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Der neue »Enemies to Lovers«-Fantasyroman von TikTok Sensation Chloe Gong Jedes Jahr strömen Tausende nach San-Er, der gefährlichen, engbesiedelten Hauptstadt des Königreichs von Talin. Dort richtet der Palast jährlich eine Reihe tödlicher Spiele aus. Diejenigen, die sich ihrer magischen Fähigkeit, zwischen Körpern hin- und herzuspringen, sicher genug sind, können dort an einem Kampf auf Leben und Tod teilnehmen – mit der Chance, unvorstellbare Reichtümer zu gewinnen. Prinzessin Calla ist untergetaucht, seit sie ihre Eltern ermordet hat, weil sie das Volk von Talin von der tyrannischen Königsfamilie befreien will. Nur eine Person steht ihr dabei noch im Weg: ihr extrem zurückgezogen lebender Onkel, König Kasa. Wenn sie die Spiele gewinnt, hat sie endlich die Chance, ihm nahe genug zu kommen, um ihn zu töten. Ihr gegenüber steht Anton, ein junger Mann, der sich tief verschuldet hat. Die Spiele zu gewinnen ist seine letzte Chance, seine im Koma liegende Jugendliebe und sich selbst vor seinen Schuldnern zu retten. Als Anton Calla ein unerwartetes Bündnis vorschlägt, entwickelt sich ihre Partnerschaft schnell zu einer leidenschaftlichen, alles verzehrenden Verbindung. Doch bevor die Spiele enden, muss Calla sich entscheiden, wofür sie spielt – für ihren Geliebten oder ihr Königreich. Denn egal was passiert, nur einer von ihnen kann das Spiel lebend verlassen... »Immortal Longings ist die perfekte Mischung aus Spannung und Romance.« Glamour.co.uk »Immortal Longings ist eines dieser Bücher, die man nicht aus der Hand legen kann.« The Fantasy Hive »Chloe Gong verwebt meisterhaft eine komplizierte Welt, moralisch vielschichtige Charaktere und eine fesselnde Erzählung« Voice Magazine
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 537
Chloe Gong
Immortal Longings
Ein Spiel auf Liebe und Tod
– False Gods –
Aus dem Englischen von Elena Helfrecht
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Immortal Longings« im Verlag Saga Press, New York
© 2023 by Chloe Gong
Published by Arrangement with TRIADA US, INC., Sewickley, PA 15143 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutsche Ausgabe
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung einer Illustration des Originalverlags von © Will Staehle/Unusual Corporation
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-96626-8
E-Book ISBN 978-3-608-12355-5
Für Laura Crockett.Wäre das Verlegen von Büchern ein Arenakampf,wärst du meine engste Verbündete.
Nicht kann sie AlterHinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfenDie immerneue Reizung; andre WeiberSätt’gen, die Lust gewährend; sie macht hungrig,Je reichlicher sie schenkt, denn das GemeinsteWird so geadelt, daß die heil’gen PriesterSie segnen, wenn sie buhlt.
William Shakespeare, Antonius und Cleopatraübersetzt von Wolf Graf von Baudissin
Erleidet ein Lebewesen Brüche oder Blessuren, so ist es dazu gezwungen, sich selbst zu heilen. Ein Schnitt verschorft und hält das Qi des Menschen im Leib. Ein geteilter Knochen wächst glatt wieder zusammen und verwebt jede Fraktur mit neuen Fasern. Und wird an einem Gebäude in San-Er ein wunder Punkt entdeckt, so beeilt sich die Stadt, ihn zu flicken. Jeder Riss wird genau untersucht und mit Feuereifer nach allen Regeln der Baukunst behandelt. Vom obersten Punkt des Palastes aus sind lediglich die hochgeschichteten Gebäude der Zwillingsstädte zu sehen, die sich fest ineinander verzahnen und gegenseitig stützen. Manche Bauten schließen im Erdgeschoss aneinander an, andere fließen nur in den obersten Etagen zusammen. Da es jeden im Königreich Talin in die Hauptstadt zieht – in jene zwei Städte, die vorgeben, eine zu sein –, muss San-Er immer dichter und höher werden, um alle zu beherbergen. Gräuel und Gestank verschwinden hinter einem Schleier aus völliger Zusammenhanglosigkeit.
August Shenzhi umklammert die Balustrade fester und löst den Blick vom schier endlosen Dächermeer. Eigentlich sollte seine Aufmerksamkeit dem lauten, regen Markttreiben innerhalb des Kolosseums unter ihm gelten. Vor drei Generationen wurde der Palast der Einheit neben Sans gewaltigem Kolosseum errichtet. Genauer gesagt wurde er hineingebaut: Die Nordfassade des erhöhten Palastes geht direkt in die Südmauer des Kolosseums über; die Türmchen und Balkone drängen sich unmittelbar zwischen die Mauersteine. Von den Nordfenstern aus kann man den Markt zwar wunderbar überblicken, aber die Aussicht vom Balkon bleibt unübertroffen. Damals, als König Kasa noch in der Öffentlichkeit auftrat, hielt er hier oben seine Ansprachen. Für solche Veranstaltungen wurde der Markt geräumt, damit sich die Untertanen auf dem einzig unbebauten Platz der gesamten Stadt versammeln und ihrem Herrscher zujubeln konnten.
Es gibt keinen Ort, der mit dem Kolosseum vergleichbar wäre. San-Er selbst erstreckt sich nur über eine kleine Landzunge am Rande des Königreichs. Eine hohe Mauer trennt die Stadt von den ländlichen Gebieten Talins, der Rest wird vom Meer eingefasst. Doch entgegen ihrer geringen Fläche bildet die Stadt eine ganz eigene, in sich geschlossene Welt: Auf jeder Quadratmeile leben eng zusammengepfercht gut eine halbe Million Einwohner. In den ausgetretenen Gassen zwischen den Häuserschluchten – so schmal wie ein Nadelöhr – steht der Schlamm, als schwitzte der Lehmboden vor Überbeanspruchung. Tempelpriester und Prostituierte gehen im selben Gebäude ein und aus; Drogensüchtige und Lehrer schlafen unter demselben Vordach. Dass das Kolosseum als einziger Ort von Bauarbeitern und Hausbesetzern verschont bleibt, erscheint nur logisch – steht es doch unter dem stets wachsamen Blick des Königshauses und ist damit vor dem verzweifelten Wachstumsdruck sicher, der außerhalb seiner Mauern zunimmt. Risse man es ab, könnte man an seiner Stelle zehn, vielleicht sogar zwanzig neue Straßen und Hunderte von Wohnkomplexen errichten – was der Palast allerdings nie zulassen würde. Und das Wort des Palastes ist Gesetz.
»Gestatte mir, deinem Onkel den Hals umzudrehen, August. Ich habe ihn wirklich satt.«
Galipei Weisanna schlendert in den Saal, seine Stimme schallt auf den Balkon hinaus. Er spricht wie immer: knapp, auf den Punkt, ehrlich. Obwohl Galipei nur selten zur Lüge greift, muss er stets den Mund aufmachen – auch, wenn Schweigen die klügere Wahl wäre. August neigt den Kopf über die Schulter und blickt zu seinem Leibwächter. Die Krone rutscht ihm nach links vom Scheitel und bleibt schief im Haar hängen. Im Schein der Palastbeleuchtung umkreisen die roten Edelsteine blutstropfengleich seine weißblonde Lockenpracht, die er so gefährlich schräg hält, dass schon der kleinste Windhauch den metallenen Ring fortwehen könnte.
»Sieh dich vor«, erwidert August gelassen. »Hochverrat wird im Thronsaal nicht gern gesehen.«
»Das sollte dann aber auch für dich gelten.«
Galipei gesellt sich zu ihm auf den Balkon und rückt seine Krone mit einem geübten Handgriff zurecht. Im Gegensatz zu Augusts geschmeidiger Raffinesse strahlt er mit seiner breitschultrigen, hohen Statur eine gebieterische Autorität aus. In seiner dunklen Montur wirkt er wie ein personifizierter Teil der Nacht – zumindest, wenn die Nacht über und über mit Schnallen und Riemen ausstaffiert wäre, die allerlei Waffen am schweren Leder in Griffweite halten. Als er gegen die vergoldete Balustrade stößt und den Arm wie August darauf ablegt, ertönt ein melodisches Klirren, das mit dem lärmenden Markttreiben unter ihnen verschmilzt.
»Und wer sollte es wagen, so etwas zu behaupten?«, fragt August sachlich. Ohne zu prahlen. Nur mit dem tiefgreifenden Selbstvertrauen eines Menschen, der genau weiß, wie hoch oben er steht, weil er sich eigenhändig dort hinaufgekämpft hat.
Galipei brummt undeutlich vor sich hin. Nachdem er die Umgebung nach potenziellen Bedrohungen abgesucht hat, ohne etwas Ungewöhnliches festzustellen, wendet er sich von den Mauern des Kolosseums ab und folgt Augusts Blickrichtung – bis hin zu einem Kind, das neben der nächstgelegenen Reihe von Marktständen einen Ball durch die Gegend kickt.
»Wie ich höre, hast du die Vorbereitungen der Spiele übernommen.« Das Kind nähert sich dem Balkon. »Was heckst du aus, August? Dein Onkel …«
August räuspert sich. Galipei verdreht die Augen, nimmt die Zurechtweisung aber anstandslos hin.
