Welch trügerisches Glück - Chloe Gong - E-Book + Hörbuch
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Welch trügerisches Glück E-Book und Hörbuch

Chloe Gong

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Beschreibung

Shanghai im Jahr 1931, die Bühne ist bereitet für ein neues Jahrzehnt voller Intrigen. Vor vier Jahren ist Rosalind von den Toten zurückgekehrt, aber das Experiment, dem sie ihr Leben zu verdanken hat, verlangt seinen Tribut. Jetzt strebt sie als Assassinin verzweifelt nach Wiedergutmachung. Codename: Fortuna Doch als die kaiserliche japanische Armee ihren Invasionsmarsch beginnt und Terroranschläge die Stadt erschüttern, droht ihre Mission zu scheitern. Rosalinds neuer Auftrag lautet, die gegnerischen Reihen zu infiltrieren, bevor noch mehr Menschen sterben. Die beste Möglichkeit, das zu erreichen: Sie muss sich als Frau des nationalistischen Spions und Playboys Orion ausgeben. Aber Orion hat seine eigenen Pläne und Rosalind Geheimnisse, die sie lieber für sich behalten möchte. Das Spiel beginnt.

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Zeit:16 Std. 37 min

Sprecher:Leonie Landa
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CHLOE GONG

WELCH TRÜGERISCHES GLÜCK

CHLOE GONG

WELCH TRÜGERISCHES GLÜCK

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing Division unter dem Titel Foul Lady Fortune. © 2022 by Chloe Gong. All rights reserved.

Published by Arrangement with TRIADA US LITERARY AGENCY, INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Carolin Moser

Redaktion: Sabrina Cremer

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: © 2022 by Skeeva

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-223-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-338-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-339-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Großmütter und Großtanten

谨此献给我的阿娘、外婆,

和我的小阿奶、二姨婆、小姨婆

Die Zeit reiset in verschiednem Schritt mit verschiednen Personen. Ich will euch sagen, mit wem die Zeit den Paß geht, mit wem sie trabt, mit wem sie galoppiert und mit wem sie still steht.

William Shakespeare, Wie es euch gefällt

Inhalt

PROLOG

1

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3

4

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6

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9

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46

47

48

49

50

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Danksagungen

PROLOG

1928

Draußen auf dem Land ist es egal, wie laut man schreit.

Der Klang breitet sich in der Lagerhalle aus, wird einmal von den hohen Deckenbalken zurückgeworfen, dröhnt durch den Raum und in die dunkle Nacht hinaus. Als er nach draußen dringt, vermischt er sich mit dem heulenden Wind, bis er nur noch ein Teil des tobenden Sturms ist. Die Soldaten nähern sich nervös dem Eingang der Lagerhalle und ziehen an der schweren Schiebetür, bis sie schließt, obwohl der Regen stark genug fällt, dass er bereits den Fußboden durchweicht und den Beton mit einem dunklen Halbkreis befleckt hat. Das leiseste Pfeifen eines Zugs dringt aus weiter Ferne heran. Trotz der verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit, dass jemand vorbeikommt und sie ertappt, waren die Anweisungen klar und deutlich: Bewacht die Umgebung. Niemand darf wissen, was hier passiert.

»Wie lautet die endgültige Einschätzung?«

»Erfolgreich. Ich glaube, es ist erfolgreich.«

Die Soldaten haben sich in der Lagerhalle verteilt, doch zwei Wissenschaftler stehen um einen Tisch in der Mitte. Sie starren teilnahmslos auf den Anblick vor ihnen, auf die Versuchsperson, die mit breiten Gurten festgeschnallt auf dem Tisch liegt, die Stirn mit Schweiß bedeckt. Ein weiterer Krampf durchzuckt die Versuchsperson von Kopf bis Fuß, doch ihre Stimme ist heiser vom Kreischen und dieses Mal reißt sie nur stumm den Mund auf.

»Dann funktioniert es.«

»Es funktioniert. Wir haben den ersten Teil jetzt abgeschlossen.«

Einer der Wissenschaftler zieht einen Stift hinter dem Ohr hervor und winkt einem Soldaten, der sich dem Tisch nähert und die Gurte löst: zuerst alle auf der linken Seite, dann alle auf der rechten.

Die Gurte fallen herab, Metall klappert auf den Boden. Die Testperson versucht, sich herumzurollen, doch dann gerät sie in Panik, reißt sich zu schnell herum und kippt stattdessen vom Tisch. Es ist ein furchtbarer Anblick. Die Person fällt den Wissenschaftlern lang ausgestreckt vor die Füße und schnappt nach Atem – keucht und keucht, als könnte sie ihre Lungen nicht richtig füllen. Vielleicht wird sie es nie wieder tun.

Eine Hand legt sich auf den Kopf der Versuchsperson. Die Berührung ist sanft, beinahe zärtlich. Als der Wissenschaftler seine Arbeit betrachtet und der Person die Haare glatt streicht, liegt ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Schon gut. Quäl dich nicht.«

Eine Spritze wird hervorgeholt. Die Nadel fängt kurz das Licht ein, bevor sie herabfährt, und nochmals, als eine rote Substanz unter weicher Haut verschwindet.

Der Schmerz tritt sofort ein: flüssiges Feuer, das auf seinem Weg jeden Nerv überrennt. Bald wird es sein Ziel erreichen und dann wird es sich anfühlen, als würde sie ausgelöscht.

Draußen strömt weiterhin der Regen herab. Er tropft durch Ritzen in die Lagerhalle, die Pfützen schwellen weiter an.

Der erste Wissenschaftler tätschelt die Versuchsperson nochmals liebevoll. »Du bist meine größte Errungenschaft und uns steht noch Größeres bevor. Doch bis dahin …«

Die Testperson kann die Augen nicht mehr offen halten. Schwäche beschwert jede Gliedmaße, jeder ihrer Gedanken ist flüchtig wie Schiffe im Nebel. Die Person will etwas sagen, etwas schreien, doch kein Ton kommt heraus. Dann lehnt der Wissenschaftler sich vor, um ihr ins Ohr zu flüstern, um den letzten Schlag auszuteilen und den Nebel zu durchdringen, so sauber wie eine Klinge.

»Oubliez.«

1

September 1931

Der Gang im Zug war still, abgesehen von dem Rumpeln von unten. Die Abenddämmerung war bereits angebrochen, doch die Fenster leuchteten alle drei Sekunden auf – eine pulsierende Helligkeit von Lichtern, die entlang der Gleise angebracht waren, die wieder verschwand, verschluckt von der Geschwindigkeit des Zuges. Andere schmale Abteile waren erfüllt von Licht und Lärm: von sanft goldenen Kronleuchtern und dem Klappern des Essbestecks auf den Servicewagen, vom Klimpern eines Löffels gegen eine Teetasse und von strahlenden Kristalllampen.

Doch hier im Durchgang zur ersten Klasse hörte man nur das plötzliche Rauschen der Tür, als Rosalind Lang sie aufstieß und mit klappernden Absätzen ins Halbdunkel trat.

Die Gemälde an den Wänden starrten die Vorbeikommenden an, ihre glänzenden Augen leuchteten im Dunklen. Rosalind umklammerte die Schachtel in ihren Armen und achtete sorgfältig darauf, sie nur mit ihren Lederhandschuhen an den Kanten zu berühren, wobei sie zu beiden Seiten die Ellbogen abspreizte. Als sie vor der dritten Tür anhielt, klopfte sie mit dem Fuß behutsam unten dagegen.

Einen Augenblick lang passierte nichts und nur das Tuckern des Zugs war zu hören. Dann erklang ein leises Schlurfen auf der anderen Seite, die Tür schwang auf und der Gang wurde von neuem mit Licht durchflutet.

»Guten Abend«, sagte Rosalind höflich. »Störe ich Sie?«

Mr. Kuznetsow starrte sie an, die Brauen zusammengezogen, während er zu verstehen versuchte, was er sah. Rosalind versuchte seit Tagen, sich eine Audienz bei dem russischen Händler zu sichern. Sie hatte sich in Harbin eingenistet und unter den eisigen Temperaturen gelitten, doch erfolglos. Dann war sie ihm nach Changchun gefolgt, einer Stadt weiter südlich. Auch dort hatten seine Leute es versäumt, ihre Anfragen zu beantworten, und die Sache schien bereits verloren – sie würde zu gröberen Mitteln greifen müssen –, bis sie davon Wind bekam, dass er eine Zugreise in der ersten Klasse gebucht hatte, wo die Abteile groß waren und die Decken niedrig, wo kaum jemand zugegen war und Geräusche von dicken Wänden gedämpft wurden.

»Ich werde meine Wache rufen …«

»Oh, machen Sie sich nicht lächerlich.«

Rosalind trat unaufgefordert ein. Die Privatabteile in der ersten Klasse waren so breit, dass sie problemlos hätte vergessen können, dass sie sich an Bord eines Zugs befand – hätten die Wände nicht gebebt und das Blumenmuster der Tapete nicht gezittert, wenn die Gleise uneben wurden. Sie sah sich noch etwas länger um, beäugte die Luke, die zum Zugdach hinaufführte, und das Fenster auf der anderen Seite des Raums. Die Jalousien waren heruntergezogen, um die schnell vorbeiziehende Nacht auszuschließen. Zu ihrer Linken befanden sich ein Himmelbett und eine weitere Tür, die in einen Schrank oder eine Toilette führte.

