Welche Industrie wollen wir? -  - E-Book

Welche Industrie wollen wir? E-Book

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Beschreibung

Die ökologischen und sozialen Warnsignale stehen heute weltweit auf Dunkelrot: Der Klimawandel, die Finanzmarktkrise, die zunehmende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie die massiven Defizite in der öffentlichen Infrastruktur weisen auf gravierende Fehlentwicklungen unseres Wirtschaftssystems hin. Doch wie schaffen wir den Wandel zu einem nachhaltigen Modell des Wirtschaftens? Wie kann der Wechsel vom kohlenstoff- und ressourcenintensiven Pfad hin zu einem klima- und sozialverträglichen qualitativen Wachstum gelingen? Dieses Buch - ein Plädoyer für den ökologischen Umbau der Industrie und für das Konzept der »Guten Arbeit« - liefert detaillierte Antworten auf diese drängenden Fragen, die sich uns und den kommenden Generationen stellen.

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Wolfgang Lemb (Hg.)

Welche Industrie wollen wir?

Nachhaltig produzieren – zukunftsorientiert wachsen

Mit Beiträgen von Gerhard Bosch, Reinhard Bütikofer, Klaus Dörre, Reinhold Festge, Ralf Fücks, Patrick Graichen, Veronika Grimm, Harald Hagemann, Reiner Hoffmann, Gustav Horn, Kurt Hübner, Markus Janser, Bernd Lange, Florian Lehmer, Wolfgang Lemb, Matthias Machnig, Joachim Möller, Torsten Müller, Martin Myant, Barbara Praetorius, Katja Rietzler, Angelika Thomas, Astrid Ziegler und Gregor Zöttl

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die ökologischen und sozialen Warnsignale stehen heute weltweit auf Dunkelrot: Der Klimawandel, die Finanzmarktkrise, die zunehmende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie die massiven Defizite in der öffentlichen Infrastruktur weisen auf gravierende Fehlentwicklungen unseres Wirtschaftssystems hin. Doch wie schaffen wir den Wandel zu einem nachhaltigen Modell des Wirtschaftens? Wie kann der Wechsel vom kohlenstoff- und ressourcenintensiven Pfad hin zu einem klima- und sozialverträglichen, qualitativen Wachstum gelingen? Dieses Buch – ein Plädoyer für den ökologischen Umbau der Industrie und für das Konzept der Guten Arbeit – liefert detaillierte Antworten auf diese drängenden Fragen, die sich uns und den kommenden Generationen stellen.

Vita

Wolfgang Lemb ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.

Inhalt

Wolfgang Lemb: Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell der Zukunft braucht »Gute Industriepolitik«

Erste Phase: Industriepolitik und »Wirtschaftswunder«

Zweite Phase: Industriepolitik und Krisen

Dritte Phase: die Wiedervereinigung als unmittelbare industriepolitische Herausforderung

Vierte Phase: Kurswechsel erforderlich

Ein grundlegender Kurswechsel steht noch aus

»Gute Industriepolitik« braucht Partner in Politik und Gesellschaft

Eckpunkte einer »Guten Industriepolitik«

Bernd Lange: Die Handelspolitik der EU – Instrumente, Ziele, Eckpunkte

Handel im Zeitalter der Globalisierung

Handelspolitik in der EU: von der Vertraulichkeit der Verhandlungsräume ins Rampenlicht der Öffentlichkeit

Die Handelspolitik der EU im letzten Jahrzehnt: eine Einschätzung aus sozialdemokratischer Perspektive

Multilaterale Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation

Regionale und bilaterale Handelsabkommen – Global Europe: Competing in the world

Sozialdemokratische Ziele und Kernprinzipien

Einzelne Aspekte der Handelspolitik

Unterstützung der Industriepolitik durch handelspolitische Instrumente

Rechte des geistigen Eigentums

Öffentliches Auftragswesen

Dienstleistungen

Investitionen

Anker Arbeitnehmerrechte und Nachhaltigkeit

Menschenrechte und Arbeitsnormen

Nachhaltigkeit

Fazit

Reinhard Bütikofer: Renaissance der Industrie für ein nachhaltiges Europa

Europa auf der Bremse: Austerität, Deregulierung und Blockaden

Renaissance der Industrie für ein nachhaltiges Europa

Literatur

Matthias Machnig: Der industriepolitischen Entwicklung in Deutschland eine Richtung geben – Leitlinien der Bundesregierung

