm gern das Reden. Laut einem Mann, mit dem sie nicht mehr zusammenarbeiteten, war Juliette »furchterregend« und hatte »einen Hang dazu, Drohungen auszusprechen«.
Er hatte nicht per se falschgelegen, doch das machte ihn nicht höflicher.
»Sockenordnen war nicht so schlimm, sobald ich den Dreh heraushatte«, sagte Juliette. »Mir war nicht klar, dass du so große Füße hast.«
Roma verschluckte sich an seinem Tee. Schnell stellte er seine Tasse ab, bevor er etwas verschütten konnte, und hustete einmal. Juliette griff mit unschuldigem Blick nach ihrer eigenen Tasse und trank einen Schluck.
»Dich wird freuen, zu hören, dass auch ich keine besonders spannende Zeit hatte«, erwiderte er, als er sich erholt hatte. Zu seinem Glück hatte er das Husten überspielen können. »Bis sich auf dem Rückweg Julun hier vor das Auto warf.«
Der Junge horchte bei der Erwähnung seines Namens auf. Er wusste nun, dass sich die Unterhaltung um ihn drehte.
»Ich hatte mich schon gefragt, warum du einen Streuner aufgelesen hast.« Juliette sprach nun wieder Chinesisch und streckte Julun die Hand hin. Sie brachten so gut wie nie jemanden in ihr Haus, daher musste es sich hier um etwas anderes handeln als die übliche Klientel. »Ich bin Mrs. Mai.«
Mai. Die einfachste Kombination von Cai und Montagow, vielleicht der am wenigsten originelle Versuch in der Geschichte der Neuanfänge und der Verwendung eines Decknamens. Roma und Juliette waren bereits zu oft wegen der Frage aneinandergeraten, wessen Nachname bei einem Doppelnamen zuerst genannt würde. Nicht, weil jeder mit dem eigenen beginnen wollte, sondern gerade andersherum. Juliette wollte eine Montagow sein. Roma bestand darauf, dass dieser Name zu viel Ballast mit sich brachte. Ihr gefiel der Klang von Juliette Montagowa, denn es war sein Name und allein das zählte. Doch in Zhouzhuang war ein chinesischer Name unauffälliger. Romas Gesichtszüge ließen ihn als Halbchinesen durchgehen und ansonsten würden noch mehr Leute über ihre Identität argwöhnen und darüber, wovor sie davonliefen.
»Mai tàitài«, sprach Julun sie höflich an und schüttelte ihr die Hand. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich nehme an, dass Sie hier die Entscheidungen treffen. Bitte.«
Juliette warf Roma einen Blick zu. »Hast du das gehört? Er denkt, dass ich das Sagen habe.«
»Tu nicht so schockiert.« Roma legte den Arm um die Rücklehne ihres Stuhls. Er riss einen der losen Fäden von ihrem Kleid. Seit ihrer Flucht aus Shanghai war ihre Garderobe deutlich unauffälliger geworden, doch Juliettes Definition von unauffällig schloss komplexe Stickereien ein. Roma wandte sich wieder Julun zu und sagte: »Erzähl ihr, was du mir erzählt hast.«
Julun zögerte und rutschte auf seinem Sitz vor. Die Stuhlbeine kratzten quietschend über die Dielen.
»Ich habe gehört, dass Sie diejenigen sind, zu denen man kommt, wenn man Waffen braucht. Ich … ich will welche kaufen, aber habe nicht die nötigen Mittel.« Er sah in seinen Schoß hinab. »Ich hatte gehofft, Ihnen eine Art Tausch anbieten zu können. Ich bin ein wirklich guter Bote.«
Juliette blinzelte und sah ihn neugierig an. Eine Strähne fiel ihr in die Augen. Sie wollte sie sich aus dem Gesicht pusten, doch ihre Haare waren inzwischen zu lang dafür, fielen ihr über die Schultern, wodurch sie sich die Strähne nur an die Wange klebte.
»Wir stellen im Moment niemanden ein.« Sie spürte, wie Roma ihr mit dem Finger über den Arm strich, die Berührung gelassen, eher ein Instinkt als eine bewusste Handlung. Die Stille zog sich hin. Juliette schüttelte ihre Haare zurecht. »Aber ich will wissen, warum du Waffen kaufen willst. Du gehörst nicht zu unserer üblichen Klientel.«
Julun warf Roma einen Blick zu. Er musste sein Geheimnis bereits preisgegeben haben, wenn Roma gewillt gewesen war, ihn herzubringen, um Juliettes Meinung zu hören.
»Meine Verlobte wird bedroht.«
Ah. Juliette seufzte leise und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Natürlich würde etwas in der Art bei Roma Mitgefühl wecken. Er und sein weiches Herz. Sie liebte ihn so sehr, dass es wehtat.