Der Händler zog Rosalinds Aufmerksamkeit wieder auf sich, als er mit einem harten Knallen die Abteiltür schloss. Als er sich umdrehte, glitten seine Augen über sie und zu der Schachtel in ihren Händen, doch er betrachtete weder ihren Qipao noch die roten Blumen, die an der Pelzstola um ihre Schultern befestigt waren. Obwohl Mr. Kuznetsow es sich nicht anmerken lassen wollte, beschäftigte ihn die Schachtel in ihren Händen und er fragte sich, ob sie eine Waffe bei sich trug.

Rosalind zog vorsichtig den Deckel von der Schachtel und präsentierte ihren Inhalt mit einer ausladenden Geste.

»Ein Geschenk, Mr. Kuznetsow«, sagte sie freundlich. »Von der Scarlet Gang, die mich schickt, um Ihre Bekanntschaft zu machen. Könnten wir uns unterhalten?«

Sie schob die Schachtel mit einer schwungvollen Bewegung vor. Es war eine kleine chinesische Vase, blauweißes Porzellan auf einem Bett aus roter Seide. Angemessen teuer. Nicht teuer genug, um Empörung auszulösen.

Rosalind hielt den Atem an, bis Mr. Kuznetsow die Hand ausstreckte und die Vase hochhob. Er betrachtete sie in den Lichtern, die von der Decke hingen, drehte ihren Hals mal in diese, mal in jene Richtung und bewunderte die Schriftzeichen, die an der Seite eingeritzt waren. Nach einer ganzen Weile knurrte er etwas, das nach Zustimmung klang, ging zu einem Couchtisch und stellte die Vase ab. Zwei Teetassen warteten bereits auf dem Tisch. Ein Aschenbecher stand daneben, bestäubt mit einem Hauch Schwarz.

»Die Scarlet Gang«, murmelte Mr. Kuznetsow leise. Er ließ sich auf einem der Stühle nieder, den Rücken gegen die Lehne gedrückt. »Ich habe diesen Namen schon eine Weile nicht mehr gehört. Bitte, setz dich.«

Rosalind ging zu dem anderen Stuhl, legte den Deckel wieder auf die Schachtel und stellte sie neben sich. Als sie sich in den Stuhl fallen ließ, saß sie nur auf der Kante und warf erneut einen Blick auf die Schranktüren zu ihrer Linken. Der Boden ruckelte.

»Wie ich annehme, bist du dasselbe Mädchen, das mein Personal belästigt hat.« Mr. Kuznetsow wechselte von Russisch zu Englisch. »Janie Mead, nicht wahr?«

Nach vier Jahren hatte Rosalind sich noch immer nicht an ihren Decknamen gewöhnt. Früher oder später würde der Sekundenbruchteil eines Zögerns sie in Schwierigkeiten bringen. Der leere Blick in ihren Augen, bevor ihr wieder einfiel, dass ihr Name Janie Mead lauten sollte. Die Pause, bevor sie ihren französischen Akzent unterdrückte, wenn sie Englisch sprach und vorgab, in Amerika aufgewachsen und eine der vielen neuen Rückkehrer in der Stadt zu sein, die sich für die Reihen der Kuomintang angemeldet hatten.

»Das ist richtig«, sagte Rosalind gelassen. Vielleicht hätte sie einen Witz machen, die Füßen unterschlagen und verkünden sollen, dass es weise wäre, sich an ihren Namen zu erinnern. Der Zug rumpelte über eine Unebenheit in den Gleisen und der ganze Raum wackelte, doch Rosalind sagte nichts weiter. Sie verschränkte nur die Hände und zerknitterte den kalten Druck des Leders.

Mr. Kuznetsows Blick verfinsterte sich. Die Furchen in seiner Stirn vertieften sich, genau wie die Krähenfüße um seine Augen.

»Und du bist hier wegen … meiner Immobilien?«

»Richtig«, sagte Rosalind wieder. Das war der einfachste Weg, Zeit zu schinden. Sie ließ sie Vermutungen darüber anstellen, warum sie hier war, und spielte mit, anstatt sich eine seltsame Lüge auszudenken und zu früh ertappt zu werden. »Ich bin sicher, Sie haben gehört, dass die Scarlets nicht mehr viel mit Land handeln, seit wir mit den Nationalisten verschmolzen sind, doch dies ist ein besonderer Anlass. Die Mandschurei bietet enormes Potenzial.«

»Sie scheint mir recht weit von Shanghai entfernt, als dass die Scarlets daran interessiert wären.« Mr. Kuznetsow lehnte sich vor und spähte in die Teetassen auf dem Tisch. Er bemerkte, dass eine noch halb voll war, daher führte er sie an die Lippen und erlöste sich von seiner trockenen Kehle. »Und du wirkst etwas jung, um Erledigungen für die Scarlets zu machen.«

Rosalind beobachtete, wie er trank. Seine Kehle wippte. Ein Angriffspunkt. Ungeschützt. Doch sie griff nicht nach einer Waffe. Sie trug keine bei sich.

»Ich bin neunzehn«, erwiderte Rosalind und zog ihre Handschuhe aus.

»Sagen Sie die Wahrheit, Miss Mead. Das ist nicht Ihr echter Name, nicht wahr?«

Rosalind lächelte und legte die Handschuhe auf den Tisch. Natürlich war er misstrauisch. Mr. Kuznetsow war nicht einfach ein russischer Mogul mit Geschäften in der Mandschurei, sondern der letzte White Flower im Land. Das allein hätte ausgereicht, um ihn auf die Listen der Kuomintang zu bringen, doch er zapfte auch Geld für Kommunistenzellen ab und unterstützte ihre Kriegsanstrengungen im Süden. Und weil die Nationalisten die Kommunisten auslöschen mussten, so reibungslos wie möglich jede ihrer Geldquellen unterbinden mussten, war Rosalind geschickt worden, um … der Sache ein Ende zu bereiten.

»Natürlich ist das nicht mein echter Name«, sagte sie leichthin. »Mein richtiger Name ist chinesisch.«

»Das meinte ich nicht.« Mr. Kuznetsow hatte die Hände inzwischen an die Seiten gelegt. Sie fragte sich, ob er versuchen würde, eine versteckte Waffe zu ziehen. »Ich habe dich überprüfen lassen nach deiner letzten Anfrage für ein Treffen. Und du siehst Rosalind Lang furchtbar ähnlich.«

Rosalind schreckte nicht zurück. »Ich betrachte das als Kompliment. Ich weiß, dass Sie wohl nicht über die Geschehnisse in Shanghai auf dem Laufenden sind, aber Rosalind Lang wurde seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Wenn jemand behauptete, sie gesichtet zu haben, sahen sie sicher Gespenster – fingen Überreste eines verblassten Traums ein, eine Erinnerung an die Vision, die Shanghai einst gewesen war. Rosalind Lang: aufgewachsen in Paris, bevor sie in die Stadt zurückkehrte und in die Verruchtheit der besten Varietétänzerinnen des Nachtlebens aufstieg. Rosalind Lang: ein Mädchen, dessen Aufenthaltsort derzeit unbekannt war, für tot gehalten.

»Davon habe ich gehört«, sagte Mr. Kuznetsow und lehnte sich wieder vor, um seine Teetasse zu betrachten. Sie fragte sich, warum er nicht aus der anderen trank, wenn er solchen Durst hatte; warum überhaupt eine zweite Tasse eingeschenkt war.

Nun, sie wusste es.

Mr. Kuznetsow sah plötzlich auf. »Allerdings gab es Gerüchte von den White Flowers, dass Rosalind Lang wegen Dimitri Voronins Tod verschwand.«

Rosalind erstarrte. Die Überraschung verursachte ihr Übelkeit und ein leises Zischen entkam ihr. Es war bereits zu spät, so zu tun, als ob er sie nicht erwischt hätte, daher dehnte sie die Stille aus, ließ die Wut in ihren Knochen zum Leben erwachen.

Mr. Kuznetsow nahm selbstgefällig einen winzigen Löffel zur Hand und klopfte damit gegen den Rand der Teetasse. Es klang viel zu laut für den Raum, wie ein Schuss, wie eine Explosion. Wie die Explosion, die vor vier Jahren die Stadt erschüttert hatte, die ihre eigene Cousine Juliette gelegt und in der sie ihr Leben gelassen hatte, um Dimitris Terrorherrschaft zu beenden.

Wenn Rosalind nicht gewesen wäre, wären Juliette Cai und Roma Montagow noch am Leben. Wenn Rosalinds Verrat an der Scarlet Gang nicht gewesen wäre, hätte Dimitri nie so viel Macht erlangt und vielleicht wären die White Flowers nie zerbrochen. Vielleicht wäre die Scarlet Gang nicht mit der Kuomintang verschmolzen und eins mit der Partei der Nationalisten geworden. Vielleicht, vielleicht, vielleicht – dies war ein Spiel, das Rosalind bis spät in ihre endlosen Nächte hinein verfolgte, eine nutzlose Übung im Katalogisieren von allem, das sie falsch gemacht hatte und das dort endete, wo sie heute war.

»Sie wissen alles über die White Flowers, nicht wahr?«

Der Vorhang war gefallen. Als Rosalind sprach, kam ihre echte Stimme hervor, schneidend und mit französischem Akzent.