»Dein Vater, entschuldige, hat mit dem Palast derzeit schon genug am Hals. Wenn du ihm auch noch Ärger machst, verstößt er dich schneller, als du blinzeln kannst.«
Augusts skeptisches Seufzen geht im warmen Südwind unter, der zu ihnen heraufweht. Er lockert seinen Kragen; die Seide ist so dünn, dass die Brise ihm eine Gänsehaut verursacht. Soll König Kasa seine Adoptionspapiere doch durch den Schredder jagen. Die werden sowieso bald keine Rolle mehr spielen. Die Intrigen, die über die letzten paar Jahre nötig waren, um alles offiziell auf Papier zu bringen, waren nur der erste Teil des Plans – bei Weitem aber nicht der wichtigste.
»Warum bist du hier?«, lenkt August vom Thema ab. »Ich habe gedacht, Leida hätte für heute Nacht deine Hilfe angefordert.«
»Sie hat mich wieder zurückgeschickt. An der Stadtgrenze ist alles in Ordnung.«
Statt seine unmittelbar aufkeimenden Zweifel zu äußern, runzelt August nur die Stirn. Abgesehen vom Kolosseum ist der äußerste Randbezirk Sans – kurz vor der Mauer, zwischen Müllbergen und ausrangiertem Elektroschrott – der einzige Ort in San-Er, an dem die Bürger genug Platz haben, um sich zusammenzurotten und Aufstände anzuzetteln. Auch wenn diese nie lange anhalten. In der Regel schwärmen die Gardisten sofort aus und zerschlagen sie; und im Anschluss sitzen die Aufrührer entweder auf unbestimmte Zeit in den Palastkerkern fest oder sie zerstreuten sich im feinmaschigen Gassenlabyrinth.
»Interessant«, sagt August. »Ich erinnere mich an kein Jahr, in dem es am Tag vor den Spielen keine Unruhen gab.«
Nur noch ein paar Schritte, dann stünde das Kind direkt unter ihnen. Die Kleine blendet ihre Umgebung völlig aus und dribbelt gekonnt um Käufer und Kundschaft herum, begleitet vom Trappeln ihrer durchgelaufenen Schuhsohlen auf dem unebenen Boden.
»Diesmal sollten die Spiele schnell über die Bühne gehen. Für die Auslosung haben sich kaum Freiwillige gemeldet.«
Mit kaum meint Galipei, dass es dieses Jahr nur Hunderte statt Tausende Bewerber gibt. Damals, als noch zwei Könige regierten, die für den begehrten Preis aus ihren Reichtümern schöpften, zog man die Spiele viel größer auf. Kasas Vater hatte sie während seiner Regentschaft ins Leben gerufen. Und was als jährlicher Zweikampf auf Leben und Tod begann, entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem Wettbewerb mit vielen Teilnehmern, der inzwischen weit über die Grenzen des Kolosseums hinausgeht und ganz San-Er als Spielfeld miteinbezieht. Einst war es nur schnöde Unterhaltung, dabei zuzusehen, wie sich erfahrene Kämpfer in der Arena gegenseitig in Stücke rissen – ein Spektakel, dem einfache Bürger aus der Ferne beiwohnten. Jetzt aber kann jeder aktiv am Nervenkitzel der Spiele teilhaben: Die perfekte Lösung für ein Königreich, in dem die Beschwerden überhandnehmen. Sorgt euch nicht, wenn eure Babys sterben, weil von ihnen bloß noch Haut und Knochen übrig sind, verkündet König Kasa. Sorgt euch weder um eure Alten, die wegen der Wohnungsnot in Käfigen schlafen müssen, noch um die Neonlichter des Striplokals gegenüber, die euch Nacht für Nacht den Schlaf rauben. Werft eure Namen in den Lostopf, schlachtet nur siebenundachtzig eurer Mitbürger ab und werdet mit mehr Reichtum belohnt, als ihr euch in euren kühnsten Träumen vorstellen könnt.
»Dann hat er also die Lose für unsere Teilnehmer gezogen?«, fragt August. »Alle achtundachtzig Glückspilze stehen fest?«
Achtundachtzig – die Zahl, die Glück und Wohlstand verheißt!, prangt groß auf den Werbepostern für die Spiele. Meldet euch vor dem Stichtag an, um vielleicht bald zu unseren hochgeschätzten Wettkämpfern zu gehören!
»Seine Majestät ist mächtig stolz. Diesmal hat er sich in Rekordzeit durch die Namen gewühlt.«
August lacht trocken auf. Kasas Geschwindigkeit hat rein gar nichts mit Effizienz zu tun. Seit August vor zwei Jahren eine Anmeldegebühr vorgeschlagen hat, ist der Lostopf deutlich geschrumpft. Man könnte meinen, in Anbetracht der sich stetig verschlechternden Lebensbedingungen sollten mehr Leute in der Hoffnung auf den Sieg ihre Namen hineinwerfen. Stattdessen wächst aber unter den Einwohnern San-Ers nur die Angst davor, dass die Spiele ein riesiger Schwindel sind – und dass der Sieger um seinen Hauptpreis betrogen wird, ebenso wie die Zwillingsstädte die Bürger permanent um ihren Lohn betrügen. Damit liegen sie gar nicht so falsch. Schließlich hatte sich August tatsächlich am Lostopf zu schaffen gemacht, um einen ganz bestimmten Namen hineinzuschmuggeln.
Abrupt tritt er von der Balustrade zurück und entspannt seinen verkrampften Hals. Nur an zwei besonderen Tagen im Jahr wird das Kolosseum zu seinen Füßen geräumt und für die Arenakämpfe genutzt, für die es ursprünglich erbaut worden war. Heute jedoch bleibt es ein Marktplatz: eine komprimierte Welt voller ölbespritzter Imbissbudenbetreiber, voller Schmiede, die lautstark auf Klingen einhämmern, und Frickler, die klobige, ausrangierte Computer für den Weiterverkauf auf Vordermann bringen. Jede Sekunde inhaliert San-Er die eigenen Abgase. Anders überlebt man hier nicht.
»August.« Eine Hand legt sich auf seinen Ellenbogen. Aus den Augenwinkeln begegnet er Galipeis silbrig-stählerner Iris. In der Achtlosigkeit, mit der er den Namen seines Prinzen herumposaunt, so ganz ohne Titel, schwingt eine unterschwellige Warnung mit. Statt sich jedoch vorzusehen, lächelt August. Ganz leicht nur, er zieht die Mundwinkel kaum merklich nach oben – das genügt schon, um Galipei ins Stocken zu bringen; der seltene Anblick wirft ihn völlig aus der Bahn.
August weiß genau, was er tut: ein kurzes Ablenkungsmanöver nur, und sobald Galipeis Aufmerksamkeit woanders ist, geht er auch schon zum nächsten Schritt über.
»Bring meinen Körper nach drinnen.«
Galipei hat den Bann schnell gebrochen und setzt an, zu protestieren. »Würdest du wohl damit aufhören, ständig durch die Gegend zu springen, als …«
Doch da ist August schon weg. Das Kind im Visier, stürzt er sich mit voller Wucht in den jugendlichen Körper und öffnet ruckartig die neuen Lider. An den Größenunterschied muss er sich erst gewöhnen. Für einen Moment gerät er aus dem Gleichgewicht, während die umstehenden Leute verdattert zurückweichen. Jedem ist klar, was hier soeben geschehen ist: Der Lichtblitz, der sich bei einem Sprung zwischen altem und neuem Körper spannt, ist unverkennbar. Obwohl der Palast das Springen längst verboten hat, ist es nach wie vor so verbreitet wie Bettler, die Reiskuchen aus unbewachten Marktständen stibitzen. Die Bürger haben gelernt, beide Augen zuzudrücken – insbesondere, wenn der Blitz in unmittelbarer Palastnähe auftaucht.
Dass aber ihr Kronprinz der Schuldige sein könnte, würde sicher niemand von ihnen erwarten.
August blickt zum Palast zurück. Wie eine Puppe ist sein Körper dort oben in sich zusammengesackt, aufgefangen von Galipei, in dessen Armen er sofort in Stase verfällt. Ohne Qi ist der menschliche Körper nur ein leeres Gefäß. Das Gefäß des Thronerben ist allerdings ein unfassbar kostbares Gut; und als Galipei Augusts pechschwarze Augen in dem Mädchengesicht erblickt, scheint er seine Lippen zu einer stummen Morddrohung zu formen.
August hingegen läuft bereits in die entgegengesetzte Richtung, womit er Galipei keine andere Wahl lässt, als seinen Stammkörper mit dem Leben zu verteidigen – damit niemand bis auf drei Meter herankommt und versucht, sich seiner zu bemächtigen. Auch wenn es ihm nicht schwerfallen würde, den Eindringling wieder hinauszudrängen. Augusts Qi ist stark. Falls er dupliert, also besetzt wäre, könnte er sich die Kontrolle mit Leichtigkeit zurückholen und den anderen entweder dazu zwingen, sich eine andere Bleibe zu suchen, oder körperlos herumzuirren. In den Zwillingsstädten gibt es keinen Menschen, dessen Körper er sich nicht zu eigen machen könnte – zumindest, solange er nicht bereits dupliert ist und ein gewisses Mindestalter erreicht hat: Erst mit zwölf, vielleicht dreizehn manifestiert sich das Sprung-Gen.
Das Problem sind nicht die, die seinen Körper aus Machtgier oder zum Vergnügen übernehmen würden. Nein, es sind die Aufrührer, die ihn aus Protest zerstören wollen, die sich darin blitzschnell vom nächsten Dach stürzen würden, ehe der Prinz ihn sich zurückholen könnte.
