Welch grausames Ende - Chloe Gong - E-Book + Hörbuch

Welch grausames Ende E-Book und Hörbuch

Chloe Gong

5,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Episch, revolutionär, dramatisch! Nachdem sie ihre Beziehung zu Roma geopfert hat, um ihn vor der Blutfehde zu schützen, muss Juliette ihre Gefühle zu ihm unterdrücken. Eine falsche Entscheidung und ihr Cousin wird ihren Platz als Erbin der Scarlet Gang an sich reißen. Roma muss indessen seine Familie rächen, selbst wenn das bedeutet, die Frau zu töten, die er gleichermaßen liebt und hasst. Doch dann taucht eine neue monströse Gefahr in der Stadt auf. Und obwohl bedrohliche Geheimnisse sie voneinander trennen, muss Juliette Roma vertrauen. Mit besonderer Ausstattung Das Buch überzeugt in seiner Qualität wie sein Vorgänger mit einem Hardcover inklusive kunstvoller Tiefprägung und Schutzumschlag. Von SPIEGEL-Bestsellerautorin Chloe Gong Der Vorgänger Welch grausame Gnade ist bereits SPIEGEL-Bestseller. Auch der Nachfolger des Romeo-und-Julia-Retellings ist in der Originalausgabe wie der erste Teil ein New York Times-Bestseller. Chloe Gong überzeugt mit ihren realistischen und bildgewaltigen Erzählungen weiter Millionen Leser*innen. Dieses Finale wird keinen unberührt lassen!

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Seitenzahl: 722

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Zeit:15 Std. 39 min

Sprecher:Leonie Landa
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WELCH GRAUSAMES ENDE

CHLOE GONG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2022

© 2022 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing Division unter dem Titel Our Violet Ends. © 2021 by Chloe Gong. All rights reserved.

Published by Arrangement with TRIADA US LITERARY AGENCY, INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Carolin Moser

Redaktion: Sabrina Cremer

Umschlaggestaltung: Catharina Aydemir und Monika Tomaszewska, dem Original von Greg Stadnyk nachempfunden

Umschlagabbildung: Katt Phatt

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-221-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-330-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-329-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Augen, blickt euer Letztes!

Arme, nehmt die letzte Umarmung!

Und o Lippen, ihr, die Thore des Odems,

siegelt mit rechtmäß’gem Kusse

Den ewigen Vertrag dem Wuchrer Tod.

Shakespeare, Romeo und Julia

Inhalt

Eins: Januar 1927

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf: Februar 1927

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig: März 1927

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig: APRIL 1927

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Epilog: APRIL 1928

Anmerkungen der Autorin

Danksagungen

Eins

Januar 1927

Neujahr zog mit so viel Pomp in Shanghai ein, dass eine Woche später immer noch ein festliches Gefühl in der Luft hing. Man erkannte es an der Art, wie die Leute sich bewegten – der zusätzliche Schwung in ihren Schritten und das Glitzern in ihren Augen, als sie sich über die Sitze des Grand Theatre lehnten, um mit ihren Begleitern zu flüstern. An der lauten Jazzmusik aus dem Kabarett auf der anderen Straßenseite, an der kühlen Luft von Bambusfächern, die zu Farbwirbeln verschwammen, an dem Geruch nach Frittiertem, das jemand trotz strikter Verbote in den Saal geschmuggelt hatte. Den ersten Tag des gregorianischen Kalenders Feierlichkeiten vorzubehalten war eine Sache des Westens, doch der Westen hatte in dieser Stadt längst Wurzeln geschlagen.

Der Wahnsinn war aus Shanghai verschwunden. Die Straßen wurden wieder von ausufernder Dekadenz und endlosen Nächten eingelullt. Nächten wie dieser, in der Besucher des Lichtspielhauses einen Film sehen und dann bis Sonnenaufgang den Huangpu Jiang entlangschlendern würden. Immerhin lauerte kein Monster mehr im Wasser. Vier Monate waren vergangen, seit man das Monster Shanghais erschossen und am Steg des Bunds dem Verfall überlassen hatte. Nun mussten sich die Zivilisten nur noch vor Bandenmitgliedern in Acht nehmen – und vor der zunehmenden Anzahl von Kugeln durchsiebter Leichen in den Straßen.

Juliette Cai spähte über die Brüstung auf das Erdgeschoss von Saal Eins hinab. Von ihrem Aussichtspunkt aus konnte sie beinahe das gesamte Erdgeschoss überblicken und jedes noch so winzige Detail in dem brodelnden Chaos unter der goldenen Deckenbeleuchtung ausmachen. Leider hätte sie mehr Nutzen davon gehabt, selbst dort unten zu sein und sich mit dem Händler zu unterhalten, wegen dem man sie gesandt hatte, anstatt ihn von hoch oben anzustarren. Ihre Plätze waren die besten, die sie hatte beschaffen können; der Auftrag war viel zu spät gekommen, als dass Juliette sich einen guten Platz in den sozialen Kreisen hätte erschleichen können.

»Wirst du den ganzen Abend über ein langes Gesicht machen?«

Juliette drehte sich um und sah ihre Cousine finster an. Kathleen Lang stand hinter ihr, ihr Mund war zu einer Grimasse verzogen, während die Leute um sie herum nach ihren Plätzen suchten, bevor der Film begann.

»Ja«, grummelte Juliette. »Ich hätte gerade so viel Besseres zu tun.«

Kathleen verdrehte die Augen und zeigte wortlos nach vorne, wo sie die Plätze entdeckt hatte, die auf ihren Eintrittskarten vermerkt waren. Die Abschnitte in ihrer Hand waren schlecht abgerissen, da die in die Säulenhalle drängende Menge dem uniformierten Kartenabreißer am Eingang seinen Zylinder hat verrutschen lassen. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich zu erholen, bevor man ihm mehr Eintrittskarten unter die Nase gehalten hatte und Ausländer sowie reiche Chinesen über seine Langsamkeit die Nase rümpften. An Orten wie diesem wurde besserer Service erwartet. Die Kartenpreise gingen ins Unermessliche, um das Grand Theatre mit seinen gewölbten Decken und schmiedeeisernen Brüstungen, seinem italienischen Marmor und filigranen Beschriftungen – nur Englisch, kein Chinesisch in Sicht – zu einer Erfahrung zu machen.

»Was könnte wichtiger sein als das hier?«, fragte Kathleen. Sie nahmen ihre Plätze ein: vorderste Reihe an der Brüstung des ersten Stocks, perfekte Sicht auf beide Leinwände und die Menschen unten. »Wütend auf deine Schlafzimmerwand zu starren, wie du es die letzten Monate getan hast?«

Juliette runzelte die Stirn. »Ich habe nicht nur das getan.«

»Oh, entschuldige. Wie konnte ich das Anschreien von Politikern vergessen?«

Mit einem Schnauben lehnte Juliette sich in ihrem Sitz zurück. Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust, die Perlen, die von ihren Ärmeln baumelten, klimperten laut gegen die Perlen an ihrem Oberkörper. So unangenehm das Geräusch auch war, stellte es doch nur einen winzigen Teil des allgemeinen Tumults im Filmtheater dar.

»Bàba macht mir bereits genug Vorwürfe, weil ich diesen Nationalisten verärgert habe«, grummelte Juliette. Sie nahm die Menge unten in Augenschein, wies Gesichtern Namen zu und behielt im Kopf, wem auffallen könnte, dass sie hier war. »Fang du nicht auch noch an.«

Kathleen schüttelte den Kopf und stützte ihren Ellbogen auf die Armlehne zwischen ihnen. »Ich mache mir nur Sorgen, Biăomèi.«

»Sorgen worüber? Ich schreie ständig jemanden an.«

»Lord Cai weist dich nicht oft zurecht. Ich glaube, das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass –«

Juliette setzte sich auf. Ganz instinktiv wollte ihr ein Keuchen entkommen, doch sie weigerte sich, es auszustoßen. Stattdessen setzte es sich als Eiseskälte in ihrer Kehle fest und drückte auf ihre Zunge. Kathleen setzte sich ebenfalls auf und hielt im Erdgeschoss Ausschau nach etwas, das Juliette das Blut aus dem Gesicht getrieben hatte.

»Was?«, verlangte Kathleen zu wissen. »Was ist los? Soll ich Verstärkung rufen?«

»Nein«, flüsterte Juliette und schluckte schwer. Das Licht im Saal wurde gedimmt. Die Kartenabreißer verstanden den Hinweis und begannen damit, die Gänge abzulaufen und die Menge auf ihre Plätze zu verweisen. »Es ist nur ein kleiner Schluckauf.«

Das Gesicht ihrer Cousine verfinsterte sich. »Was ist los?«, wiederholte Kathleen.

Juliette streckte den Finger aus. Sie beobachtete, wie Kathleens Blick diesem folgte und die Erkenntnis einsetzte. Beide sahen eine Gestalt, die sich einen Weg durch die Menge bahnte.

»Es scheint so, als seien wir nicht die Einzigen, die man auf diese Aufgabe angesetzt hat.«

Denn im Erdgeschoss, mit einem Lächeln, als kannte er keine Sorgen, baute Roma Montagow sich vor dem Händler auf, hinter dem sie her waren, und streckte ihm die Hand entgegen.

Juliette ballte die Hände im Schoß zu Fäusten.