Mr. Kuznetsow legte mit einer Grimasse seinen Löffel weg. »Lustigerweise haben die überlebenden White Flowers ebenfalls bestehende Verbindungen, die uns Warnungen zukommen lassen. Und ich war schon längst vorbereitet, Miss Lang.«

Die Tür zu ihrer Linken schwang auf. Ein weiterer Mann in einem westlichen Anzug trat heraus, der einen einfachen Dolch in der rechten Hand hielt. Bevor Rosalind sich bewegen konnte, war er hinter ihr in Position gegangen, hielt mit festem Griff ihre Schulter, um sie in ihrem Stuhl zu halten, und hatte den Dolch an ihre Kehle gesetzt.

»Glauben Sie wirklich, dass ich ohne Leibwächter reisen würde?«, fragte Mr. Kuznetsow. »Wer schickt Sie?«

»Das habe ich Ihnen bereits gesagt.« Sie versuchte, den Hals wegzudrehen. Es war nicht möglich. Die Klinge stach ihr bereits in die Haut. »Die Scarlet Gang.«

»Die Blutfehde zwischen der Scarlet Gang und den White Flowers ist vorbei, Miss Lang. Warum würde man Sie schicken?«

»Um sich gut zu stellen. Gefiel Ihnen mein Geschenk nicht?«

Mr. Kuznetsow stand auf. Er legte die Hände hinter den Rücken und presste verärgert die Lippen zusammen. »Ich gebe Ihnen eine letzte Chance. Welche Partei hat Sie geschickt?«

Er versuchte, die zwei Seiten des durch das Land tobenden Bürgerkriegs einzuschätzen. Versuchte zu erkennen, ob er auf den Listen der Nationalisten gelandet war oder ob die Kommunisten ihn hintergingen.

»Sie werden mich ohnehin töten«, sagte Rosalind. Sie fühlte, wie ein Blutstropfen ihre Kehle hinabsickerte. Er rann ihren Kragen entlang und verfärbte den Stoff ihres Qipao. »Warum sollte ich Zeit mit Ihren Fragen verschwenden?«

»Auch gut.« Mr. Kuznetsow nickte seinem Leibwächter zu. Er zögerte nicht, bevor er zu Russisch wechselte und sagte: »Dann töte sie. Bystree, poshalujsta.«

Rosalind wappnete sich. Sie atmete ein, spürte die Klinge einen Segen auf ihre Haut flüstern.

Der Leibwächter schlitzte ihre Kehle auf.

Der erste Schock war immer das Schlimmste – der erste Sekundenbruchteil, wenn der Schmerz ihr kaum Raum zum Denken ließ. Ihre Hände flogen instinktiv an ihre Kehle, um auf die Wunde zu pressen. Heißes, strömendes Rot floss unter ihren Fingern hervor, rann ihre Arme hinab und tropfte auf den Boden des Zugabteils. Als sie aus dem Stuhl taumelte und auf die Knie fiel, gab es einen Moment der Unsicherheit, ein Flüstern in ihrem Kopf, das ihr sagte, dass sie den Tod oft genug ausgetrickst hatte und es dieses Mal keine Genesung gab.

Dann beugte Rosalind den Kopf und spürte, wie die Blutung sich verlangsamte. Sie fühlte, wie ihre Haut sich wieder zusammenfügte, Zentimeter um Zentimeter um Zentimeter. Mr. Kuznetsow wartete darauf, dass sie zur Seite kippte und zusammenbrach, seine Augen starrten teilnahmslos an die Decke.

Stattdessen hob sie den Kopf und nahm die Hände weg.

Ihre Kehle war verheilt. Sie war noch mit Rot bedeckt, doch sah aus, als wäre sie nie durchtrennt worden.

Mr. Kuznetsow stieß einen erstickten Laut aus. Sein Leibwächter flüsterte etwas Unverständliches und kam auf sie zu, doch als Rosalind die Hand ausstreckte, gehorchte er, zu fassungslos, um etwas anderes zu tun.

»Ich nehme an, ich sollte es Ihnen jetzt sagen«, sagte Rosalind etwas außer Atem. Sie wischte sich das Blut vom Kinn und erhob sich auf einen Fuß, dann auf den anderen. »Haben Sie nicht von mir gehört? Die Nationalisten müssen mit ihrer Propaganda bessere Arbeit leisten.«

Nun ging dem Händler ein Licht auf. Sie konnte es in seinen Augen sehen, den ungläubigen Ausdruck, mit dem er etwas Unnatürliches mit eigenen Augen sah und es mit den Geschichten in Verbindung brachte, die vor ein paar Jahren die Runde gemacht hatten.

»Lady Fortuna«, flüsterte er.

»Ah.« Rosalind richtete sich auf, ihre Lungen erholten sich. »Das ist ein Namensirrtum. Es ist nur Fortuna. Fang!« In einer geschmeidigen Bewegung hob sie einen ihrer Handschuhe auf, um schnell den Rand der Vase zu ergreifen und sie vom Tisch zu wischen. Der Leibwächter fing die Vase schnell auf, die sie ihm entgegengeschleudert hatte. Wahrscheinlich bereitete er sich auf einen Angriff vor, doch die Vase landete nur weich in seinen Händen, eingebettet wie ein wildes Tier aus Porzellan.

Fortuna war der Deckname einer Nationalistenagentin, flüsterten die Gerüchte. Nicht irgendeiner Agentin: einer unsterblichen Agentin, die trotz mehrerer Anschläge nicht getötet werden konnte, die nicht schlief oder alterte, die sich nachts an ihre Zielpersonen heranschlich und in der Gestalt eines gewöhnlichen Mädchens erschien. Je nachdem, wie stark die Geschichten ausgeschmückt wurden, war sie besonders eine Gefahr für die überlebenden White Flowers und jagte sie mit einer Münze in der Hand. Wenn diese Kopf zeigte, wurden sie sofort getötet. Zeigte sie Zahl, bekamen sie eine Chance zur Flucht, doch bisher hatte ihr noch keine Zielperson entkommen können.

»Abscheuliche Kreatur«, zischte Mr. Kuznetsow. Er ging rückwärts, um möglichst viel Platz zwischen sie zu bringen – oder zumindest versuchte er es. Der Händler hatte noch keine drei Schritte getan, bevor er abrupt zu Boden fiel. Sein Leibwächter stand unter Schock, erstarrt mit der Vase in den Händen.

»Gift, Mr. Kuznetsow«, erklärte Rosalind. »Das ist keine so abscheuliche Art zu sterben, oder?«

Seine Gliedmaßen zuckten. Sein Nervensystem fuhr herunter – Arme wurden schlaff, Beine verwandelten sich in Papier. Sie genoss es nicht. Sie sah es nicht als Rache an. Doch sie müsste lügen, wenn sie behauptete, dass sie sich nicht bei jedem Treffer rechtschaffen fühlte, als wäre das ihre Art, ihre Sünden Schicht um Schicht abzustreifen, bis sie ihre Handlungen von vor vier Jahren vollständig abgegolten hatte.

»Du …« Mr. Kuznetsow sog den Atem ein. »Du hast … den Tee … nicht angerührt. Ich habe … Ich habe aufgepasst.«

»Ich habe den Tee nicht vergiftet, Mr. Kuznetsow«, erwiderte Rosalind. Sie wandte sich seinem Leibwächter zu. »Ich habe die Vase vergiftet, die Sie mit bloßen Händen berührten.«

Mit einer plötzlichen Heftigkeit warf der Leibwächter die Vase von sich, sodass sie am Himmelbett zerschellte. Es war zu spät; er hatte sie länger festgehalten als Mr. Kuznetsow. Er stürmte zur Tür, vielleicht auf der Suche nach Hilfe, vielleicht um das Gift von seinen Händen zu waschen, doch auch er stürzte zu Boden, bevor er es nach draußen schaffen konnte.

Rosalind beobachtete alles mit teilnahmsloser Härte. Sie hatte dies viele Male getan. Die Gerüchte stimmten: Sie trug manchmal eine Münze bei sich, um die Propaganda der Nationalisten anzufeuern. Doch Gift war die Waffe ihrer Wahl, da machte es keinen Unterschied, wie weit sie liefen. Gerade wenn ihre Zielpersonen glaubten, sie seinen davongekommen, hatte sie sie bereits erwischt.

»Du …«

Rosalind trat näher an den Händler heran und steckte die Handschuhe in ihre Tasche.

»Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte sie tonlos. »Grüßen Sie Dimitri Voronin von mir, wenn Sie ihn in der Hölle sehen.«

Mr. Kuznetsow hörte auf zu keuchen, bewegte sich nicht mehr. Er war tot. Wieder ein erfüllter Auftrag und die Nationalisten waren einen Schritt näher daran, das Land an die Imperialisten zu verlieren, anstatt an die Kommunisten. Kurz darauf erlag auch der Leibwächter dem Gift und eine hohle Stille breitete sich im Raum aus.

Rosalind drehte sich zu dem Waschbecken an der Bar herum, drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf und wusch sich die Hände. Das Blut war ihr eigenes, trotzdem lag bitterer Ekel auf ihrer Zunge, als sie sah, wie die Seiten des Waschbeckens sich verfärbten, während sie sich sauber machte, als würden Flecken eines anderen Gifts von ihrer Haut fallen, die Art, die ihre Seele verseuchte anstelle ihrer Organe.