Nachdem August nur haarscharf einem Zusammenstoß entgangen ist, sucht er geduckt nach einem Weg fernab des Gedränges. An die plötzliche Überreizung muss er sich immer erst gewöhnen: an die höhere Lautstärke, die grelleren Farben. Vielleicht ist das hier der Normalzustand und die Sinne seines Stammkörpers sind inzwischen abgestumpft. Als ihn an einem Stand ein Schuhputzer anblafft und ihm ein paar Münzen hinhält, greift er mit seinen kleinen Händen einfach zu, ohne nachzufragen. Die Kleine arbeitet vermutlich als Botenmädchen. Umso besser. Nur wenige Menschen sind stark genug, um in Kinder zu springen, weswegen man den Jüngsten in der Regel vertraut. Völlig unbeachtet flitzen sie zwischen den Gebäuden umher und gelangen so in die entlegensten Winkel San-Ers.
Hastig lässt August das Kolosseum hinter sich und tritt auf eine der Hauptstraßen hinaus, die als direkte Verbindung zwischen dem Norden und Süden Sans fungiert. Da er seine hochkomplexe Stadt in- und auswendig kennt, schlägt er sogleich einen der weniger besuchten Wege ein, der unter tiefhängenden Stromleitungen hindurchführt. Als ihm ein paar Tropfen aus den feuchten Rohren in den Kragen fallen, zuckt er kaum mit der Wimper; trotzdem aber reizt die kalte Nässe nach einer Weile seine Haut, sodass er schließlich seufzend ein Gebäude betritt und seinen Weg durch Treppenhäuser und abgelegene Verbindungsgänge fortsetzt. Sein neuer Körper verfügt nicht über ausreichend Erkennungsmerkmale, um irgendwelche Rückschlüsse auf seine Identität zuzulassen – diese Tatsache allerdings gibt an und für sich schon genug preis. Keine Male oder Tätowierungen, also auch keine Zugehörigkeit zum Sichelbund.
»Hey! Du da, bleib mal stehen.«
August, zuvorkommend wie immer, hält an. Eine alte Frau steht vor ihrer Wohnungstür und sieht ihn besorgt an, den Wassereimer in die Hüfte gestemmt.
»Wo sind deine Eltern?«, fragt sie. »Das hier ist ’ne miese Gegend. Der Sichelbund hat alles im Blick. Die reißen sich noch deinen Körper untern Nagel.«
»Ich hab alles im Griff.« Aus dem Mädchenhals klingt seine Stimme hoch, nett und lieblich. Nur sein Tonfall wirkt eine Spur zu selbstsicher. Zu hoheitsvoll. Der Frau fällt das sofort auf, doch als ihr Blick allmählich misstrauisch wird, ist August längst weitergelaufen. Immer den an die Mauern gesprühten Wegmarkierungen nach, betritt er schließlich einen weiteren Gang, der in ein benachbartes Gebäude mündet. Durch die dünnen Putzwände dringt leises, schmerzerfülltes Gestöhne. Private Krankenhäuser gibt es in dieser Gegend en masse – voller unhygienischer Behandlungsräume und verdrecktem Operationsbesteck. Trotzdem reißt der Strom an Patienten nie ab, denn die Behandlungen hier kosten deutlich weniger als in den offiziellen Institutionen von Er. Mit Sicherheit handelt die Hälfte dieser privaten Einrichtungen unter der Hand mit Körpern. Aber wenn hier und da mal jemand verschwindet, schert sich niemand genug darum, um der Sache auf den Grund zu gehen. Am allerwenigsten der Palast – da kann sich August auf den Kopf stellen.
Er biegt um die nächste Ecke, und die Atmosphäre verändert sich schlagartig. Der Zigarettenqualm, der unter den niedrigen Decken wabert, ist so undurchsichtig, dass er das Licht der dämmrigen Glühbirnen fast ganz erstickt. San ist eine Stadt der Dunkelheit. Jetzt ist es Nacht, doch selbst im Sonnenschein stehen die Gebäude so dicht an dicht, dass die Straßen permanent in Schatten gehüllt sind. Im Vorbeigehen zählt August die Türen ab: Eins, zwei, drei …
An der dritten klopft er; seine schmächtige Faust passt problemlos durch die Metallstäbe der Gittertür davor. Als die Holztür dahinter aufschwingt, steht auf der Schwelle ein Mann, gut doppelt so groß wie er. Seufzend blickt er über die Nasenspitze hinweg zu August herab.
»Wir haben nichts zu essen übrig …«
Wieder springt August. Von außen betrachtet wirkt der Vorgang so schnell wie der Blitz, der ihn sichtbar macht, doch anfühlen tut er sich immer so langsam, als würde man durch eine Backsteinmauer waten. Je länger die Sprungdistanz, desto dicker die Mauer. Vom weitesten Punkt aus, an der äußersten Drei-Meter-Grenze, kommt es einem so vor, als würde man sich durch anderthalb Kilometer massives Gestein kämpfen. Und die, die sich zwischen den Körpern verirrt haben, sitzen dort fest – verdammt dazu, bis in alle Ewigkeit in jenem unstofflichen Raum umherzuwandern.
Als er die Lider wieder öffnet, steht vor ihm das kleine Mädchen mit den leuchtend orangefarbenen Augen, die es nun verwirrt aufgerissen hat. Nicht alle Einwohner Talins können springen, und selbst die, die über das Gen dazu verfügen, haben oft so dürftig ausgeprägte Fähigkeiten, dass sie es lieber nicht riskieren, falls sie den Kampf um einen Körper verlieren. So oder so kann man – ganz egal, ob man über das Sprung-Gen verfügt oder nicht – jederzeit übernommen werden, solange man nur von einem Qi durchströmt wird. Insbesondere von jemandem wie August. Das Mädchen kommt schnell dahinter, was passiert sein muss.
»Hau ab«, befiehlt August der Kleinen und schließt die Tür zur Spielhölle. Da die Gäste den Blitz mitbekommen haben, ist ihnen sofort klar, dass jetzt ein anderer im Körper des Türstehers steckt. Glücklicherweise wird August aber bereits erwartet.
»Eure Hoheit!«
Obwohl der Betreiber seit Augusts letztem Besuch hier das Gesicht gewechselt hat, weiß er, dass es sich noch um dieselbe Person handelt. Körper sind austauschbar, aber die blassvioletten Augen des Mannes sind nach wie vor unverkennbar.
»Habt ihr sie gefunden?«, fragt August.
»Ihr kommt gerade recht«, sprudelt es aus dem Mann hervor, der die Frage ignoriert. »Bitte folgt mir, Prinz August.«
Vorsichtig geht August hinter ihm her. Sein neuer Körper ist riesig und muskelbepackt; um nicht ins Stolpern zu geraten, vermeidet er allzu hastige Bewegungen. Stirnrunzelnd und mit geballten Fäusten schlängelt er sich durch die Karten- und Mah-Jongg-Tische, die so eng beieinander stehen, dass dazwischen kaum Platz ist. Unter seinem Schuh knirscht etwas, vielleicht eine Heroin-Spritze. An einem der Tische greift eine Frau nach ihm, nur um über das feine Leder seiner Jacke zu streichen.
»Hier rein. Die Fotos sollten inzwischen fertig entwickelt sein.«
Der Mann hält ihm die Tür auf. August tritt ein und blickt sich im roten Schummerlicht um. Auf Augenhöhe verläuft ein Gewirr aus dünnen, gespannten Schnüren, an denen trocknende Abzüge in unterschiedlichen Belichtungsstufen hängen. Der Mann löst einen von der Klammer und lässt die Leine mit zittrigen Fingern hochschnalzen. Ehe er ihn August reicht, zögert er jedoch, den Blick starr darauf gerichtet.
»Stimmt was nicht?«
»Nein. Nein, alles bestens.« Kopfschüttelnd schiebt er seine Zweifel beiseite. »Wir haben die Archive gründlich durchkämmt. Jede einzelne Datenbank. Das ist sie, Eure Hoheit, garantiert. Wir wissen Euer Vertrauen und Eure Unterstützung zu schätzen.«
August hebt eine Braue, was ihm in diesem Körper allerdings schwerfällt. Also zeigt er auf den Abzug, worauf der Mann ihn hastig herüberreicht. Plötzlich scheint die ganze Dunkelkammer gespannt den Atem anzuhalten. Die Entlüftung kommt stotternd zum Stillstand.
»Hm«, sagt August, »gute Arbeit.«
Trotz der monochromen Deckenbeleuchtung, die den Farbton der Fotografie verfälscht und die Augen des Sujets blasser darstellt, besteht nicht der geringste Zweifel. Die Frau auf dem Bild steigt gerade von der letzten Treppenstufe vor einem Gebäude. Sie trägt Lederhandschuhe, eine Maske über Mund und Nase und wendet sich mitten in der Bewegung ab – doch August würde sie überall wiedererkennen. Sie würde ihren Körper niemals aufgeben, selbst unter den aktuellen Umständen. Stattdessen stellt sie ihn ganz offen zur Schau: Fünf lange Jahre lebt sie schon getarnt hier in der Stadt, direkt unter seiner Nase.
»Ach, Cousinchen«, flüstert August dem Foto zu. »Jetzt kannst du dich nicht mehr verstecken.«
Prinzessin Calla Tuoleimi war endlich gefunden.
Ein Tropfen fällt von der Decke. Dann noch einer. Calla blickt genervt hoch, was das Wasser nicht davon abhält, ihr weiterhin in den Kragen zu tröpfeln. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als ein paar Zentimeter nach links zu rutschen und sich dichter an die staubige Wand zu drücken.
»Warum zur Hölle dauert das so lange?«, murmelt sie vor sich hin.