Die Industrie als Erfolgsbasis der deutschen Volkswirtschaft

Strukturwandeleffekte als Zeichen des Umbruchs in der Industriepolitik

Digitalisierung der Industrie

Nachhaltiges Wirtschaften

Alterung der Gesellschaft

Industriepolitik als Politikinstrument

Industriepolitik als Gemeinschaftsaufgabe in Deutschland

Branchendialoge

Bündnis »Zukunft der Industrie«

Ausgewählte Handlungsfelder der Industriepolitik

Drohender Fachkräftemangel

Drängender Investitionsbedarf

Geringe Kompetenz bei Spitzentechnologien

Industrie 4.0 zur Chefsache machen

Nachhaltiges Wirtschaften implementieren

Reshoring statt Offshoring

Literatur

Torsten Müller, Martin Myant: Investitionsstrategie für Europa – der Juncker-Plan

Einleitung

Der Juncker-Plan zur Förderung von Investitionen

Warum brauchen wir Investitionen?

Warum gab es bisher keine Investitionen?

Wie sollen die Investitionen finanziert werden?

Wie soll der Plan ausgeführt werden?

Welche Änderungen im EU-Krisenmanagement sind erforderlich?

Ist es ein europäischer Plan?

Entwicklung alternativer Strategien

Literatur

Ralf Fücks: Grüne industrielle Revolution –Herausforderungen und Chancen für die Industrie von morgen

Kurt Hübner: Die »Wiederentdeckung« staatlicher Industriepolitik – ein globaler Politikwettbewerb

Industriepolitik jenseits von Marktversagen

Nationale Formen von Industriepolitik

Industriepolitik und Pfadwechsel

Literatur

Harald Hagemann: Wachstums- und Investitionsdynamik in Deutschland

Einführung

Zur empirischen Entwicklung der Investitionstätigkeit in Deutschland seit 1991

Investitionen und Wachstum: einige theoretische Betrachtungen

Fazit

Literatur

Gustav Horn, Katja Rietzler: Die »schwarze Null« – eine Erfolgsgeschichte?

Einleitung

Falsch motivierte Übererfüllung der Fiskalregeln

Schuldenbremse und Fiskalpakt bei staatlicher Unterfinanzierung eingeführt

Kosten der »schwarzen Null«

Empfehlungen für eine alternative Finanzpolitik

Literatur

Reinhold Festge: Ausrüstungsinvestitionen in die Zukunft am Beispiel des Maschinen- und Anlagenbaus

Die deutsche Industrie kann globale Trends nutzen

Innovative Lösungen für neue Herausforderungen

Die Digitalisierung wird Kern industrieller Wertschöpfung

Neue Geschäftsmodelle

Investitionen sind Basis des Wohlstands

Gute Rahmenbedingungen für Investitionen

Politik und Wirtschaft im Dialog

Veronika Grimm, Gregor Zöttl: Investitionsanreize im Strommarkt der Zukunft

Einleitung

Zentrale Handlungsfelder für ein Strommarktdesign der Zukunft

Regionale Preiskomponenten zur Lenkung von Standortentscheidungen

Die Marktintegration erneuerbarer Energien und die Auswirkung auf Investitionsentscheidungen

Dynamische Effizienz

Regulatorisches Risiko minimieren

Evaluation und Kommunikation stärken

Fazit

Literatur

Patrick Graichen, Barbara Praetorius: Die Energiewende als Leitbild einer nachhaltigen Industriepolitik der Zukunft

Einleitung

Die Energiewende: neun Megatrends

Handlungsfeld Energiepolitik: Wie funktioniert die Stromversorgung 2030?

Wettbewerb der Flexibilitätsoptionen auf dem Markt

Wachsende Bedeutung aktiver Stromverbraucher

Verlässliche Investitionsbedingungen

Zentrale Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien

Vier Eckpunkte einer nachhaltigen Industriepolitik im Zuge der Energiewende

Eine nachhaltige Industriepolitik sorgt für klare und verlässliche Investitionsbedingungen für industrielle Energieverbraucher und Energieversorger

Nachhaltige Industriepolitik verbindet mit dem Konzept der Flex-Efficiency Energieeffizienz, flexiblen Energieverbrauch und wirtschaftliche Modernisierung

Nachhaltige Industriepolitik in Zeiten der Energiewende setzt Impulse für Innovationen und neue Geschäftsfelder – auf nationalen wie globalen Märkten

Zukunftsfeste Industriepolitik in Zeiten der Energiewende organisiert den Strukturwandel im Konsens

