Welch grausame Gnade - Chloe Gong - E-Book

Welch grausame Gnade E-Book

Chloe Gong

5,0

Beschreibung

1926 – Shanghai pulsiert im Rhythmus der Ausschweifungen. Eine Blutfehde zwischen zwei Banden färbt die Straßen rot und lässt die Stadt hilflos im Chaos versinken. Im Zentrum des Geschehens steht die achtzehnjährige Juliette Cai, eine emanzipierte junge Frau, die die stolze Nachfolgerin an der Spitze der kriminellen Scarlet Gang werden will. Ihre einzigen Rivalen an der Macht sind die White Flowers, die die Scarlets seit Generationen bekämpfen. Jeder Schritt der White Flowers wird von Roma Montagov geplant, Juliettes erster Liebe ... und ihrem ersten Verrat. Doch als Gerüchte über eine Krankheit umgehen, die in den Wahnsinn treibt, und sich die Todesfälle häufen, müssen Juliette und Roma ihre Waffen – und ihren Groll – beiseitelegen und zusammenarbeiten. Denn wenn sie dieses tödliche Chaos nicht aufhalten, wird es keine Stadt mehr geben, die sie regieren können.

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Jennifer31

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Ganz tolles Buch, war am Anfang etwas skeptisch ob es mir gefällt. Dann konnte ich es einfach nicht mehr aus der Hand legen. Erinnert mich ein wenig an Romeo und Julia
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Beliebtheit




WELCHGRAUSAMEGNADE

CHLOE GONG

WELCHGRAUSAMEGNADE

CHLOE GONG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2022

© 2022 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing Division unter dem Titel These Violent Delights. © 2020 by Chloe Gong. All rights reserved.

Published by Arrangement with TRIADA US LITERARY AGENCY, INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Carolin Moser

Redaktion: Sabrina Cremer

Umschlaggestaltung: Catharina Aydemir, dem Original von Sarah Creech nachempfunden

Umschlagabbildung: Billelis

Satz: Satzwerk Huber, Germering

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-220-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-318-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-317-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Prolog

Eins: September 1926

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Epilog

Danksagungen

Anmerkungen der Autorin

So wilde Freude nimmt ein wildes Ende,Und stirbt im höchsten Sieg, wie Feu’r und PulverIm Kusse sich verzehrt.

Shakespeare, Romeo und Julia

Prolog

Im strahlenden Shanghai erwacht ein Monster.

Es öffnet seine Augen im Huangpu Jiang und schmeckt das faule Blut im Wasser. Rote Linien ziehen sich durch die modernen Straßen der alten Stadt. Wie Venen zeichnen sie sich auf dem Kopfsteinpflaster ab und und langsam tropft aus ihnen die Lebenskraft der Stadt ins Wasser.

Als es dunkel wird, taucht das Monster gemächlich wie ein vergessener Gott aus den Wellen. Es blickt nach oben, wo nur der tief hängende Mond zu sehen ist.

Es atmet ein. Schleicht näher.

Sein Atemzug wird zu einer kalten Brise, die durch die Straßen zieht und um die Knöchel derjenigen weht, die zur Teufelsstunde nach Hause stolpern. Die Stadt ist dreckig und liegt im Bann unzähliger Sünden, so übersättigt mit Dekadenz, dass der Himmel sie zur Strafe zu erdrücken droht.

Doch die Strafe blieb aus – bis jetzt. Die Moral ist locker. Der Westen feiert eine nie enden wollende Party, das Reich der Mitte ist zersplittert unter alternden Kriegsherren und den Überbleibseln kaiserlicher Herrschaft. Doch Shanghai sitzt in seiner eigenen Machtblase: das Paris des Ostens, das New York des Westens.

Trotz des aus jeder Sackgasse triefenden Gifts ist die Stadt lebendig. Und auch das Monster wird neugeboren.

Die Menschen der geteilten Stadt führen ihr Leben wie bisher. Zwei Männer stolpern laut lachend aus ihrem Lieblingsbordell. Die Stille der späten Stunde bildet einen scharfen Kontrast zu der rauschenden Gesellschaft, die sie verlassen, und ihre Ohren klingeln.

Einer von ihnen ist kurz und sehr stämmig, er könnte wie eine Kugel den Gehweg hinabrollen, der andere groß und linkisch. Sie stolpern in Richtung Fluss, wo tagtäglich Waren eintreffen.

Die Männer kennen die Docks. Wenn sie sich nicht in Jazzklubs herumtreiben oder ausländischen Wein trinken, überbringen sie hier für die Scarlet Gang Botschaften, bewachen Händler und verladen Ware. Sie kennen den Steg wie ihre eigene Westentasche, selbst wenn nicht wie üblich unter Tausenden unterschiedlichen Flaggen ebenso viele unterschiedliche Sprachen gebrüllt werden.

Zu dieser Stunde hört man nur gedämpfte Musik aus nahen Bars und die großen Banner über den Läden im Wind rascheln.

Und fünf White Flowers, die sich lebhaft auf Russisch unterhalten.

Die zwei Scarlets sind selbst schuld. Sie sind zu betrunken, um den Lärm rechtzeitig zu bemerken. Die Männer sehen ihre Feinde um eines der Docks stehen und unter brüllendem Gelächter eine Flasche weiterreichen. Keine Seite kann einen Rückzieher machen, ohne ihren Ruf zu riskieren.

Die White Flowers richten sich auf.

»Wir sollten weitergehen«, flüstert der Kleinere der Scarlets. »Du weißt, was Lord Cai über Kämpfe mit den White Flowers gesagt hat.«

Der Schlaksige zieht die Wangen ein, bis er einem selbstgefälligen betrunkenen Ghul ähnelt.

»Er sagte, wir sollen nichts anfangen. Nicht, dass wir nicht kämpfen dürfen.«

Die Männer sprechen den Dialekt ihrer Stadt, die Zungen flach und die Töne gepresst. Sie heben die Stimmen, selbstsicher durch ihren Heimvorteil, doch ihnen ist nicht wohl dabei. Heutzutage sprechen viele White Flowers ihre Sprache – manchmal mit Shanghaier Akzent.

Dies bewahrheitet sich, als einer der White Flowers grölt: »Na, sucht ihr Streit?«

Der Größere der Scarlets stößt einen kehligen Laut aus und spuckt vor den Schuh der nächsten White Flower.

Einen Sekundenbruchteil später richten sich Waffen auf Waffen, Finger liegen auf Abzügen, bereit, abzudrücken. Niemand kümmert sich um die Szene, die im berauschten Shanghai so alltäglich ist wie Opiumqualm.

»Hey! Hey!«

Ein Pfeifen durchschneidet die geladene Stille. Der heraneilende Polizist ist schlichtweg genervt. Er hat genau dasselbe diese Woche schon dreimal gesehen, Rivalen eingesperrt oder die Räumung durchlöcherter Gangmitglieder angefordert. Er ist müde und will nach Hause, ein heißes Fußbad nehmen und essen, was ihm seine Frau auf dem Tisch hat stehen lassen. Seine Hand liegt bereits auf dem Schlagstock, um den Männern Verstand einzuprügeln und sie daran zu erinnern, dass sie keinen persönlichen Groll gegeneinander hegen, nur rücksichtslose, grundlose Loyalität zu den Cais oder den Montagows, die ihr Verderben sein wird.

»Wollen wir das hier beenden und nach Hause gehen?«, fragt der Polizist. »Oder wollt ihr mit mir kommen und …«

Er bricht ab.

Ein Knurren dringt vom Wasser herauf.

Die Warnung, die von diesem Geräusch ausgeht, ist nicht zu überhören. Anders als die Paranoia, auf einer verlassenen Abzweigung jemanden hinter sich zu glauben, oder wenn in einem leeren Haus eine Diele knarzt. Sie ist greifbar – sie sondert beinahe Luftfeuchtigkeit ab, ein Gewicht auf nackter Haut. Sie ist genauso bedrohlich wie die auf Köpfe gerichteten Waffen, und doch zögern alle einen Moment lang. Der kurze, stämmige Mann gibt als Erster nach, seine Augen huschen zum Rand des Docks. Er zieht den Kopf ein, blickt in die trüben Untiefen des sich kräuselnden Wassers.

Sein Kamerad schreit und stößt ihm brutal den Ellbogen in die Schläfe, als etwas aus dem Fluss hervorbricht.

Kleine schwarze Sprenkel.

Als der kleine Mann hart zu Boden geht, regnen schwarze Punkte auf ihn herab. Seine Sicht verschwimmt und Übelkeit überkommt ihn. Er fühlt etwas Winziges auf sich landen und seine Arme, Beine und sein Hals jucken. Er hört seinen Kameraden schreien, die White Flowers auf Russisch brüllen und den Polizisten auf Englisch kreischen: »Weg! Macht sie weg!«

Sein Herzschlag donnert. Er weigert sich, aufzublicken und zu sehen, was das schreckliche Geschrei verursacht. Sein Puls übertönt jeden seiner Sinne. Erst als etwas Dickes, Nasses gegen sein Bein spritzt, rappelt er sich auf und tritt so heftig um sich, dass er einen Schuh verliert und liegen lässt.

Er rennt weg, ohne zurückzublicken, schüttelt dabei den Schmutz ab, der auf ihn gefallen ist, und versucht verzweifelt, einzuatmen, einzuatmen, einzuatmen.

Er blickt nicht zurück, um zu sehen, was im Wasser gelauert hat oder ob sein Kamerad Hilfe benötigt. Auf keinen Fall will er sehen, was zähflüssig und klebrig auf seinem Bein gelandet ist. Er rennt vorbei an den letzten Neonlichtern der Theater, dem Geflüster in Bordellen, den süßen Träumen der Händler mit ihren Geldstapeln unter den Matratzen.