Sie kauert am unteren Ende des Treppenhauses in ihrem Wohngebäude und behält den Eingang zum Flur im Auge, während sie drei Blattstreifen einer Flachslilie zu einem Armband verflicht. Ihre Wohnung liegt am Ende eines langen, verwinkelten Ganges: ein schäbiges Quartier im Erdgeschoss, bestehend aus ein paar beengten Zimmern mit Armbrust-Zielscheiben an den Türen. Meistens hält sie sich nur ungern außerhalb davon auf, in den Treppenhäusern und Fluren, in denen Waisenkinder und Obdachlose betteln oder zusammenhanglosen Mist durch die Gegend brüllen. Eigentlich gibt es keinen Grund, sich hier draußen herumzutreiben – es sei denn, man möchte jemanden am Eingang abfangen. Calla tritt mit dem Stiefel nach einem Steinchen in der Ecke und geht in die Hocke.
Tja. Heute muss sie jemanden abfangen. Sonst verläuft sich jeder auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Darum wartet sie und flicht zum Zeitvertreib ihr Armband. Nur eine vereinzelte Wandlampe erhellt den düsteren Nachmittag, aber die flackernde Glühbirne darin droht jeden Moment zu erlöschen. Das Stromnetz ist permanent überlastet. Die Stadtbewohner zwacken sich etwas von den Leitungen und Stromkästen ab, genauso wie vom Wasser, das sie mit selbstgebauten Rohren aus den unterirdischen Pumpen saugen. San stinkt nach Diebstahl und Verwesung – nach Müllbeuteln in Schlammpfützen und ausrangierten Plastikwannen in den Gassen, in denen Penner ihren Abfall entsorgen. Die untersten Stockwerke trifft es immer am härtesten. Die höher gelegenen Wohnungen, die ein Stück über die Skyline ragen, bekommen zur richtigen Tageszeit sogar eine frische Meeresbrise ab.
Dabei ist das Leid in San-Er keine Strafe, nur eine Lebensweise. Das Murren der Bewohner geht sofort im stetigen Summen der Fabriken unter. Die Zwillingsstädte werden von einer permanenten Lärmblase umgeben, in der kein Geräusch besonders heraussticht und keines übertönt werden kann.
Als plötzlich Schritte erschallen, hält Calla beim Flechten inne und blickt abrupt auf. Das Gebäude verfügt noch über viele andere Zugänge: entweder übers Dach oder von den benachbarten Wohnkomplexen aus, deren Außenmauern in einigen Stockwerken zugunsten praktischer Verbindungsgänge eingerissen wurden. Die Laufburschen des Palastes finden sich hier im Straßengeflecht nie zurecht – in diesem Sumpf aus Obszönitäten, der vorgibt, eine Stadt zu sein; in der pulsierenden, röchelnden Hälfte von San-Er. Sie halten sich strikt an die Bodenroute, lesen mit zusammengekniffenen Augen die verblichenen Markierungen an den Haupteingängen der Wohnblocks und schlängeln sich erst dann durch die Gässchen, tiefer hinein in die Stadt. Achtundachtzig Päckchen mit achtundachtzig Armbändern sollen heute in den Zwillingsstädten ausgeliefert werden. Und eines davon geht an Calla, obwohl sie gar nicht auf der Liste steht.
»Was bastelst du da?«
Neugierig streckt ein kleiner Junge den Kopf unter der Treppe hervor, worauf Calla naserümpfend in seine Richtung blickt. Der Kleine starrt vor Dreck, die eingetrocknete braune Kruste an seiner Hose ist so dick, dass sie abblättert. Während er auf sie zutappt, durchschreitet der Unbekannte endlich die Tür. Im Dämmerlicht kneift Calla die Augen zusammen. Zu alt. Zu viele Einkaufsbeutel im Schlepptau. Folglich kein Kurier. Sie lehnt sich ein Stück zur Seite, um den Ankömmling zu seiner Wohnung im Erdgeschoss durchzulassen.
»Hat dir das denn niemand beigebracht?« Sie wendet sich wieder dem Kind zu. »Wenn du deine Nase zu tief in fremde Angelegenheiten steckst, rauscht dir ein Gott ins Nasenloch und stiehlt dir deinen Körper.«
Der Junge runzelt die Stirn. »Wer sagt denn so was?«
»Glaubst du mir etwa nicht?«, fragt Calla und verknotet ihr Armband. »Draußen in den Provinzen haben sie solche Angst vor den Göttern, dass sie einander nicht mal in die Augen schauen. Eine falsche Frage – das genügt manchmal schon, damit ein heimtückischer Gott in dich hineinschlüpft und dein Qi auslöscht.«
Abschließend bindet sie das Ende des Armbandes zu einem hübschen Schleifchen. Das Knüpfen und die Pflege von Flachslilien ist ein typischer Zeitvertreib der Kinder draußen in den Provinzen. Callas Flechtwerk steht also im krassen Gegensatz zu ihrem kultivierten Erscheinungsbild: dem geradlinigen Pony, der ihr in die Augen fällt; dem schwarzen Haar, das sich wie ein Wasserfall bis zu ihren Hüften ergießt; der schwarzen Maske über Mund und Nase, die ihre Stimme dämpft.
Prinzessin Calla Tuoleimi sieht jetzt ganz anders aus als früher, auch wenn sie immer noch denselben Körper bewohnt – wider Erwarten, wo sie doch eine so große Auswahl hat. Ohne die ausschweifenden Palastmahlzeiten ist sie etwas abgemagert, und ihre Gesichtszüge wirken markanter, fast schon eingefallen. Nach dem ersten Monat im Untergrund hat sie die Pausbacken eingebüßt und sich jedes Mal im Spiegel darüber erschreckt, wie viel boshafter sie jetzt aussieht. Dann allerdings ist sie zu dem Schluss gekommen, dass sie ihr neues Aussehen als Geflüchtete genauso gut annehmen kann. Also hat sie zur Schere gegriffen und sich einen schnurgeraden Pony geschnitten, der gerade lang genug ist, um ihre Augen zu verbergen. Inzwischen kürzt sie ihn nur noch, wenn er ihr Blickfeld wirklich massiv behindert. Schließlich besteht immer die Gefahr, dass jemand sie erkennt. In einer Stadt, in der kaum jemand auf Gesichter achtet (sie verändern sich ja ständig) fällt diese zwar gering aus, aber unterschätzen sollte man sie trotzdem nicht.
Dem Palast zufolge ist Calla natürlich tot. Nachdem man sie in jener Nacht bei ihrem Fluchtversuch über die Mauer erwischt hatte, ließ man gleich Gerechtigkeit walten, und jetzt können die Bürger San-Ers wieder beruhigt schlafen – in dem Wissen, dass sich keine mordlustige Prinzessin in den Nachbarschaften herumtreibt. Einige Mitglieder des Sichelbundes haben das infrage gestellt: Warum wurde zu Callas Beerdigungszeremonie nicht ihr Stammkörper beigesetzt? Warum traut sich König Kasa immer noch kaum aus dem Palast? Aber der Sichelbund stellt schon immer infrage, wie der Palast der Einheit sein Reich regiert, auch wenn er nur eine kleine Minderheit ist.
»Du bist aber nicht besonders nett«, brummt der Junge.
»Sehe ich denn nett aus?« Wieder tritt sie ein Steinchen über den verdreckten Boden. Innerhalb der letzten Stunde sind die meisten Bewohner dieses Wohnkomplexes ohne Blickkontakt an ihr vorbeigegangen. Ein kurzes Schielen aus den Augenwinkeln hat ihnen offenbar genügt, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie sich lieber nicht der Gefahr eines Überfalls aussetzen. »Deine Eltern sollten dich dafür ausschimpfen, dass du mit Fremden redest.«
»Meine Eltern sind tot.«
Ganz ruhig sagt er das. Mit gleichbleibendem Tonfall, ohne die geringste Emotion.
Seufzend hält Calla ihm das Armband hin, das sie soeben fertiggestellt hat, zusammen mit einer Münze aus ihrer Manteltasche. »Hier. Für dich. Vielleicht bin ich doch nett.«
Der Junge huscht zu ihr und nimmt die Geschenke entgegen. Sobald er das Geld fest in der Hand hat, flitzt er damit fröhlich quietschend hinaus, vermutlich voller Vorfreude, es gleich an einer Marktbude oder im nächsten Internet-Café auszugeben. Als er fort ist, ertönen draußen in der Gasse wieder Schritte. Diesmal klingen sie weicher, federnder als vorhin.
Instinktiv hastet Calla zur Tür und späht durch den Spalt. Gerade als sie den Kopf hinausstreckt, bleibt vor ihr ein Junge mit Päckchen im Arm stehen. Obwohl er hochgewachsen ist, scheint er kaum älter als fünfzehn zu sein. Der Palast schickt jugendliche Boten los, weil sie vor Erreichen der Volljährigkeit weniger Gefahr laufen, übernommen zu werden. So hofft das Königshaus, seine kostbare Fracht vor dem Schwarzmarkt zu bewahren. Mit minderjährigen Kurieren zu arbeiten, ist allerdings kein narrensicherer Plan, wenn ihnen doch jeder halbwegs engagierte Dieb einfach ein Messer an die Kehle halten und die Sache damit abhaken kann. Aber es hat ja auch niemand behauptet, der Palast wäre klug.
»Hallo«, sagt der Kurier.