»Sie ist nicht von hier«, fuhr Julun fort. »Sie floh vor drei Jahren aus Wladiwostok und kam nach Shanghai, bevor sie sich weiter ins Landesinnere begab.« Er griff in seine Hosentasche und zog ein Bild heraus.
Offensichtlich hatte Roma es noch nicht gesehen, denn er lehnte sich ebenfalls vor und zuckte sofort überrascht zusammen. Seine Reaktion war kaum wahrnehmbar, doch seine Hand lag noch auf Juliettes Arm und sie fühlte seine Anspannung wie ihre eigene.
Juluns Verlobte sah aus wie Alisa, Romas kleine Schwester.
Es gab genug Unterschiede, die deutlich zeigten, dass es sich um jemand anderen handelte, doch auf den ersten Blick hätte Juliette sie verwechseln können, von den blonden Locken bis zu den tief liegenden dunklen Augen mit den Lachfältchen.
»Ich bin alles, was sie hat«, schloss Julun leise. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Wenn nicht mit Waffen, dann …« Der Junge verstummte. Anschließend sanken seine Schultern herab, seine ganze Kraft verließ ihn. »Jemand aus ihrer Vergangenheit kontaktiert sie immer noch. Wenn Waffen keine Option sind, hatte ich gehofft, Ihren Schutz kaufen zu können.«
Roma sah endlich von dem Foto auf, eine Braue hochgezogen.
»Das hast du auf der Fahrt nicht erwähnt.« Er klang verdutzt. »Welche Art von Schutz könnten wir bieten? Wir führen ein kleines Unternehmen, keine Sicherheitstruppe.«
Julun schluckte schwer. Er griff wieder in seine Hosentasche. Dieses Mal zog er etwas heraus, das ein Zeitungsausschnitt zu sein schien.
»Sie boten einst Schutz an, nicht wahr?« Langsam entfaltete er das Blatt. Zuerst kamen zwei Porträts zum Vorschein, dann die Überschrift in Großdruck darüber:
In Erinnerung an die unglücklichen Liebenden von Shanghai
Juliette Cai & Roma Montagow
1907 – 1927
»Juliette Cai und Roma Montagow, Erbin der Scarlet Gang und Erbe der White Flowers, die Kinder sich befehdender Familien, in einen blutigen Krieg hineingeboren, die allem trotzen, um den Teufelskreis zu durchbrechen und zusammen zu sein.« Julun sprach jedes der Worte mit Nachdruck aus. Als hätte er sie vor langer Zeit gehört und sagte sie jetzt aus dem Gedächtnis auf. »Ich hatte gehofft, dass gerade Sie mich verstehen würden.«
Auf den skizzierten Porträts waren sie verblüffend gut getroffen. Juliette griff nach dem Zeitungsausschnitt und hielt ihn ins Licht der Nachmittagssonne, suchte nach etwas, das sie glaubhaft bestreiten könnte.
Sie fand nichts. Es waren ihre Gesichter, da bestand kein Zweifel. Doch Roma schenkte den Porträts keine Beachtung.
»Du irrst dich«, sagte er. »Ich habe den Namen Roma Montagow noch nie zuvor gehört. Der Tratsch aus der Stadt gelangt nicht bis nach Zhouzhuang.«
»Was?«, rief Julun bestürzt. »Aber Sie haben gerade noch Russisch gesprochen.«
»Habe ich das? Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Julun wandte sich Juliette zu, ungläubig öffnete und schloss er den Mund. Er wies hinter sie. »Sie haben da ein Gemälde von Shanghais Wàitān.«
Juliette reckte den Kopf, um den Rahmen hinter ihr anzublinzeln, als hätte sie nie erkannt, was er enthielt. Ihre Cousine Celia hatte ihr das Gemälde gekauft, nach Juliettes Geständnis, dass sie den Bund zu vergessen begann, den Geruch nach Meersalz, das Knarzen des Holzstegs unter ihren Füßen. Shanghai war eine Küstenstadt, ein offener Hafen, pulsierend mit unentwegter Betriebsamkeit. Ständig fuhren Schiffe ein und Bewegung peitschte mit solcher Geschwindigkeit durch die Straßen des Bunds, dass die Stadt ihre Höchststände im selben Atemzug wie ihre Tiefpunkte erlebte. Zhouzhuang war das genaue Gegenteil. Es versprach einen still daliegenden sicheren Hafen, das gemächliche Strömen des Wassers formte Schutzschichten zu allen Seiten.