Längst ist er weg, als an Shanghais Docks nur noch Tote liegen. Ihre Kehlen sind herausgerissen und ihre glasigen Augen reflektieren den Mond.

Eins

SEPTEMBER 1926

Das Saisonende nahte, die Tage verflogen schneller als die braunen Blätter an den Bäumen. Die Zeit verging gehetzt und gemächlich zugleich, die Tage waren gezählt und zogen sich viel zu lange hin. Arbeiter eilten umher, manchmal ohne ein Ziel im Sinn. Ständig erklang irgendwo eine Pfeife, schleppten sich Straßenbahnen über abgenutzte Gleise, hing der Gestank von Verbitterung über den Nachbarschaften und grub sich tief in die Wäsche, die wie Banner vor den Fenstern überfüllter Wohnungen hing.

Heute war eine Ausnahme.

Anlässlich des Mondfestes war die Uhr stehen geblieben – dieses Jahr am Zweiundzwanzigsten des Monats nach westlicher Zeitrechnung. Einst war es Brauch gewesen, Laternen anzuzünden und sich Tragödien zuzuflüstern, um zu ehren, was die Ahnen mit Mondlicht in den Händen verehrten. Nun war ein neues Zeitalter angebrochen. Eines, das sich den Ahnen überlegen glaubte. Menschen aller Territorien Shanghais waren seit Sonnenaufgang im Geiste der modernen Feierlichkeiten herumgeeilt, und nun, da die Glocken die neunte Stunde verkündeten, fingen die Festivitäten gerade erst an.

In einem beliebten Varieté im Herzen des Territoriums der Scarlet Gang, betrachtete Juliette Cai die Menge auf der Suche nach ersten Anzeichen von Ärger. Trotz der Unmengen glitzernder Kronleuchter war die Beleuchtung schwach, die Atmosphäre düster und feucht. Juliette wehte ein modriger Geruch in die Nase, doch die schlechten Sanierungsarbeiten schienen die Stimmung an den runden Tischen im Varieté nicht zu beeinträchtigen. Bei der ständigen Betriebsamkeit würden die Leute ein kleines Leck in der Ecke kaum bemerken. Paare wisperten über Tarotkarten, Männer schüttelten einander enthusiastisch die Hände, Frauen steckten die Köpfe zusammen, um im flackernden Gaslicht die neuesten Geschichten und Gerüchte auszutauschen.

»Du siehst traurig aus.«

Juliette drehte sich nicht eilig um, um die Stimme zu identifizieren. Das war nicht nötig. Nur wenige Menschen würden sie auf Englisch ansprechen, ganz abgesehen von einem Englisch mit den leisen Zügen einer chinesischen Muttersprache und dem Akzent einer französischen Erziehung.

»Das bin ich. Ich bin stets von Trauer erfüllt.« Sie drehte den Kopf und sah ihre Cousine mit gekräuselten Lippen und schmalen Augen an. »Müsstest du nicht als Nächstes auf die Bühne?«

Rosalind Lang zuckte die Schultern und verschränkte die Arme, die Jade-Armreifen an ihren schmalen braunen Handgelenken klimperten.

»Die Show kann nicht ohne mich beginnen«, spottete Rosalind. »Ich mache mir also keine Sorgen.«

Juliette betrachtete wieder die Menge, dieses Mal mit einem Ziel im Sinn. Sie fand Kathleen, Rosalinds zweieiigen Zwilling, an einem Tisch weiter hinten. Ihre andere Cousine balancierte geduldig ein Tablett voller Teller und starrte einen britischen Händler an, der mit übertriebenen Gesten einen Drink zu bestellen versuchte. Rosalind stand hier unter Vertrag, um zu tanzen. Kathleen kellnerte, wenn ihr langweilig war, und verdiente sich spaßeshalber ein mageres Gehalt.

Seufzend zog Juliette ein Feuerzeug aus der Tasche, um ihre Hände zu beschäftigen. Sie ließ es im Rhythmus der Musik aufflammen und erlöschen und hielt ihrer Cousine das kleine silberne Rechteck unter die Nase. »Willst du?«

Rosalind antwortete, indem sie eine Zigarette aus den Falten ihrer Kleidung zog.

»Du rauchst nicht einmal«, sagte sie, als ihr Juliette das Feuerzeug hinhielt. »Wozu trägst du das Ding mit dir herum?«

Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete Juliette: »Du kennst mich. Ich komme rum. Lebe mein Leben. Begehe Brandstiftung.«

Rosalind nahm den ersten Zug und verdrehte die Augen. »Sicher.«

Ein größeres Mysterium wäre gewesen, wo Juliette das Feuerzeug aufbewahrte. Die meisten Mädchen im Varieté – Tänzerinnen wie Gäste – waren gekleidet wie Rosalind: Im modischen Qipao, das Shanghai im Laufschritt eroberte. Mit dem schockierenden seitlichen Schlitz, der alles vom Knöchel bis zum Oberschenkel enthüllte, und dem hohen Kragen, der wie ein Würgegriff schien, war das Design westliche Extravaganz mit östlichen Wurzeln. Und in einer Stadt geteilter Welten waren Frauen wandelnde Metaphern. Doch Juliette war anders. Sie war durch und durch verwandelt. Die kleinen Perlen ihres taschenlosen Flapper-Kleids raschelten bei jeder Bewegung. Hier stach sie heraus, so viel stand fest. Sie war ein hell leuchtender Stern, eine symbolische Galionsfigur für die Vitalität der Scarlet Gang.

Juliette und Rosalind richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne, wo eine Frau in einer ihnen unbekannten Sprache ein Lied hauchte. Die Stimme der Sängerin war wundervoll, ihr Kleid schimmerte auf ihrer dunklen Haut. Doch das Varieté war für solche Shows bekannt und niemand sonst hörte zu.

»Du hast mir nicht gesagt, dass du heute Abend hier sein würdest«, sagte Rosalind nach einer Weile. Dichter Rauch waberte aus ihrem Mund. In ihrer Stimme lag Enttäuschung, als sei das Vorenthalten von Informationen untypisch. Die Juliette, die vor einer Woche zurückgekehrt war, war nicht dieselbe Juliette, von der sich ihre Cousinen vor vier Jahren verabschiedet hatten. Aber die Veränderungen waren beidseitig. Bei ihrer Rückkehr, bevor sie auch nur einen Fuß ins Haus gesetzt hatte, hatte Juliette von Rosalinds honigsüßer Stimme und müheloser Eleganz gehört. Nach vier Jahren stimmten Juliettes Erinnerungen an die Menschen, die sie zurückgelassen hatte, nicht mehr mit dem überein, was aus ihnen geworden war. Nichts aus ihrer Erinnerung hatte überdauert. Die Stadt hatte eine neue Form angenommen und jeder darin hatte ohne sie weitergelebt, vor allem Rosalind.

»Es war eine Entscheidung in letzter Minute.« Auf der anderen Seite des Varietés versuchte der britische Händler, sich Kathleen pantomimisch verständlich zu machen. Juliette nickte in Richtung der Szene. »Bàba ist eines Händlers namens Walter Dexter überdrüssig, der auf ein Meeting drängt. Also soll ich herausfinden, was er will.«

»Klingt langweilig«, sagte Rosalind betont. Ihre Cousine sprach selbst die trockensten Worte mit Schärfe in der Stimme aus. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Juliettes Lippen. Rosalind mochte sich wie eine Fremde anfühlen – wenn auch eine vertraute –, zumindest würde sie immer gleich klingen. Juliette konnte die Augen schließen und sich vorstellen, sie wären wieder Kinder, die sich über die anstößigsten Themen stritten.

Sie schnaubte mit gespielter Empörung. »Wir können nicht alle in Paris ausgebildete Tänzerinnen sein.«

»Warum übernimmst du nicht mein Programm und ich werde die Erbin von Shanghais Untergrundimperium?«

Juliette stieß belustigt ein kurzes lautes Lachen aus. Ihre Cousine hatte sich verändert. Alles war anders. Aber Juliette lernte schnell.

Mit einem leisen Seufzen drückte sie sich von der Wand ab. »Na dann«, sagte sie und richtete ihren Blick auf Kathleen. »Die Pflicht ruft. Ich sehe dich zu Hause.«

Rosalind winkte ihr nach, ließ ihre Zigarette fallen und zerdrückte sie unter ihrem Stöckelschuh. Juliette hätte sie dafür ermahnen müssen, doch der Boden konnte nicht noch dreckiger werden. Seit sie diesen Ort betreten hatte, war sie in wohl fünf verschiedene Sorten Opium getreten. Sie konnte sich nur vorsichtig durch das Varieté bewegen und hoffen, dass die Dienstmädchen ihre Lederschuhe nicht beschädigten, wenn sie sie später putzten.

»Ich übernehme.«

Kathleen riss überrascht den Kopf hoch, sodass der Jadeanhänger an ihrer Kehle aufblitzte. Rosalind behauptete stets, dass jemand einen so wertvollen Stein stehlen würde, wenn sie ihn so offen trug, doch Kathleen gefiel er dort. Wenn die Leute auf ihre Kehle starrten, dann, meinte sie, lieber wegen des Anhängers als wegen des Adamsapfels darunter. Ihre erschrockene Miene verwandelte sich in ein Lächeln, als sie Juliette erkannte, die sich in den Sitz gegenüber des britischen Händlers gleiten ließ.

»Sag Bescheid, wenn ich dir etwas bringen kann«, sprach Kathleen in perfektem Englisch mit französischem Akzent.