Sie hatte Roma seit Oktober nicht mehr gesehen, seit die ersten Proteste in Nanshi die Stadt hatten erbeben lassen und den Weg für die Proteste bereitet hatten, die folgten, als der Winter über Shanghai hereingebrochen war. Sie hatte ihn nicht persönlich gesehen, doch überall seine Gegenwart gespürt: in den in der Stadt verteilten Leichen, die mit steifen Händen schneeweiße Blumen umklammerten; in den Geschäftspartnern, die ohne Vorwarnung, ohne eine Nachricht oder Erklärung verschwanden; in der sich bemerkbar machenden Blutfehde. Seit die Stadt von der Auseinandersetzung zwischen Roma Montagow und Tyler Cai Wind bekommen hatte, schwang sich die Blutfehde zu ihren schrecklichsten Höhen auf. Keine der Banden musste sich mehr Sorgen darum machen, von dem Wahnsinn dezimiert zu werden. Stattdessen drehten sich ihre Gedanken um Vergeltung und Ehre, und da jeder eine andere Version dessen verbreitete, was an jenem Tag zwischen den inneren Kreisen der Scarlet Gang und der White Flowers vorgefallen war, gab es nur eine definitive Wahrheit: In einem winzigen Krankenhaus am Rande von Shanghai hatte Roma Montagow auf Tyler Cai geschossen, und um ihren Cousin zu schützen, hatte Juliette Cai Marshall Seo kaltblütig ermordet.

Nun sannen beide Seiten auf Rache. Die White Flowers drängten die Scarlet Gang mit neuem Elan zurück und die Scarlet Gang wehrte sich ebenso unnachgiebig. Sie hatten keine andere Wahl. Egal mit welcher Sorgfalt die Scarlets mit den Nationalisten zusammenarbeiteten, jeder Bewohner der Stadt fühlte die Veränderung, sah die immer größeren Versammlungen der Kommunisten, wenn sie zum Aufstand aufriefen. Die politische Landschaft würde sich bald verändern, bald diese Art der Gesetzlosigkeit unterdrücken und die beiden Banden, die die Stadt mit eiserner Faust regierten, hatten die Wahl, jetzt gewalttätig zu reagieren und ihren Anspruch auf die Macht zu sichern oder es später zu bereuen, sollte eine größere Macht eingreifen, wenn es keine Möglichkeit mehr gab, Gebiete zurückzugewinnen.

»Juliette«, sagte Kathleen leise. Ihre Augen huschten zwischen Juliette und Roma hin und her. »Was ist zwischen euch beiden vorgefallen?«

Juliette hatte keine Antwort, wie schon all die anderen Male, als man ihr diese Frage gestellt hatte. Kathleen verdiente eine bessere Erklärung; verdiente zu wissen, warum man behauptete, dass Juliette Marshall Seo aus nächster Nähe erschossen hatte, obwohl sie einst befreundet gewesen waren; warum Roma Montagow seine Wege mit Blumen pflasterte, eine spöttische Erinnerung an die Opfer der Fehde, wenn er doch einst so zärtlich zu Juliette gewesen war. Doch jeder, der das Geheimnis kannte, würde unweigerlich in das Chaos hineingezogen. Ein weiteres Ziel für Tylers wachsamen Blick. Ein weiteres Ziel für Tylers Waffe.

Besser nichts sagen. Besser leugnen, bis sich vielleicht, nur vielleicht, eine Möglichkeit ergab, die Zerrüttung, die die Stadt befallen hatte, wiedergutzumachen.

»Der Film beginnt«, sagte Juliette anstelle einer Antwort.

»Juliette«, bohrte Kathleen nach.

Juliette biss die Zähne zusammen. Sie fragte sich, ob es noch jemanden gab, den sie mit ihrem Tonfall hinters Licht führen konnte. In New York war sie eine so gute Lügnerin gewesen; so gut darin, sich als eine vollkommen Andere auszugeben. Die letzten Monate hatten sie zermürbt, bis nichts von ihr übrig war als … sie selbst.

»Er macht überhaupt nichts. Da, er setzt sich.«

Und tatsächlich schien Roma sich schon nach der Begrüßung von dem Händler abzuwenden und sich zwei Reihen weiter hinten auf einem Platz am Gang niederzulassen. Dies musste keine große Sache werden. Es musste keine Auseinandersetzung geben. Juliette konnte ihn von ihrem Platz aus im Auge behalten und sicherstellen, dass sie in der Pause als Erste an den Händler herantrat. Es war schon überraschend, dass man sie überhaupt wegen eines Händlers geschickt hatte. Die Scarlet Gang jagte selten neuen Klienten nach; sie warteten, bis diese zu ihnen kamen. Doch dieser Händler versuchte sich nicht an Drogen, wie der Rest von ihnen. Er hatte sich letzte Woche in Shanghai eingeschifft und führte britische Technologie mit sich – nur der Himmel wusste, welcher Art. Ihre Eltern hatten bei ihrer Einweisung nichts Konkretes verlauten lassen, außer dass es sich um Waffen handelte und dass die Scarlet Gang seinen Bestand aufkaufen wollte.

Wenn die White Flowers ebenfalls einsteigen wollten, musste es etwas Großes sein. Juliette nahm sich vor, nach Details zu fragen, sobald sie nach Hause kam.

Die Lichter wurden gelöscht. Kathleen sah über die Schulter, ihre Finger krallten sich in die weiten Ärmel ihres Mantels.

»Entspann dich«, flüsterte Juliette. »Was du gleich zu sehen bekommst, kommt geradewegs von der Premiere in Manhattan. Erstklassige Unterhaltung.«

Der Film begann. Saal Eins war der größte Saal im gesamten Grand Theatre, sein Orchesterklang dröhnte von allen Seiten auf sie ein. Jeder Platz war mit seinem eigenen Übersetzungssystem ausgestattet, das den Text vorlas, der neben dem Stummfilm erschien. Das Paar neben Juliette trug seine Hörmuscheln und murmelte aufgeregt miteinander, als der Text auf Chinesisch zu ihnen drang. Juliette brauchte ihre Hörmuschel nicht. Zum einen konnte sie Englisch lesen und zum anderen beachtete sie den Film kaum. Egal wie viel Mühe sie sich gab, ihre Augen wanderten immer wieder nach unten.

Sei keine Närrin, rügte Juliette sich selbst. Sie hatte sich Hals über Kopf in diese Situation gestürzt. Sie würde es nicht bereuen. Es musste getan werden.

Trotzdem konnte sie nicht aufhören, hinabzusehen.

Es waren nur drei Monate vergangen, doch Roma hatte sich verändert. Das wusste sie bereits aus den Berichten über tote Bandenmitglieder, neben die man mit Blut koreanische Schriftzeichen geschrieben hatte. Die Leichen türmten sich immer weiter innerhalb der Grenzen des Gebiets der Scarlets auf, als testeten die White Flowers, wie weit sie sich vorwagen konnten. Es war unwahrscheinlich, dass Roma gezielt nach Scarlets suchte, an denen er Rachemorde begehen konnte – er hatte nicht das Zeug dazu. Doch sobald es zu einer Auseinandersetzung kam, hinterließ er eine deutliche Botschaft: Das ist dein Werk, Juliette.

Juliette hatte die Fehde verschärft, hatte auf Marshall Seo geschossen und Roma ins Gesicht gesagt, dass das zwischen ihnen nichts als eine Lüge gewesen war. Daher war das Blut seine Rache.

Er hatte sich der Rolle entsprechend angepasst und seine dunklen Anzüge gegen hellere Farben eingetauscht: eine cremefarbene Jacke und eine goldene Krawatte, Manschettenknöpfte, die das Licht einfingen, wann immer die Leinwand weiß aufblitzte. Seine Haltung war vornehm, kein Herumlümmeln mehr, um leger zu wirken, keine lang ausgestreckten Beine mehr, damit er in seinen Stuhl sinken und von einem zufälligen Beobachter übersehen werden konnte.

Roma Montagow war nicht länger der Erbe, der im Schatten Pläne schmiedete. Er schien es sattzuhaben, von der Stadt als jemand wahrgenommen zu werden, der im Dunkeln Kehlen aufschlitzte, mit einem Herz aus Kohle und der dazu passenden Kleidung.

Er sah aus wie ein White Flower. Sah aus wie sein Vater.

Eine schnelle Bewegung huschte durch Juliettes Sichtfeld. Sie blinzelte, riss ihren Blick von Roma los und überflog die Sitze seinen Gang hinab. Einen Augenblick lang war sie sicher, sich nur getäuscht zu haben, dass sich vielleicht eine Strähne aus ihren Haaren gelöst hatte und ihr in die Augen gefallen war. Dann leuchtete die Leinwand wieder weiß auf, als im Wilden Westen ein kreischender Zug entgleiste, und Juliette sah die Gestalt im Publikum sich erheben.

Das Gesicht des Mannes lag im Schatten, doch die Waffe in seiner Hand war sehr, sehr deutlich beleuchtet.

Und sie zielte genau auf den Händler in der ersten Reihe, mit dem Juliette noch sprechen musste.

»Auf gar keinen Fall«, murmelte sie verärgert und griff nach der Pistole an ihrem Oberschenkel.

Die Leinwand dunkelte ab, doch Juliette zielte trotzdem. In der Sekunde, bevor der Mann handeln konnte, drückte sie mit einem lauten Knall ab.

Der Rückstoß riss ihre Pistole hoch. Juliette drückte sich in ihren Sitz, ihr Kiefer war verkrampft, als der Mann unten seine Waffe fallen ließ, eine Wunde in der Schulter. Ihr Schuss hatte kaum Aufmerksamkeit erregt, nicht wenn man sich auch im Film gerade eine Schießerei lieferte, die den Schrei des Mannes übertönte und den Rauch aus ihrem Pistolenlauf verdeckte. Obwohl im Film keine Dialoge zu hören waren, knallte ein lärmendes Becken im Hintergrund der Tonspur des Orchesters und die Theaterbesucher nahmen alle an, der Schuss sei Teil des Films.