»Es ist einfach, nicht darüber nachzudenken«, hatte ihre Cousine immer gesagt, als es damals in Shanghai eine Blutfehde zwischen zwei rivalisierenden Banden gegeben hatte; als Rosalind damals die rechte Hand der Erbin der Scarlet Gang gewesen war und zugesehen hatte, wie Juliette Tag für Tag im Namen ihrer Familie Menschen getötet hatte. »Erinnere dich an ihre Gesichter. Erinnere dich an die genommenen Leben. Doch wozu sich darüber den Kopf zerbrechen? Wenn es passiert ist, ist es passiert.«

Rosalind atmete langsam aus, drehte den Wasserhahn ab und ließ das rostfarbene Wasser den Abfluss hinabwirbeln. Seit dem Tod ihrer Cousine hatte sich an der Einstellung der Stadt hinsichtlich Blutvergießens wenig verändert. Wenig, abgesehen davon, dass Bandenmitglieder durch Politiker ersetzt wurden, die vorgaben, dass es nun so etwas wie Recht und Ordnung gäbe. Eine künstliche Veränderung, im Grunde war nichts anders.

Aus dem Gang drang das Rumpeln von Stimmen herein. Rosalind verkrampfte sich und suchte ihre Umgebung ab. Auch wenn sie nicht glaubte, dass man sie für die hier begangenen Verbrechen strafrechtlich verfolgen konnte, musste sie doch entkommen, bevor sie diese Theorie austesten konnte. Die Kuomintang hatte für das Land die Verantwortung übernommen und sich als Hüterin der Gerechtigkeit an die Spitze gesetzt. Um den Schein zu wahren, würden die Nationalisten sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen und sie als Agentin verstoßen – obwohl ihre verdeckt arbeitende Geheimabteilung alle Befehle gab –, sollte man sie dabei erwischen, dass sie Leichen vor der Stadt hinterließ.

Rosalind hob das Kinn und dehnte die neue glatte Haut an ihrer Kehle, während sie die Decke des Abteils absuchte. Sie hatte die Blaupausen des Zugs studiert, bevor sie an Bord gekommen war, und als sie eine dünne, beinahe unsichtbare Schnur entdeckte, die nahe der Lampen herabbaumelte, zog sie ein Deckenpanel herab, das eine Metallluke freigab, die geradewegs zum Zugdach hinaufführte, damit man dort Wartungsarbeiten durchführen konnte.

Sobald sie die Luke heruntergeklappt hatte, rauschte der Wind brüllend herein. Sie nutzte günstig gelegene Schubladen als Leiter, um sich behände vom Tatort zu entfernen.

»Rutsch nicht aus«, sagte sie sich, während sie durch die Luke kletterte und in die Nacht hinausstieg. Ihre Zähne klapperten aufgrund der eisigen Temperaturen. »Rutsch nicht aus.«

Rosalind schloss die Luke. Sie hielt einen kurzen Moment inne und orientierte sich auf dem rasenden Zug. Einen schwindelerregenden Moment lang überkam sie Höhenangst und sie war überzeugt, dass sie umkippen und fallen würde. Dann fand sie genauso schnell ihre Balance wieder, die Füße fest auf dem Zugdach.

»Eine Tänzerin, eine Agentin«, flüsterte Rosalind, als sie über den Zug ging, die Augen auf das Waggonende gerichtet. Ihr Betreuer hatte ihr in den ersten Tagen ihrer Ausbildung dieses Mantra eingeprügelt, wenn sie sich darüber beschwert hatte, dass sie sich nicht schnell genug bewegen konnte, nicht so kämpfen konnte wie traditionelle Agenten – Ausrede über Ausrede, warum sie nicht gut genug war, um zu lernen.

Sie hatte jede Nacht auf einer hell erleuchteten Bühne verbracht. Die Stadt hatte sie zu ihrem strahlenden Star gemacht, die Tänzerin, die jeder sehen musste. Gerüchte verbreiteten sich schneller, als es die Realität jemals könnte. Es kam nicht darauf an, wer Rosalind war, tatsächlich nur ein in Glitter gekleidetes Kind. Sie beschwindelte Männer und strahlte sie an, als wären sie die Welt, bis sie das Trinkgeld herausrückten, das sie sehen wollte. Dann wechselte sie den Tisch, bevor auch nur das Lied wechseln konnte.

»Lass mich im Dunkeln herumschleichen und Leute vergiften«, beharrte sie bei ihrem ersten Treffen mit Dao Feng. Sie standen im Innenhof der Universität, wo Dao Feng verdeckt arbeitete – eher widerwillig, was Rosalind betraf, denn es war heiß und das Gras kitzelte ihre Knöchel, Schweiß sammelte sich unter ihren Achseln. »Sie können mich ohnehin nicht töten. Warum brauche ich noch etwas?«

Zur Antwort schlug ihr Dao Feng auf die Nase.

»Herrgott!« Sie fühlte den Knochen knacken. Sie fühlte, wie Blut über ihr Gesicht strömte und auch in die andere Richtung ausbrach, ihr heiß und metallisch die Kehle hinab und auf ihre Zunge lief. Wenn jemand sie in diesem Moment gesehen hätte, was für einen Anblick hätte das geboten. Glücklicherweise war es früh am Morgen und der Innenhof war leer – Zeit und Ort wurden über Monate hinweg ihr festgelegtes Übungsgelände.

»Darum«, antwortete er. »Wie wirst du dein Gift verabreichen, wenn du versuchst, einen gebrochenen Knochen zu heilen? Dieses Land hat nicht wŭshù für dich erfunden, damit du es nicht lernst. Du warst eine Tänzerin. Jetzt bist du eine Agentin. Dein Körper weiß bereits, wie er sich drehen und biegen muss. Du musst ihm nur die Richtung und den Zweck weisen.«

Als er den nächsten Schlag auf ihr Gesicht zielte, duckte Rosalind sich empört. Die gebrochene Nase war bereits im üblichen schnellen Tempo geheilt, doch ihr Ego blieb angekratzt. Dao Fengs Faust traf Luft.

Und ihr Betreuer lächelte. »Gut. Das ist schon besser.«

Rosalind bewegte sich schneller im brüllenden Wind und murmelte ihr Mantra vor sich hin. Jeder Schritt war ein Zuspruch an sich selbst. Sie wusste, wie man nicht abrutschte; sie wusste, was sie tat. Niemand hatte sie gebeten, eine Attentäterin zu werden. Niemand hatte sie gebeten, das Varieté zu verlassen und mit dem Tanzen aufzuhören, doch sie war gestorben und als abscheuliche Kreatur wiedererwacht – wie Mr. Kuznetsow es so gütig ausgedrückt hatte – und sie brauchte ein Ziel in ihrem Leben. Eine Möglichkeit, jeden Tag und jede Nacht aufregender zu gestalten, damit sie nicht monoton ineinanderflossen.

Vielleicht log sie sich selbst an. Vielleicht hatte sie sich entschieden, zu töten, weil sie nicht wusste, wie sie ihren Wert sonst beweisen sollte. Mehr als alles andere auf der Welt wollte Rosalind Lang Wiedergutmachung und wenn sie sie so bekam, dann sollte es so sein.

Hustend wedelte Rosalind nach dem Rauch, der um sie waberte. Die Dampflok tuckerte laut und verteilte einen endlosen Strom aus Staub und Sand. Vor ihr verliefen die Schienen in weite Ferne, verschwanden am Horizont, weiter als das Auge sehen konnte.

Doch dann – eine Bewegung in der Ferne unterbrach das Standbild.

Rosalind hielt inne und lehnte sich neugierig vor. Sie war sich nicht sicher, was sie sah. Die Nacht war dunkel, der Mond nur eine dünne Sichel, die anmutig aus den Wolken hing. Doch die elektrischen Lichter, die entlang der Gleise angebracht waren, erfüllten ihre Aufgabe ausgezeichnet und erleuchteten zwei Gestalten, die von den Gleisen wegliefen und in den hohen Feldern verschwanden.

Der Zug war vielleicht zwanzig, dreißig Sekunden davon entfernt, die Stelle zu erreichen, wo die Gestalten an den Gleisen gelauert hatten. Als Rosalind das Waggonende erreichte, kniff sie ihre Augen zusammen und schärfte ihren Blick. Sie war sich sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Darum bemerkte sie erst, dass Dynamit eine Explosion auf den Gleisen ausgelöst hatte, als das Geräusch durch die Nacht brüllte und die Hitze der Detonation ihr Gesicht traf.

2

Rosalind schnappte nach Luft und warf sich nach unten, um sich am Zugdach festzuhalten und ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie dachte daran, eine Warnung zu rufen, doch weder würde jemand im Zug sie hören, noch könnten sie etwas unternehmen, wenn die Waggons mit solcher Geschwindigkeit dahinrasten und direkt auf die Detonationsstelle zuhielten.

Doch die Flammen auf den Gleisen verschwanden schnell. Als der Zug weiter und weiter auf den Punkt zuraste, wappnete Rosalind sich gegen ein plötzliches Entgleisen. Doch dann erreichte die Lock die erlöschenden Flammen und fuhr einfach weiter. Sie blickte über ihre Schulter und schnitt eine Grimasse gegen den Wind. Der Zug rumpelte über die Explosionsstelle. In Sekundenschnelle hatte er den Ort hinter sich gelassen. Die Detonation war zu schwach gewesen, um die Gleise ernsthaft zu beschädigen.

»Was war das?«, fragte sie die Nacht.

Wer waren die Leute gewesen, die in die Felder gerannt waren? Hatten sie Schaden anrichten wollen?