»Was für ein hübscher Zufall«, sagte sie, um Romas Bluff aufrechtzuerhalten. »Wir stammen allerdings aus Harbin, nicht Shanghai.«
Langsam schob Juliette Julun den Zeitungsausschnitt zu. Er wirkte nicht überzeugt, doch er konnte nicht beweisen, dass sie logen, konnte sie nur geradeheraus dessen bezichtigen.
»Wenn ich die Überschrift richtig lese, sind diese Leute schon lange tot«, sprach sie sanft. »Hier.« Weil ihr der Junge leidtat, griff Juliette sich einen Stift von der Ablage hinter ihr und schrieb die Nummer des öffentlichen Telefons an den Rand des Zeitungspapiers. »Ruf uns an, wenn du die Mittel für richtige Geschäfte hast. Doch wir sind nicht diejenigen, nach denen du suchst. Es tut mir leid.«
Die Entschuldigung war ernst gemeint. Sie hatte einst geglaubt, dass sie mit der Scarlet Gang enorme Macht erben würde, dass sie denen helfen könnte, die Hilfe brauchten, und die niedertrampeln würde, die ihr wehtun wollten. Doch solche Macht sollte nicht in den Händen einer Person liegen und eine solche Position führte nur zu einer endlosen Liste an Feinden, die ihr schaden wollten. Sie hätte nicht in Worte fassen können, wie viel lieber ihr ein Leben ohne die Scarlet Gang war, und doch würde sie stets den leisen Schmerz im Herzen fühlen, wenn sie etwas nicht mehr mit einem Fingerschnipsen möglich machen konnte.
Julun nahm den Zeitungsausschnitt entgegen und steckte ihn zusammen mit dem Foto seiner Verlobten zurück in seine Hosentasche. Seine Unterlippe zitterte. Bevor das noch mal passieren konnte, brachte er seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle und nickte.
»Ich begleite dich nach draußen.« Roma stand auf und legte Julun eine Hand auf die Schulter, bevor er den Tisch umrundete. »Schaffst du es zurück nach Hause?«
Julun stand ebenfalls auf. Er wirkte niedergeschlagen. »Natürlich, machen Sie sich um mich keine Sorgen. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe.«
»Ach, eine Abwechslung hin und wieder tut uns ganz gut.« Sie verschwanden ins Wohnzimmer. Die gemurmelte Unterhaltung zog sich noch einige Minuten hin, bevor die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Juliette seufzte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. Sie saß noch immer so da, als Roma in die Küche zurückkehrte, und sah ihn an. Er lehnte sich in den Durchgang und zog eine Augenbraue hoch, wie um zu fragen, warum sie ihn anstarrte, doch sie sah nicht weg. Es gefiel ihr, ihn anzuhimmeln, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass man sie dabei erwischen könnte. Es gefiel ihr, ihn unerwartet auf dem offenen Markt zu entdecken, loszurennen, ihn von hinten überraschend anzugreifen und dafür ein Lachen zu ernten anstelle einer Kugel. Ihre Vergangenheit machte jeden Moment ihrer Zukunft zu etwas Neuartigem und sie würde nie genug davon bekommen, ihn am Morgen zu wecken, indem sie ihn mit Küssen überhäufte und darauf wartete, dass er sich zurückzog, bevor sie bereit war, damit aufzuhören. Doch er weigerte sich stets, sich zurückzuziehen, und streckte ihr stattdessen mit einem breiten Grinsen das Gesicht entgegen.
Sie hatte erwartet, dass der süchtig machende Wonneschauer nach dem ersten Jahr abklingen würde. Vielleicht sobald sie sich an ein Leben ohne Angst gewöhnt hatten, ohne die Last zweier Familien und einer ganzen Stadt auf ihren Schultern. Doch die Last würde nie verschwinden, genauso wenig wie das Wissen, dass sie Unglaubliches erreicht hatten, indem sie Frieden gefunden hatten. Manchmal schreckte Juliette noch auf, wenn ein Restaurantbesitzer eine Metallschüssel fallen ließ, überzeugt, dass in der Ferne Schüsse abgegeben wurden und sie einen Kampf zwischen Bandenmitgliedern beenden musste. Selbst wenn sie schnell erkannte, dass es keinen Grund zur Angst gab, blieben ihre Gedanken den ganzen Tag lang diffus, ihre Handflächen feucht und ihr Magen verkrampft, bis sie sich ablenken konnte.
Manchmal erwachte Roma noch mitten in der Nacht und schrie panisch nach Juliette, als hätte man sie ihm im Traum entrissen, und obwohl Juliette neben ihm war, sein Gesicht mit den Händen umfasste und flüsterte: »Ich bin hier, mein Geliebter, alles ist gut«, spürte sie bis zum Morgengrauen das Rasen seines Herzens unter ihrer Hand und keiner von beiden konnte schlafen.