Alle außer Roma, der sofort herumfuhr und hochsah, seine Augen suchten nach der Quelle des Schusses.

Und er fand sie.

Ihre Blicke trafen sich, das Klick gegenseitigen Erkennens war so eindringlich, dass Juliette eine Verschiebung in ihrer Wirbelsäule spürte, als würde sich ihr Körper nach Monaten der Fehlstellung endlich wieder aufrichten. Sie erstarrte, ihr Atem stockte, ihre Augen waren weit aufgerissen.

Bis Roma in seine Jackentasche griff, seine Waffe zog und Juliette keine andere Wahl blieb, als sich aus ihrer Trance zu reißen. Anstatt den gescheiterten Attentäter abzuwehren, hatte er beschlossen, auf sie zu schießen.

Drei Kugeln zischten an ihrem Ohr vorbei. Mit einem Keuchen schlug Juliette auf dem Boden auf, ihre Knie schrammten über den Teppich, als sie sich nach unten warf. Das Paar zu ihrer Linken schrie los.

Die Theaterbesucher hatten realisiert, dass die Schüsse kein Teil der Tonspur waren.

»Okay«, flüsterte Juliette. »Er ist immer noch wütend auf mich.«

»Was war das?«, verlangte Kathleen zu wissen. Ihre Cousine ließ sich ebenfalls fallen und nutzte die Brüstung des ersten Stocks als Deckung. »Hast du in den Zuschauerraum geschossen? Hat Roma Montagow zurückgeschossen?«

Juliette zog eine Grimasse. »Ja.«

Es klang, als würde im Erdgeschoss eine Massenflucht ausbrechen. Die Panik breitete sich auch in die obere Etage aus. Leute sprangen aus ihren Sitzen und stürmten zum Ausgang, doch die Türen zu beiden Seiten des Filmtheaters – mit »Gerade« und »Ungerade« für die Sitzordnung beschriftet – waren recht schmal und verursachten einen Stau.

Kathleen stieß einen unbestimmbaren Laut aus. »Er macht gar nichts … er setzt sich!«

»Oh, mach dich nicht über mich lustig!«, zischte Juliette.

Diese Situation war nicht ideal. Doch sie konnte sie noch retten.

Sie kam auf die Füße.

»Jemand hat versucht, den Händler zu erschießen.« Juliette warf kurz einen Blick über die Brüstung. Sie sah Roma nicht mehr. Sie sah den Händler seine Anzugjacke eng um sich schlingen und seinen Strohhut festhalten, während er der Menge aus dem Filmtheater zu folgen versuchte.

»Finde denjenigen«, schnaubte Kathleen. »Dein Vater wird deinen Kopf fordern, sollte jemand den Händler töten.«

»Ich weiß, dass du nur Witze machst, aber du könntest recht haben«, murmelte Juliette. Sie presste ihrer Cousine ihre Pistole in die Hand und stürmte davon, während sie über die Schulter rief: »Sprich mit dem Händler für mich! Merci!«

Inzwischen hatte sich der Stau an der Tür beinahe vollständig aufgelöst, sodass Juliette sich durchdrücken und mit der Menge in dem größten Vorraum vor dem Obergeschoss von Saal Eins verschmelzen konnte. Damen in Seiden-Qipaos schrien einander an und ließen sich nicht beruhigen, britische Offiziere rotteten sich in der Ecke zusammen, um hysterisch über das zu zischen, was vorging. Juliette ignorierte sie alle, drückte und drängelte, um zur Treppe und ins Erdgeschoss durchzukommen, wo der Händler aus dem Saal käme.

Sie kam schlitternd zum Stehen. Die Haupttreppe war völlig überfüllt. Ihr Blick huschte zur Seite, zur Lieferantentreppe und ohne noch mal darüber nachzudenken riss sie die Tür auf und stürzte hindurch. Juliette kannte sich im Theater aus. Es war Scarlet-Territorium und sie hatte einen Teil ihrer frühen Kindheit damit verbracht, durch dieses Gebäude zu wandern und in verschiedene Säle zu schleichen, wenn Amme abgelenkt war. Die Haupttreppe war ein prunkvolles Gebilde aus poliertem Holz und gewölbten hölzernen Geländern. Die Lieferantentreppe war aus Zement und es gab kein natürliches Licht, nur eine kleine Glühbirne baumelte vom mittleren Treppenabsatz.

Ihre Schuhe klackerten laut, als sie um den Absatz bog. Sie blieb abrupt stehen.

An der Tür zum Empfangsbereich wartete Roma mit erhobener Waffe.

Juliette war wohl vorhersehbar geworden.

»Du warst nur zwei Meter von dem Händler entfernt«, sagte sie. Es überraschte sie, dass ihre Stimme ruhig blieb. Tā mā de. Ein Messer war an ihr Bein geschnallt, doch bis sie danach greifen konnte, hätte Roma mehr als genug Zeit, zu schießen. »Du hast ihn nur meinetwegen stehen lassen? Ich fühle mich geschmeichelt.«

Juliette wich mit einem Zischen zur Seite. Ihre Wange glühte und schwoll an von der qualvollen Nähe der Kugeln, die an ihrem Kopf vorbeiflogen. Bevor Roma auf die Idee kommen konnte, erneut zu zielen, ging Juliette in Sekundenschnelle ihre Möglichkeiten durch und warf sich dann durch die Tür hinter ihr in eine Abstellkammer.

Sie versuchte nicht, zu entkommen. Dies war eine Sackgasse, ein schmaler Raum voller Stuhlstapel und Spinnweben. Sie musste nur …

Eine weitere Kugel zischte an ihrem Arm vorbei.

»Du wirst hier alles in die Luft jagen«, fauchte Juliette und fuhr herum. Sie war bis ans Ende der Abstellkammer gelaufen und drückte sich an die dicken Rohre, die an den Wänden verliefen. »Einige dieser Rohre führen Gas – schieß ein Loch in eines davon und das ganze Theater geht in Flammen auf.«

Roma wirkte nicht sonderlich eingeschüchtert. Er schien sie kaum zu hören. Seine Augen waren schmal, seine Miene verkniffen. Er wirkte ungewohnt – ein Fremder, ein Junge, der ein Kostüm anprobiert hatte, das ihm unerwartet gut passte. Selbst in dem trüben Licht schimmerte das Gold seiner Kleider so hell wie die glitzernden Reklametafeln vor dem Lichtspieltheater.

Juliette wollte schreien, als sie sah, was man aus ihm gemacht hatte. Sie war völlig außer Atem und sie müsste lügen, wenn sie es nur ihrer körperlichen Erschöpfung zuschob.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Juliette beäugte den Abstand zwischen ihnen. »Steck die Waffe weg –«

»Hörst du dir eigentlich zu?«, unterbrach Roma sie. Mit drei Schritten war er nah genug, um Juliette seine Waffe direkt ins Gesicht zu halten. Sie konnte die Hitze der Mündung fühlen, heißer Stahl zwei Zentimeter von ihrer Haut entfernt. »Du hast Marshall getötet. Du hast ihn vor Monaten getötet, und ich habe nicht ein Wort der Erklärung von dir gehört –«

»Es gibt keine Erklärung.«

Er hielt sie für ein Monster. Er glaubte, sie hätte ihn die ganze Zeit mit solcher Intensität gehasst, dass sie alles zerstören würde, das er liebte, und er musste es glauben, um am Leben zu bleiben. Juliette weigerte sich, ihn ins Verderben zu stürzen, nur weil es ihr an einem starken Willen fehlte.

»Ich habe ihn getötet, weil er sterben musste«, sagte Juliette. Ihr Arm schoss hoch. Sie entriss Roma seine Waffe und ließ diese zu Boden fallen. »So, wie ich dich töten werde. So, wie ich nicht aufhören werde, bis du mich tötest.«

Er warf sie gegen die Rohre.

Der Aufprall war kräftig genug, dass Juliette Blut schmeckte, da sie sich die Lippe an ihren Zähnen verletzt hatte. Sie unterdrückte ein Keuchen und dann gleich noch eines, als Roma die Hand auf ihre Kehle drückte, einen mörderischen Ausdruck in den Augen.

Juliette hatte keine Angst. Wenn überhaupt, war sie wütend – nicht auf Roma, sondern auf sich selbst. Weil sie sich an Roma lehnen wollte, selbst als er versuchte, sie umzubringen. Weil sie die Nähe zwischen ihnen absichtlich herbeigeführt hatte; weil sie in verfeindete Familien hineingeboren worden waren; weil sie lieber durch Romas Hand sterben wollte, als für seinen Tod verantwortlich zu sein.

Niemand sonst stirbt, um mich zu beschützen. Roma hatte ein ganzes Haus voller Menschen in die Luft gejagt, um Juliette in Sicherheit zu wissen. Tyler und seine Scarlets würden einen Amoklauf inszenieren unter dem Vorwand, Juliette zu verteidigen, obwohl sie sie ebenfalls tot sehen wollten. Es war ein und dasselbe. Es war die Stadt, geteilt durch Namen und Farben und Reviere, die trotzdem in derselben Schattierung der Gewalt blutete.

»Na los«, sagte Juliette mühevoll.

Sie meinte es nicht ernst. Sie kannte Roma Montagow. Er glaubte, sie tot sehen zu wollen, doch Tatsache war, dass er nie danebenschoss. Allerdings hatte er genau das getan – all die Kugeln steckten in den Wänden und nicht in Juliettes Kopf. Tatsache war, dass seine Hände um ihre Kehle lagen und sie trotzdem atmen konnte; unter der Fäulnis und dem Hass, den seine Finger in ihre Haut zu pressen versuchten, konnte sie einatmen.