Die Nacht antwortete ihr nicht. Rosalind unterdrückte ein neuerliches Husten vom unablässigen Rauch des Zugs, rüttelte sich aus ihrer Erstarrung und glitt die Außenseite hinab, um im Durchgang zwischen zwei Waggons zu landen. Sobald sie sich die losen Haare aus dem Gesicht gestrichen hatte, öffnete sie die Tür und betrat den Zug, kehrte in die Wärme des Zweite-Klasse-Abteils zurück.

Es war geschäftig. Obwohl sie in eine Gruppe von drei Leuten in Kellneruniformen getreten war, schenkten sie ihr keinerlei Beachtung. Ein Junge schob einem anderen ein Tablett in die Hände, schnauzte ein paar Worte und eilte dann in ein Abteil. Bei seinem Abgang öffnete sich hinter ihr wieder eine Tür und fünf weitere Kellner traten hindurch.

Einer von ihnen schenkte Rosalind einen Seitenblick, als er vorbeieilte. Obwohl der Blickkontakt ausgesprochen kurz war, kribbelte ihr eine Warnung über die Haut. Sobald der Kellner ein Tischtuch von einem Regal genommen hatte, fuhr er herum, verließ das restliche Zugpersonal und ging weiter den Waggon entlang.

Rosalind folgte ihm. Sie wollte ohnehin zum Anfang des Zugs, obwohl sie noch nicht entschieden hatte, ob sie beim nächsten Halt – Shenyang – aussteigen oder weiter in Richtung Shanghai fahren wollte. Das kam wohl darauf an, wie schnell man die Leichen fand. Oder ob man sie überhaupt fand. Wenn sie Glück hatte, würden sie brav herumliegen, bis der Zug seine Endstation erreichte und jemand daran dachte, die Räume sauberzumachen.

Mit einer Grimasse griff Rosalind in ihren Ärmel, wohin sie ihre Fahrkarte gesteckt hatte. JANIE MEAD hatten sie darauf geschrieben. Ihr Deckname, in aller Öffentlichkeit dafür bekannt, zu den Scarlets zu gehören. Eine falsche Identität hielt man am besten aufrecht, indem man sie so nahe an die Wahrheit herankommen ließ wie möglich. Dann war es schwieriger, die Details durcheinanderzubringen oder die Vergangenheit zu vergessen, die beinahe parallel zur eigenen verlief. Nach ihrer erfundenen Geschichte war Janie Mead die Tochter eines früheren Mitglieds der Scarlet Gang, der zögerlich zum Geschäftspartner der Nationalisten geworden war. Forschte man genauer über ihre Eltern nach – über ihren chinesischen Geburtsnamen, der unter diesem Englischen lag, den sie aufgrund ihrer angeblichen Studienjahre in Amerika angenommen hatte –, zerfiel alles zu Staub.

Ein Schaffner kam an ihr vorbei. Wieder erntete sie einen Seitenblick, der einen Moment zu lange dauerte. Hatte Rosalind irgendwo einen Blutfleck übersehen? Sie hatte geglaubt, ihren Hals ordentlich sauber gemacht zu haben. Sie dachte, sie würde sich normal verhalten.

Rosalind zerknüllte ihre Fahrkarte und betrat dann den nächsten Waggon, wo die Fenster zeigten, dass die Umgebung langsamer vorbeizog. Der Zug näherte sich dem Bahnhof, grüne Felder verwandelten sich in kleine Stadthäuser und elektrisches Licht. Um sie herum wurde das Murmeln von Unterhaltungen lauter, einzelne Schnipsel schwebten von Sitz zu Sitz.

Jedes der feinen Haare in ihrem Nacken war aufgerichtet, obwohl alles in Ordnung zu sein schien. Andere Passagiere beeilten sich, ihr Gepäck herunterzuziehen und sich an den Ausgängen zu scharen, bevor der Zug hielt. Rosalind arbeitete inzwischen seit Jahren als Attentäterin. Sie hatte gelernt, zuerst ihrem Gefühl zu vertrauen und ihr Gehirn dann folgen zu lassen. Sie musste auf der Hut sein.

Zwei Bedienstete eilten vorüber und rafften Decken zusammen, die sie von aussteigenden Passagieren einsammelten. Rosalind lehnte sich vorsichtig zurück, um die Frau vorbeizulassen, die Schulter gegen die Wand gedrückt. Sie hätte beinahe einen Einlegeblattkalender von seinem Haken gestoßen, doch bevor er zu sehr aus dem Gleichgewicht kommen und auf den Teppichboden fallen konnte, richtete Rosalind ihn wieder aus, wobei sie über das oberste Blatt strich: 18. September.

Die Bediensteten eilten wieder vorbei, die Arme frei von den Decken, bereit, mehr einzusammeln. Eine schnalzte mit der Zunge, beide ignorierten Rosalind auf ihrem Weg – glücklicherweise.

»Wir halten in Fengtian?«, fragte eine die andere.

»Warum benutzt du den japanischen Namen? Sie sind noch nicht einmarschiert … wir müssen nicht den alten benutzen.«

Rosalind ging weiter und strich dabei mit der Hand über die verschachtelten Holzbalken, die die Wände entlang verliefen. Fengtian. Man hatte ihn vor beinahe zwei Jahrzehnten zu Shenyang geändert, nachdem die Chinesen das Land wieder übernommen hatten, doch als sie mit ihren Lehrern die Region studiert hatte, hatte sie Englisch benutzt, womit sie vertrauter war: Mukden.

Dieser neue Waggon war viel voller. Rosalind duckte sich näher an den Mittelgang heran und schlängelte sich durch die Passagiere. Mitten im dichten Gewühl war es ein Leichtes, den Gesprächen zu lauschen und aufzuschnappen, was ihr an die Ohren drang.

»Sind wir noch nicht da?«

»… qīn’ài de, komm her, bevor Māma dich nicht finden kann.«

»Du hast nicht gedacht, dass da ein Feuer ist, bei all dem Geschaukel …«

»… meinen Schuh gesehen?«

»… Mitglied der Scarlet Gang an Bord. Vielleicht ist es sicherer, sie den Japanern zu übergeben, bis jemand weiter oben sie besänftigen kann.«

Rosalind wurde langsamer. Sie zeigte ihre Überraschung nicht offen, doch sie konnte sich nicht davon abhalten, nur einen Moment stehen zu bleiben, um sicherzustellen, dass sie richtig gehört hatte. Ah. Da war es. Sie hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte, und die Instinkte, die man ihr während der Ausbildung eingebläut hatte, hatten bisher noch nie falsch gelegen. Manchmal identifizierte sie ihr Ziel, bevor sie es bewusst wahrnahm; zu anderen Zeiten spürte sie, dass sie selbst zum Ziel geworden war, bevor das tatsächliche Begreifen einsetzte.

Mich den Japanern übergeben?, dachte sie hektisch. Wofür? Sicherlich nicht für das Attentat an dem russischen Händler. Erstens waren keine Polizisten an Bord und selbst wenn, hätten sie nicht schnell genug gearbeitet, dass sie bereits ausländischen Abteilungen Rede und Antwort stehen müssten, mal ganz davon abgesehen, warum die Japaner involviert sein sollten.

Ihr Blick überflog die Sitze. Sie konnte nicht ausmachen, woher die Stimme gekommen war. Die meisten Gesichter im Umkreis wirkten alltäglich. Gewöhnliche Bürger in Stoffhemden und weichen Stoffschuhen, was ihr zeigte, dass sie auf dem Weg nach Hause in ihr Dorf waren und nicht in eine große Stadt.

Etwas Größeres als sie passierte hier. Das gefiel ihr nicht im Geringsten.

Als der Zug in Shenyang hielt, schloss Rosalind sich den Menschenmassen an, die ausstiegen. Sie ließ ihre Fahrkarte fallen, als sie aus dem Waggon stieg, und der kleine zusammengeknüllte Ball wurde zu Abfall auf dem Bahnsteig, so einfach, wie man eine Münze in einen Brunnen warf. Lärm umgab sie von allen Seiten. Das Pfeifen des Zugs sang in die Nacht und blies heißen Dampf um die Gleise, der Rosalind den Schweiß auf den Rücken trieb. Selbst als sie sich durch die Menge am Bahnsteig drängte und den Bahnhof betrat, blieb der Schweiß.

Rosalind überblickte den Bahnhof. Die Anzeige für Ankünfte und Abfahrten gab ein schnelles Klick-Klick-Klick von sich, als sie umschaltete, um die in Kürze einfahrenden Züge zu zeigen. Shanghai war ein beliebtes Ziel, doch der nächste Zug fuhr erst in einer Stunde ab. Sie wäre ein leichtes Ziel, wenn sie sich bei den Sitzen im Wartebereich aufhielt.

Zugleich wurde der Hauptausgang von einer Linie von Polizeibeamten bewacht, die alle Zivilisten anhielten, die die Türen passierten, um schnell ihre Fahrkarten zu kontrollieren.

Langsam zog Rosalind ihre Halskette unter ihrem Qipao hervor und ging mit gleichbleibenden Schritten weiter, während sie sich entschied und auf den Ausgang zuhielt. Wenn sie es hindurchschaffte, konnte sie fürs Erste in Shenyang bleiben und sich am Morgen aus der Affäre ziehen, um nach Shanghai zurückzukehren und dabei so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Wenn nicht …

Sie steckte eine der Perlen ihrer Halskette in den Mund, öffnete den winzigen Verschluss und löste den Faden heraus. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. Vielleicht wäre sie weniger aufgefallen, wenn sie etwas anderes dabeigehabt hätte, doch nun war sie die am besten Gekleidete im Bahnhof und gehörte offensichtlich in eine Großstadt. Man brauchte keine Fahrkarte, um sie einzuordnen.