Als sie wegging, blieb Walter Dexter der Mund offen stehen. »Sie verstand mich die ganze Zeit?«

»Sie werden lernen, Mr. Dexter«, begann Juliette, schnappte sich die Kerze von der Tischmitte und roch an dem duftenden Wachs. »Wenn Sie davon ausgehen, dass jemand kein Englisch spricht, neigen die Leute dazu, sich über Sie lustig zu machen.«

Walter blinzelte sie an, dann nickte er. Er bemerkte ihr Kleid, ihren amerikanischen Akzent und ihr Wissen um seinen Namen.

»Juliette Cai«, schlussfolgerte er. »Ich hatte Ihren Vater erwartet.«

Die Scarlet Gang sah sich als Familienunternehmen, doch damit nicht genug. Die Cais waren zwar das pulsierende Herz, doch die Gang war ein Netzwerk aus Kriminellen, Schmugglern, Händlern und Mittelsmännern jeder Couleur, von denen jeder einzelne Lord Cai unterstand. Weniger begeisterte Ausländer bezeichneten die Scarlets als Geheimgesellschaft.

»Mein Vater hat keine Zeit für Händler ohne glaubwürdige Vergangenheit«, erwiderte Juliette. »Wenn es wichtig ist, werde ich die Nachricht weitergeben.«

Leider schien Walter Dexter mehr an Plauderei zu liegen als am Geschäft.

»Als ich zuletzt von Ihnen hörte, waren Sie ausgezogen, New Yorkerin zu werden.«

Juliette stellte die Kerze wieder auf den Tisch. Die Flamme flackerte und warf schaurige Schatten über den Händler mittleren Alters, vertiefte die Falten auf seiner ständig gerunzelten Stirn.

»Ich wurde bedauerlicherweise nur zur Ausbildung in den Westen geschickt«, sagte Juliette und lehnte sich in den gebogenen Couchsitz. »Nun bin ich alt genug, um meinen Beitrag zum Familienunternehmen zu leisten, daher hat man mich unter lautstarkem Protest zurückgezerrt.«

Anders als von Juliette beabsichtigt, lachte der Händler nicht. Stattdessen tippte er sich an die Schläfe und brachte dabei seine mit Silber durchzogenen Haare durcheinander.

»Waren Sie nicht vor ein paar Jahren kurzzeitig zurückgekehrt?«

Juliette erstarrte, ihr Grinsen gefror. Hinter ihr brach ein Tisch voller Gäste in brüllendes Gelächter aus. Das Geräusch kribbelte ihr im Nacken, überzog ihre Haut mit Schweiß. Sie wartete, bis der Lärm verebbte, und nutzte die Unterbrechung dazu, wieder die Kontrolle über sich zu erlangen.

»Nur einmal«, antwortete Juliette vorsichtig. »New York war während des Großen Krieges nicht allzu sicher. Meine Familie machte sich Sorgen.«

Der Händler ließ das Thema nicht fallen. »Der Krieg endete vor acht Jahren. Sie waren vor nur vier Jahren hier.«

Juliettes Lächeln verschwand. Sie schob ihre zu einem Bob geschnittenen Haare zurück. »Mr. Dexter, sind wir hier, um Ihr umfangreiches Wissen über mein Privatleben zu erörtern, oder verfolgt dieses Treffen ein Ziel?«

Walter erbleichte. »Bitte entschuldigen Sie, Miss Cai. Mein Sohn, er ist in Ihrem Alter, daher weiß ich zufällig …« Er brach ab, als er Juliettes Blick bemerkte, und räusperte sich.

»Ich hatte wegen eines neuen Produkts um ein Treffen gebeten.«

Trotz seiner vagen Wortwahl war sofort klar, worauf Walter Dexter anspielte. Die Scarlet Gang war in erster Linie ein kriminelles Netzwerk und Kriminelle mischten kräftig auf dem Schwarzmarkt mit. Da die Scarlets Shanghai dominierten, überraschte es kaum, dass sie auch den Schwarzmarkt dominierten – Kommen und Gehen bestimmten und ebenso, wer Erfolg hatte und wer sterben musste. In den weiterhin chinesischen Stadtteilen stand die Scarlet Gang nicht nur über dem Gesetz, sie war das Gesetz. Ohne die Kriminellen waren die Händler schutzlos. Ohne die Händler hatten die Kriminellen wenig Daseinsberechtigung oder Arbeit. Es war eine ideale Partnerschaft – die ständig von der zunehmenden Macht der White Flowers bedroht wurde, der einzigen Gang in Shanghai, die den Scarlets ihr Schwarzmarktmonopol streitig machen konnte. Immerhin arbeiteten sie seit Generationen daran.

»Ein Produkt, hm?« wiederholte Juliette. Sie ließ abwesend den Blick schweifen. Die Darstellenden hatten gewechselt, die Schweinwerfer wurden gedimmt, als ein Saxofon die ersten Noten anstimmte. Rosalind betrat in einem glänzenden Kostüm die Bühne. »Erinnern Sie sich daran, was passierte, als die Briten das letzte Mal ein neues Produkt in Shanghai einführen wollten?«

Walter runzelte die Stirn. »Sprechen Sie von den Opiumkriegen?«

Juliette betrachtete ihre Fingernägel. »Tue ich das?«

»Sie können mich unmöglich für etwas verantwortlich machen, das die Schuld meines Landes war.«

»Oh, läuft es nicht so?«

Nun war es an Walter, unbeeindruckt zu wirken. Er verschränkte die Hände, während auf der Bühne hinter ihm Röcke raschelten und Haut aufblitzte.

»Trotz allem benötige ich die Hilfe der Scarlet Gang. Ich möchte große Mengen Lernicrom loswerden und es verspricht, das nächste meistgefragte Opiat auf dem Markt zu werden.« Walter räusperte sich. »Und ich glaube, Sie versuchen gerade, die Oberhand zu gewinnen.«

Juliette lehnte sich schnell vor, wodurch die Perlen an ihrem Kleid in Disharmonien mit dem Jazz klimperten. »Und Sie glauben, Sie könnten uns die Oberhand verschaffen?«

Das ständige Ringen zwischen der Scarlet Gang und den White Flowers war kein Geheimnis. Ganz im Gegenteil, denn die Blutfehde tobte nicht nur zwischen den Cais und Montagows. Treue Mitglieder beider Fraktionen nahmen es persönlich, mit einer Inbrunst, die ans Übernatürliche grenzte. Ausländer, die in Shanghai Geschäfte machen wollten, erhielten gleich bei Anreise eine Warnung: Entscheidet euch für eine Seite, und zwar schnell. Machten sie einmal Geschäfte mit der Scarlet Gang, waren sie durch und durch Scharlachrot. Sie wären im Territorium der Scarlet Gang willkommen und im Gebiet der White Flowers tot.

»Ich denke«, sagte Walter leise, »dass die Scarlet Gang die Kontrolle über ihre eigene Stadt verliert.«

Juliette lehnte sich zurück. Unter dem Tisch ballte sie die Hände, bis die Haut über ihren Knöcheln weiß hervortrat. Vor vier Jahren hatte sie Shanghai mit einem Glitzern in den Augen betrachtet und hoffnungsvoll auf die Scarlet Gang geblickt. Sie hatte nicht begriffen, dass Shanghai im eigenen Land fremd war. Nun verstand sie. Die Briten regierten einen Teil. Die Franzosen regierten einen Teil. Die russischen White Flowers übernahmen die einzigen Teile, die technisch gesehen noch unter chinesischer Kontrolle standen. Dieser Kontrollverlust war schon lange abzusehen – doch Juliette würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das gegenüber einem begriffsstutzigen Händler zuzugeben.

»Wir werden wegen Ihres Produkts auf sie zurückkommen, Mr. Dexter«, sagte sie schließlich und schenkte ihm ein sorgloses Lächeln. Sie atmete unmerklich aus, lockerte die schmerzhafte Anspannung in ihrem Magen. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen …«

Das gesamte Varieté verstummte und Juliettes Stimme war plötzlich zu laut. Walters Augen traten hervor, als er etwas hinter Juliettes Schulter wahrnahm.

»Ich glaube es nicht«, sagte er. »Wenn das nicht einer der Bolschewiken ist.«

Juliette wurde eiskalt. Langsam drehte sie sich um und folgte Walter Dexters Blick durch Rauch und Schatten zum Eingang des Varietés.

Bitte nicht, flehte sie. Jeder, nur nicht …

Ihre Sicht verschwamm. Eine Schrecksekunde lang kippte die Welt unter ihr weg und Juliette klammerte sich, Sekunden von einem Absturz entfernt, fest. Dann richtete sich der Boden auf und sie konnte wieder atmen. Sie erhob sich und konzentrierte sich darauf, möglichst gelangweilt zu klingen, als sie erklärte: »Die Montagows emigrierten lange vor der bolschewistischen Revolution, Mr. Dexter.«

Bevor jemand sie bemerken konnte, huschte Juliette in die Schatten, wo die Wände ihr glitzerndes Kleid abdunkelten und die feuchten Dielen das Klacken ihrer Schuhe dämpften. Ihre Vorsichtsmaßnahmen waren unnötig. Jedermanns Blick war auf Roma Montagow geheftet, der sich einen Weg durch das Varieté bahnte. Zum ersten Mal gab Rosalind eine Vorstellung, der niemand Beachtung schenkte.