Schließlich griff Juliette nach ihrem Messer. Gerade als Roma sich vorschob, vielleicht mit der Absicht, sie zu töten, legte ihre Hand sich um die Scheide unter ihrem Kleid. Sie zog die Waffe heraus und schnitt in das Erstbeste, mit dem sie in Kontakt kam. Roma zischte und ließ los. Es war nur ein oberflächlicher Schnitt, doch er drückte seinen Arm an die Brust und Juliette trat vor, richtete die Klinge auf seine Kehle.

»Dies ist Scarlet-Territorium.« Ihre Stimme war ruhig, doch sie musste dafür ihre gesamte Kraft aufwenden. »Du vergisst dich.«

Roma blieb regungslos stehen. Er starrte sie an, völlig undurchschaubar, während sich der Moment in die Länge zog, bis Juliette schon glaubte, er würde sich ergeben.

Doch dann lehnte Roma sich vor, bis die Klinge geradewegs in seinen Hals presste, nur Haaresbreite davon entfernt, die Haut zu durchbrechen und Blut fließen zu lassen.

»Dann tu es«, zischte Roma. Er klang wütend … gequält. »Töte mich.«

Juliette bewegte sich nicht. Sie musste einen Sekundenbruchteil zu lang gezögert haben, denn Romas Miene wurde zu einem spöttischen Lächeln.

»Warum zögerst du?«, stichelte er.

Der Geschmack nach Blut lag ihr immer noch deutlich auf der Zunge. Blitzschnell drehte Juliette die Klinge um und rammte Roma den Knauf gegen die Schläfe. Er blinzelte und fiel, doch Juliette warf die Waffe weg und sprang vor, um seinen Sturz abzufedern. Sobald sie ihre Hände um ihn legte, atmete sie erleichtert aus und fing Roma auf, bevor sein Kopf auf dem harten Boden aufkommen konnte.

Juliette seufzte. In ihren Armen fühle er sich so fest an, realer als je zuvor. Seine Sicherheit war ein abstraktes Konzept, solange er sich anderswo befand, weit entfernt von der Bedrohung durch die Scarlets. Doch hier, wo sein Puls durch seine Brust pulsierte und im Einklang mit ihrem schlug, war er nur ein Junge, nur ein blutiges, schlagendes Herz, das jeden Augenblick mit einer ausreichend scharfen Klinge herausgeschnitten werden konnte.

»Warum zögerst du?«, äffte Juliette ihn bitter nach. Sanft ließ sie ihn zu Boden gleiten und strich ihm das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Weil ich dich immer noch liebe, Roma Montagow, selbst wenn du mich hasst.«

Zwei

Das Erste, was Roma fühlte, war ein Stupsen an seiner Schulter. Dann die Steife in seinen Knochen. Dann den furchtbaren, furchtbaren Schmerz, der ihm durch den Kopf schoss.

»Herrgott noch mal!«, zischte er und wurde mit einem Schlag wach. Sobald er klar sehen konnte, erblickte er den für das Stupsen verantwortlichen schwarzen Stiefel, der zu der letzten Person gehörte, der er begegnen wollte, während er zusammengesackt am Boden lag.

»Was zur Hölle ist passiert?«, verlangte Dimitri Voronin zu wissen, die Arme über der Brust verschränkt. Hinter ihm standen drei weitere White Flowers. Sie inspizierten die Abstellkammer mit besonderem Interesse, beäugten die Schusslöcher in den Wänden.

»Juliette Cai ist passiert«, murmelte Roma und kam humpelnd auf die Füße. »Sie hat mich niedergeschlagen.«

»Sieht aus, als hättest du Glück gehabt, dass sie dich nicht getötet hat«, sagte Dimitri. Er klatschte die Hand gegen die Wand und rieb verkohlten Putz und Staub auf seine Handfläche. Roma machte sich nicht die Mühe, anzumerken, dass die Kugeln von ihm stammten. Immerhin war Dimitri nicht hier, um zu helfen. Er hatte wahrscheinlich seine Verstärkung zusammengerufen, sobald er gehört hatte, dass das Grand Theatre von Schüssen erschüttert wurde, um hektisch in Richtung Aufruhr zu eilen. Dimitri Voronin war diese letzten Monate überall gewesen, seit er den Kampf im Krankenhaus verpasst hatte und sich, wie alle anderen, im Nachhinein zusammenreimen musste, was sich zwischen den White Flowers und der Scarlet Gang abgespielt hatte. Er würde beim nächsten großen Kräftemessen nicht fehlen. Sobald er von einer Unruhe in der Stadt hörte – egal wie geringfügig –, solange sie mit der Blutfehde zu tun hatte, war er nun der Erste am Ort des Geschehens.

»Was machst du hier?«, fragte Roma. Er berührte seine Wange und zuckte wegen der sich ausbreitenden Prellung zusammen. »Vater hat mich geschickt.«

»Ja, tja, das war keine so gute Idee, oder? Wir haben den Händler draußen gesehen, wie er sich nett mit Kathleen Lang unterhielt.«

Roma unterdrückte ein Fluchen. Er wollte auf den Boden spucken, doch da Dimitri zusah, wandte er sich nur ab und hob seine Pistole auf. »Egal. Morgen ist ein neuer Tag. Es ist Zeit, zu gehen.«

»Du wirst einfach so aufgeben?«

»Dies ist Scarlet–«

Draußen ertönte eine Trillerpfeife, echote die Lieferantentreppe hinauf und hinab. Dieses Mal fluchte Roma laut und steckte seine Pistole weg, bevor die Garde Municipale mit gezogenen Knüppeln in den Abstellraum stürmen konnte. Aus irgendeinem Grund sah die Streife die White Flowers und beschloss, ihre Aufmerksamkeit Dimitri zuzuwenden; ihre Augen klebten an seinen Waffen.

»Lâche le pistolet«, verlangte der vorderste Mann. Sein Gürtel blitzte, als Metallhandschellen das Licht einfingen. »Lâche-moi ça et lève les mains.«

Dimitri gehorchte nicht, ließ die Waffe, die locker in seiner Hand baumelte, nicht fallen und hob auch nicht die Hände. Seine Weigerung schien anmaßend, doch Roma wusste es besser. Dimitri sprach kein Französisch.

»Ihr kontrolliert uns nicht«, schnauzte Dimitri auf Russisch. »Warum verschwindet ihr also nicht und –«

»Ça va maintenant«, ging Roma dazwischen. »J’ai entendu une dispute dehors du théâtre. Allez l’investiguer.«

Die Beamten der Garde Municipale betrachteten ihn aus schmalen Augen und fragten sich, ob sie Romas Anweisungen Folge leisten sollten – ob sie draußen wirklich einen Streit schlichten mussten oder ob Roma log. Es war tatsächlich eine Lüge, aber Roma musste nur nochmals fauchen: »Los!«, und die Garde Municipale zerstreute sich.

Er hatte hart daran gearbeitet, um so zu werden, und tat alles in seiner Macht Stehende, um dieser Mensch zu bleiben. Jemand, dem man gehorchte, selbst wenn die Polizisten den Scarlets angehörten.

»Beeindruckend«, sagte Dimitri, als die White Flowers wieder allein waren. »Wirklich, Roma, es ist überaus –«

»Halt die Klappe«, schnauzte Roma ihn an. Der Effekt trat augenblicklich ein. Er wünschte sich, er könnte Befriedigung spüren über die Röte, die Dimitris Hals hinaufstieg, und über das amüsierte Schmunzeln der Männer, die Dimitri mitgebracht hatte, doch er fühlte sich nur leer. »Komm nächstes Mal nicht in von den Ausländern kontrolliertes Gebiet, wenn du nicht weißt, wie man mit ihnen fertig wird.«

Roma marschierte hinaus und sprang übertrieben aggressiv die Lieferantentreppe ins Erdgeschoss hinab. Es war schwer zu sagen, was genau ihn so verärgert hatte, so viel brannte ihm unter der Haut – der Händler, der sich davongemacht hatte; der seltsame Attentäter im Parkett; Juliettes Anwesenheit.

Juliette. Er stampfte besonders fest auf, als er aus dem Lichtspieltheater trat, und schielte zu den grauen Wolken hinauf. Ein Stich fuhr durch seinen Arm und seine Hand griff an den Schnitt, den Juliette ihm zugefügt hatte. Er erwartete, geronnenes Blut zu spüren, so faulig und tot wie seine Gefühle für sie. Doch als er vorsichtig seinen Ärmel hochkrempelte, fanden seine Finger nur glatten Stoff.

Erschrocken blieb Roma am Gehsteigrand stehen und sah auf seinen Arm hinab. Er war sorgfältig verbunden und mit einer Schleife verschnürt.

»Ist das Seide?«, murmelte er mit einem Stirnrunzeln. Es sah aus wie Seide. Die von Juliettes Kleid, am Saum abgerissen. Doch warum sollte sie das tun?

Ein Hupen ertönte auf der anderen Straßenseite und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Schweinwerfer des dort parkenden Autos leuchteten auf, bevor der Chauffeur den Arm herausstreckte und Roma zuwinkte. Roma blieb reglos stehen, die Brauen zusammengezogen.

»Mr. Montagow!«, brüllte der White Flower nach einer langen Minute schließlich. »Können wir jetzt los?«

Roma seufzte und eilte zu dem Wagen.