Sobald einer der Polizisten sie kommen sah, stieß er den Mann neben sich an, der ein anderes Abzeichen am Jackenaufschlag trug.

»Fahrkarte?«, verlangte dieser.

Rosalind zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie verloren. Ich nehme nicht an, dass sie meine Fahrkarte sehen wollen, wenn ich gehen will, oder?«

Ein weiterer Mann lehnte sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. Seine Stimme war zu leise, als dass sie etwas anderes verstanden hätte als »Passagierliste«, doch das verriet ihr schon genug.

»Janie Mead, richtig?«, bestätigte er, als er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwandte. »Sie müssen mit uns kommen. Sie stehen im Verdacht, sich mit der Scarlet Gang verschworen zu haben, um großflächig Schaden anzurichten.«

Rosalind blinzelte. Sie schob die Perle im Mund herum, wälzte sie unter der Zunge von einer Seite zur anderen. Dies hatte also nichts mit ihrer Arbeit als Fortuna zu tun. Hier wurde die Scarlet Gang zum Sündenbock gemacht. Dies war ein weiterer Vorfall in einer langen Serie, die das ganze Land durchzog und in der die Bandenmitglieder aus der Großstadt für Vorfälle verantwortlich gemacht wurden, weil ausländische Imperialisten versuchten, die Schuld für versagende Infrastruktur und Aufständische von sich abzuwälzen. Die Bandenmitglieder hatten einstecken müssen, wenn die regierenden Kriegsherren mit dem Finger auf jemanden zeigen mussten, bevor die Imperialisten behaupten konnten, dass die Chinesen ihre eigenen Leute nicht unter Kontrolle hätten und stattdessen ausländische Regierungen im Land einsetzten.

Vielleicht ist es sicherer, sie den Japanern zu übergeben, bis jemand weiter oben sie besänftigen kann.

Sie hätte es wissen müssen. Inzwischen war das Routine: In der Stadt ging etwas schief und die Ausländer, die in der Gegend Rechtsanspruch erhoben, sahen das als Grund dafür, dass den Chinesen das Land abgenommen werden musste.

Die einzige Lösung war, das Problem eilig zu beseitigen, bevor die Imperialisten sich einschalten und mit ihren Waffen und Panzern einmarschieren konnten. Für die hier ansässigen chinesischen Behörden befand »Janie Mead« sich einfach zur rechten Zeit am rechten Ort.

Sie streckte die Hände vor, die Handgelenke zusammen, bereit, in Handschellen gelegt zu werden. »Okay.«

Die Männer blinzelten. Vielleicht hatten sie nicht erwartet, dass es so einfach sein würde. »Sie verstehen die Anklage?«

»Die schwache Explosion, ja?«, bot Rosalind an. »Wie auch immer ich das von drinnen aus dem Zug heraus gemacht habe, aber ich verstehe, dass es einfacher ist, die Passagierliste durchzugehen, als die Felder bei den Gleisen zu durchkämmen.«

Entweder bemerkten sie den Spott nicht oder sie gaben vor, ihn nicht zu hören. Dass sie von der Explosion wusste, war Beweis genug. Einer der Polizisten legte ihr kalte Handschellen um die Handgelenke und gab ihr einen Schubs, um sie aus dem Bahnhof zu führen. Er nahm einen Arm, ein anderer Polizist den anderen. Der Rest der Gruppe folgte dichtauf und ging als Vorsichtsmaßnahme im Kreis um sie herum.

Rosalind verschob nochmals die Perle auf ihrer Zunge. Sie ließ sie in ihrem Mund herumwirbeln. Komm schon, dachte sie.

Obwohl die Betriebsamkeit um diese Zeit nachließ, hatten immer noch genügend Zivilisten im Bahnhof zu tun. Einige hielten sich mit ihrer Neugier zurück, andere reckten ungeniert die Hälse, um zu sehen, wen die Polizisten festnahmen. Sie fragte sich, ob sie ihnen vertraut vorkäme, sollten sie Zeitungen aus Shanghai lesen und sich daran erinnern, dass man ein Jahr nach der Revolution skizzierte Portraits von ihr gedruckt und darüber spekuliert hatte, ob Rosalind Lang tot war.

»Hier entlang.«

Im Vorhof des Bahnhofs gab es nur eine Straßenlaterne, die in der Nähe eines Springbrunnens brannte. Auf der anderen Straßenseite parkten Autos, beinahe verdeckt nahe einer Gasse.

Die Polizisten trieben sie in diese Richtung. Rosalind fügte sich. Geduldig ging sie mit ihnen – ging weiter, bis sie sich dem Polizeiauto näherten und der Glanz der schwarzen Farbe und die Stäbe über den Fenstern schon fast in Reichweite waren.

Dann – endlich – schmolz die äußerste Schale der Perle auf ihrer Zunge. Flüssigkeit ergoss sich so plötzlich in ihren Mund, dass Rosalind bei dem Gefühl beinahe gehustet hätte und sich zusammenreißen musste, als der scharfe Geschmack über ihre Zunge floss. Ein Geräusch entkam ihrer Kehle. Der Polizist zu ihrer Linken wandte sich zu ihr um.

»Keine Mätzchen«, befahl er, hörbar genervt. »Xiăo Gūniáng, du kannst froh sein, wenn …«

Rosalind spuckte ihm die Flüssigkeit ins Gesicht. Er warf sich mit einem Schrei rückwärts und ließ sie los, damit er die Hände auf seine brennenden Augen legen konnte. Bevor der Polizist zu ihrer Rechten sich darüber klar werden konnte, was vorging, hatte sie bereits die Arme über seinen Kopf geschwungen und drückte ihm die Kette der Handschellen um den Hals. Er schrie eine Warnung, doch Rosalind zog fest genug, um ein Knacken zu hören, und er verstummte. Sie trat ihm mit dem Knie in den Rücken und befreite ihre Hände von seinem Hals.

Die anderen Polizisten warfen sich vor, um die Lücken zu beiden Seiten zu schließen, doch es war zu spät. Rosalind flitzte los und machte sich schnell die Straße hinab davon.

Eine Tänzerin, eine Agentin. Sie würde jeden Zentimeter der Bühne nutzen, jede Waffe, die ihr zur Verfügung stand. Die Perle war eine ihrer eigenen kleinen Erfindungen für Trickbetrüger. Sie war mit derselben Substanz überzogen, die Apotheken für ihre Tabletten verwendeten. Die Flüssigkeit darin war harmlos, wenn man sie aus Versehen schluckte, doch konnte jemanden für einen ganzen Tag blenden, wenn man sie in die Augen bekam.

Sie blickte nach hinten und sah, dass die Polizisten zurückfielen. Neben ihr reihten sich Wohngebäude aneinander, ein Wirbel aus halb verfallenen Eingangstreppen und zerbrochenen Fensterscheiben zog vorüber. Als Rosalind die Ecke erreichte, sprang sie hoch und hängte die Kette, die sich zwischen den Handschellen befand, an eine vorstehende Lampe an einem der Häuser. Ihre bloßen Hände hätten keinen festen Halt gefunden, doch die Kette war beinahe perfekt dafür und gab ihr die einmalige Gelegenheit, gegen einen der Fenstersimse zu treten und sich dann auf den Balkon zu ziehen. Die metallenen Handschellen klapperten gegen das Geländer. Mit einem unterdrückten Jaulen rollte Rosalind über das Geländer und krachte der Länge nach auf den Fliesenboden. Die abrupte Landung presste die Luft aus ihren Lungen. Unter ihr schwärmten die Polizisten bereits aus, um einen Weg nach oben zu finden.

»Ich bin nicht gut genug in Form hierfür«, keuchte Rosalind und rollte sich auf die Seite, bevor sie stolpernd auf die Füße kam und die Balkontüren aufstieß. Sie betrat ein dunkles und leeres Restaurant. Ihr Atem ging schwer, als sie sich einen Weg durch das Labyrinth aus Tischen suchte. Es klang nicht so, als hätten die Polizisten sie schon eingeholt, als sie aus dem Restaurant kam und die Galerie im ersten Stock entlanglief. Doch sie würden kommen und das Restaurant durchsuchen, denn sie hatten sie hineinklettern sehen, und sie würden um das Erdgeschoss herum Wache stehen, denn das war ihre einzige Fluchtmöglichkeit. Es gab nur sehr wenige brauchbare Auswege und sehr wenige Orte, an denen sie sich verstecken konnte.

»Umstellt den ersten Stock! Beeilt euch!«

Ihre Stimmen drangen in den Innenhof des Gebäudes. Rosalind suchte ihre Umgebung ab, dann fiel ihr Blick auf eine Tür, die schmaler war als die anderen Ladentüren und Wohnkorridore. Ein Wasserklosett.

Gerade als Schritte die Treppen heraufzutrampeln begannen, schlüpfte Rosalind durch die Tür und verharrte reglos auf der anderen Seite. Jemand hatte seine Reinigungspflichten in der Hocktoilette ernst genommen, daher roch es in dem kleinen Raum nur nach Bleiche. Rosalind versuchte, die Breite abzuschätzen. Sie betrachtete die Türscharniere und sah, dass sie nach innen öffneten.

Sie drückte sich gegen die Ecke des Wasserklosetts und hielt den Atem an, während sie zählte. Eins, zwei, drei.