Calla grinst, und ihr ganzes Gesicht verändert sich schlagartig. Die kajalumrandeten Augen funkeln plötzlich wie die eines Raubtiers. Sie hat schon früh gelernt, dass sie unkenntlicher wird, je breiter sie lächelt. Dabei muss gar keine echte Herzlichkeit mitschwingen; es muss nicht einmal fröhlich wirken. Solange dabei nur ihre Augen – grell-gelb wie zwei Glühbirnen kurz vor dem Durchbrennen – so weit wie möglich in den Lachfalten verschwinden. Bei der Vielzahl von Gelbtönen in San-Er mag der Anblick im flüchtigen Vorbeigehen nicht weiter auffallen, doch tatsächlich gibt es nur einen anderen Menschen mit exakt derselben Augenfarbe: den König. Seit drei Generationen ist das königliche Gelb nämlich das erbliche Erkennungsmerkmal der Shenzhis in San und der Tuoleimis in Er, eindeutig charakterisiert durch den umbrafarbenen Ring, der etwas dunkler um die Pupille verläuft. Da Kasa nur einen adoptierten Sohn hat – August –, ist Calla die letzte Überlebende ihrer Blutlinie, seit ihre Eltern, die einstigen Herrscher von Er, umgekommen sind.
»Du bist ein Schatz.« Calla streckt die Hand nach dem Paket aus. »Apartment 117, Block 3, Nordseite, stimmt’s?«
Der Junge senkt den Kopf und überprüft die winzige Schrift auf dem Päckchen.
»Na, sieh mal einer an. Stimmt genau. Bitteschön.«
In einigem Abstand hält er ihr mit ausgestreckten Armen das Paket hin. Die Gasse wirkt so trüb-grau wie immer. Als Calla nach der Lieferung greift, bleibt ihr Blick am Gesicht des Jungen hängen und sie versucht, im Dämmerlicht Einzelheiten auszumachen. Merkwürdig, dass er ihr nicht in die Augen schaut und stattdessen auf seine Schuhe starrt.
Calla greift am Paket vorbei und umklammert sein Handgelenk.
Ruckartig hebt er den Kopf. Trotz der schrecklichen Lichtverhältnisse blitzen seine Augen kurz auf, sodass ihr die silbrig-stählerne Iris auffällt.
In San-Er gibt es auch dafür eine exakte Bezeichnung: Die zweitberüchtigtste Farbe neben königlichem Gelb heißt Weisanna-Silber.
Sofort schlägt Calla ihm das Päckchen aus der Hand, das in der nächsten Pfütze landet. Ehe der Junge reagieren kann, hat sie ihn auch schon mit voller Wucht zu Boden gestoßen und stellt einen Stiefel auf seinen Brustkorb.
»Wer zur Hölle bist du?«, faucht sie. Das ist kein Junge. Das ist ein Mitglied des Weisanna-Clans, der einzigen Blutlinie in der ganzen Stadt, vielleicht sogar im gesamten Königreich, deren Stammkörper allen potenziellen Eindringlingen verschlossen bleibt.
»Ich?«, presst der Junge – der Weisanna – röchelnd hervor, »Prinzessin Calla, vielleicht solltet Ihr besser auf Euch aufpassen.«
Calla erstarrt. Schlagartig gefriert ihr der Atem und verwandelt ihre Lunge zu Eis. Man hat sie erwischt. Jemand weiß Bescheid.
»Du rückst besser sofort mit der Sprache raus«, befiehlt sie, »bevor ich …«
Sie hebt die fest geballte Faust; der raue Handschuh spannt sich schmerzhaft über ihre Fingerknöchel. Da tritt plötzlich eine Frau aus der Gasse, bleibt erschrocken stehen und nimmt den Einkaufskorb auf den anderen Arm.
»Was in aller …«
»Nicht!«, brüllt Calla und streckt warnend die Hand aus.
Doch zu spät. Die Frau ist gerade nah genug an die beiden herangekommen. Für einen Moment erhellt der Blitz zwischen Junge und Frau den düsteren Tag. Als Calla den Lichtbogen weggeblinzelt hat, der sich kurzzeitig in ihre Netzhaut gebrannt hat, rennt die Frau auch schon ins Gebäude und die Stufen hinauf. Den Einkaufskorb lässt sie stehen. Ausgerechnet jetzt muss diese Weltverbesserin hier auftauchen!
»Was ist passiert?«, fragt der echte Kurier im Erdgeschoss. Er blinzelt, seine Augen leuchten nun magentarot.
Wohingegen normale Körper nur dann nicht übernommen werden können, wenn sie schon von zwei Qis durchströmt werden, werden die Weisannas so geboren, als wären sie permanent dupliert – obwohl nur ein Qi durch ihre Adern fließt. Sie können andere also problemlos besetzen, während sie vor Eindringlingen geschützt sind, selbst wenn sie ihre Stammkörper in Stase auf dem Boden zurücklassen. Die gesamte Königliche Leibwache setzt sich ausschließlich aus Weisannas zusammen, ebenso wie der Großteil der Palastgarde. Mit einem solchen Schutzschild bleibt die Königsfamilie natürlich problemlos an der Macht: Potenzielle Bedrohungen werden abgeschreckt, bevor sie überhaupt entstehen.
Calla stößt einen Fluch aus und holt das Paket aus der Pfütze. »Kauf dir mehr Schutz-Talismane. Dein Körper wurde gerade übernommen«, ruft sie dem Kurier zu. Dann hastet sie ebenfalls die Treppe hinauf und erhascht im ersten Stock einen Blick auf den Weisanna, der durch einen Gang in das benachbarte Gebäude verschwindet. Fast alle Bauten in San sind miteinander verbunden, die Außenmauern wurden allmählich zu durchbrochenen Zwischenwänden. Als Calla an einer Kreuzung innehält, erspäht sie den Weisanna wieder durch eines der nun sinnbefreiten Fenster, die die ganze Etage durchsetzen. Sie sind der letzte Beweis dafür, dass es zwischen den städtischen Gebäuden einst Platz gab, bevor sie miteinander verschmolzen sind.
»Hey!«, schreit Calla.
Der Weisanna rennt unbeeindruckt weiter. Calla bleibt ihm auf den Fersen und stürmt in das nächste Stockwerk, begleitet vom Dröhnen ihrer schweren Stiefel. Hier herrscht dichtes Gedränge. Viel zu viele Leute sehen sich in den Läden um oder begutachten die Fleischstücke, die bei den Metzgern aushängen. In der Hoffnung, am Rand käme sie besser voran, schlängelt sich Calla näher an den Ladenfassaden vorbei, aber da tritt sie vor dem Friseursalon in einen großen Haarhaufen und verliert fast das Gleichgewicht. Voller Ekel bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich wieder mitten in die Menge zu begeben. Fluchend weicht sie einem Pärchen aus, das einen klobigen Computer zur nächsten Reparaturstelle bringt.
Spränge sie, käme sie viel schneller voran, aber das tut sie nicht – und wird es auch nie tun. Stattdessen behält sie die Geschwindigkeit bei, das durchweichte Paket im Arm und ihr Ziel im Visier. Fast macht es den Eindruck, als spiele der Weisanna mit ihr. Immer wenn sie glaubt, sie hätte ihn aus den Augen verloren – wenn sie im Einkaufsgetümmel untergeht oder ihr ein paar Bauarbeiter mit ellenlangen Brettern der Weg versperren –, blitzt er in den Augenwinkeln auf, gerade lange genug, damit sie ihm über eine Treppe oder durch einen weiteren Gang folgen kann. Immer wieder wechselt ihre Umgebung rasant zwischen Geschäfts- und Wohnvierteln ab; mal dehnen sich die kühlen Mauern links und rechts aus und gehen in Läden über, dann laufen sie wieder schmaler zusammen, um den Wohnungen Platz zu machen. Immer höher steigt sie hinauf, bis sie den Weisanna plötzlich dauerhaft im Visier hat. Die nächste absurd steile Treppe erklimmt Calla immer drei Stufen auf einmal und platzt schließlich durch die Tür ganz oben.
Das Sonnenlicht raubt ihr fast die Sicht. Obwohl sie nur schwach scheint, muss Calla sich an den Schock der Helligkeit zunächst gewöhnen. Hektisch hält sie sich die Hand vors Gesicht und kämpft gegen den Schwindel an – da erspäht sie ihr Ziel endlich an der Kante des Flachdachs.
»Du …«
Sie packt die Frau an der Schulter und wirbelt sie herum, doch der Weisanna ist längst fort. Verwirrt blinzelt die Dame, deren Augen nun ein verwaschenes Rot angenommen haben. Verdammt. Der Weisanna ist gesprungen, ohne dass sie es bemerkt hat. Irgendwann während ihrer Verfolgungsjagd muss er in einen anderen Körper geschlüpft sein.
»Was mache ich hier?«, stammelt die Frau.
»Sie hätten sich nicht einmischen sollen«, erwidert Calla ohne das geringste Mitgefühl. Dann zeigt sie auf die Tür nach drinnen. »Na los, gehen Sie schon.«
Für den Bruchteil einer Sekunde mustert sie Calla von oben bis unten und versucht, trotz Maske ihr Gesicht zuzuordnen. Als ihr Versuch scheitert, löst sie den Blick und hastet ohne zweite Aufforderung hinein. Laut fällt die Dachtür hinter ihr ins Schloss.
Calla reißt sich die Maske vom Gesicht und atmet gierig ein.
Prinzessin Calla, vielleicht solltet Ihr besser auf Euch aufpassen.
Sie stößt einen lauten Schrei aus. Die Tauben, die auf einer Dachantenne ganz in der Nähe sitzen, flattern verschreckt auf. Falls König Kasa sie entdeckt hat, ist sie so gut wie tot. Dann kann sie die Spiele vergessen. Und ihre Gerechtigkeit. Dann würde ein Weisanna sie in den Palast schleifen und ihren Kopf unter einem Fallbeil platzieren.