Die Zukunft gestalten – Industrie 4.0 und Energie 4.0 gehen Hand in Hand

Literatur

Markus Janser, Florian Lehmer, Joachim Möller: Beschäftigungswirkungen der Energiewende – ein Überblick

Die Energiewende – ein Prozess mit offenem Ausgang

Direkte Effekte der Energiewende

Quantitative Beschäftigungswirkungen der Energiewende

Beschäftigungsentwicklung im gesamten Energiesektor

Qualitative Beschäftigungswirkungen: Lohnunterschiede

Greening of Jobs

Indirekte Effekte der Energiewende

Erwartung für die Zukunft

Fazit

Literatur

Gerhard Bosch: Perspektiven einer nachhaltigen Industriepolitik aus arbeitspolitischer Sicht

Einleitung

Die Rolle von Facharbeit im deutschen Produktionsmodell

Zunahme des Fachkräfteeinsatzes

Sozialisation für autonomes Handeln

Facharbeit und Innovation

Fachkräftepotenzial auch in der Krise halten – das Beschäftigungswunder 2008/09

Arbeitspolitische Perspektiven

Literatur

Klaus Dörre: »Wir für mehr« – Ausgangspunkt für eine transformative Industriepolitik?

Industrieller Sektor und die Qualität der Arbeit

Struktur- und Legitimationswandel des industriellen Sektors

Von der Lohnkritik zum guten Leben

Schlussfolgerungen für eine transformative Arbeits- und Industriepolitik

Literatur

Reiner Hoffmann: Offensive Mitbestimmung

Einleitung

Was genau wandelt sich, und was wollen wir daraus machen? – drei Dimensionen der Entgrenzung

Begrenzen, ohne Einzuengen: Wo liegen die »neuen Herausforderungen« der Mitbestimmung?

Herausforderung Nr. 1: Niedrigschwelliger Einstieg in die betriebliche Mitbestimmung …

… und in die Unternehmensmitbestimmung

Herausforderung Nr. 2: Das europäische Gesellschaftsrecht lädt zur Umgehung ein

Herausforderung Nr. 3: Lässt sich in der digitalen Arbeitswelt ein Streik organisieren?

Herausforderung Nr. 4: Der demografische Wandel verringert das Fachkräfteangebot

Fazit

Literatur

Angelika Thomas, Astrid Ziegler: Konturen einer nachhaltigen Industrie – einer nachhaltigen Industriepolitik

Zur gewerkschaftlichen Diskussion über einen Kurswechsel

Ansatzpunkte einer nachhaltigen Industriepolitik

Was muss Industriepolitik heute leisten?

Wie sehen die Konturen einer nachhaltigen Industrie aus?

Wo zeigen sich Widersprüche?

Investitionen versus Spardiktat

Innovationen versus Leistungsdruck

Erneuerbare Energien versus Strukturwandel

Wie lassen sich Prozesse einer nachhaltigen Industriepolitik steuern?

Ausblick und Rolle der Gewerkschaften

Literatur

Autorinnen und Autoren

Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell der Zukunft braucht »Gute Industriepolitik«

Wolfgang Lemb

Die ökologischen und sozialen Warnsignale stehen heute weltweit vielfach auf Dunkelrot: Klimawandel, Finanzmarktkrise, zunehmende Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, aber auch massive Defizite in der öffentlichen Infrastruktur weisen auf gravierende Fehlentwicklungen hin. Hinzu kommen neue Herausforderungen und eine Vielzahl heute noch nicht abschließend zu beantwortender Fragen in der Entwicklung zur digitalen Produktion der Zukunft. Wie kann also ein nachhaltiges Modell des Wirtschaftens in Zukunft aussehen und welche industriepolitischen Rahmenbedingungen werden dazu gebraucht?

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass heute nahezu alle wichtigen Industriestaaten Industriepolitik betreiben. In der Ökonomie gibt es sicherlich noch eine Diskussion über das Pro und Contra von Industriepolitik, aber auch dort befinden sich die Verfechter der Lehre von der reinen Marktsteuerung tendenziell auf dem Rückzug. Zu gewichtig sind die Argumente derer, die die Notwendigkeit von Industriepolitik zur Steuerung der Märkte im Kapitalismus betonen. Und vor allem in der wirtschaftspolitischen Praxis ist die Frage, ob Regierungen Industriepolitik betreiben sollten oder nicht, beantwortet. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht die Frage, wie eine problemadäquate Industriepolitik gestaltet werden sollte.1 An dieser Stelle scheiden sich in der Tat die Geister.