Die Tür wurde nach innen aufgestoßen, bevor sie direkt vor ihrer Nase zum Stehen kam. Als er sah, dass das Wasserkloset leer war, ging der Polizist weiter und rief nach den anderen.

»Alles sauber!«

Langsam stieß Rosalind den Atem aus. Die Tür fiel von selbst knarzend zu, der Knauf klickte leise, während die Polizisten ausschwärmten und die Wohnungen durchsuchten. Sie rührte sich nicht. Sie kümmerte sich nicht einmal um das Jucken ihrer Nase, solange sie Bewegungen hören konnte.

»Wohin könnte das Mädchen verschwunden sein?«

»Diese Genossinnen sind gerissen. Sucht weiter.«

»Genossin? Gehört sie nicht zu Shanghais Scarlet Gang?«

»Wahrscheinlich auch Kommunistin. Du weißt ja, wie das in der Stadt ist.«

Rosalind hätte beinahe losgeprustet. Nichts läge ihr ferner, als Kommunistin zu sein. Ihre Schwester Celia war tatsächlich eine. Anders als Rosalind war es Celia leichtgefallen, die Scarlet-Villa eines Tages zu verlassen und vom Erdboden zu verschwinden. Man kannte sie als Kathleen Lang, solange sie zum Haushalt gehörte, da sie den Namen ihrer dritten Schwester angenommen hatte, als die echte Kathleen in Paris verstorben war. Sie hatte bei ihrer Rückkehr nach Shanghai eine Identität angenommen, die ihr Sicherheit bot, während sie authentisch leben konnte. Man hatte ihr bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen, und auch wenn ihr Vater ihr nicht erlaubt hatte, in der Öffentlichkeit Celia zu sein, hatte er ihr erlaubt, als Schutzmaßnahme Kathleens Platz einzunehmen und sich als jemand einzuschmuggeln, von der die Stadt glaubte, dass sie sie bereits kannte. Als die Revolution durch Shanghai gefegt war, als die Macht sich verschoben und die Loyalitäten sich verändert hatten und ihre einst so mächtige Familie auseinanderbrach, hatte Celia sich mit dem Namen in Kommunistenkreise begeben, den sie für sich gewählt hatte, anstatt zu ihrem Leben als Kathleen zurückzukehren. Wenn sie wollte, könnte sie vorgeben, nie ein Teil der Scarlet Gang gewesen zu sein. Immerhin hatte die Scarlet Gang stets nur ihre frühreife Erbin Juliette gekannt und ihre zwei lieben Cousinen Rosalind und Kathleen.

Während Celia nur ein paar Auserwählten in der Organisation von ihrer Vergangenheit bei der Scarlet Gang erzählte, wurde Rosalind ständig von den Nationalisten beobachtet wie eine Scarlet-Bombe, die jederzeit losgehen konnte. Immerhin gab es einen Grund dafür, dass sie sie White Flowers jagen ließen. Sie und die Nationalisten waren sich darüber einig, warum sie für sie arbeitete.

Rosalind drückte ein Ohr an die Tür und belauschte die Polizisten bei ihrer Suche. Die verärgerten Befehle, die sie einander zuriefen, wurden leiser und sie grummelten, dass sie unbemerkt entkommen sein musste. Erst als ihre Stimmen verklungen waren, wagte Rosalind, sich aus ihrer Ecke des Wasserklosetts zu schieben, die gefesselten Handgelenke zu heben und die Tür mit einem Finger einen Spalt weit aufzuschieben.

Die Umgebung des Gebäudes wurde still. Sie stieß den Atem aus und ließ endlich ihre verspannten Schultern fallen. Als sie die Tür ganz öffnete, lag alles ruhig da.

Sie konnte beinahe Dao Fengs Lob hören, seine dröhnende Stimme und seine Hand, die ihr herzlich auf die Schulter klopfte. Rosalind hatte noch mehr Gift in ihrem Qipao versteckt, Notfallpulver an der Taille, mit Gift überzogene Klingen in den Absätzen ihrer Schuhe. Doch für all das bestand kein Bedarf.

»Ich habe es gemacht, wie du immer sagst«, murmelte sie. »Weglaufen, wenn man nicht kämpfen muss. Greif niemals frontal an, wenn es hintenrum geht.«

Rosalind hatte bei ihrem allerersten Auftrag versagt. Das Messer in ihrer Hand hatte gezögert; die Klinge war ihr weggeschlagen worden. Ihre Zielperson war über ihr aufgeragt, Sekunden davon entfernt, mit dem Stiefel in ihr Gesicht zu treten und die Grenzen ihrer Heilkraft auszutesten.

Nur hatte Dao Feng gewusst, dass er sie beaufsichtigen musste. Er war ihr dichtauf gefolgt und eingeschritten; hatte einen Giftpfeil abgeschossen, bevor die Zielperson sich auch nur umgedreht hatte, wodurch sie wie ein Sack Steine zu Boden gegangen war. Rosalind hatte im Nachhinein nicht daran gedacht, sich zu bedanken. Während sie nach Atem gerungen und vor Adrenalin gebebt hatte, waren ihre einzigen Worte an Dao Feng eine Forderung gewesen, als er ihr aufgeholfen hatte: »Unterrichte mich.«

Nun testete Rosalind die Robustheit der Handschellen um ihre Handgelenke. Sie ließ sich keine Zeit, zusammenzuzucken, bevor sie das Knie hob und in die Kette rammte. Die Handschellen gingen ab, zusammen mit ihrer abgezogenen Haut. Ihre wunde Haut schrie, ganze Fetzen fielen mit den metallenen Handschellen zu Boden, doch es würde vergehen. Solange nur sie nicht schrie. Solange sie sich so fest wie möglich auf die Wangen biss, um sich unter Kontrolle zu haben und still zu bleiben.

Kleine Blutstropfen fielen auf den Holzboden, sickerten durch die Spalten und verfärbten, was auch immer im Erdgeschoss sein mochte. In weniger als einer Minute würde ihre Haut jedoch von rot zu pink wechseln, dann von pink zu leicht gebräunt.

Nach dieser ersten Mission hatte sie immer nur Gift gewollt. Gift war unwiderleglich. Wenn andere wie sie dort draußen waren, konnten sie eine Klinge in der Kehle überleben, eine Kugel in den Bauch, doch Gift würde sie von innen heraus verrotten lassen. Ihre Zellen waren so verändert worden, dass sie sich nach jeder Wunde wieder zusammenfügten; sie waren nicht so verändert, dass sie einem Totalausfall standhalten konnten. Mit der einzigen Waffe zu arbeiten, die sie töten konnte, war ihre Art, sich daran zu erinnern, dass sie nicht unsterblich war, egal was die Nationalisten sagten.

Auf eine eigene merkwürdige Art war das tröstlich.

Rosalind trat aus dem Wasserklosett und ging die Treppe hinunter, suchte sich lässig flanierend einen Weg zurück auf die Straße. Sie wollte keinen Verdacht erregen, sollte man sie entdecken, und sie schaffte es, ihren Weg zum Bahnhof zurückzuverfolgen und an derselben Gasse vorbeizukommen wie zuvor. Das schwarze Auto war verschwunden. Wie auch die Leiche des Polizisten, dem sie bei ihrer Flucht das Genick gebrochen hatte.

»Das ist deine Schuld«, murmelte Rosalind laut. »Du bist schuld, weil du gegen mich gekämpft hast. Du hättest mich in Ruhe lassen können.«

Sie wirbelte herum und überquerte die Straße. Der Springbrunnen war abgestellt, um nachts Strom zu sparen. Als sie daran vorbeiging, fuhren ihre Finger am Becken entlang und nahmen eine Schicht Staub auf, den sie abrieb, als sie den Bahnhof betrat und ihre Stöckelschuhe auf dem Fliesenboden klackerten. Wenn irgendjemand hier sie als das Mädchen erkannte, das man vor weniger als einer halben Stunde hinausgeführt hatte, ließen sie es sich nicht anmerken. Die Frau am Fahrkartenschalter sah kaum auf, bis Rosalind sich vorbeugte, eine Hand auf den Tresen gestützt, während sie mit der anderen ihre Haare glattstrich.

»Hallo.« Rosalinds Stimme war honigsüß. Weich. Vollkommen unschuldig. »Eine Fahrkarte für den nächsten Zug nach Shanghai, bitte.«

3

Als die Standuhr Mitternacht schlug, hallte ihr Echo hohl durch die Villa. Es mangelte nicht an Besitztümern, um das Geräusch zu schlucken – Plüschsofas säumten jede freie Fläche, umringt von großen Blumenvasen und antiken Gemälden an den Wänden. Doch die Hong-Familie hatte in den letzten Jahren ihr Personal reduziert und nun waren nur noch zwei Diener übrig, was dem Haus eine gespenstische Leere verlieh, der man unmöglich beikommen konnte.

Ah Dou stand in der Nähe und rückte seine Brille zurecht, während er die Visitenkarten ordnete, die sich auf dem Schrank in der Eingangshalle stapelten. Auf der Couch im Wohnzimmer, die Beine seitlich über die Armlehne geworfen, lag Orion Hong und sah aus wie der Inbegriff von Leichtfertigkeit und Gelassenheit.