In der Villa der Cais waren zweiundzwanzig Vasen verteilt, alle gefüllt mit roten Rosen. Juliette umschloss eine der Knospen mit der Hand und folgte mit dem Finger der Kante eines zarten Blütenblatts. Die Nacht war längst hereingebrochen. Es war spät genug, dass das Dienstpersonal sich größtenteils zurückgezogen hatte. In ihren Nachthemden waren sie zu ihren Zimmern geschlurft und hatten Juliette eine gute Nacht gewünscht, als sie im Flur an ihr vorbeigekommen waren. Sie nahm an, dass sie sie nur angesprochen hatten, weil es seltsam gewesen wäre, die Erbin der Scarlets nicht zu beachten, wenn sie am Boden lag, die Arme ausgebreitet, die Beine an der Wand hochgestreckt, während sie vor dem Büro ihres Vaters wartete. Der letzte Dienstbote hatte ihr vor mehr als einer halben Stunde eine gute Nacht gewünscht. Inzwischen war sie aufgestanden und ging nun, sehr zu Kathleens Unmut, im Flur auf und ab. Ihre Cousine hatte die ganze Zeit aufrecht auf einem Stuhl gesessen, eine Akte im Schoß bereitgelegt.

»Worüber können sie nur reden?«, grummelte Juliette und ließ die Rose los. »Das dauert schon Stunden. Verschiebt es auf einen anderen Tag –«

Lord Cais Bürotür ging endlich auf und enthüllte einen sich verabschiedenden Nationalisten. Vor Monaten hätte das Treffen Juliettes Neugier geweckt und sie hätte um eine Zusammenfassung gebeten. Inzwischen war der Anblick von kommenden und gehenden Nationalisten in diesem Haus so gewöhnlich, dass sie sich kaum noch darum scherte. Es war immer dasselbe: Zermalmt die Kommunisten um jeden Preis. Durchsiebt sie mit Kugeln, zerschlagt ihre Gewerkschaften. Die Nationalisten kümmerte es nicht, wie die Scarlets es anstellten, solange sie ihre Ziele erreichten.

Der Nationalist verweilte in der Tür, dann drehte er sich um, als hätte er noch etwas vergessen. Juliettes Augen wurden schmal. Der Anblick der Nationalisten war ihr inzwischen vertraut, aber dieser hier … Eine Fülle an Sternen und Abzeichen dekorierte seine Uniform. Vielleicht ein General.

Juliette testete ihre Grenzen aus, als sie Kathleen die Hand hinhielt. Kathleen, wenn auch verwirrt, ergriff diese und nahm ihre Akte. Gemeinsam gingen sie auf den Nationalisten zu.

»Keine Kriegsherrn mehr.« Der Nationalist wischte sich ein eingebildetes Staubkorn von seiner Militäruniform. »Und keine Ausländer mehr. Wir betreten eine neue Welt und ob die Scarlet Gang mit uns eintritt, ist eine Frage der Treue –«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Juliette, drückte sich an ihm vorbei und zog Kathleen mit sich. »Gesegnet seien die Kuomintang, wàn suì wàn suì wàn wàn suì …« Sie begann die Tür zuzuschieben.

»Juliette«, schnauzte Lord Cai.

Juliette hielt inne. Ein Glitzern lag in ihren Augen. Dasselbe Glitzern, als wenn die Köche ihr Lieblingsessen aufgetragen hätten. Dasselbe Glitzern, als wenn sie eine Diamantkette im Fenster eines Kaufhauses gesehen hätte, die sie wollte.

»Melde mich zum Dienst«, sagte sie.

Lord Cai lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Entschuldige dich bitte.«

Juliette machte einen unbeeindruckten Knicks. Dann sah sie den Nationalisten an, der sie sorgsam beobachtete, jedoch nicht mit dem anzüglichen Blick der Männer auf der Straße. Es war etwas viel Strategischeres.

»Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Ich gehe davon aus, dass Sie hinausfinden?«

Der Nationalist griff sich an die Mütze. Obwohl er ihr ein Lächeln schenkte, wie es die Höflichkeit gebot, erreichte der Ausdruck seine Augen nicht. Er krauste nur seine Krähenfüße, ohne ein Anzeichen von Wärme.

»Natürlich. Erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Cai.«

Er war ihr nicht vorgestellt worden, daher hatten sie überhaupt keine Bekanntschaft gemacht. Juliette sagte nichts; sie schloss einfach die Tür und verdrehte die Augen in Kathleens Richtung.

»So ermüdend. Wenn man auf dem Weg nach draußen ist, sollte man auch gehen.«

»Juliette«, sagte Lord Cai wieder, dieses Mal mit weniger Schärfe in der Stimme, da sie den Nationalisten nicht länger belästigen konnte. »Das war Shu Yang. General Shu. Du weißt, wer er ist? Hast du das Vorrücken des Nordfeldzugs überhaupt verfolgt?«

Juliette verkrampfte sich. »Bàba«, begann sie. Sie ließ sich in einen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch ihres Vaters fallen. Kathleen folgte ihrem Beispiel. »Der Nordfeldzug ist so schrecklich langweilig –«

»Er wird über das Schicksal unseres Landes entscheiden.«

»Okay, na gut, na gut – die Berichte sind so langweilig. General Soundso nahm dieses Stück Land ein. Armeedivision Soundso rückte so weit vor. Ich weine förmlich vor Aufregung, wenn du mich stattdessen losschickst, um jemanden zu strangulieren.« Juliette faltete die Hände. »Bitte, lass mich einfach das Strangulieren übernehmen.«

Ihr Vater schüttelte den Kopf, ohne ihre Scherze zu beachten. Seine Augen wanderten gedankenverloren zur Tür.

»Du solltest dem Aufmerksamkeit schenken«, sagte Lord Cai langsam. »Die Kuomintang verändert ihre Form. Weiß der Himmel, sie geben nicht mehr vor, mit den Kommunisten zu kooperieren. Wir können uns keine Sorglosigkeit mehr leisten.«

Juliettes Mund wurde schmal, doch sie gab keine dumme Antwort. Eine Revolution war im Anmarsch, das konnte sie nicht leugnen. Sie nannten es den Nordfeldzug: Nationalistentruppen marschierten durch das Land nach Norden, bekämpften die Kriegsherren, die Regionen und Fragmente regierten, eroberten Gebiete, um China wieder zu einen. Shanghai sollte die Festung sein, das letzte Stück, mit der die derzeitige fadenscheinige Ausrede einer Nationalregierung endgültig abgesetzt wäre, und wenn die Armeen kamen, gab es hier keine Kriegsherren zu besiegen … nur Banden und Ausländer.

Also musste die Scarlet Gang auf der richtigen Seite stehen, bevor sie ankamen.

»Natürlich«, sagte Juliette. »Nun –« Sie bedeutete Kathleen, fortzufahren. Beinahe zögerlich lehnte ihre Cousine sich zu Lord Cais Schreibtisch vor und übergab schnell die Akte.

»Du warst erfolgreich?«, fragte Lord Cai und sprach weiter mit Juliette, selbst als er die Akte von Kathleen entgegennahm.

»Du solltest den Vertrag besser einrahmen«, erwiderte Juliette. »Kathleen hätte sich dafür beinahe einen Faustkampf liefern müssen.«

Kathleen stieß Juliette unauffällig den Ellbogen in die Seite, eine Warnung auf dem Gesicht. Unter normalen Umständen konnte Kathleen nicht streng wirken, selbst wenn sie es versuchte, doch das trübe Licht im Raum half. Der winzige Kronleuchter, der von der Decke baumelte, war auf die niedrigste Einstellung gedimmt und warf lange Schatten über die Wände. Die Vorhänge hinter Lord Cais Schreibtisch waren geöffnet und wehten leicht, da das Fenster einen winzigen Spalt offen stand. Juliette kannte die alten Tricks ihres Vaters. Im tiefsten Winter, wie jetzt, kühlte das geöffnete Fenster den Raum ab und ließ die Besucher nicht zur Ruhe kommen, wenn sie ihren Mantel auszogen, um höflich zu sein, und stattdessen froren.

Juliette und Kathleen hatten ihre Mäntel anbehalten.

»Ein Faustkampf?«, wiederholte Lord Cai. »Lang Selin, das sieht dir gar nicht ähnlich.«

»Es gab keinen Faustkampf, Gūfū«, sagte Kathleen schnell und warf Juliette erneut einen warnenden Blick zu, die zur Antwort nur eine Grimasse schnitt. »Nur ein kleines Handgemenge vor dem Grand Theatre. Ich schaffte es, den Händler herauszuziehen, und er war dankbar genug, dass er sich dazu bereit erklärte, sich im Hotel nebenan bei einer Tasse Tee zusammenzusetzen.«

Lord Cai nickte. Während er die handgeschriebenen Bedingungen überflog, machte er hier und da anerkennende Laute, was bei einem Mann der Stille bedeutete, dass der Geschäftsabschluss seine Laune gehoben hatte.

»Ich kannte die Einzelheiten unseres Interesses an ihm nicht«, fügte Kathleen eilig an, als Lord Cai die Akte schloss. »Daher ist die Ausdrucksweise eher vage.«

»Oh, das macht doch nichts. Die Kuomintang ist hinter seinen Waffen her. Auch ich kenne die Einzelheiten nicht.«

Juliette blinzelte überrascht. »Wir gehen eine Geschäftsbeziehung ein, bei der wir nicht einmal wissen, womit wir handeln?«

Es war gewiss keine große Sache. Die Scarlet Gang war daran gewöhnt, mit Arbeitern und Drogen zu handeln. Noch mehr illegale Ware fügte der unendlich langen Liste nur einen weiteren Eintrag hinzu, doch den Nationalisten so uneingeschränkt zu vertrauen …

»Und was das angeht«, sagte Juliette plötzlich, bevor ihr Vater ihre Frage beantworten konnte, »Bàba, ein Attentäter war hinter dem Händler her.«

Lord Cai reagierte lange nicht, was bedeutete, dass er bereits davon gehört hatte. Natürlich hatte er das. Juliette mochte Stunden gewartet haben, um ihren eigenen Vater zu sehen, ganz unten auf einer Warteliste voller Nationalisten und Ausländer und Geschäftsmänner, doch Boten konnten nach Belieben kommen und gehen, ins Büro schlüpfen und Lord Cai einen schnellen Bericht ins Ohr flüstern.