Man hätte glauben können, dass die Leute geschockt waren von der Ankunft eines Ausländers. Doch unter den Gästen des Varietés waren viele Ausländer und Roma hätte sich mit seinen dunklen Haaren und Augen und blasser Haut so leicht unter die Chinesen mischen können wie eine rot angemalte weiße Rose unter Mohnblumen. Es lag nicht daran, dass Roma Montagow Ausländer war, sondern der Erbe der White Flowers und damit eindeutig ein Feind im Territorium der Scarlet Gang. Aus dem Augenwinkel sah Juliette, wie Waffen gezogen und Messer gezückt wurden.

Sie trat aus den Schatten und gab dem ersten Tisch ein Zeichen: Wartet.

Die Gangmitglieder hielten inne, jede Gruppe folgte dem Beispiel der nächsten. Sie warteten, gaben vor, ihre Unterhaltungen weiterzuführen, während Roma Montagow an ihnen vorbeischritt, seine Augen konzentriert verengt.

Juliette schlich sich näher. Sie presste eine Hand an ihre Kehle und zwang sich, den Kloß hinunterzuschlucken und gleichmäßig zu atmen, drängte ihre Panik zurück, bis sie ein strahlendes Lächeln aufsetzen konnte. Einst hätte Roma sie sofort durchschaut. Doch inzwischen waren vier Jahre vergangen. Er hatte sich verändert. Genau wie sie.

Juliette berührte seine Anzugjacke. »Hallo, Fremder.«

Roma drehte sich um. Einen Moment lang schien er nicht zu registrieren, was er sah. Er starrte sie mit leerem, verständnislosem Blick an.

Dann traf ihn der Anblick der Erbin der Scarlet Gang wie Eiswasser. Romas Lippen öffneten sich.

»Juliette«, rief er automatisch, doch sie waren längst nicht mehr vertraut genug für Vornamen.

Roma räusperte sich. »Miss Cai. Wann sind Sie nach Shanghai zurückgekehrt?«

Ich war nie weg, wollte Juliette sagen, doch das entsprach nicht der Wahrheit. Ihre Gedanken waren hier gewesen – hatten sich ständig um das Chaos und die Ungerechtigkeit gedreht, um den rasenden Zorn, der die Straßen durchzog – doch hatte man sie zu ihrer Sicherheit zurück nach Übersee verschifft. Wie Fieber hatte der Hass darauf, weg gewesen zu sein, sie versengt, jede Nacht, wenn sie Partys und billige Kneipen verlassen hatte. Das Gewicht Shanghais war ihr wie eine Stahlkrone auf den Kopf genagelt worden. Hätte man ihr die Wahl gelassen, hätte sie sich vielleicht abgewandt, ihr Leben als Erbin eines Reichs von Gangmitgliedern und Händlern abgelehnt. Doch sie hatte keine Wahl. Dies war ihr Leben, ihre Stadt, ihre Leute, und weil sie sie liebte, hatte sie sich vor langer Zeit geschworen, die Beste zu sein, weil sie keine andere sein konnte.

Es ist alles deine Schuld, wollte sie sagen. Wegen dir war ich gezwungen, die Stadt zu verlassen. Meine Leute. Mein Blut.

»Ich bin vor einer Weile zurückgekehrt«, log Juliette leichthin und lehnte sich mit der Hüfte gegen einen leeren Tisch. »Mr. Montagow, Sie müssen meine Neugier entschuldigen, aber was machen Sie hier?«

Sie beobachtete, wie Roma kaum wahrnehmbar die Hand bewegte, und nahm an, dass er seine verdeckten Waffen überprüfte. Sie sah, wie er sie musterte, nach Worten suchte. Juliette hatte Zeit gehabt, sich vorzubereiten – sieben Tage und sieben Nächte, um in die Stadt zu kommen und alles aus ihren Gedanken zu verbannen, das hier zwischen ihnen passiert war. Doch Roma hatte sicher nicht Juliette erwartet, als er an diesem Abend das Varieté betreten hatte.

»Ich muss mit Lord Cai sprechen«, sagte Roma endlich und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Es ist wichtig.«

Juliette trat näher. Ihre Finger fanden das Feuerzeug in den Falten ihres Kleids, sie fummelte am Zündrad herum, während sie nachdachte. Roma sagte »Cai« wie ein ausländischer Händler, den Mund weit aufgerissen. Chinesen und Russen hatten denselben Laut für Cai: tsai, wie das Geräusch eines aufflammenden Streichholzes. Die Verunstaltung war Absicht, situationsbedingt. Sie sprach fließend Russisch, er Shanghais einzigartigen Dialekt, und doch standen sie hier und sprachen Englisch mit unterschiedlichen Akzenten wie Gelegenheitshändler. In eine ihrer Muttersprachen zu wechseln hätte bedeutet, Partei zu ergreifen, somit trafen sie sich in der Mitte.

»Ich kann mir vorstellen, dass es wichtig ist, da Sie den ganzen Weg hierhergekommen sind.« Juliette zuckte mit den Achseln und hörte auf, mit dem Feuerzeug zu spielen. »Sprechen Sie stattdessen mit mir und ich werde die Nachricht weitergeben. Von Erbe zu Erbin, Mr. Montagow. Sie können mir vertrauen, nicht wahr?«

Es war eine lachhafte Frage. Ihre Worte besagten das eine, doch ihr kalter, leerer Blick etwas anderes. Ein falscher Schritt in meinem Territorium und ich werde dich mit bloßen Händen töten. Sie war die Letzte, der er vertrauen konnte, und dasselbe galt andersrum für ihn.

Doch was Roma auch brauchte, es musste ernst sein. Er widersprach nicht.

»Können wir …?«

Er machte eine Geste in Richtung der dunklen Ecken, wo sie weniger Publikum hätten, das auf Juliettes Abgang wartete, damit es zuschlagen konnte. Juliette kniff den Mund zusammen und winkte ihn stattdessen in den hinteren Teil des Varietés. Er folgte ihr, ohne zu zögern. Seine gemessenen Schritte so dicht neben ihr, dass die Perlen an ihrem Kleid unruhig klimperten. Sie wusste nicht, warum sie sich die Mühe machte. Sie hätte ihn den Scarlets überlassen sollen.

Nein, beschloss sie. Er gehört mir. Ich werde ihn vernichten.

Juliette hielt an. Nun waren sie und Roma Montagow allein in den Schatten, andere Geräusche und Eindrücke gedämpft. Sie rieb sich das Handgelenk und versuchte, ihren Puls zu verlangsamen, als läge das in ihrer Kontrolle.

»Raus damit«, sagte sie.

Roma sah sich um. Er neigte den Kopf und senkte die Stimme, bis Juliette sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. Und sie strengte sich an – sie weigerte sich, ihm näher zu sein als nötig.

»Letzte Nacht starben fünf White Flowers an den Docks. Ihre Kehlen wurden herausgerissen.«

Juliette blinzelte ihn an.

»Und?«

Sie wollte nicht gefühllos sein, doch Mitglieder beider Gangs töteten einander jede Woche. Juliette hatte selbst schon zur Zahl der Todesopfer beigetragen. Wenn er der Scarlet Gang dafür die Schuld geben wollte, verschwendete er seine Zeit.

»Und«, sagte Roma gepresst und hielt eindeutig ein Wenn du mich ausreden lassen würdest zurück, »einer der Euren. Außerdem ein städtischer Polizeibeamter. Brite.«

Juliette runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern, ob jemand aus dem Haushalt etwas über einen Toten in der Scarlet Gang gemurmelt hatte. Es war ungewöhnlich, dass beide Gangs Opfer zurückließen, da größere Tötungen meist Hinterhalte waren, und noch ungewöhnlicher, dass ein Polizist darin verwickelt war, doch sie würde nicht so weit gehen, es seltsam zu nennen. Sie zog eine Augenbraue hoch, desinteressiert.

Bis Roma fortfuhr: »All ihre Wunden waren selbst beigebracht. Das war kein Revierkampf.«

Juliette schüttelte den Kopf wiederholt auf eine Seite, um sicherzustellen, dass nichts ihre Ohren blockierte. Dann fragte sie: »Sieben Leichen mit selbst beigebrachten Wunden?«

Roma nickte. Er blickte nochmals über seine Schulter, als müsste er die Gangmitglieder im Auge behalten, um sie von einem Angriff abzuhalten. Oder vielleicht wollte er nur Juliette nicht direkt ansehen.

»Ich suche eine Erklärung. Weiß Ihr Vater etwas davon?«

Juliette schnaubte tief und verärgert. Unglaublich. Wollte er ihr weismachen, dass fünf White Flowers, ein Scarlet und ein Polizist sich bei den Docks getroffen und sich dann selbst die Kehlen herausgerissen hatten? Das klang wie der Anfang eines Witzes ohne Pointe.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, behauptete Juliette.

»Jede Information könnte für die Lösung entscheidend sein, Miss Cai«, beharrte Roma. Zwischen seinen Augenbrauen tauchte eine halbmondförmige Falte auf, wie immer, wenn er verärgert war. Bei diesen Morden ging es um mehr, als er zugeben wollte. Über einen gewöhnlichen Hinterhalt würde er sich nicht so aufregen. »Einer der Toten gehörte zu Euch …«

»Wir werden nicht mit den White Flowers kooperieren«, unterbrach ihn Juliette. Jede falsche Heiterkeit war längst aus ihrem Gesicht verschwunden. »Nur um das klarzustellen, bevor Sie fortfahren. Was mein Vater auch über die Todesfälle von letzter Nacht wissen mag, wir werden diese Information nicht mit Ihnen teilen und keine Kontakte pflegen, die unsere Geschäfte gefährden könnten. Und nun, guten Tag, Sir.«

Sie hatte Roma klar abgewiesen, doch er blieb, wo er war, und betrachtete Juliette, als hätte er einen schlechten Geschmack im Mund. Sie hatte sich bereits abgewandt, als sie Roma boshaft flüstern hörte: »Was ist mit dir passiert?«

Sie hätte alles antworten, ihn mit der tödlichen Gehässigkeit, die sie sich angeeignet hatte, anfahren können. Sie hätte ihn an seine Handlungen vor vier Jahren erinnern, ihm die Klinge der Schuld ins Fleisch treiben können. Doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, gellte ein Schrei durch das Varieté und durchdrang alle Geräusche, als befände er sich auf einer anderen Frequenz.