Nun erhob Juliette sich und ging zu ihm, legte ihm stumm die Arme um den Hals und ließ zu, dass er sie an sich zog, bis sie sich fest aneinanderdrückten.
»Es tut mir leid«, murmelte Roma. »Hätte ich gewusst, dass er uns damit konfrontiert, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht.«
»Nein, es macht mich glücklich, dass du versuchen wolltest, ihm zu helfen«, erwiderte Juliette. Sie sah ihm in die Augen und versuchte, ihm zu vermitteln, wie ernst es ihr damit war. Allein die Tatsache, dass er nett sein konnte, dass sie versuchen konnten, wie gewöhnliche Leute Hilfe anzubieten wo möglich, war wundervoll. Nur hatte der Junge zu hohe Erwartungen, denen Roma und Juliette nicht gerecht werden konnten, ohne zu viel preiszugeben.
Ein enormer Aufwand war nötig gewesen, um jede ihrer alten Verbindungen in Shanghai nutzen zu können und zugleich ihre Identität geheim zu halten. Manche Kontakte waren erst durch Erpressung bereit gewesen, zu kooperieren, bei anderen hatte es einer umständlichen Reihe von Notlügen bedurft, um sie davon zu überzeugen, dass sie längst Teil des Schmugglerrings waren. Auf die ein oder andere Weise war Romas und Juliettes jeweiliges Wissen sein Gewicht in Gold wert, sobald sie es vereinten, und die Macht ihrer Vergangenheit war nicht zu verleugnen, wann auch immer sie mit jemandem Kontakt aufnahmen und eine Verbindung festigten. Einige schienen eine undichte Stelle in den ehemaligen innersten Bandenkreisen zu vermuten, doch niemand dachte daran, dass es sich um Roma und Juliette handelte, die von den Toten wiederauferstanden waren. Solange diejenigen, die ihre Gesichter gesehen hatten, nichts ausplauderten, war es eine gute Sache. Der Schutz ihrer Identität würde stets höchste Priorität haben. Sie hatten für dieses neue Leben nicht so hart gearbeitet, damit es in sich zusammenbrach.
Doch Juliette fühlte sich trotz allem schlecht. Weil sie den Jungen angelogen hatten. Weil sie all jene angelogen hatten, die in Shanghai zurückgeblieben waren. Sie wusste, dass es Roma heimsuchte, dass er seine Schwester in der Stadt zurückgelassen hatte. Alisa hier ein- und ausgehen zu lassen war zu gefährlich und sie warteten schon so lange darauf, dass die politischen Unruhen in der Stadt sich legten, bevor sie mit ihr Kontakt aufnahmen. Juliette hätte nicht einmal Celia ihren Aufenthaltsort verraten, hätte ihre Cousine sie nicht hierhergeschmuggelt.
Die Jahre hatten sich hingezogen. Aus Kindern wurden Erwachsene, die auf einen Frieden warteten, der niemals kommen mochte. Sie lebte jeden Tag mit dem Wissen, dass Celia als Kommunistenagentin verhaftet werden könnte, während sie nach Zhouzhuang reiste, dass die gegenwärtige Regierung sie gefangen nehmen und bezichtigen könnte, Verbrecher zu schützen, die in Juliettes Fall in eine Besserungsanstalt gesteckt und in Romas Fall hingerichtet werden sollten. Sie war froh, dass ihr keine andere Wahl geblieben war, dass sie ihre Cousine beinahe jeden Monat sah, wenn Celia Zeit fand für einen Besuch, doch Juliette hätte sich bereitwillig tot gestellt, wenn sie ihre Liebsten dadurch in Sicherheit wüsste. Darin waren sie und Roma sich einig. Das war ihre größte Schwäche und Stärke zugleich und sie bezweifelte, dass sich das jemals ändern würde.
Doch sollte Julun sie noch mal kontaktieren, würde Juliette ihm möglicherweise eine Handfeuerwaffe zukommen lassen. Gratis. Und nur, wenn Roma gerade nicht hinsah.
Als könnte er ihren inneren Aufruhr hören, drückte Roma ihr zärtlich die Lippen auf die Schläfe und ließ ihre Gedanken verstummen.
»Dich glücklich zu machen macht mich immer glücklich«, sagte er.
Juliette strahlte. Sie konnte nicht anders. Obwohl sie sich für stahlhart hielt, Roma ließ sie so schnell liebestrunken werden, dass es schon beinahe peinlich war. Sie waren nun seit vier Jahren ein Paar, sofern man ihre fürchterlichen On-Off-Phasen nicht zählte, ansonsten wären es bald neun Jahre, und ihn zu lieben war so einfach, obwohl sie von allem abgeschnitten waren, das sie einst gekannt hatten. Sie musste nur ihr Herz auf der Zunge tragen und er das seine öffnen und schon hatte sie eine großartige Zeit mit ihrem Liebsten.