Industriepolitik ist kein interessenfreier Raum, sondern die unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Interessen in Gesellschaft und Politik beeinflussen selbstverständlich industriepolitische Ziele und Instrumente und versuchen, sie für sich zu nutzen. Die unterschiedlichen Typen von Industriepolitik sind deshalb immer auch durch unterschiedliche Interessen geprägt, die gewissermaßen als »Treiber« anzusehen sind. Beispielsweise ist die zurzeit in Europa forcierte Austeritätspolitik nicht nur wegen ihrer verheerenden sozialen Konsequenzen heftig umstritten, sondern auch, weil sie als ein industriepolitisches »Low-Road-Konzept« nicht zielführend ist. Durch Senkung der Löhne und Sozialabbau werden sich die Probleme der Industrie in europäischen Staaten nicht lösen lassen. Notwendig ist vielmehr eine industriepolitische Modernisierungsstrategie im Sinne einer »High Road«, um den verschärften Anforderungen im internationalen Wettbewerb gerecht zu werden.

Hierbei ist Industriepolitik kein Neuland. In der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bundesrepublik erwies es sich immer wieder als notwendig, den stetigen industriellen Strukturwandel sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig zu gestalten. Allerdings waren die Brisanz und das Gewicht der Probleme, denen sich die IG Metall in der historischen Entwicklung stellen musste, durchaus unterschiedlich. Insbesondere die ökologische Frage gewann im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung.

Im Folgenden gehe ich aus Gründen der Darstellbarkeit von vier Phasen aus, die in der Realität nicht streng voneinander getrennt zu sehen sind, sondern mehr oder weniger ineinander übergehen.

Erste Phase: Industriepolitik und »Wirtschaftswunder«

Dass die Interessen der Beschäftigten an guten Arbeitsbedingungen, guter Bezahlung, guter Qualifikation und Arbeitsplatzsicherheit immer wieder neu erkämpft und durchgesetzt werden müssen, galt bereits für die Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders. Nach Zeiten der Vollbeschäftigung Ende der 50er Jahre und anhaltend hohen Wachstumsraten schien der Strukturwandel zeitweilig »reibungslos« vonstatten zu gehen, sodass Beschäftigte aus damals schrumpfenden Branchen wie der Textilindustrie oder der optischen Industrie in expandierende Bereiche wechseln konnten. Aber dieser Prozess verlief schon damals nicht ohne soziale Härten. Deshalb griff die IG Metall steuernd ein bzw. setzte gegenüber Regierungen durch, dass staatliche Maßnahmen die sozialen Auswirkungen von Branchen- bzw. Unternehmenskrisen milderten.

Im Vergleich zur aktuellen Situation handelte es sich aber um Probleme, die gut zu bewältigen waren. Dies zeigt die erste Krise in der Bundesrepublik Deutschland: der wirtschaftliche Einbruch 1967. Die damalige Arbeitslosigkeit von deutlich unter einer Million, wurde als wirtschaftspolitische Katastrophe empfunden, das keynesianische Instrumentarium erfolgreich angewendet, und nach kurzer Zeit bewegte sich die Bundesrepublik wieder auf dem Wachstumspfad. Allerdings wurde schon damals pragmatische Industriepolitik auf Bundesländerebene gemacht, um gravierende regionale Unterschiede einzuebnen. Aus diesem Grund wurde 1969 die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« angegangen. Im Kern handelte es sich um ein regionales industriepolitisches Instrument, bei dem allerdings die Arbeitnehmervertretungen kein Mitwirkungsrecht hatten.

Zweite Phase: Industriepolitik und Krisen

Die Situation verschärfte sich grundlegend seit den 1970er Jahren: Seit der sogenannten Ölkrise 1973/74 erfolgten konjunkturelle Einbrüche mit einer gleichzeitig tendenziell steigenden Arbeitslosigkeit. Zugleich kam mit dem Meadows-Report die ökologische Frage erstmals wahrnehmbar auf die Tagesordnung. Die Atomenergie, die zunächst als billige und unerschöpfliche Energiequelle durchweg positiv bewertet wurde, geriet mehr und mehr in die Kritik. Der drohende Klimawandel sowie die befürchtete Ressourcenknappheit waren neue Herausforderungen, denen sich die IG Metall stellen musste.