Die Tänzerinnen erstarrten, die Musik brach ab.

»Was ist los?« murmelte Juliette. Gerade als sie sich in Bewegung setzte, zischte Roma und ergriff ihren Ellbogen.

»Juliette, nicht.«

Seine Berührung brannte auf ihrer Haut. Juliette riss den Arm schnell weg, als stünde sie tatsächlich in Flammen, ihr Blick loderte. Er hatte kein Recht, vorzugeben, er hätte sie je schützen wollen.

Juliette marschierte ans andere Ende des Varietés und ignorierte Roma, der ihr folgte. Die Anzeichen von Panik wurden lauter, doch erst als sie die Menge bestimmt zur Seite schob, verstand sie, was die Reaktion hervorrief.

Ein Mann wälzte sich auf dem Boden und grub sich die Finger in den dicken Hals.

»Was macht er?«, schrie Juliette und drängte weiter vor. »Jemand soll ihn aufhalten!«

Doch er hatte die Nägel bereits tief in sein Fleisch versenkt. Der Mann grub mit animalischer Kraft – als krabble etwas Unsichtbares unter seiner Haut. Tiefer, tiefer, tiefer, bis seine Finger nicht mehr zu sehen waren und er Sehnen, Venen und Arterien herausriss.

Das Varieté wurde still. Nichts war zu hören außer dem Keuchen des kleinen, stämmigen Mannes auf dem Boden, dessen Kehle in Fetzen hing und von dessen Händen Blut troff.

Zwei

Aus Stille wurden Schreie und Chaos. Juliette rollte die glitzernden Ärmel hoch, kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn.

»Mr. Montagow«, sagte sie über den Aufruhr hinweg, »Sie müssen gehen.«

Juliette marschierte voran und winkte zwei nahe stehende Scarlets herbei. Sie gehorchten mit merkwürdigem Gesichtsausdruck, was Juliette beinahe als Beleidigung aufgefasst hätte, doch dann blickte sie über die Schulter und sah, dass Roma immer noch hinter ihr war. Er stürmte an ihr vorbei, als gehörte ihm das Varieté, kniete sich neben den Sterbenden und betrachtete ausgerechnet die Schuhe des Mannes.

»Verdammt noch mal«, murmelte Juliette. Sie gab den zwei Männern ein Zeichen in Richtung Roma. »Bringt ihn raus.«

Darauf hatten sie gewartet. Einer der Männer schubste den Erben der White Flowers so grob, dass Roma sich mit einem Zischen aufrichten musste, um nicht auf den blutigen Boden zu stürzen.

»Ich sagte, bringt ihn raus«, fauchte Juliette den Mann an. »Es ist Mondfest. Sei kein Grobian.«

»Aber, Miss Cai …«

»Sehen Sie nicht?«, warf Roma kühl dazwischen und zeigte auf den Sterbenden. Er wandte sich Juliette zu, sein Kiefer war angespannt und er sah nur sie an. Als wäre außer ihr niemand da. Als würden die Männer ihn nicht mit Argusaugen beobachten, als würden nicht alle im Klub durcheinanderschreien und um die größer werdende Blutlache rennen. »Genau das passierte letzte Nacht. Das ist kein Einzelfall, dass ist Wahnsinn …«

Juliette seufzte und wedelte mit der Hand. Die zwei Gangmitglieder packten Romas Schultern und er schluckte seine Worte mit einem hörbaren Schnappen des Kiefers hinunter. Er würde im Territorium der Scarlet Gang keine Szene machen. Er hatte schon Glück, ohne Schusswunde im Rücken davonzukommen. Nur deshalb ließ er es zu, dass Männer ihn grob behandelten, die er auf der Straße getötet hätte.

»Danke für Ihr Verständnis«, säuselte Juliette.

Roma sagte nichts, als er weggezogen wurde. Juliette beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, und erst als sie sicher war, dass man ihn zur Tür hinausbefördert hatte, konzentrierte sie sich auf das Durcheinander vor ihr, trat mit einem Seufzen vor und kniete sich neben den Sterbenden.

Mit einer solchen Wunde hatte er keine Chance. Immer noch spritzte Blut heraus und sammelte sich in roten Pfützen auf dem Boden. Sicherlich sickerte Blut durch den Stoff ihres Kleids, aber Juliette nahm es kaum wahr. Der Mann versuchte, etwas zu sagen. Juliette konnte ihn nicht verstehen.

»Sie täten gut daran, sein Leid zu beenden.«

Walter Dexter hatte sich in der Nähe eingefunden und blickte nun beinahe spöttisch über ihre Schulter. Er blieb, wo er war, selbst als die Kellnerinnen begannen, die Menge zurückzudrängen, die Szene abzusperren und die Schaulustigen wegzuscheuchen. Ärgerlicherweise machte sich keiner der Scarlets die Mühe, Walter wegzuschaffen. Er strahlte aus, dass seine Anwesenheit notwendig war. Juliette hatte in Amerika viele solcher Männer getroffen: Männer, die glaubten, sie hätten das Recht, sich überall aufzuhalten, weil man die Welt zugunsten ihrer zivilisierten Etikette geschaffen hatte. Diese Art von Selbstvertrauen kannte keine Grenzen.

»Ruhe!«, fauchte Juliette und beugte sich zu dem Sterbenden hinab. Wenn er letzte Worte hatte, dann verdiente er es, gehört zu werden.

»So etwas habe ich schon mal gesehen. Der Irrsinn eines Süchtigen. Vielleicht Methamphetamin oder …«

»Ruhe!«

Juliette konzentrierte sich, bis die sie umgebende Hysterie in den Hintergrund trat und sie die Worte des Sterbenden hören konnte.

»Guài. Guài. Guài.«

Guài?

Juliettes Gedanken drehten sich, als sie jedes Wort durchging, das dem ähnelte, das der Mann unablässig wiederholte. Das Einzige, das Sinn ergab, war …

»Monster?«, fragte sie ihn und ergriff seine Schulter. »Wollen Sie das sagen?«

Der Mann wurde still. Sein Blick war für den Bruchteil einer Sekunde bestürzend klar. Dann würgte er in einem Atemzug hervor: »Huò bù dān xíng.« Ein Atemzug, eine Warnung, dann trübte sich sein Blick.

Juliette schloss ihm benommen die Augen. Bevor sie die Worte des Toten verarbeiten konnte, war Kathleen bereits vorgetreten, um ihn mit einem Tischtuch zu bedecken. Nur seine Füße ragten darunter hervor, in den zerlumpten Schuhen, die Roma angestarrt hatte.

Sie passen nicht zusammen, erkannte Juliette plötzlich. Ein Schuh war glatt und glänzte noch von der letzten Politur, der andere war viel zu klein, hatte eine ganz andere Farbe und wurde von einer dünnen Schnur zusammengehalten, die dreimal um die Zehen gewickelt war.

Merkwürdig.

»Was war das? Was sagte er?«

Walter lauerte weiterhin neben ihr. Er schien das Stichwort für seinen Abgang nicht gehört zu haben und es schien ihn nicht zu interessieren, dass Juliette bestürzt vor sich hinstarrte und sich fragte, wie Roma seinen Besuch so hatte einrichten können, dass er zeitlich mit diesem Tod zusammenfiel.

»Missgeschicke kommen oft alle auf einmal«, übersetzte Juliette als sie schließlich der fieberhaften Aktivität gewahr wurde. Walter Dexter sah sie verständnislos an und versuchte zu begreifen, warum ein Sterbender etwas so Verworrenes sagen würde. Er kannte die Chinesen und ihre Liebe für Sprichwörter nicht. Er öffnete den Mund, wahrscheinlich um wieder sein weitreichendes Wissen in Bezug auf die Drogenwelt oder über die Gefahren des Kaufs von Produkten von seiner Meinung nach unzuverlässigen Händlern kundzutun. Doch Juliette brachte ihn mit erhobenem Finger zum Schweigen. Wenn sie sich über etwas sicher war, dann, dass dies nicht die letzten Worte eines Drogensüchtigen waren. Dies war die letzte Warnung eines Mannes, der etwas gesehen hatte, das nicht für ihn bestimmt gewesen war.

»Ich muss mich verbessern. Ihr Briten habt eine angemessene Übersetzung dafür«, sagte sie. »Ein Unglück kommt selten allein.«

Hoch über den tropfenden Rohren und schimmligen Teppichen des Hauses der White Flowers kauerte Alisa Montagowa in den Dachsparren auf einem Holzbalken. Das Kinn auf die Knie gepresst belauschte sie das Treffen unter sich.