»Es wird spät, èr shàoyé«, sagte Ah Dou und warf ihm einen Blick zu. »Wollen Sie sich bald zu Bett begeben?«

»Noch ein bisschen«, erwiderte Orion. Er erhob sich auf die Ellbogen und lehnte sich gegen die Sofakissen. Sein Hemd war für eine so zwanglose Haltung nicht gemacht und der weiße Stoff spannte an den Nähten. Wenn er es zerriss, würde er knallhart wirken – abgesehen davon, dass Orion die am wenigsten hart wirkende Person der Stadt war. Vielleicht könnte er jemanden mit seiner überheblichen Unordentlichkeit abschrecken. »Glaubst du, dass mein Vater heute nach Hause kommt?«

Ah Dou blickte auf die Uhr und machte ein übertriebenes Geräusch, während er den Rücken streckte. Vor wenigen Minuten hatte es geläutet, sie wussten also beide, wie spät es war. Trotzdem sah der alte Haushälter demonstrativ auf die Uhr. »Ich würde annehmen, dass er im Büro bleibt.«

Orion drückte seinen Kopf in eines der Kissen. »Bei seinen Arbeitszeiten könnte man meinen, er sei an der Front des Bürgerkriegs, anstatt hochrangige Verwaltungsarbeiten zu leiten.«

Es war nicht so, dass Orion oft zu Hause war. Wenn ihm keine Mission zugeteilt wurde, aalte er sich irgendwo in der Stadt im Luxus, vorzugsweise in einer lauten Tanzhalle, umgeben von schönen Menschen. Doch an den Abenden, an denen er nach Hause kam, war es seltsam, das Haus in diesem Zustand zu sehen. Er sollte sich inzwischen daran gewöhnt haben oder zumindest damit vertraut sein, wie es sich jedes Jahr Stück für Stück leerte. Doch jedes Mal, wenn er durch die Eingangshalle kam, geriet er aus dem Lot, hob das Kinn, um zu den Kronleuchtern aufzusehen, die vom Hauptatrium hingen, und fragte sich, wann sie das letzte Mal in voller Pracht erstrahlt hatten.

»Sie haben die Tatkraft Ihres Vaters«, antwortete Ah Dou monoton. »Ich bin mir sicher, Sie verstehen seine Hingabe für seine Arbeit.«

Orion ließ sein bestes Grinsen aufblitzen. »Bring mich nicht zum Lachen. Ich habe nur Hingabe für das Vergnügen.«

Der Haushälter schüttelte den Kopf, doch es lag keine echte Missbilligung darin. Dafür mochte Ah Dou ihn zu gern. Bevor man Orion nach England geschickt hatte, war er unter Ah Dous Blicken aufgewachsen, entweder um seinem Kindermädchen zu berichten, dass er seine Jacke getragen, oder um sicherzustellen, dass er genug gegessen hatte.

»Möchten Sie Tee?«, fragte Ah Dou nun und legte die Visitenkarten sorgfältig gestapelt weg. »Ich werde Ihnen Tee machen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schlurfte Ah Dou davon, wobei seine Hausschuhe über den Marmorboden schleiften. Er schob den Perlenvorhang zum Wohnzimmer beiseite und verschwand in der Küche, wo er mit dem Wasserkocher klapperte. Orion richtete sich auf und strich mit der Hand durch seine gegelten Haare.

Eine einzelne Strähne fiel in seine Augen. Er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuschieben. Er legte nur die Arme auf die Knie und beäugte die Haustür, obwohl er wusste, dass sie sich in nächster Zeit nicht öffnen würde. Wenn Orion gewollt hätte, dass sein Vater an den Abenden zu Hause war, an denen er zurückkehrte, hätte er vorher anrufen und sich mit ihm verabreden können. Doch diese Art von Familie waren sie nicht mehr. General Hong würde fragen, ob im Haus etwas Wichtiges besprochen werden musste, und auflegen, wenn Orion Nein sagte.

Es war nicht immer so gewesen. Das schien sein täglicher Kehrreim zu sein. Einst war sein Vater Punkt fünf Uhr nach Hause gekommen. Orion war ihm entgegengelaufen, und obwohl er mit neun Jahren zu groß dafür gewesen war, hochgehoben und herumgewirbelt zu werden, hatte sein Vater es trotzdem getan. Wie schrecklich war es, dass seine glücklichsten Erinnerungen aus einer so fernen Vergangenheit stammten? England in den darauffolgenden Jahren war eine Abfolge grauer Himmel und dann war nichts mehr so wie früher, als er nach Shanghai zurückgekehrt war.

Von oben kam ein plötzliches Rascheln. Orion blickte zur Treppe und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt. Im ersten Stock links lag das Arbeitszimmer seines Vaters in einem offenen Raum: Eine große Buntglaskuppel warf Muster auf seinen Schreibtisch, wenn die Sonne im richtigen Winkel stand. Nachts warf das ganze Haus die lautesten Echos durch das Arbeitszimmer; die Regale über Regale an Büchern, die sich über dem Schreibtisch wanden, dämmten den Raum nicht im Geringsten. Während Orions Jugend war sein Vater besonders gern vor diesen Büchern auf und ab gegangen. Stets hatte er dabei auf das Geländer der Galerie getrommelt, die sich zu den Regalen hinaufwand. Die Schlafzimmer befanden sich rechts der Treppe. Manchmal hatte Orion das Metallklirren gehört und es zu seinem Schlaflied gemacht.

»Phoebe?«, rief er. Er hatte gedacht, seine jüngere Schwester wäre vor Stunden zu Bett gegangen. Das Geräusch kam nicht von rechts, wo Phoebes Schlafzimmer lag. Es kam aus dem Arbeitszimmer seines Vaters.

»Èrshàoyé, Ihr Tee …«

Orion riss den Arm hoch. Ah Dou erstarrte.

»Nicht bewegen. Ich bin gleich zurück.« Verschwunden war das gelassene Grinsen – diesen Platz nahm die Agentenmiene ein. Orion Hong war ein nationaler Spion. Egal wie leicht er die Welt nehmen wollte, die Welt kam jeden Tag mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihn zugerast.

Er eilte die Stufen hinauf, wobei er so leise auftrat wie nur möglich. Weil das Mondlicht durch die Seitenfenster hereinströmte, waren nur Teile des Arbeitszimmers sichtbar. Als Orion eintrat, machte er kein Geräusch, schlich sich näher an das heran, was er für eine Bewegung hinter dem Schreibtisch seines Vaters hielt. Wenn das Glück ihm geneigt war, würde er nur ein Nagetier finden, das sich durch die Trockenwand geknabbert hatte.

Doch das Glück war ihm nicht geneigt.

Eine Gestalt erhob sich hinter dem Tisch.

Orion sprang vor, die Fäuste zum Angriff geballt. Bei jedem anderen Eindringling wäre er zurückgewichen und hätte die Polizei gerufen – die effizienteste Lösung. Doch dieser Eindringling hatte nicht einmal seine Identität verschleiert, sodass die Grimasse ihm deutlich anzusehen war, als Orion ihn am Kragen packte und gegen die unteren Bücherregale knallte.

»Was zur Hölle machst du hier, Oliver?«, schnauzte Orion auf Englisch.

»Was?«, erwiderte Oliver und klang dabei vollkommen gelassen, trotz des Keuchens in seiner Kehle. »Kann ich nicht mein eigenes Zuhause betreten?«

Orion drückte fester zu. Sein älterer Bruder wirkte immer noch nicht, als fühlte er sich bedroht, obwohl sein Gesicht vor Anstrengung rot wurde.

»Dies ist nicht mehr dein Zuhause.«

Nicht seit Oliver zu den Kommunisten übergelaufen war. Nicht seit dem Vorfall vom 12. April vor vier Jahren, als die Nationalisten sich gegen die Kommunisten gewandt hatten, sie mit einer Massenabschlachtung aus der Kuomintang Partei geworfen und das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt hatten.

»Schalt mal einen Gang runter«, brachte Oliver heraus. »Wann hast du angefangen, anstelle von Worten deine Fäuste zu benutzen?«

»Wann bist du so dumm geworden?«, schoss Orion zurück. »Kommst hierher zurück, obwohl du weißt, was passiert, wenn man dich erwischt.«

»Oh, bitte.« Selbst wenn er festgehalten wurde, klang Oliver selbstsicher und zuversichtlich. Er war immer so gewesen. Es gab wenig, das der älteste Sohn eines Nationalistengenerals nicht verlangen konnte, und er war damit aufgewachsen, dass seine Bitten auf ein Fingerschnipsen hin erfüllt wurden. »Halten wir die Politik aus unserer Familie heraus …«

Orion griff in seine Jacke und rammte seinem Bruder anschließend seine Pistole gegen die Schläfe.

»Du hast die Politik in unsere Familie geholt. Du hast in unserer Familie Gräben gezogen.«

»Du hättest dich mir anschließen können. Ich habe auch dich gebeten, mitzukommen. Ich wollte dich und Phoebe niemals zurücklassen.«

Orions Finger zuckte zum Abzug. Es wäre so einfach gewesen, abzudrücken. Shanghai stand kommunistischen Handlungen inzwischen nur noch feindlich gegenüber: Kein bekanntes Mitglied konnte die Straße entlanggehen, ohne festgenommen zu werden, entweder um sofort hingerichtet zu werden oder um für Informationen gefoltert und dann hingerichtet zu werden. Er würde Olivers endgültiges Schicksal nur beschleunigen.

Oliver beäugte die Pistole. In seinen Augen lag keine Angst, nur schwache Verärgerung.

»Steck die Waffe weg, dìdì. Ich weiß, dass du nicht schießen wirst.«

»Qù nĭ