»Außerdem …«
Als Juliette sich zurückziehen und ihre Arme senken wollte, packte Roma ihren Kiefer und hielt sie fest. Obwohl Roma sich nur bedrohlich gab, hatten sie während ihrer Trennungen einige Male versucht, einander zu töten, und waren dabei manches Mal nur knapp entkommen, daher brachte sein ruppiges Verhalten Juliette zum Grinsen.
»Mir war gar nicht klar, dass du so große Füße hast?«, äffte Roma sie nach. »Dorogaya, ich bin schockiert und enttäuscht.«
»Von meiner schrecklichen Haushaltsführung?«
»Nein, von deiner armseligen Beobachtungsgabe.« Plötzlich packte er sie um die Taille und warf sie sich über die Schulter. Juliettes Haare fielen ihr vor die Augen, als sie kreischend kopfüber hing und sich an Romas Hemdsaum festkrallte, um einen Anschein von Balance zu haben, während er sie ins Schlafzimmer trug. »Ich denke, ich muss sie dir wohl noch mal zeigen, damit du dir nächstes Mal sicher bist.«
Roma war von Natur aus kein Frühaufsteher. Dieses Detail war ihm die ersten neunzehn Jahre seines Lebens entgangen, als er beim geringsten Anzeichen des Morgengrauens aus dem Bett gesprungen und hektisch die Probleme des Tages durchgegangen war, bevor sie sich stellen konnten. Seine Zeit hatte ihm nicht gehört, solange er der Erbe der White Flowers gewesen war. Seine Zeit hatte der nächsten Aufgabe in der Stadt gehört, die ihn angespornt hatte, dem lautesten Ruf zuzueilen.
Dieser Tage ließ er sich entweder von Juliette wecken, die von Natur aus eine Frühaufsteherin war, oder er wandte sich der Welt zu, wenn er sich ausgeruht fühlte, streckte die Arme, halb vergraben unter den Massen von Kissen, die den Großteil ihres Betts einnahmen.
Roma hob verschlafen den Kopf und versuchte, Juliette dem Geräusch nach im Haus zu orten. Es war still. Als er sich umdrehte und sich die Augen rieb, strich das Metall seines Eherings kühl über seine Wange. Auf dem Beistelltisch neben ihm lag eine Nachricht, verfasst in lateinischer Schrift, die so winzig war, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um sie zu lesen.
Ich halte dein Hemd als Geisel. Das Lösegeld beträgt drei Küsse. Zahle oder der ganze Kleiderschrank muss daran glauben.
❤J
Roma lachte leise, rollte unter den Decken hervor und griff nach seiner Hose, die sie gnädigerweise nicht als Geisel genommen hatte. Ein Morgen Ende September bedeutete einen Hauch von Kühle in der Luft, wenn er die Schlafzimmertür öffnete, doch er tappte trotzdem ins Badezimmer, ohne sich ein anderes Hemd zu suchen, und ließ sich Zeit, während er die Zähne putzte und seine Haare kämmte. Er wusste, wo Juliette wartete. Wochentags hatten sie eine Routine entwickelt und diese frühen Stunden waren für Dinge reserviert, die ihnen am meisten Spaß machten, da die echte Arbeit und die Treffen nicht vor Mittag begannen, wenn ihre Lieferanten in den Ort kamen und Waren brachten und ihre Angestellten Ausrüstung und Nachrichten und andere für das Geschäft notwendige Dinge zustellten.
»Hat man dir je gesagt«, setzte Roma an, als er die Haustür öffnete, »dass du Drohungen aussprichst wie die Erbin einer Verbrecherbande?«
»Das habe ich noch nie gehört«, erwiderte Juliette, ohne zu zögern. Sie sah ihn über ihre Schulter an, ihre Beine baumelten über den Rand des Kanals. Ein Sonnenstrahl warf ein perfektes Rechteck um sie, ließ ihre Augen glänzen und rötete ihre Lippen, sodass er sie verschlingen wollte. Es war unwichtig, dass er sie letzte Nacht geküsst hatte, bis sie beide den Verstand verloren hatten. Es war unwichtig, dass er sie auf immer und ewig küssen konnte, bis nach dem Tod und in jedwedem Jenseits. Er bekam trotz allem nicht genug von ihr.