Die Montagows lebten nicht in einer großen, prunkvollen Residenz, die ihnen ihr Geld verschaffen könnte. Sie zogen es vor, mitten im Geschehen zu bleiben, eins mit den schmutzverschmierten Gesichtern, die Müll von der Straße aufsammelten. Von außen war ihr Wohnhaus identisch mit den Appartementhäusern entlang der belebten Straße. Innen hatten sie den Appartementkomplex in ein großes Puzzle aus Räumen, Büros und Treppen verwandelt und nicht durch Personal, sondern Hierarchie instand gehalten. Hier lebten nicht nur die Montagows, sondern alle White Flowers, die in der Gang eine Stellung innehatten, und unter den Kommenden und Gehenden herrschte Ordnung. Lord Montagow stand ganz oben und Roma – zumindest dem Namen nach – an zweiter Stelle. Darunter wechselten die Rollen ständig, angetrieben von Eifer, nicht von Blut. Was bei der Scarlet Gang von Verwandtschaftsgraden abhing – welche Familie am weitesten in die Zeit des Kaiserreichs zurückreichte –, wurde bei den White Flowers von Chaos bestimmt, von ständiger Bewegung. Doch der Aufstieg zu Macht war eine bewusste Entscheidung und wer in den unteren Rängen der Gang blieb, wollte es so. Man wurde keine White Flower für Macht und Reichtum. Es war das Bewusstsein, dass man sich jederzeit abwenden konnte, sollten einem die Befehle der Montagows nicht gefallen. Es war eine Faust auf der Brust, ein Blick in die Augen, ein verständiges Nicken – die russischen Flüchtlinge, die nach Shanghai strömten, würden alles tun, um in die Ränge der White Flowers einzutreten, alles, um wieder das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erfahren, das sie beim Aufkommen des Bolschewismus zurückgelassen hatten.

Zumindest die Männer. Die russischen Frauen, die nicht das Glück hatten, in die White Flowers hineingeboren zu sein, wurden Tänzerinnen und Mätressen.

Erst letzte Woche hatte Alisa eine Britin über den Ausnahmezustand in der Internationalen Siedlung klagen hören. Familien zerbrachen wegen hübschen Gesichtern aus Sibirien, die kein Vermögen hatten, nur ihr Gesicht, ihren Körper und Überlebenswillen. Die Flüchtlinge mussten tun, was nötig war. Moral war wenig wert, wenn man verhungerte.

Alisa schreckte auf. Der Mann, den sie belauschte, hatte plötzlich zu flüstern begonnen. Die gedämpfte Lautstärke erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Die politischen Fraktionen sind zu weit gegangen«, murmelte eine schroffe Stimme. »Es ist beinahe sicher, dass die Politiker hinter diesem Wahnsinn stecken. Doch zu diesem Zeitpunkt ist es schwer zu sagen, ob die Kuomintang oder die Kommunisten verantwortlich sind. Viele Quellen sagen Zhang Gutai, obwohl … also, ich zweifle daran.«

Eine andere Stimme fügte trocken hinzu: »Bitte, Zhang Gutai ist so schlecht als Generalsekretär der Kommunisten, dass er das falsche Datum auf eines ihrer Versammlungsplakate gedruckt hat.«

Alisa konnte die drei Männer, die ihrem Vater gegenübersaßen, durch das dünne Drahtgeflecht sehen, mit dem die Decke ausgekleidet war. Ohne einen Sturz vom Dachsparren zu riskieren, konnte sie ihre Gesichtszüge nicht ausmachen, doch ihr akzentuiertes Russisch sagte genug. Sie waren chinesische Spione.

»Was wissen wir über ihre Methoden? Wie verbreitet sich dieser Wahnsinn?«

Ihr Vater hatte eine langsame Aussprache, so markant wie Fingernägel, die über eine Kreidetafel gezogen werden. Lord Montagow sprach so befehlsgewohnt, dass es einer Sünde gleichkam, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Einer der Chinesen räusperte sich. Er wrang sein Hemd so aggressiv zwischen den Händen, dass Alisa sich vorbeugte, um sicherzugehen, dass sie richtig sah.

»Ein Monster.«

Alisa griff den Balken gerade noch rechtzeitig, bevor sie herunterfallen konnte, und atmete erleichtert aus.

»Wie bitte?«

»Wir sind uns über die Quelle des Wahnsinns nur in einer Sache sicher«, sagte der dritte Mann. »Sie steht in Verbindung mit Sichtungen eines Monsters. Ich habe es selbst gesehen. Silberne Augen im Huangpu Jiang. Kein Mensch könnte so blinzeln …«

»Genug«, unterbrach Lord Montagow ihn rau und ungehalten über die Wendung, die diese Besprechung genommen hatte. »Ich möchte keinen Unsinn über ein Monster hören. Wenn das alles ist, erwarte ich unser nächstes Treffen.«

Mit einem Stirnrunzeln beeilte Alisa sich, auf ihrem Balken den Männern zu folgen. Sie war bereits zwölf, aber winzig, und huschte von Schatten zu Schatten wie ein Nagetier. Als sich unter ihr die Tür schloss, hüpfte sie auf einen anderen Balken, bis sie direkt über den Männern war.

»Er sah ängstlich aus«, bemerkte einer leise.

Der Mann in der Mitte bedeutete ihm, still zu sein, doch die Worte waren bereits ausgesprochen und wurden zu Pfeilen, die den Raum durchschnitten, ziellos, aber zerstörerisch. Die Männer verließen das brodelnde Chaos des Montagow-Haushalts. Alisa blieb in ihrer Nische.

Furcht. Sie glaubte nicht, dass ihr Vater dazu fähig war. Es war ein Konzept für Männer ohne Waffen. Für Leute wie Alisa, klein und schmächtig, die immerzu über die Schulter sahen.

Wenn Lord Montagow Angst hatte, galten andere Regeln.

Alisa sprang von der Decke und sprintete davon.

Drei

Als Juliette in den Flur raste und die letzte Haarnadel befestigte, war sie bereits spät dran.

Das war zum einen die Schuld des Dienstmädchens, das sie nicht geweckt hatte, aber auch Juliettes, weil sie nicht bei Sonnenaufgang aufgestanden war, wie sie es sich seit ihrer Rückkehr nach Shanghai anzugewöhnen versuchte. Diese seltenen Momente, wenn der Himmel gerade hell wurde – bevor der restliche Haushalt erwachte –, waren die friedlichsten Minuten, die man in diesem Haus bekommen konnte. Die Tage, an denen sie kalte Luft und vollkommene Stille erhaschte, waren ihr die liebsten. Sie konnte ungestört durch das Haus streifen, von den Köchen stibitzen, wonach ihr war, und sich einen Platz am leeren Esstisch aussuchen. Wenn sie schnell genug kaute, hatte sie sogar noch Zeit, bei geöffneten Fenstern im Wohnzimmer zu sitzen und den Vögeln zu lauschen. Kam sie nicht aus dem Bett, saß sie mürrisch mit dem Rest des Haushalts beim Morgenmahl.

Juliette hielt vor der Bürotür ihres Vaters und fluchte leise. Heute ging es nicht nur darum, entfernte Verwandte zu meiden. Sie hatte in eines von Lord Cais Treffen huschen wollen.

Die Tür öffnete sich schnell. Juliette trat einen Schritt zurück und versuchte, normal zu wirken. Definitiv zu spät.

»Juliette.« Lord Cai runzelte die Stirn. »Es ist noch früh. Warum bist du wach?«

Juliette legte die Hände unter ihr Kinn, der Inbegriff der Unschuld. »Ich hörte, wir haben einen angesehenen Gast. Ich wollte ihn begrüßen.«

Der Gast zog eine Augenbraue hoch. Er war ein Nationalist, doch durch seinen westlichen Anzug ohne die Auszeichnungen, die er an seiner Kuomintang-Militäruniform tragen würde, ließ sich schwer sagen, ob er angesehen war. Die Scarlet Gang war den Nationalisten – den Kuomintang – freundlich gesinnt seit ihrer Gründung als Nationalpartei. In letzter Zeit waren die Beziehungen noch enger geworden, um den Aufstieg ihrer kommunistischen »Verbündeten« abzuwehren. In der einen Woche, seit Juliette wieder zu Hause war, hatte ihr Vater mindestens fünf Treffen mit beunruhigten Nationalisten gehabt, die die Unterstützung der Gang wollten. Jedes Mal war sie zu spät gekommen, um hineinzuschlüpfen, ohne sich zu blamieren, und hatte stattdessen vor der Tür gewartet, um etwas zu erfahren.

Die Nationalisten hatten Angst. Die angehende Kommunistische Partei Chinas ermutigte ihre Mitglieder, der Kuomintang beizutreten, um Kooperation zu signalisieren. Doch inzwischen drohte die Anzahl der Kommunisten in der Kuomintang die der Nationalisten zu übersteigen. Der Skandal war in aller Munde, besonders in Shanghai, einem gesetzlosen Ort, wo Regierungen geboren und beerdigt wurden.

»Das ist sehr nett von dir, Juliette, aber Mr. Qiao muss zu einem anderen Meeting.«

Lord Cai winkte einem Diener, damit er Mr. Qiao zur Tür brachte. Mr. Qiao tippte sich höflich an den Hut und Juliette unterdrückte ein Seufzen und lächelte schmallippig.

»Es würde nicht schaden, mich an einem Meeting teilnehmen zu lassen, Bàba«, sagte sie, sobald Mr. Qiao außer Sicht war. »Du sollst mir etwas beibringen.«

»Ich kann dich auch langsam lehren.« Lord Cai schüttelte den Kopf. »Du willst noch nicht in Politik verwickelt werden. Sie ist langweilig.«

Doch sie war eine wichtige Angelegenheit, vor allem wenn die Scarlet Gang so verdammt oft die Fraktionen empfing. Lord Cai hatte mit keiner Wimper gezuckt, als Juliette ihm erzählt hatte, wie der Erbe der White Flowers in ihr Varieté stolziert war, sondern ihr mitgeteilt, dass er bereits Bescheid wüsste und sie morgen darüber reden würden.