Die einzig verbliebene Taube gurrt sie verdrossen an, als Calla den Schrott wegkickt, der überall auf dem Dach verstreut liegt. Es ist dreckig hier oben. Tagsüber spielen hier Kinder, nachts verwandelt es sich in einen Schlupfwinkel für Junkies. Die Hauptattraktion sind ein paar ausgediente Wasserkocher und eine zerbrochene Toilettenschüssel in der Mitte, umgeben von einem Beiwerk aus wild verstreuten Holzlatten und abgebrochenen Plastikstuhlbeinen. Calla geht in die Hocke, doch als sich ihre erschöpften Beine zu Wort melden, setzt sie sich doch hin. In Anbetracht ihrer schlechten Laune kümmert sie der eventuelle Dreck an ihrer Hose kaum. So wie alle anderen, zwackt auch sie ihr Wasser von den öffentlichen Leitungen ab. Später kann sie also einfach den Hahn aufdrehen und die Hose im Waschbecken schrubben, bis sie sauber ist – oder bis die Rohre im Flur etwas zu stark ruckeln und die Nachbarn Verdacht schöpfen.
Für eine schier endlos währende Minute sitzt sie wutentbrannt mit zusammengebissenen Zähnen da und hält das Päckchen umklammert. Dann reißt sie es leise fluchend an der Ecke auf und schüttelt die Plastikverpackung, bis ein Armband herauspurzelt. Der Kurier war zwar ein Weisanna, aber offenbar hat ihn tatsächlich der Palast geschickt. Wie viele Leute wissen Bescheid? Und warum sollte man sie an den Spielen teilnehmen lassen?
Wie von selbst schnappt die Magnetschnalle um ihr Handgelenk. Calla streckt den Arm aus und bereitet sich auf das laute Piepen vor, das ertönt, sobald der kleine Bildschirm angeht. Nach einer Minute monochromem Geflimmer vibriert das Band und das Grau weicht einem blinkenden Cursor, der sich vor dem blau leuchtenden Hintergrund abzeichnet. Am unteren Rand tauchen die Nummern 1 bis 9 auf.
»Wie bin ich bloß hier gelandet?«, murrt sie vor sich hin. »Ich nehme an den Spielen teil wie ein halb verhungertes Straßenmädchen.«
Eigentlich ist das fast schon unfair. Andere Teilnehmer sind nicht im Palast aufgewachsen, haben keine Ausbildung in Strategie und Waffenhandhabung erhalten. Sie haben sich nicht fünf Jahre lang in einer beengten Wohnung verschanzt und unerbittlich trainiert, um das perfekte Attentat vorzubereiten. Gegen die anderen anzutreten wird sein, als würde Calla ein paar Schmeißfliegen erschlagen. Auch wenn es ihr nicht ums Kämpfen geht. Nein, Calla hat ein höheres Ziel im Blick: den Sieg – und denjenigen, dem sie bei der Preisverleihung persönlich gegenüberstehen wird: König Kasa.
In den vergangenen fünf Jahren hat er den Palast von San kein einziges Mal verlassen. Und wenn er nicht herauskommt, dann wird sie sich eben hereinbitten lassen, um ihm endlich den Garaus zu machen.
Sie streicht über ihr Armband. In den leeren Seitenschlitz gehört eigentlich ein Chip, aber die werden erst bei der Einführungsveranstaltung ausgegeben. Sobald der Chip dann im Armband steckt, darf er nicht mehr entfernt werden – das betrachten die Bürger San-Ers nämlich als die langweiligste Art auszuscheiden. Den Chip zu ziehen oder nicht nach spätestens vierundzwanzig Stunden einzuchecken, ist aber zumindest eine gute Methode, sich aus dem Wettbewerb zu verabschieden, ohne sein Leben zu lassen.
Endlich entdeckt Calla die winzigen Knöpfe. Sie erweisen sich als widerspenstig und lassen sich nur schwer drücken. Der linke wählt die Zahlen mit einer gelben Box an, der rechte bestätigt die Auswahl. Sie hat genug Spielberichte und Überwachungsmitschnitte gesehen, um zu wissen, dass sie jetzt ihre Kennnummer eingeben muss. Diese ist für jeden Bürger San-Ers einzigartig. Die Türen und Bankschließfächer der Stadt öffnet man nicht etwa mit Schlüsseln, sondern mit Nummern. An einem Ort, an dem man seinen Körper im Handumdrehen wechseln kann, fällt es zwar leicht, sein Aussehen zu ändern, aber es gestaltet sich als unmöglich, auf Dauer unter falscher Identität zu leben. Nichts hält Calla davon ab, sich den Körper eines steinreichen Ratsmitglieds unter den Nagel zu reißen – doch in dem Moment, in dem sie sich Zutritt zu seinem Haus verschaffen wollte, hätte man sie erwischt. Sobald jemandem die veränderte Augenfarbe auffiele, wäre das Spiel aus.
Außerdem ist es riskant, ein dupliertes Gefäß über einen längeren Zeitraum zu bewohnen. Selbst falls der Eindringling trotz schwächerem Qi nicht vom ursprünglichen Bewohner des Körpers vertrieben wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis alles den Bach runtergeht, bis man Stimmen hört und Geister sieht. Eigene und fremde Erinnerungen gehen fließend ineinander über, zwei Bewusstseine verschmelzen zu einem. Ein normaler Bürger mit Sprung-Gen würde nie lange im Körper eines anderen verweilen – nicht nur aus Angst, erwischt zu werden, sondern auch, weil der neue Körper zur Todesfalle werden kann. Um ein solches Wagnis einzugehen, muss man sich seiner selbst schon enorm sicher sein. Und obwohl sich Calla ihrer selbst tatsächlich sehr sicher ist, möchte sie diese Theorie nicht wirklich austesten.
Piepsend akzeptiert das Armband ihre Nummer. Das ist zwar nicht ihre echte, aber es funktioniert trotzdem. Der Bildschirm blinkt. Einmal. Zweimal. Dreimal.
12:00:02
12:00:01
12:00:00
Calla rafft sich auf und kickt die leere Verpackung in den herumliegenden Müll. Sie muss duschen. Noch einmal sauber sein, vor dem großen Blutbad.
***
Anderswo in San-Er bekommt Anton Makusa endlich sein Armband in die Finger. Es ist seine Schuld, dass er letzten Endes Kurieren quer durch die Zwillingsstädte nachjagen musste, aber er ist trotzdem unverhältnismäßig schlecht gelaunt. Der zuständige Kurier hat immerhin zur Wohnung gefunden, die unter seiner Kennnummer angemeldet ist. Da seine Bleibe im dritten Stock aber schrecklich beengt ist und das Bassgewummer aus dem Puff im Erdgeschoss die Wände permanent zum Beben bringt, hält er sich nur selten dort auf. In dieser Nachbarschaft herrscht immer ein unerträglicher Gestank. Das liegt vor allem an der unmittelbaren Nähe zum Rubi-Kanal, der San und Er voneinander trennt.
Seufzend tritt Anton die Tür zu und drückt die Fernbedienung auf dem Kaminsims. In der Ecke springt ein Fernseher an und erfüllt die Wohnung mit Summen. Endlich in Sicherheit, weit weg von den Palastkurieren, ehe auffällt, dass der Körper hier gar nicht sein eigener ist. Eigentlich ist es verboten, in junge Banker zu schlüpfen und sie tagelang von der Arbeit abzuhalten. Früher oder später wird wohl jemand von der Bank eine Übernahme vermuten, und dann wird die Palastgarde nach Er schwärmen und die Tür dieses Luxusapartments eintreten.
Bis dahin wird Anton aber längst über alle Berge sein.
»Bitte, bitte, hört auf zu klatschen«, ruft er in die leere Wohnung. »So viel Bewunderung auf einmal ist zu viel für mich.«
Seine Stimme hallt durch das Wohnzimmer. Es ist ungefähr dreimal so groß wie seine ganze Wohnung und sogar mit einem kleinen Balkon ausgestattet. Das hier ist eines der größten Quartiere in den Zwillingsstädten – was Anton weiß, weil er seine Hausaufgaben gemacht hat. Innerhalb seines kurzen Anfalls, in dem er ernsthaft in Erwägung zog, die Reichsten hier zu bestehlen, wühlte er sich durch sämtliche Grundrisse San-Ers, die er in die Finger bekam. Diese Überlegung hielt allerdings nicht lange an, denn es gehört nicht gerade zu seinen Stärken, auf dem Schwarzmarkt mit gestohlenen Kostbarkeiten zu schachern. Jetzt also schnorrt er sich einfach quer durch die Stadt. Sobald er die Spiele gewinnt, kann er sich eine Bude wie die hier auch leisten. Dann muss er keinen Kurieren mehr auflauern und sich auf wilde Verfolgungsjagden einlassen, nur um an ein mickriges Päckchen zu kommen.
Anton stößt die Doppeltür zum Balkon auf. Trotz der rasch voranschreitenden Dämmerung herrscht draußen noch drückende Hitze. Sie verursacht ihm Juckreiz und dämpft seine Lust auf etwas Vergnügliches. Am liebsten würde er die Luft hier oben, hoch über San-Er, tief einatmen und so tun, als gehöre all das ihm. Aber könnte er sich wirklich so leicht etwas vormachen, hätte seine Dummheit ihn schon längst ins Grab gebracht.