Juliette bemerkte hocherfreut seine nackte Brust, dann sah sie ihm wieder ins Gesicht und grinste, als könnte sie seine Gedanken lesen. Wahrscheinlich konnte sie das. Wahrscheinlich trug sie sein Hemd über ihrer kurzen Schlafanzughose, weil sie wusste, was der Anblick bei ihm auslöste – die Ärmel etwas zu lang und der Kragen schief, die Vertiefung an ihrem Schlüsselbein sichtbarer, als erlaubt sein sollte.
Mit einem übertrieben angestrengten Laut ließ Roma sich neben seine Frau fallen und zwang ein Stirnrunzeln auf sein Gesicht.
»Ich bin nur nach draußen gekommen, um mein Hemd zurückzuholen. Du hast mich zitternd zurückgelassen wie einen traurigen kleinen Gassenjungen.«
Eine Brise wehte den Kanal entlang, als wollte sie seine Aussage unterstützen, und raschelte im Laub der Trauerweide zu ihrer Rechten. Die Blätter wirkten wie lichtdurchlässige Feenflügel, jede Grünschattierung leuchtend wie Smaragde. Obwohl das Wasser Kühle verbreitete, schien die Sonne warm auf seine nackten Schultern.
»Dann zahl das Lösegeld.«
»Machst du es mir so einfach? Keine weitere Erpressung?«
Juliette lehnte sich vor, die Augen schmal. »Vielleicht gebe ich es nicht zurück, nachdem ich das Lösegeld habe. Fang an, bis drei zu zählen, dann sehen wir weiter.«
Wissenschaftliche Erkenntnisse hatten gezeigt, dass sich der Boden unter seinen Füßen befand und der Himmel über ihm und dass ihm das Licht des frühen Morgens auf den Rücken fiel. Roma hörte nicht darauf. Für ihn war Juliette die Sonne.
Er überwand die Lücke zwischen ihnen, und einen Herzschlag, bevor ihre Lippen sich trafen, schloss er die Augen. Sie war für ihn geschaffen und er für sie. Ihre Atemzüge vollendeten die seinen, sie sahen die Bewegungen des anderen vorher. Selbst bei etwas so Alltäglichem, wie wenn Roma die Hand nach dem Geschirrtuch ausstreckte und Juliette es ihm hinschob, bevor er etwas sagen konnte.
Roma legte die Hand um ihren Nacken, strich die weichen Locken weg, bevor seine Finger in ihren Kragen hinabglitten.
»Eins«, murmelte er an ihrem Mund und leitete mit dem Öffnen des obersten Knopfs die Mission ein, sich sein Hemd zurückzuholen. »Zwei.« Ihre Lippen fanden sich erneut, die Berührung wohlig langsam. Der nächste Knopf öffnete sich. Juliette stieß einen kehligen Laut aus, der ihn in Verzückung versetzte.
»Drei –«
»Das Zeugen von Kindern vor der Haustür ist verboten!«
Juliette riss sich los, so überrascht von der Stimme, die über den Kanal hallte, dass sie ins Wasser gefallen wäre, hätte Roma sich nicht zuerst wieder gefangen und sie am Ellbogen gehalten.
Da sie sie erfolgreich erschreckt hatte, lachte ihre alte Nachbarin Mrs. Fan laut und gackernd, schob den Eimer auf ihrer Hüfte höher und machte sich auf den Weg um die Ecke zur Vorderseite ihres Hauses. Sie war durch die Hintertür herausgekommen, an die die Steintreppe zum Kanal angrenzte, wo sie ihre Wäsche wusch.
»Tā mā de – das war nicht in Ordnung, Fan Năinai!«, rief Juliette ihr nach.
»Entschuldigt, macht ruhig weiter! Ich warte darauf, dass es hier mehr Kinder gibt. Es soll mir also recht sein, selbst wenn ihr daraus eine öffentliche Angelegenheit macht …«
Ihre Stimme verklang, als sie sich zu weit entfernte. Juliette schnaubte.
»Das war keine öffentliche Angelegenheit. Auf dieser Seite gibt es nicht einmal Fenster, durch die man uns sehen könnte.«
Roma unterdrückte ein Lachen, weil er wusste, dass sie dadurch nur noch wütender würde. In ihren ersten Monaten in Zhouzhuang waren die Leute ihnen viel kühler begegnet. Und das nicht ohne Grund. Niemand wusste, woher Roma und Juliette so plötzlich gekommen waren. Dann brachte Juliette jeder alten Frau entlang des Hauptkanals Fisch an die Tür und Roma flocht den Kindern, die bei den größten Steinbrücken spielten, Blumenkronen. Obwohl die Leute weiterhin den Verdacht hegten, dass die beiden vor etwas Gesetzwidrigem flohen, behandelten sie Roma und Juliette wie ihresgleichen.