»Gehen wir frühstücken, hm?« fragte ihr Vater. Er legte die Hand in Juliettes Nacken, als wäre sie im Begriff wegzurennen. »Wir können auch über gestern Abend sprechen.«

»Frühstück wäre wunderbar«, murmelte Juliette. Tatsächlich bereitete der Lärm beim Frühstück ihr Kopfschmerzen. Vor allem morgens fühlte sie sich in diesem Haus nicht wohl. Welche alltäglichen Dinge ihre Verwandten auch besprachen – wie die steigenden Reispreise –, ihre Worte troffen stets vor Intrigen und Gnadenlosigkeit. Das schien passender für späte Stunden, nachdem das Personal sich zurückgezogen hatte und die Dunkelheit über die polierten Holzböden hereinkroch.

»Juliette, Schatz«, krähte eine Tante, sobald sie an den Tisch traten. »Hast du gut geschlafen?«

»Ja, Ā yí«, antwortete Juliette kurz angebunden. »Sehr gut.«

»Hast du deine Haare wieder geschnitten? Bestimmt. Ich erinnere mich nicht, dass sie so kurz waren.«

Als wären die Verwandten nicht schon nervtötend genug, gab es auch zu viele von ihnen, als dass sie Juliette noch etwas bedeutet hätten. Rosalind und Kathleen waren ihr am nächsten, sie brauchte niemanden sonst. Alle anderen waren nur Namen und Beziehungen, die sie im Kopf behielt, falls sie sie einmal brauchen sollte. Diese Tante war so weitläufig mit ihr verwandt, dass sie niemals nützlich sein würde, und Juliette fragte sich, warum sie am Frühstückstisch saß.

»Dà jiě, um Gottes Willen, lass das Mädchen atmen.«

Juliette grinste. Tatsächlich kannte ihre Gleichgültigkeit eine weitere Ausnahme: Mr. Li, ihren Lieblingsonkel.

Xiè xiè, formte sie mit den Lippen.

Mr. Li hob bei ihrem Dank mit einem Funkeln in den Augen seine Teetasse. Ihre Tante schnaubte, doch immerhin verstummte sie. Juliette wandte sich an ihren Vater.

»Bàba, wegen gestern Abend«, begann sie. »Wenn man den Gerüchten glauben darf, traf einer unserer Männer fünf White Flowers bei den Docks und riss sich dann die Kehle heraus. Was hältst du davon?«

Lord Cai rieb sich nachdenklich den Nasenrücken und seufzte tief. Juliette fragte sich, wann ihr Vater das letzte Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, ohne Sorgen und Termine. Seine Erschöpfung war für das ungeschulte Auge unsichtbar. Aber Juliette konnte sie sehen. Immer.

Vielleicht war er es auch leid, am Kopfende der Tafel zu sitzen und gleich morgens jedermanns Tratsch zu lauschen. Vor Juliettes Abreise war der Tisch rund gewesen, wie es sich für chinesische Tische gehörte. Ihr Verdacht war, dass die Veränderung westliche Besucher ansprechen sollte, doch das Ergebnis war irritierend: Familienmitglieder konnten nicht mehr nach Belieben miteinander sprechen.

»Bàba«, wiederholte Juliette, obwohl er noch nachdachte. Ihr Vater war ein Mann weniger Worte und Juliette hatte eine Abneigung gegen Stille. Selbst mit der sie umgebenden Hektik ertrug sie es nicht, dass ihr Vater seine Antwort hinauszögerte.

Doch selbst wenn er ihr jetzt antwortete, gab Lord Cai nur vor, sich über den angeblichen Wahnsinn zu sorgen. Juliette sah, dass das bei der bereits monströsen Liste an Dingen, die die Aufmerksamkeit ihres Vaters erforderten, eine Kleinigkeit war. Wen kümmerten Gerüchte über merkwürdige Kreaturen, die aus dem Wasser stiegen, wenn Nationalisten und Kommunisten sich erhoben, Waffen im Anschlag und Armeen bereit?

»Mehr sagte Roma Montagow nicht?«, fragte Lord Cai schließlich.

Juliette zuckte gegen ihren Willen zusammen. Vier Jahre lang war sie vor dem bloßen Gedanken an Roma zurückgeschreckt; seinen Namen zu hören – noch dazu von ihrem Vater – schien unanständig.

»Nein.«

Ihr Vater tippte langsam auf den Tisch.

»Ich glaube, er weiß mehr«, fuhr Juliette fort. »Doch er war vorsichtig.«

Lord Cai wurde wieder still und ließ den Lärm um sich anschwellen und verebben. Juliette fragte sich, ob er mit den Gedanken woanders war. Er hatte auf die Nachricht über den Erben der White Flowers in ihrem Territorium unglaublich gleichgültig reagiert. Eingedenk der Bedeutung der Blutfehde, zeigte es, wie viel wichtiger Politik mittlerweile für die Scarlet Gang geworden war.

Bevor ihr Vater fortfahren konnte, wurden die Küchentüren so laut aufgestoßen, dass die Tante neben Juliette ihre Teetasse umwarf.

»Wenn wir vermuten, dass die White Flowers mehr wissen, warum sitzen wir dann herum und reden?«

Juliette biss die Zähne zusammen und wischte Tee von ihrem Kleid. Es war nur Tyler Cai, ihr lästigster Cousin ersten Grades. Obwohl sie gleich alt waren, schien er in den letzten vier Jahren nicht erwachsener geworden zu sein. Wenn er könnte, würde er verlangen, dass man die Erdrotation umkehrte, nur weil er es für effizienter hielt.

»Lauschst du immer an Türen, anstatt einzutreten?«, spottete Juliette, doch ihre scharfe Kritik wurde überhört. Ihre Verwandten sprangen auf und beeilten sich, Tyler Stuhl, Tee und Teller zu bringen – wahrscheinlich mit Gold und Edelsteinen verziert. Obwohl Juliette die Erbin der Scarlet Gang war, würden sie sich ihr zuliebe nie so aufführen. Sie war ein Mädchen. In ihren Augen wäre sie nie gut genug.

»Es scheint mir einfach zu sein«, fuhr Tyler fort. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als säße er auf einem Thron. »Es wird Zeit, dass wir den White Flowers zeigen, wer in dieser Stadt die Macht hat. Wir sollten fordern, dass sie ihr Wissen preisgeben.«

»Wir sind viele und haben Waffen«, mischte sich ein unbedeutender Onkel ein.

»Die Politiker werden sich auf unsere Seite stellen«, fügte die Tante neben Juliette hinzu. »Unbedingt. Sie können die White Flowers nicht tolerieren.«

»Ein Revierkampf ist nicht weise …«

Endlich, dachte Juliette und wandte sich einem Cousin zweiten Grades zu, eine Stimme der Vernunft.

»… doch mit deiner Expertise, Tyler, wer weiß, ob wir nicht unser Territorium vergrößern könnten.«

Juliette ballte die Hände zu Fäusten. Oder auch nicht.

»Hier ist der Plan«, begann Tyler begeistert. Juliette blickte zu ihrem Vater, doch er schien zufrieden damit, ungestört essen zu können. Seit ihrer Rückkehr versuchte Tyler, ihr bei jeder Gelegenheit die Schau zu stehlen. Doch jedes Mal war Lord Cai dazwischengegangen, hatte ihn zum Schweigen gebracht und die Verwandten daran erinnert, wer die Erbin war und dass es sie nicht voranbringen würde, Tyler zu bevorzugen.

Doch nun schwieg Lord Cai. Juliette konnte nicht sagen, ob er sich enthielt, weil er die Taktiken seines Neffen für lachhaft hielt oder weil er Tyler ernst nahm. Bei dem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen.

»Und es ist ja nicht so, als könnten die fremden Mächte sich beschweren«, sagte Tyler. »Wenn die Verletzungen selbst zugefügt waren, könnte das jeden betreffen. Es geht um unsere Leute, die unsere Unterstützung brauchen. Wenn wir uns die Stadt jetzt nicht für sie zurückholen, wozu sind wir dann gut? Sollen wir uns noch ein Jahrhundert lang demütigen lassen?«

Am Tisch wurde Zustimmung laut. Nur Mr. Li und ihr Vater blieben stumm und verzogen keine Miene, doch das war nicht genug. Juliette warf ihr Besteck hin und zerbrach dabei die Porzellanstäbchen in vier Teile.

»Du willst dich den White Flowers ausliefern?« Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Tu dir keinen Zwang an. Ein Dienstmädchen soll deine Eingeweide sortieren, wenn man sie in einer Schachtel zurückschickt.«

Die Verwandten waren zu schockiert, um zu widersprechen. Juliette marschierte hinaus. Ihr Herz raste. Trotz ihres ruhigen Auftretens fürchtete sie, es dieses Mal zu weit getrieben zu haben. Sobald sie im Flur war, hielt sie inne und beobachtete über die Schulter die Türen. Das Holz war aus einer weit entfernten Nation importiert und mit traditioneller chinesischer Kalligrafie verziert worden: Gedichte, die Juliette sich vor Ewigkeiten eingeprägt hatte. Dieses Haus war ein Spiegel seiner Stadt, die die alte Welt nicht aufgeben konnte, doch die neue verzweifelt imitierte, eine Verschmelzung von Ost und West. Die Architektur passte nicht zusammen.

Die schönen, doch unpassenden Türen flogen wie erwartet auf. Juliette reagierte kaum.

»Juliette. Auf ein Wort.«

Tyler war ihr mit einem Stirnrunzeln gefolgt. Sie hatten dasselbe spitze Kinn, dasselbe Grübchen links der Lippen, das in schwierigen Situationen auftauchte. Sie verstand nicht, wie sie sich so ähneln konnten. In jedem Familienporträt stellte man sie nebeneinander. Doch Juliette und Tyler hatten sich nie verstanden. Nicht einmal im Laufstall, als sie noch mit Spielzeugwaffen gespielt und Tylers Holzgeschosse Juliette nicht ein Mal verfehlt hatten.