»Kniet nieder!«, ruft er über die Brüstung. Seine Worte verhallen und die Farce verliert an Unterhaltsamkeit. Es fällt schwer, sich da unten eine jubelnde Menge vorzustellen, wenn sich dort nur das dreckige, mit Abfall übersäte Flachdach des Nachbargebäudes ins Blickfeld drängt. In Er treibt sich auf den Straßen weniger Gesindel herum als in San; und zwischen den Gebäuden ist deutlich mehr Platz. Hier befinden sich die Finanzviertel, Banken, Schulen und die Unternehmen, deren Angestellte Einfluss auf Rat oder König haben. Vor fünf Jahren, als die Herrscher von Er gestürzt und die zwei Städte zu San-Er zusammengelegt wurden, beschwerten sich die Bürger hier lautstark über die Verbrecher aus San, die ihre Straßen immer unsicherer machten. Nur gab es nichts, was sie dagegen tun konnten. Schließlich war ihr Königspaar abgeschlachtet worden und der König von San verfügte über das gottgegebene Recht, sich die Reichshälfte seines Bruders einzuverleiben. Da der Himmelspalast fortan herrscherlos war, wurde er niedergerissen und durch Wohnkomplexe ersetzt. Und ohne sein Gegenstück wurde der Erdpalast anschließend in den Palast der Einheit umbenannt.
Zwischenzeitlich hat Antons affektiertes Geschrei die Aufmerksamkeit der drei Männer auf dem gegenüberliegenden Dach erregt. Die Zigaretten lässig in den Mundwinkeln, sitzen sie um einen niedrigen Plastiktisch herum und spielen Karten. Einen Moment lang starren sie ihn an, dann wenden sie sich wieder ihren Bierflaschen zu – bis auf den einen, der etwas jünger wirkt. Er spuckt seine Zigarette aus und reckt Anton den Mittelfinger entgegen.
Noch nie wollte ein Sieger der großen Spiele wie ein König leben. In der Regel verziehen sie sich mit ihrem unermesslichen Preisgeld in die talinesischen Provinzen, wo sie vor neugierigen Blicken und geldgierigen Bekanntschaften geschützt sind. Dort versuchen sie dann, ihre Taten aus der Spielzeit zu vergessen und sich wenigstens ein bisschen Ruhe und Frieden zu verschaffen. Die Bauern aus den Provinzen hingegen strömen in die entgegengesetzte Richtung – nach San-Er, um dem Hungertod zu entgehen. Ein reicher Sieger sorgt sich nur um das Blut an seinen Händen und das Geflüster der Toten, das ihm bis in die Nacht hinein im Kopf herumspukt.
»Und jetzt … Bericht … heutigen Abends …«
Drinnen rauscht der Fernseher. Stirnrunzelnd dreht sich Anton um, aber die Signalstörung ist schnell behoben und das Bild wechselt zu den Nachrichten. Von einer Sekunde auf die andere schlägt seine Verwirrung in Wut um. Denn plötzlich taucht König Kasa auf seinem Thron auf, über und über mit Juwelen behängt. Er lächelt, seine gelben Augen strahlen. Anton nimmt eine Topfpflanze vom Balkon und feuert sie mit voller Wucht auf den Bildschirm, der augenblicklich zerspringt. Flackernd verflüchtigt sich Kasas übersättigtes Gesicht.
Stille breitet sich in der Wohnung aus. Die Nacht verschlingt den Balkon. Mit dem Fernseher ist auch Antons Hauptlichtquelle ruiniert und das konstante Hintergrundrauschen verstummt.
Er streicht sich das schwarze Haar aus den Augen. Den reparieren zu lassen, wird eine ärgerliche Angelegenheit, aber er gehört ihm ja sowieso nicht. Es war kinderleicht, sich Zutritt zur Wohnung zu verschaffen, zu diesem Körper und dem zugehörigen Vermögen. Er brauchte nichts weiter zu tun, als im Flur herumzulungern und so zu tun, als würde er sich die Schuhe binden, während der Banker seine Kennnummer neben der Tür eintippte. Dann wiederholte er das Ganze am nächsten Tag, um auf die Ziffern zu achten, die ihm beim letzten Mal entgangen waren. Sollte Anton der Sinn danach stehen, könnte er jetzt das Konto des Bankers leerräumen und vielleicht ein paar seiner Freunde telefonisch um Kredite anpumpen. Aber das wäre viel zu kompliziert: zu viele Leute, mit denen er sich herumschlagen und dabei riskieren müsste, den Zorn des Rates auf sich zu ziehen. Da ist es besser, ein Weilchen herumzulümmeln, alle Vorräte leerzufuttern und dann abzuhauen. Geld kann Anton anderswo auftreiben.
Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk.
06:43:12
Noch sechs Stunden bis zum ersten Event. Genug Zeit, um sich vor Beginn noch einen anderen Körper zuzulegen. Dieser hier ist eher gebrechlich, auch wenn das Gesicht ganz hübsch aussieht. Was sein Äußeres angeht, ist Anton Makusa wählerisch. Seinem Narzissmus zu frönen, hat immer die oberste Priorität. Seinem Geburtsgeschlecht entsprechend, fühlt er sich eher zu männlichen Gefäßen hingezogen, aber wenn gerade keins zur Verfügung steht, stellt das für ihn auch kein Problem dar. Wichtig ist vor allem gutes Aussehen. Gemäß seinen Exilbedingungen wurde sein Stammkörper vom Palast beschlagnahmt. Da ist er sich wenigstens schuldig, für würdigen Ersatz zu sorgen.
Sein Gürtel piept. Er blickt auf seinen Pager.
»Verfluchte Scheiße.«
Patientenrechnung überfällig. Muss bis nächste Woche vollständig beglichen sein.
Eine Nachricht vom Nordost-Krankenhaus. Und bei Weitem nicht die erste Mahnung, die sie ihm schicken.
Als er den Pager vom Gürtel löst und die Faust darum ballt, kommt ihm sein Arm auf einmal bleischwer vor. Eine Woche noch. Das sollte reichen, um sich für den Menschen, den er retten will, etwas einfallen zu lassen. Innerhalb von einer Woche kann in San-Er ein ganzes Leben vorüberziehen.
Trotzdem sollte er dem Krankenhaus einen Besuch abstatten und den behandelnden Arzt bequatschen, um die Zahlungsfrist noch ein wenig hinauszuzögern. Die Krankenhäuser in San-Er sind dafür berüchtigt, vorschnell den Stecker zu ziehen und Patienten vor die Tür zu setzen, sobald sich die unbezahlten Rechnungen stapeln.
»Gottverdammt noch mal«, murmelt er. »Scheiße, scheiße, scheiße …« Er geht wieder auf den Balkon und nimmt das Armband vom Handgelenk. Dann schleudert er es gemeinsam mit dem Pager auf das benachbarte Dach, womit er wieder die Aufmerksamkeit der drei Männer auf sich zieht.
»Was soll das?«, ruft einer von ihnen. Er steht auf, lässt die Zigarette fallen und schlendert zur Dachkante, um sich nach dem Armband zu bücken. Eine nächtliche Brise bringt die Glühbirnen an den Kabeln zum Wackeln. Die Schatten tanzen im Gesicht des Fremden. Sein schwarzes Haar kräuselt sich, und als er sich wieder aufrichtet, fallen ihm dicke Strähnen in die Augen.
Anton springt. Ein Risiko: Die gegenüberliegende Dachkante allein ist schon fast drei Meter weit von ihm weg, vom Mann ganz zu schweigen. Doch Anton war schon immer ein Naturtalent und ist nie ins Wanken geraten, wo andere vor Panik den Kopf verlieren. Für ihn ist Springen wie Laufen – als würde sein Qi durch die Luft sprinten und anhalten, wo auch immer es ihm gerade gefällt.
Schon öffnet er die neuen Augen. Ein Grinsen umspielt seine Lippen – vielleicht war es schon vor seiner Ankunft da, vielleicht ist er dafür verantwortlich. Auf den Lichtblitz hin rufen ihm die anderen beiden etwas zu und beschweren sich murrend über den Eindringling. Anton winkt ihnen freundlich zu, befestigt das Armband an seinem neuen Handgelenk und klemmt sich den Pager wieder an den Gürtel. Seine Muskeln fühlen sich stark und zuverlässig an. Als er tief Luft holt und durch die Dachtür die Treppe hinab läuft, dehnt sich seine Lunge aus, als könnte er endlos einatmen.
»Haste ’n paar Münzen übrig?«
Ohne anzuhalten, greift er am Ende der Treppe in die Tasche. Bettler lungern nie in den Hauptgebäuden herum – nicht, solange die Palastgarde durch die Märkte patrouilliert und die Bürger jeden melden, der sich unerlaubt in den Wohngeschossen aufhält. Die Straßen aber sind so beengt, dass niemand am Rand lungern könnte, ohne den Verkehr zu behindern. Denen, die nirgendwo sonst hin können, bleiben nur die Treppenhäuser und die zwielichtigen Durchgänge.
»Hier.« Anton kratzt sämtliche Münzen in seiner Hosentasche zusammen und wirft sie dem Bettler vor die Füße. »Greif zu.«
Dann schreitet er durch den Haupteingang. Sofort füllt der hektische Lärm aus den Geschäften seine Ohren; und das Kreischen eines Zahnarztbohrers übertönt beinahe das »Danke!«, das ihm noch aus dem Treppenhaus nachgerufen wird. Ohne stehen zu bleiben, vergräbt Anton die Hände in den nun leeren Taschen.
Endlich. Endlich.
Erstmals wird bei Kasas alljährlichen Spielen sein Name gezogen. Seit seiner Verbannung wirft er immer wieder gestohlene Kennnummern in den Lostopf und setzt sein Leben aufs Spiel, um zu retten, was – oder besser wen – er verloren hat. Nach sieben langen Jahren liegt sie immer noch in tiefem Schlummer im Krankenhausbett. Der Palast hätte jede Möglichkeit zu helfen, aber August ignoriert Antons Nachrichten geflissentlich und von Kasa braucht er erst recht nichts zu erwarten. Der König lässt die Leute lieber in ihrem eigenen Dreck und Elend dahinvegetieren – selbst die, die einst unter seinem Dach gelebt haben.