»Ich denke, daran sind wir selbst schuld. Komm, wir erkälten uns noch.«
Roma führte sie nach drinnen, gab den Versuch auf, sein Hemd zurückzubekommen, und holte sich stattdessen ein neues aus dem Schrank. Es gehörte jetzt ihr, wenn sie es wollte, er konnte sich ein neues in genau demselben Schnitt und derselben Farbe leisten. Sie hatten nur mit dem Waffenhandel begonnen, weil sie sich damit gut auskannten, doch es war auch ein lukratives Geschäft, das so viel einbrachte, dass sie oftmals Kunden ablehnten, wenn ihnen der Zweck nicht gefiel, zu dem sie die Waffen verwenden wollten.
»Frühstück?«, fragte Juliette, als sie aus dem Schlafzimmer trat und sich die Haare hochsteckte. Sie hatte wieder ihre eigenen Kleider an: einen Qipao, hellgrün mit einer Blumenstickerei auf der Schulter.
Roma griff bereits nach den Münzen auf dem Wohnzimmertisch, einen Arm in seiner Jacke. »Wer zuerst da ist.«
»Hör auf«, drohte Juliette sofort. »Glaub ja nicht, dass ich dich nicht zu Boden ringe!«
So gut es ihm auch gefallen hätte, wenn sie sich mit ihrem ganzen Körper auf ihn geworfen hätte – denn Juliette weigerte sich, zuzugeben, dass er sie mit Leichtigkeit in der Luft abfangen könnte und würde –, wurde er bei der Tür langsamer, steckte auch den zweiten Arm in die Jacke und nahm ihre Hand, als sie aus der Tür traten.
»Hey«, sagte sie. Ihr Tonfall war verändert, die ernsthafte Juliette ersetzte die verspielte. »Ich habe vergessen, zu fragen … Das Bild gestern kam dir auch vertraut vor, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete er leise.
Alisa wurde diesen Dezember achtzehn. Auch wenn er über ihr Leben genauestens auf dem Laufenden blieb, hatte er sie seit Jahren nicht mehr gesehen, wusste nicht, wie sich seine Schwester machte, abgesehen von den Neuigkeiten, die Celia ihm erzählte. Er und Juliette konnten Shanghai nicht mehr betreten. Sie wären leichte Beute, sobald sie ihre Gesichter zeigten. Obwohl er darauf vertraute, dass Celia auf Alisa aufpassen konnte, vielleicht sogar mehr, als er sich selbst traute, vermisste er die Unruhestifterin, die in Schränke kletterte, während er private Unterhaltungen führen wollte. Roma vermisste sie so sehr, dass das Gefühl wie ein Tumor in ihm wuchs. Er und Juliette hatten zwar überlebt, hatten einen hasserfüllten Kreislauf zu Asche verbrannt und etwas Kostbares erschaffen, doch die Menschen in Shanghai lagen nicht falsch, wenn sie von Roma Montagows und Juliette Cais Tod flüsterten. Sie würden niemals zurückkehren und das tötete einen großen Teil ihrer selbst.
Juliette drückte seine Hand. Sie gingen in Richtung Ortsmitte, bei jedem ihrer Schritte kullerten Kieselsteine über die grob gepflasterte Straße.
»Wir werden sie bald sehen können«, versprach sie. »Celia glaubt, dass die Regierung ehemaligen White Flowers keine Beachtung mehr schenkt. Im Innern wird es zu chaotisch. Die Gefahr wird nachlassen. Das muss sie.«
»Rein rational weiß ich, dass du recht hast.« Roma stieß den Atem aus und sah nach oben, wo ein Vogel von einem der gebogenen Dachziegel aufflog. »Und doch hasse ich den Gedanken, dass ich sie in Gefahr bringe. Für die Kommunisten zu arbeiten macht sie glücklich. Ich will nicht, dass sie zwischen uns und ihnen wählen muss.«
Es wäre einfacher gewesen, wäre Alisa weniger störrisch gewesen und mit Marshall und Benedikt nach Moskau gegangen. Denn Roma hatte seine beiden Freunde innerhalb weniger Tage kontaktiert, nachdem sie sich in Zhouzhuang niedergelassen und sich außer Reichweite der Nationalisten befunden hatten. Benedikt hatte ihn so sehr angeschrien, weil er seinen Tod vorgetäuscht hatte, dass er geglaubt hatte, die internationale Telefonverbindung könnte abbrechen. Wirklich, Roma?! Das ist das letzte Mal, dass einer von uns so etwas macht. Hast du mich verstanden?! Hol deine Frau ans Telefon, mit ihr habe ich auch ein Wörtchen zu reden –
Juliette zog los, um ihnen Gemüsebrötchen zu kaufen. Roma wartete, den Blick in die Ferne gerichtet, während sie mit dem alten Mann hinter der Ladentheke scherzte. Als Juliette ihn streifte und ihm eine kleine Tüte reichte, fragte er: »Was, wenn wir sie kontaktieren und sie mich hasst, weil ich mich ferngehalten habe?«
Sofort tadelte Juliette ihn. »Mein Geliebter, wir sprechen hier von Alisa.« Sie biss in ihr Brötchen. »Sie wird sich einfach nur freuen, dich wiederzusehen. Sie ist nicht so melodramatisch wie ich.«
Romas Mundwinkel zuckten, als er sich an die Zeit erinnerte, in der er Juliette gemieden und ihr Informationen vorenthalten hatte. Das würde er heute nicht mehr tun, da ihr neues Leben davon abhing, dass sie wie eine Einheit miteinander kommunizierten. Doch damals hatte er wirklich geglaubt, die richtige Entscheidung zu treffen. Er hatte sie nur in Sicherheit wissen wollen.