»Ja«, sagte er endlich. »Es war wahrscheinlich eine White Flower.«

»Nein.«

Lord Cai runzelte die Stirn, sein Blick schoss hoch. Juliette hatte ihren Widerspruch recht schnell und energisch eingeworfen.

»Es war … ein White Flower anwesend, der ebenfalls versucht hatte, mit dem Händler ins Gespräch zu kommen«, erklärte Juliette. Ihre Augen huschten unbewusst zum Fenster, beäugten die goldenen Lampen, die in den Gärten unten summten. Ihr Licht ließ die Rosenbüsche warm leuchten und täuschte über die beißenden Temperaturen um diese späte Uhrzeit hinweg. »Roma Montagow.«

Ihre Augen huschten zurück, sie schluckte mühsam. Hätte ihr Vater darauf geachtet, hätte er ihre Schuld sofort daran erkannt, wie schnell sie seine Reaktion einzuschätzen versuchte, doch ihr Vater starrte ins Leere.

Juliette atmete langsam aus.

»Es würde mich interessieren, warum der Erbe der White Flowers ebenfalls hinter dem Händler her war«, murmelte Lord Cai, teilweise zu sich selbst. Dann winkte er ab. »Unabhängig davon müssen wir uns nicht um einen laienhaften Attentäter sorgen. Wahrscheinlich ein Kommunist oder eine der Gruppen, die der Nationalrevolutionären Armee abgeneigt ist. Wir werden den Händler von nun an von Scarlets beschützen lassen. Niemand wird einen weiteren Versuch wagen.«

Er klang überzeugt. Trotzdem kaute Juliette unentschlossen auf ihrer Lippe. Vor ein paar Monaten hätte es vielleicht niemand gewagt, die Scarlets zu verärgern. Aber heutzutage?

»Gibt es einen neuen Brief?«

Lord Cai seufzte und verschränkte die Finger. »Selin, du musst müde sein.«

»Es ist meine Schlafenszeit, ja«, erwiderte Kathleen gelassen und verstand den Hinweis, sich zurückzuziehen. In Sekundenschnelle war sie draußen und die Bürotür schloss sich hinter ihr, bevor Juliette gute Nacht sagen konnte. Ihr Vater musste wissen, dass sie Kathleen später berichten würde, was los war. Sie nahm an, dass er sich besser fühlte, wenn der Rest der Familie nicht involviert wurde. Je weniger Leute davon wussten, umso unwahrscheinlicher war es, dass es sich zu einer lästigen Angelegenheit ausweitete.

»Der Erpresser hat wieder zugeschlagen«, sagte Lord Cai, zog endlich einen Umschlag aus seiner Schreibtischschublade und reichte ihn Juliette. »Die bisher größte Summe.«

Juliette ergriff den Brief, inspizierte jedoch zuerst den Umschlag. Er war jedes Mal gleich. Völlig schlicht und unauffällig, abgesehen von einem Detail: Er war in der Französischen Konzession abgestempelt.

»Tiān nă«, hauchte sie, zog den Brief heraus und las den Inhalt. Ein wirklich unverschämter Betrag. Doch sie mussten ihn schicken. Sie mussten.

Sie warf den Brief wieder auf den Schreibtisch ihres Vaters und schnaubte leise. Im Oktober hatte sie geglaubt, Shanghais Monster getötet zu haben. Sie hatte Qi Ren erschossen, mitangesehen, wie die Kugel in sein Herz eingedrungen und der alte Mann vor Erleichterung in sich zusammengefallen war, frei von dem Fluch, den Paul Dexter über ihn gebracht hatte. Seine Kehle war aufgerissen und das Mutterinsekt herausgeflogen und endgültig auf dem Steg des Bund gelandet.

Dann hatte Kathleen Paul Dexters Brief gefunden –

Im Falle meines Todes, lasst sie alle frei.

– und dem waren sofort Schreie gefolgt. Juliette war noch nie so schnell gerannt. Sie hatte sich die schlimmstmöglichen Folgen ausgemalt: fünf, zehn, fünfzig Monster, die Shanghais Straßen verwüsteten. Von jedem ging eine Infektionswelle aus, ihre Insekten flogen von Zivilist zu Zivilist, bis die ganze Stadt tot im Rinnstein lag, die Kehlen in Stücke gerissen und die Hände bis zu den Handgelenken blutbedeckt. Stattdessen hatte Juliette nur einen Toten gefunden – wie es aussah, einen Bettler –, der gegen die Außenwand einer Polizeistation gesunken war. Das Geschrei war von der Ladenbesucherin gekommen, die ihn entdeckt hatte, und bis Juliette angekommen war, hatte sich die kleine, panische Menge bereits zerstreut, um einer Befragung zu entgehen, für den Fall, dass die Scarlet Gang eingriff.

Der Anblick von Toten auf den Straßen Shanghais war so alltäglich wie der Anblick von Verhungernden, Verzweifelten, Gewalttätigen. Doch dieser war ermordet worden, seine Kehle durchtrennt, und neben ihm hatte man mit einem blutigen Messer das Insekt an die Wand geheftet, das aus Qi Ren geflogen war.

Kein anderer Betrachter, auch nicht der Polizeibeamte, der den Tatort später untersuchen sollte, könnte die Nachricht entziffern. Für Juliette war sie eindeutig gewesen. Jemand war dort draußen und in seinem Besitz befanden sich Paul Dexters andere Insekten. Er kannte den Schaden, den die Insekten anrichten konnten, ließe man sie frei.

Der erste Erpresserbrief mit der Forderung nach Geld im Gegenzug für die Sicherheit der Stadt war eine Woche später gekommen. Seither kamen stetig neue.

»Deine Gedanken, Tochter?«, sagte Lord Cai jetzt, die Arme entspannt auf die Armlehnen seines Stuhls gelegt. Er beobachtete Juliette sorgfältig, registrierte ihre Reaktion auf seine Aufforderung. Er fragte nach ihren Gedanken, doch ihr war klar, dass ihr Vater sich bereits entschieden hatte. Dies war bloß ein Test, um sicherzugehen, dass Juliettes Einschätzung mit dem richtigen Vorgehen übereinstimmte. Um sicherzugehen, dass sie eine gute Erbin war, geeignet dazu, die Scarlet Gang zu führen.

»Schick es«, erwiderte Juliette und schluckte das Zittern in ihrer Stimme hinunter, bevor es entkommen konnte. »Halt ihn bei Laune, bis unsere Spione herausgefunden haben, wo zur Hölle diese Briefe herkommen und ich den Erpresser unter die Erde bringen kann.«

Lord Cai schwieg eine Sekunde lang, dann noch eine. Er griff nach dem Brief und ließ ihn zwischen den Fingern baumeln.

»Ganz recht«, sagte ihr Vater. »Wir schicken es.«

Alisa war wieder in alte Gewohnheiten verfallen und lauschte in den Dachsparren. Sie hatte sich in den Zwischenraum über dem Büro ihres Vaters gezwängt, nachdem sie durch einen Riss in der Trockenwand im Wohnzimmer im zweiten Stock herabgeklettert war.

»Autsch«, murmelte sie und verlagerte ihr Gewicht von ihrem Knie. Entweder war sie in den letzten paar Monaten größer geworden oder sie hatte sich noch immer nicht von ihrem wochenlangen Koma erholt. Früher hatte sie sich klein genug machen können, um über die Dachsparren zu robben und sich dann in den Flur vor dem Büro ihres Vaters fallen zu lassen, wenn sie verschwinden wollte. Nun fühlten ihre Gliedmaßen sich ungewohnt an, zu steif. Sie versuchte, sich nach unten zu lehnen, doch ihre Balance verschob sich augenblicklich.

»Scheiße«, flüsterte Alisa und klammerte sich fester an den Balken. Sie war jetzt dreizehn. Sie durfte fluchen.

Unter ihr war ihr Vater in eine Diskussion mit Dimitri vertieft: er hinter seinem Schreibtisch, Dimitri mit den Füßen darauf. Leider waren ihre Stimmen leise. Doch Alisa hatte ein gutes Gehör.

»Interessant, nicht wahr?«, fragte Lord Montagow. Er hielt etwas in der Hand – vielleicht ein Brief, vielleicht eine Einladung. »Keine Drohung, keine Gewalttaten. Nur die Forderung nach einer Geldsumme.«

»Mylord«, sagte Dimitri ruhig. »Mit Verlaub, die Nachricht ist recht bedrohlich.«

Lord Montagow schnaubte höhnisch. »Was? Dieser alte Hut?« Er drehte den Zettel um und Alisa sah, dass es tatsächlich ein Brief war – dick und cremefarben. Teuer. »Zahlen Sie oder das Monster von Shanghai wird wiederauferstehen. Es ist töricht. Roma hat das vermaledeite Monster zerstört.«

Alisa hätte schwören können, dass sie Dimitris Kiefer zucken sah.