»Was?«

Tyler hielt inne. Er verschränkte die Arme. »Was ist dein Problem?«

Juliette verdrehte die Augen. »Mein Problem?«

»Ja, dein Problem. Es ist nicht lustig, wenn du jede meiner Ideen …«

»Du bist nicht dumm, Tyler, also hör auf, so zu tun«, unterbrach ihn Juliette. »Ich hasse die Montagows ebenso sehr wie du. Wir hassen sie alle so sehr, dass wir deshalb bluten. Doch jetzt ist nicht die Zeit für einen Revierkampf. Nicht während die Ausländer unsere Stadt unter sich aufteilen.«

»Dumm?«

Tyler hatte nicht verstanden, worum es ging, und war trotzdem beleidigt. Ihr Cousin hatte eine stählerne Haut und ein gläsernes Herz. Seit er in zu jungen Jahren seine Eltern verloren hatte, war er zu diesem Anarchisten der Scarlet Gang geworden, grundlos angeberisch und wild. Seine einzigen Freunde waren solche, die auf eine schnelle Verbindung zu den Cais hofften. Jeder ging wie auf Eierschalen und begnügte sich mit Scheinangriffen, sodass er sich für mächtig hielt, wenn jeder Schlag abprallte, doch würde man ihn frontal angreifen, würde er zerbrechen.

»Ich glaube kaum, dass es dumm ist, unsere Existenzgrundlage zu verteidigen«, fuhr Tyler fort. »Ich glaube kaum, unser Land von diesen Russen zurückzufordern …«

Leider glaubte Tyler, sein Weg wäre der einzig richtige. Sie wünschte, sie hätte an ihm nichts auszusetzen. Immerhin war Tyler wie sie, er wollte das Beste für die Scarlet Gang. Jedoch hielt er sich selbst für das Beste für die Scarlets.

Juliette wollte nicht weiter zuhören und wandte sich ab.

Ihr Cousin ergriff ihr Handgelenk.

»Was für eine Erbin bist du eigentlich?«

Blitzartig warf Tyler sie gegen die Wand. Mit einer Hand hielt er ihren Ärmel gepackt und drückte den Arm gerade fest genug gegen ihr Schlüsselbein, um eine Bedrohung darzustellen.

»Lass mich los«, zischte Juliette. »Sofort.«

Tyler gab nicht nach. »Die Scarlet Gang und unsere Leute sollten höchste Priorität für dich haben.«

»Sieh dich vor.«

»Weißt du, woran es meiner Meinung nach liegt?« Tylers Nasenflügel blähten sich und tiefe Furchen verzogen sein Gesicht zu einer Grimasse des Abscheus. »Ich habe Gerüchte gehört. Ich glaube, du hasst nicht alle Montagows. Ich glaube, du versuchst, Roma Montagow zu beschützen.«

Juliette wurde vollkommen reglos. Weder überkam sie Angst, noch war sie eingeschüchtert, wie von Tyler beabsichtigt. Zuerst war sie empört, doch dann kochte sie vor Wut. Sie würde Roma Montagow eher in Stücke reißen, als ihn jemals wieder zu beschützen.

Ihre Rechte schoss hoch – zur Faust verschlossen, Handgelenk fest, Knöchel nach vorn – und kollidierte frontal mit Tylers Wange. Einen Moment lang reagierte er nicht, blinzelte nur und zitterte schockiert. Dann stolperte er, ließ Juliette los und sah sie hasserfüllt an. Ein roter Schnitt auf seinem Wangenknochen stammte von Juliettes glitzerndem Ring.

Das reichte ihr nicht.

»Roma Montagow beschützen?«, echote sie.

Tyler erstarrte. Er hatte kaum Zeit gehabt, zurückzuweichen, bevor Juliette ein Messer zog. Sie presste es auf die Wunde und zischte: »Wir sind keine Kinder mehr, Tyler. Und wenn du mir mit ungeheuerlichen Anschuldigungen drohen willst, dann musst du dafür geradestehen.«

Ein leises Lachen. »Wie?« Tyler räusperte sich. »Wirst du mich gleich hier töten? Zehn Schritte vom Frühstückstisch entfernt?«

Juliette drückte das Messer tiefer in die Wunde. Eine Blutspur rann die Wange ihres Cousins hinab, über ihre Hand und tropfte von ihrem Arm.

Tyler lachte nicht mehr.

»Ich bin die Erbin der Scarlet Gang.« Juliettes Stimme war nun so scharf wie ihre Waffe. »Und glaub mir, tángdì, ich werde dich töten, bevor ich mir das von dir nehmen lasse.«

Dann schubste sie Tyler von ihrer Klinge weg, das Metall blitzte rot auf. Seine einzige Antwort war ein leeres Starren.

Juliette drehte sich abrupt um und ging davon.

Vier

Hier ist nichts.«

Widerstrebend suchte Roma Montagow weiter, fuhr mit den Fingern zwischen die Risse im Steg.

»Halt die Klappe. Such weiter.«

Sie hatten bisher nichts Bemerkenswertes gefunden, doch die Sonne stand noch hoch am Himmel. Die leichten Wellen warfen glühend heiße Strahlen zurück, die jeden blendeten, der zu lange über den Steg hinausblickte. Roma behielt die trüben grüngelben Gewässer im Rücken. Doch die Sonne aus seinem Sichtfeld zu halten war einfacher, als das unentwegte nervige Geplapper hinter ihm abzuwehren.

»Roma. Roma-ah. Roma.«

»Bei Gott, Mudak. Was?«

Der Tag hatte noch viele Stunden und Roma hatte keine Lust, mit leeren Händen zu seinem Vater zurückzukehren. Er erschauderte bei dem Gedanken an die Enttäuschung, die in jedem Wort seines Vaters mitschwingen würde.

»Du schaffst das, nicht wahr?«, hatte Lord Montagow an diesem Morgen gefragt und Roma auf die Schulter geklopft. Ein zufälliger Beobachter hätte es für die bestärkende Geste eines Vaters gehalten. Tatsächlich war der Schlag so kräftig gewesen, dass Roma immer noch ein rotes Mal auf der Schulter trug.

»Enttäusch mich dieses Mal nicht, Sohn«, hatte Lord Montagow geflüstert.

Immer dieses Wort. Sohn. Als hätte es eine Bedeutung. Als wäre Roma nicht von Dimitri Voronin ersetzt worden – nicht dem Namen nach, doch Dimitri wurde bevorzugt. Roma war in die Rollen verwiesen worden, für die Dimitri zu beschäftigt war. Roma fiel diese Aufgabe nicht zu, weil sein Vater ihm großes Vertrauen entgegenbrachte, sondern weil die Scarlet Gang nicht mehr das Einzige war, was ihre Geschäfte beeinträchtigte. Weil die Ausländer versuchten, die White Flowers zu verdrängen, und die Kommunisten ein ständiges Ärgernis darstellten, weil sie innerhalb der Ränge der White Flowers rekrutierten. Während Roma den Boden nach Blutspuren absuchte, verhandelten Lord Montagow und Dimitri mit Politikern. Sie wehrten die unermüdlichen Briten, Amerikaner und Franzosen ab, denen es danach gelüstete, ein Stück des Reichs der Mitte zu bekommen – allem voran Shanghai, die Stadt über dem Meer.

Wann hatte sein Vater ihn zuletzt in die Nähe der Scarlet Gang geschickt wie einen richtigen Erben, der den Feind kennen sollte? Lord Montagow wollte ihn nicht vor der Blutfehde schützen. Das war längst vorbei. Sein Vater vertraute ihm nicht. Er gab Roma diese Aufgabe als einen letzten Ausweg.

Ein langes, genervtes Stöhnen holte Roma in die Gegenwart zurück.

»Weißt du«, fauchte er und drehte sich um, wobei er seine Augen mit der Hand abschirmte, »du wolltest mitkommen.«

Marshall Seo grinste, weil er endlich Romas Aufmerksamkeit hatte. Anstatt eine witzige Bemerkung zu machen, steckte er die Hände in die Taschen seiner ordentlich gebügelten Hose und wechselte das Thema, indem er von Russisch in schnelles Koreanisch wechselte. Roma verstand »Blut« und »unangenehm« und »Polizei«, aber der Rest verlor sich in den geschwänzten Unterrichtsstunden seiner Jugend.

»Mars«, unterbrach ihn Roma. »Du musst Russisch sprechen. Ich habe heute keinen Kopf zum Übersetzen.«

Marshall antwortete mit einer weiteren Tirade. Er gestikulierte wie üblich eifrig und enthusiastisch mit derselben Geschwindigkeit, mit der er sprach, und feuerte Silben raus, bis Roma nicht mehr sicher war, ob Marshall sich immer noch in seiner Muttersprache äußerte oder einfach frustrierte Geräusche von sich gab.

»Sein Hauptproblem ist, dass es hier nach Fisch riecht«, seufzte eine dritte, leisere, müdere Stimme. »Aber du willst nicht hören, was für Vergleiche er heranzieht.«

Die Übersetzung kam von Benedikt Montagow, Romas Cousin, der ihr Trio vervollständigte. Sein blonder Schopf und der dunkle von Marshall steckten oft zusammen, um etwas auszuhecken, das Roma half. Im Moment inspizierte er jedoch einen Kistenstapel, der ihn überragte. Er war hoch konzentriert, nur seine Augen huschten von links nach rechts.

Roma verschränkte die Arme. »Seien wir froh, dass es nach Fisch riecht und nicht nach Tod.«