Anton lässt im Vorbeigehen einen Apfel mitgehen, beißt herzhaft hinein und feuert ihn mit voller Wucht auf den Wandkalender im nächsten Laden – genau im richtigen Winkel, damit er vom Nagel fällt. Der Inhaber keift ihm wütend hinterher und fragt, was eigentlich sein Problem sei, aber da ist Anton auch schon fort, auf der Suche nach dem nächsten Anschein von Ordnung, den er zerstören kann. Prinz August hat sein Bestes getan, um Anton in die finstersten Untiefen der Stadt zu drängen, ihn wie einen x-beliebigen Niemand aus San-Er zu tilgen, als hätte nicht ein Teil davon einst ihm gehört.
Doch Anton ist ein Makusa. Er entstammt einer Blutlinie aus Palast-Adligen, die mindestens so weit zurückreicht, wie die Shenzhis dem Königshaus angehören.
So leicht lässt er sich nicht aus dem Weg räumen. Im Gegenteil: Er wird jeden vernichten, der es versucht.
Die Sonne geht unter. Die Nacht lockert die drückende Luft auf und bläst einen kühlen Hauch durch die Straßen. In der Finsternis stolpert ein Stadtbewohner in eine Seitengasse. Er heißt Lusi, aber so nennt ihn niemand. Die Vorarbeiter in der Fabrik, in der er beschäftigt ist, brüllen alle ohne Namen an. Seine Frau spricht nicht mehr. Seine Tochter rief immer Baba durch die Wohnung, doch inzwischen ist sie tot. Drei Wochen litt sie an einer ansteckenden Seuche, dann setzte das Krankenhaus sie vor die Tür, weil er die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte.
Noch ehe sie wieder zu Hause waren, hatte sie schon zu atmen aufgehört. Ihr Leichnam war in die gestohlenen weißen Krankenhausleinen gewickelt, als sich der letzte Rest ihres Qi verflüchtigte.
»Na los!«
Lusis plötzlicher Schrei hallt durch die leere Gasse. Er ist fast im Delirium. Der Schmerz in seinen Rippen ist inzwischen fast unerträglich geworden, aber in diese elenden Krankenhäuser wird er sicher nicht zurückkehren. Wegen der Kosten für die letzten jämmerlichen Tage seiner Tochter ist er jetzt bis über beide Ohren verschuldet. Alles in dieser Stadt verschlimmert seinen Schmerz: das Babygeschrei nebenan, die schimmeligen Flure, der nie endende Strom aus Mietrechnungen.
Man hatte Lusi nicht für die Spiele ausgewählt. Das war seine letzte Hoffnung gewesen. Und nicht einmal das konnte der Palast für ihn tun.
»Nehmt mich! Seit wann kratzen euch die Regeln?« Er macht einen Ausfallschritt vorwärts, stolpert und stürzt auf die Knie, direkt in eine Schlammpfütze.
Lusis nächster Verzweiflungsschrei hallt noch lauter durch die Gasse. Vielleicht wäre es besser, San-Er würde seine Bewohner einfach schneller umbringen. Stattdessen aber lässt die Stadt sie dahinsiechen. Die Alten, die nirgends hinkönnen, leben dicht übereinander gestapelt wie Tiere in Käfigen. Die Kinder atmen in den Schulen Asbest ein und kleiden ihre Lungen langsam mit Gift aus. Manchmal laufen die Kranken und Verletzten absichtlich während der Spiele durch die Straßen, in der Hoffnung, jemand würde sich ihrer Körper bemächtigen. Wenn der Palast für die Spieler das Springen legalisiert, muss im Gegenzug auch für die potenziell Geschädigten Sorge getragen werden: Schwer verletzte Kollateralopfer werden kostenfrei im Krankenhaus behandelt; diejenigen, deren Körper dabei zerstört werden, erhalten einen großzügigen Schadensersatz. Und falls ihr Qi dabei erlischt, geht das Geld an die Familienangehörigen. Viele opfern sich und werfen sich den Spielern vor die Füße, damit ihre Liebsten wieder etwas zu essen haben. Jedes Jahr interviewen die Nischensender frisch verwaiste Kinder, die mit einer kaum nennenswerten Entschädigung und einem leeren Zuhause zurückbleiben. Da weiß man kaum, ob man sie beneiden oder bemitleiden soll.
»Hört ihr mich?«, brüllt Lusi. »Hört ihr …«
Er erstarrt. Jemand ist in sein Blickfeld getreten. Die nächste Glühbirne ist hell genug, damit er die Umrisse des Neuankömmlings ausmachen kann, der nun immer näher kommt. Palastuniform. Maske.
»Keine Angst.« Ruhige Stimme.
Lusi versucht sich aufzurappeln. Obwohl er um Hilfe gerufen hat, schlägt ihm das Herz jetzt bis zum Hals und er wittert schreckliche Gefahr.
»Wer sind Sie?«, fragt er. »Bleiben Sie sofort stehen …«
Ein greller Blitz zuckt durch die Luft.
Als Lusi aufsteht, bewegt er sich ruhig und kontrolliert. Nichts ist mehr von ihm übrig; sein Bewusstsein – zu schwach, um sich zu wehren – wurde in den hintersten Winkel seines Verstandes gedrängt. Der Fremde in seinem Körper macht auf dem Absatz kehrt und läuft los.
***
Calla drückt die Tür des Restaurants Zur Magnolie auf, duckt sich unter dem Drehkreuz hindurch und beobachtet den Countdown auf ihrem Armband. Spät ist es, gleich schon Mitternacht. Fast Zeit, zum Kolosseum zu gehen. Durch die offenen Fenster weht das typische Klappern und Klirren San-Ers herein. Auch zu so später Stunde herrscht in den Zwillingsstädten noch reges Treiben; die Restaurants bedienen ihre Gäste, und in den Bordellen herrscht Hochbetrieb. Ohne Unterlass pulsieren die Menschen durch die Straßen. In San führen praktisch alle Wege zum Kolosseum. Schließlich steht der Palast der Einheit direkt daneben – und Gott bewahre, dass der Palast in irgendeiner Form beeinträchtigt werden könnte. Im Kolosseum befindet sich der stadtweit einzige Markt unter freiem Himmel, wo der billigste Ramsch und die fettigsten Lebensmittel angeboten werden. Calla hält sich tunlichst fern davon. Diesen Teil der Stadt meidet sie schon seit Langem. All die Jahre, in denen ihr die Hände gebunden waren, obwohl König Kasa zum Greifen nah war, haben einen grell lodernden Zorn in ihr entfacht. Darum ist sie dazu gezwungen, dem Palastgelände fernzubleiben, bis der Tag kommt, an dem sie zuschlagen kann. Sie hatte nicht erwartet, dass jemand sie außerhalb seiner Mauern erkennen würde. Vielleicht hätte sie sich besser vorsehen sollen. Andererseits bezweifelt sie, dass sie sich einen Fehltritt erlaubt hat, der sie verraten haben könnte.
»Yilas!« Calla reißt sich die Maske vom Kinn und ruft erneut, diesmal mit klarer Stimme. »Yilas!«
Die Gäste beachten sie kaum. Das Restaurant ist so voll wie die Straßen: Von den kettenrauchenden Knackern in Unterhemden tropft der Schweiß auf den Boden und macht die Dreckschicht darauf umso schmieriger. Die Sitznischen entlang der Wände werden von Schulkindern bevölkert, die ohne elterliche Aufsicht Karten spielen und einander dabei anschreien. Nur Yilas blickt von der anderen Seite aus zu ihr herüber. Sie klappt ihr Büchlein zu, in das sie bis soeben noch geschrieben hat, verdreht die blassgrünen Augen und entfernt sich von der Kasse.
»Du hättest auch einfach wie ein normaler Mensch zu mir herkommen können.« Während sie sich Calla nähert, zieht sie den Knoten ihrer Schürze fester und streicht sich den gefärbten Pony aus der Stirn. Heute leuchten ihre Haare rot, was sich mit ihrer Augenfarbe beißt, aber Yilas ist die Art von Frau, die Lederjacke mit Seidenkleid kombinieren würde. Die Hälfte von Callas Klamotten sind von Yilas geliehen. In den dunkelroten Mänteln, die ihnen je eine Nummer zu groß sind und bis zu den Knien reichen, geben sie ein hübsches Paar ab. »Was machst du denn so einen Aufstand?«
Calla grinst breit. »Ich? Aufstand?« Dann wirbelt sie an Yilas’ Seite und legt ihr den Arm um die Schulter. Die Geste wirkt lässig, aber Yilas’ schmerzerfülltes Zucken verrät die knochenbrechende Kraft dahinter. »Ich hab doch noch nie einen Aufstand gemacht. Und wo steckt deine wunderbare Liebste? Ich muss was mit euch besprechen.«
Yilas blickt zu Calla hoch und muss wegen des Größenunterschieds den Kopf ein wenig in den Nacken legen. Unfassbar, dass Calla sich so gut ins Stadtbild integrieren kann, wo sie doch gut einen Kopf größer als der Durchschnitt ist. Yilas schürzt die Lippen und scheint kurz zu überlegen, ob Calla wirklich über ernste Angelegenheiten sprechen will oder nur wieder einen Aufstand macht. Dann aber zerrt sie Calla in die Küche und durch eine weitere Tür, bis sie im beengten Büro stehen.
»Calla!«, ruft Chami fröhlich und erhebt sich von ihrem Stuhl.
Calla löst sich von Yilas und knallt die Bürotür zu. Blitzschnell verfliegt ihr Grinsen, und im Raum scheint es ein paar Grad kälter zu werden.
»Setzt euch«, befiehlt Calla.