»Wie ich hörte, haben die Scarlets seit Monaten bereits mehrere Drohungen erhalten«, beharrte Dimitri. »Sie haben den geforderten Betrag jedes Mal bezahlt.«

»Ha!« Lord Montagow wandte sich zum Fenster und betrachtete die Straße unten. »Woher wissen wir, dass nicht die Scarlets dahinterstecken, um uns das Gold aus den Taschen zu ziehen?«

»Nein«, erwiderte Dimitri überzeugt. Eine Sekunde verging. Dann fügte er hinzu: »Meine Quelle berichtet, dass Lord Cai die Bedrohung für echt hält.«

»Interessant«, sagte Lord Montagow.

»Interessant«, wiederholte Alisa oben in den Dachsparren, so leise, dass nur der Staub sie hörte. Woher sollte Dimitri wissen, was Lord Cai glaubte?

»Dann besteht die Scarlet Gang einfach aus Narren, wie wir schon lange wissen.« Lord Montagow warf den Brief zu Boden. »Vergiss es. Wir zahlen keinen anonymen Erpresser. Soll er machen, was er will.«

»Ich –«

»Er wurde in der Französischen Konzession abgestempelt«, unterbrach Lord Montagow, bevor Dimitri noch ein Wort herausbringen konnte. »Was wollen die Franzosen machen? Werden sie herkommen und uns mit ihren gebügelten Anzügen einschüchtern?«

Dimitri blieb kein Spielraum für eine Erwiderung. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen, die Lippen zu schürzen und eine Weile nachzudenken.

»In der Tat«, sagte er schließlich. »Was auch immer Sie für angemessen halten.«

Die Unterhaltung wandte sich der Kundenliste der White Flowers zu und Alisa robbte mit einem Stirnrunzeln die Dachsparren entlang. Sobald sie weit genug vom Büro ihres Vaters entfernt war, dass man sie nicht mehr hören konnte, ließ sie sich langsam in einen schmalen Spalt in der Wand hinab, um in den Flur hinauszugelangen. Dieses Architekturexperiment eines Hauses war eines Doktor Frankensteins würdig: mehrere Wohnblocks mit kaum fertiggestellten Nähten aneinandergeklatscht. Es gab so viele Nischen und Ritzen über und unter unterschiedlichen Räumen, dass es Alisa überraschte, dass nur sie diese zur Fortbewegung nutzte. Zumindest überraschte es sie, dass sich bisher keine White Flowers versehentlich zu nah an die Wand gedrückt hatten und durch den Boden gefallen waren, sobald sie auf eine lose Fliese traten.

Alisa stieg die Treppe hinauf, in ihrer Eile nahm sie zwei Stufen auf einmal. Die schlichte Kette, die über ihrem Schlüsselbein baumelte, hüpfte bei jedem ihrer festen Schritte auf und ab, kühl auf ihrer erhitzten Haut.

»Benedikt!«, rief Alisa und kam im dritten Stock zu stehen.

Ihr Cousin hielt kaum inne. Er gab vor, sie nicht zu sehen, was lächerlich war, da er sich geradewegs auf die Treppe zubewegte und Alisa immer noch an deren Ende stand. Benedikt Montagow war dieser Tage ein vollkommen anderer Mensch, nichts als Schwermut und finstere Blicke. Auch vor ein paar Monaten mochte er nicht der glücklichste Mensch gewesen sein, doch jetzt fehlte ihm ein gewisses Leuchten in den Augen, was ihn endgültig wie eine Marionette wirken ließ, die sich unter jemandes Befehl durch die Welt bewegte. Trauerzeiten waren in dieser Stadt oft kurzlebig. Sie folgten einander auf dem Fuße wie Besucher von Filmvorstellungen, die man in den Saal scheuchte und wieder hinaus, um Platz zu machen für die nächsten.

Benedikt trauerte nicht nur. Er war selbst halb tot.

»Benedikt«, versuchte Alisa es erneut. Sie stellte sich ihm in den Weg, damit er nicht an ihr vorbeischlüpfen konnte. »Unten ist Honigkuchen. Du magst Honigkuchen, oder nicht?«

»Lass mich durch, Alisa«, sagte er.

Alisa blieb standhaft. »Es ist nur, weil ich dich nicht essen gesehen habe. Ich weiß, du wohnst nicht mehr hier, also habe ich es vielleicht nur nicht gesehen, aber der menschliche Körper braucht Nahrung, ansonsten –«

»Alisa!«, schnauzte Benedikt. »Geh mir aus dem Weg.«

»Aber –«

»Jetzt!«

Eine Tür flog auf. »Schrei meine Schwester nicht an.«

Roma war ruhig, als er in den Flur hinaustrat, die Hände hinter dem Rücken, als hätte er geduldig an der Tür gewartet. Benedikt gab einen kehligen Laut von sich, er fuhr herum und betrachtete Roma so bedrohlich, dass man sie für Feinde hätte halten können, nicht Cousins desselben Bluts.

»Sag mir nicht, was ich tun soll. Ach warte – du hast ja immer nur dann etwas zu sagen, wenn es nichts bedeutet, nicht wahr?«

Romas Hand fuhr instinktiv hoch zu seinen Haaren, bevor seine Finger Zentimeter von seinem neu entdeckten Stil haltmachten, nicht willens, Gel und Mühe zunichtezumachen.

Roma war nicht zerbrochen wie Benedikt, war nicht in tausend scharfe Stücke zersprungen, die jeden verletzten, der zu nahe kam. Roma Montagow hatte stattdessen alles hinuntergeschluckt. Als Alisa ihren älteren Bruder – ihren einzigen Bruder – ansah, schien er von innen heraus verdorben zu sein und sich in einen Jungen zu verwandeln, der die Haare wie ein Ausländer trug, der sich benahm wie Dimitri Voronin. Jedes Mal, wenn ihr Vater ihn mit Lob überhäufte, ihm fest auf die Schulter klopfte, zuckte Alisa zusammen, da sie wusste, dass man wieder einen toten Scarlet entdeckt hatte, mit Racheschmierereien neben der Leiche.

»Das ist ungerecht«, sagte Roma schlichtweg. Er hatte nicht viel mehr zu sagen.

»Wie auch immer«, murmelte Benedikt und drückte sich an Alisa vorbei. Sie stolperte und Roma stürmte vor und rief seinem Cousin etwas hinterher, weil er sich weigerte, ihm das letzte Wort zu überlassen. Doch Benedikt blickte kaum zurück, als er die Treppen hinabging. Seine Schritte waren bereits im ersten Stock zu hören, bis Roma sich Alisa näherte und ihren Ellbogen ergriff.

»Benedikt Iwanowitsch Montagow«, brüllte Roma nach unten. »Du –«

Seine frustrierte Beleidigung ging ihm Knallen der Haustür unter.

Stille.

»Ich wollte ihn nur aufheitern«, sagte Alisa leise.

Roma seufzte. »Ich weiß. Es ist nicht deine Schuld. Er … hat Schwierigkeiten.«

»Weil Marshall tot ist.«

Alisas Worte waren schwer, zäh, hatten ein furchtbares Gewicht, das über ihre Zunge glitt. Harte Wahrheiten neigten dazu, mutmaßte sie.

»Ja«, brachte Roma heraus. »Weil Marshall …« Ihr Bruder konnte den Satz nicht beenden. Er sah weg und räusperte sich, blinzelte energisch. »Ich muss gehen, Alisa. Papa erwartet mich.«

»Warte.« Alisas Hand schoss vor und packte Roma hinten an der Anzugjacke, bevor er die Treppe hinabgehen konnte. »Ich habe Papas Treffen mit Dimitri gehört. Er –« Alisa blickte sich um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Sie senkte sie Stimme noch weiter. »Dimitri hat einen Maulwurf in der Scarlet Gang. Vielleicht in ihrem inneren Kreis. Er bekommt seine Informationen von einer Quelle in direktem Kontakt mit Lord Cai.«

Roma schüttelte den Kopf. Er hatte bereits den Kopf geschüttelt, bevor Alisa ihren Satz beendet hatte.

»Das wird uns jetzt nicht viel bringen«, sagte er. »Sei vorsichtig, Alisa. Hör auf, Dimitri zu belauschen.«

Alisas Kiefer entspannte sich. Als Roma versuchte, seine Jacke aus ihrem Griff zu befreien, packte sie nur noch fester zu und ließ ihn nicht entkommen.

»Bist du nicht neugierig?«, fragte sie. »Wie hat Dimitri einen Spion in den inneren Kreis der Scarlet Gang –«

»Vielleicht ist er einfach intelligenter als ich«, unterbrach Roma sie trocken. »Er kann einen Lügner erkennen und ihm mit seiner Lüge zuvorkommen.«

Alisa stampfte mit dem Fuß auf. »Hör auf, Trübsal zu blasen!«

»Ich blase kein Trübsal!«

»Du bläst Trübsal«, beharrte Alisa. Sie sah wieder über die Schulter, hörte ein Rascheln im zweiten Stock und wartete, bis die Person sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, bevor sie weitersprach. »Noch etwas, das du vielleicht wissen solltest: Papa hat eine Drohung erhalten. Jemand behauptet, er hätte die Fähigkeit, das Monster wiederauferstehen zu lassen.«

Roma zog eine dunkle Augenbraue hoch. Als er dieses Mal seine Jacke ihrem Griff entzog, ließ sie los. Sie sah keinen Sinn darin, ihren Bruder noch länger zu behelligen.

»Das Monster ist tot, Alisa. Ich sehe dich später, ja?«

Roma ging davon, lässig schlendernd. Er hätte jeden zum Narren halten können, mit seinem Maßanzug und dem kalten Starren. Doch Alisa sah seine Finger zittern, sah den Muskel in seiner Wange zucken, wenn er die Zähne zu fest zusammenbiss, um nicht die Kontrolle über seine Miene zu verlieren.