»Außerdem«, fuhr Juliette fort, »zahlst du ihre Rechnungen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie es schon längst herausgefunden hat.«
Da war etwas Wahres dran. Roma verhielt sich nicht besonders unauffällig. Er biss von seinem Brötchen ab. Vielleicht bestand die ganze Kunst darin, dass er immer offensichtlichere Hinweise hinterließ, bis Alisa die Wahrheit erkannte, doch keinen Kontakt zu ihr aufzunehmen, damit sie sie erst fand, wenn es sicher war. Andererseits traute er Alisa zu, sie trotzdem aufzuspüren.
»Mr. Mai! Anruf für Sie!«
Roma fuhr herum, hielt Ausschau nach der Person, die ihn rief. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauptkanals winkte ihn eine der Damen, die eine Schneiderei führte, zu dem öffentlichen Telefon neben ihrem Laden.
»Erwarten wir jemanden?«, fragte Juliette verdutzt.
»Nicht vor Ah Cao heute Nachmittag.«
Sie eilten über die Steinbrücke zu dem Telefon. Juliette drückte sich an die Wand, als Roma den Hörer nahm, der neben der Telefongabel lag, und ihn an sein Ohr drückte.
»Wéi?«
Er hörte, dass jemand heftig um Atem rang. »Hier … hier spricht …«
Roma warf Juliette einen verwirrten Blick zu und versuchte, ihr zu bedeuten, dass er nichts hörte. »Es tut mir leid, ich kann –«
»Hier spricht Julun«, brachte die Stimme endlich in einem schnellen Atemzug heraus. Am anderen Ende der Leitung keuchte und schniefte Julun, als weinte er.
Romas Gesichtsausdruck wechselte von verwirrt zu besorgt. »Ist alles in Ordnung? Bis du in Sicherheit?«
Juliette lehnte sich näher heran und lauschte an der anderen Seite des Hörers. Einige Sekunden lang hörten sie nichts als Schniefen. Dann:
»Bitte«, schluchzte Julun. »Sie wird die Nächste sein. Sie sind alle tot.«
Juliette schloss die Autotür und betrachtete ihre Umgebung. Sie waren über gekieste Landstraßen zu Juluns Aufenthaltsort in der nächsten Ortschaft gefahren. Anders als Zhouzhuang, das an die Ausläufer eines kolossalen Sees grenzte, befand sich diese Kleinstadt tiefer im Landesinnern. Anstelle von Kanälen wanden sich schmale Straßen mit Kopfsteinpflaster um Gebäude, die ebenfalls im älteren traditionellen Stil erbaut waren. Breite Straßen waren Großstädten und ausgewachsenen Ortschaften vorbehalten. Hier war Roma gezwungen, vor den Stadttoren zu parken, da motorisierten Fahrzeugen der Zugang verwehrt war.
Eine kalte Brise blies ihnen ins Gesicht. Über ihnen sammelten sich graue Sturmwolken und sandten dumpfes Donnergrollen herab.
»Wir müssen über deinen Fahrstil sprechen«, merkte Juliette an. Sie ging um die Motorhaube herum, wobei sie ungelenk auf dem rauen Steinboden auftrat. »Ich dachte mehrmals, dass du gleich einen Unfall bauen würdest.«
»Es tut mir leid«, erwiderte Roma trocken. Er hob den Arm und Juliette duckte sich darunter hindurch, drückte sich nahe an ihn, während sie weitergingen. »Meiner Meinung nach fahre ich recht gut für jemanden, der sein ganzes Leben lang Chauffeure hatte.«
»Oooh, er hatte Chauffeure.«
»Dorogaya, ich weiß, dass gerade du dich nicht über mich lustig machst.«