Er war immer noch ihr Bruder. Er war nicht ganz verschwunden.

Drei

In einem Kabarett im Gebiet der White Flowers geht es an diesem Abend besonders laut zu.

Das Geschäft im »Podsolnuch« floriert ohnehin meist. Die Tische sind voll und laut, wenn die Mädchen auf der Bühne ihre Possen treiben, und es wimmelt von Menschen, von Flaschen voller Alkohol und jeder Kombination von beidem. Mit seinem Lärm und Elan kann es nur der Kampfring nebenan aufnehmen, der sich unter einer ansonsten unscheinbaren Bar verbirgt, die ohne den ständigen Besucherstrom unbekannt geblieben wäre.

Als die Tür des »Podsolnuch« sich um Schlag Mitternacht öffnet, fährt ein Windstoß hinein, doch keine Menschenseele im Lokal spürt ihn. Dort draußen, sobald der Tag anbricht, sind sie Müllsammler und Bettler und Bandenmitglieder, die sich gerade so durchschlagen können. Hier drinnen, dicht gedrängt an jedem Tisch, sind sie unbesiegbar, solange der Jazz weiterspielt, solange die Lichter nicht ausgehen, solange das Nachtleben weitergeht und weitergeht und weitergeht.

Der Besucher, der um Mitternacht eintritt, setzt sich. Er beobachtet, wie White Flowers Münzen in die Luft werfen, leichtsinnig in ihrem endlosen Exzess, sich weißgekleidete Revuetänzerinnen packen, als seien sie Bräute und nicht Ausreißerinnen aus Moskau mit einem Lächeln so rissig wie ihre Hände.

Alle sind aus demselben Grund hier. Manche riskieren einen Vollrausch, schütten sich Benzin in die Adern, damit vielleicht, nur vielleicht, etwas in einer ansonsten leeren Brust aufflammt. Andere sind umständlicher, sammeln und sammeln und rauben betrunkene Jungs aus, wenn sie wegsehen; ein flinker Finger taucht in eine Tasche und holt mit scharf gefeilten Nägeln drei knisternde Scheine heraus. Vielleicht kann sie diesen Ort eines Tages verlassen, ihren eigenen kleinen Laden eröffnen, ihren Namen auf ein Schild schreiben.

Jeder in diesem Raum will etwas fühlen, etwas schaffen, jemand sein – echt sein, echt, echt und nicht nur ein weiteres Rädchen, das das Geld und den Wahnsinn dieser Stadt vorantreibt.

Alle, außer dem Besucher.

Er nippt an seinem Getränk. Huángjiŭ – nichts zu Starkes. Er beäugt die Tänzerin, die sich ihm nähert. Jung – vierzehn, vielleicht fünfzehn. Er streicht seine Krawatte glatt, löst den Knoten.

Dann verschüttet er sein Getränk, der Alkoholgeruch dringt in seine Kleidung und er verändert sich.

Die Tänzerin hält inne, ihre Hände fliegen zu ihrem Mund. Sie ist bereits angeheitert von den Schnäpsen, die sie mit den Gästen getrunken hat, und sie glaubt beinahe, dass sie sich alles nur einbildet, dass sie sich wegen der schummrigen, flackernden Beleuchtung täuscht. Doch sein Hemd zerreißt, sein Rückgrat wächst in die Höhe und es sitzt nicht länger ein Mann im Zentrum des »Podsolnuch«, sondern ein Monster, vornübergebeugt und schauderhaft, grüne Muskeln machen sich zuckend bereit.

»Lauft!«, schreit die Tänzerin. »Tschudowischtsche!«

Es ist zu spät.

Die Insekten kommen: Sie brechen aus den Löchern hervor, mit denen der Rücken des Monsters übersäht ist. Tausende winziger hektischer Kreaturen, die über Tische, den Boden, übereinander krabbeln, bis sie verschwitzte Haut und schreiende Münder finden, bis sie sich in Augen und Nasen und Haare bohren, tief hineinsinken und Nerven finden. Das Kabarett wird von Schwärze eingehüllt, eine niemals verebbende Welle der Infektion, und innerhalb von Sekunden wird der Erste überwältigt. Hände fliegen an Kehlen und klammern, klammern, klammern, versuchen die Insekten herauszupressen.

Nägel durchdringen Haut, Haut gibt Muskeln frei, Muskeln machen Platz für Knochen.

Sobald das Blut aus einem Opfer spritzt, Fleisch freigelegt ist und Venen rot pumpen, reißt der Nächste sich bereits die Kehle heraus, bevor er Zeit hat, instinktiven Ekel davor zu empfinden, in heißem, klebrigem Blut gebadet zu sein.

Es dauert nur eine Minute. Eine Minute, bevor das Kabarett verstummt: ein Schlachtfeld aus Leichen auf dem Boden, Beine liegen über gekreuzten Armen. Die Tanznummer ist vorbei, die Musiker sind reglos, doch in der Ecke spielt ein Grammophon weiterhin eine blecherne Melodie, macht weiter, selbst als sich niemand mehr bewegt, alle mit leeren Augen blind an die Decke starren.

Das Monster richtet sich langsam auf. Es atmet ein – ein röchelndes, schweres Einsaugen von Luft. Blut durchweicht die Dielen, tropft durch die Ritzen, um den Boden unter dem Gebäude auszufüllen.

Nur dieses Mal breitet sich der Wahnsinn nicht aus. Dieses Mal kriechen die Insekten aus ihren Verstecken unter Hautschichten, verlassen die Leichen und anstatt sich auf die Suche nach einem anderen Wirt zu machen, kehren sie alle zu dem Monster zurück und verziehen sich dahin, woher sie kamen.

Der Wahnsinn ist nicht mehr ansteckend. Der Wahnsinn schlägt nun gezielt zu, nach den Vorstellungen und Wünschen desjenigen, der das Monster kontrolliert. Und als das Monster das letzte seiner Insekten aufnimmt, lässt es den Kopf langsam kreisen und schrumpft, bis es wieder ein gewöhnlicher Mann ist, unbefleckt von dem ihn umgebenden Schauspiel, mit sauberem Gewissen.

Fünf Minuten nach Mitternacht verlässt der Mann das »Podsolnuch«.

Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Egal ob Scarlet Gang oder White Flowers, die Macht von Informationen hält die Stadt aufrecht und die Boten arbeiten fieberhaft. Flüstern trifft auf Flüstern, bis es die Ohren der rivalisierenden Liebenden erreicht.

Die Scarlet-Erbin schlägt eine Tür zu, ihr Gegenstück bei den White Flowers reißt eine weit auf. Die Villa der Cais verfällt in Schweigen, während man hektisch darüber berät, wie das passieren konnte. Das Hauptquartier der White Flowers wird von endlosen Konfrontationen, Forderungen und Anschuldigungen erschüttert, bis sie schließlich so laut sind, dass das ganze Gebäude erzittert.

»Warum hast du den verdammten Erpresser dann nicht einfach ausgezahlt?«

Bald werden es alle Gangmitglieder wissen. Die Ladenbesitzer werden es wissen. Die Arbeiterinnen werden es wissen.

Die Scarlet Gang und die White Flowers haben versagt. Sie hatten versprochen, in Shanghai Ordnung zu schaffen, versprochen, dass man ihrer Herrschaft, und nicht den Kommunisten, trauen kann.

Doch wieder ist Chaos ausgebrochen.

»Ein Brief ist gekommen«, keucht ein Bote, als er vor Lord Cais Büro zum Stehen kommt.

»Man fand ihn draußen, bei den Toren«, sagt ein anderer, als er durch die Haustür der White Flowers tritt.

Die Briefe werden sofort entgegengenommen, gleichzeitig entfaltet. Sie enthüllen die gleiche Botschaft, in Tinte getippt, die Unterschrift blutet noch schwarz wie frisch verschüttetes Blut.

Paul Dexter hatte nur ein Monster. Ich habe fünf. Tut, was ich sage, oder alle sterben.

Roma Montagow tritt einen Stuhl um. »Gott –«

»– verdammt«, flüstert Juliette, weit entfernt auf der anderen Seite der Stadt.

Paul Dexter hat sich für einen Gott von einem Puppenspieler gehalten, der die Stadt befehligte. Doch er hatte keine Ahnung. Er kontrollierte wenig, abgesehen von Zufällen und Entsetzen. Er war die Hand, die eine beinahe völlig ungezügelte Masse aus Chaos umklammerte.

Dieses Mal wird das Chaos Gestalt annehmen, Kiefer und scharfe Zähne ausbilden, sich in den Ecken herumtreiben, auf der Suche nach einer Möglichkeit, anzugreifen.

Und diese Stadt wird an ihren Fäden tanzen.

Vier

Die Nachricht über den Angriff verbreitete sich so schnell in der Stadt, dass am Morgen das gesamte Dienstpersonal davon sprach. Sie murmelten miteinander, während sie im Wohnzimmer Staub wischten, wagten es nicht, auch nur einen Hauch von Mitleid zu zeigen, während sie über Todesopfer unter den White Flowers sprachen, doch stellten das Radio auf volle Lautstärke, gefesselt von den eintreffenden Nachrichten.

Den ganzen Morgen hindurch warteten alle auf das Unvermeidliche, warteten darauf, von steigenden Zahlen zu hören. Doch sie kamen nicht. Die White Flowers des »Podsolnuch« waren tot umgefallen, als handle es sich um die Tat eines Attentäters, nicht eines ansteckenden Monsters.