Der Strukturwandel bekam damit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer2 und ihre Vertretungen eine neue Brisanz. Es konnte nicht mehr umstandslos davon ausgegangen werden, dass auf lange Sicht mehr oder weniger alle vom Strukturwandel profitieren bzw. die Verlierer durch entsprechende Maßnahmen aufgefangen werden. Neue Anforderungen industriepolitischer Gestaltung standen deshalb für die IG Metall auf der Tagesordnung. Erstmals zog der Begriff der »nachhaltigen« Gestaltung des Strukturwandels in die gesellschaftspolitische Debatte ein.

Viele strukturpolitische Konzepte entstanden aus Bewegungen gegen Betriebsstilllegungen und für Produktionsumstellungen. Im Organisationsbereich der IG Metall wurden Arbeitskreise für »Alternative Produktion« gegründet, die im Kontext der Friedensbewegung in den 80er Jahren als Arbeitskreise zur Konversion von Rüstungsproduktion in zivile Produktion zunehmend an Bedeutung gewannen. Als ökonomische Krisentherapie wurde – auch heute durchaus aktuell – eine Überwindung der Nachfrageschwäche durch eine expansive Finanzpolitik für notwendig gehalten sowie eine umverteilungsorientierte Tarifpolitik realisiert.

Arbeitspolitik, durchaus ein wichtiges Element einer nachhaltigen Industriepolitik, deren Ziel – die soziale Gestaltung von Automation und technischem Wandel – unverändert aktuell ist, wurde von der IG Metall immer stärker forciert. Die IG Metall war ein wesentlicher Initiator des Programms »Humanisierung des Arbeitslebens«, das von der Bundesregierung in den 70er Jahren aufgelegt wurde. Es sollte durch betriebsnahe Projekte Wege zu einer humaneren Arbeitswelt im Sinne des Abbaus von Arbeitsbelastungen sowie der Gestaltung von anspruchsvolleren Arbeitsplätzen, zum Beispiel durch die Reduzierung von extremer Arbeitsteilung aufzeigen.

Schon damals war Kooperation zwischen den Sozialpartnern und dem Staat die entscheidende Voraussetzung, denn die Ziele und die Umsetzung des Forschungs- und Aktionsprogramms sollten durch eine Gesamtstrategie erreicht werden, die die drei Beteiligten (Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaft) zu tragen hatten. Durch die Tarifpolitik wurden Marksteine bei der Realisierung besserer Arbeitsbedingungen, kürzerer Arbeitszeiten sowie der Reduktion von Arbeitsbelastungen gesetzt.

Auch der Umweltschutz, die ökologische Frage, geriet mehr und mehr in das Blickfeld gewerkschaftspolitischen Handelns. Vor dem Hintergrund von Katastrophen wie zum Beispiel in Tschernobyl, dem sich schnell vergrößernden Ozonloch und den damit einhergehenden drohenden Klimaveränderungen wurde die ökologische Umgestaltung auch im Hinblick auf die Produktion immer dringlicher. Damit war aber auch ein Konflikt zwischen den Interessen um den Erhalt der Arbeitsplätze und einer längerfristigen ökologisch orientierten Umgestaltung der Produktion wahrscheinlich. Deshalb bestand schon damals aus Sicht der IG Metall die Aufgabe einer staatlichen Industriepolitik darin, für umweltfreundliche Ersatzarbeitsplätze zu sorgen.

Dritte Phase: die Wiedervereinigung als unmittelbare industriepolitische Herausforderung

1989 setzte mit der Überwindung der Teilung Deutschlands eine neue Phase ein – mit dramatischen Konsequenzen insbesondere für Ostdeutschland. Es drohte eine flächendeckende De-Industrialisierung in den neuen Bundesländern, die zu Befürchtungen, dass in Europa ein neues »Mezzogiorno« entstehen würde, führte. Die Perspektiven für die ostdeutsche Industrie waren äußerst düster. Über ihre Ursachen ist viel gestritten worden. Der marode Zustand vieler Betriebe auf dem Gebiet der ehemaligen DDR war zweifelsohne ein Faktor, aber keineswegs der einzige.

Die Währungsunion führte zu einer massiven Verteuerung der industriellen Produkte, die damit – quasi über Nacht – nicht mehr konkurrenzfähig waren. Der westdeutsche Kapitalismus vertrat durchaus die Haltung, mit den im Westen vorhandenen Kapazitäten die Märkte in den neuen Bundesländern und darüber hinaus in Osteuropa zu bedienen. Entsprechend agierte die Treuhand keineswegs immer im Interesse des Erhalts wesentlicher Teile der ostdeutschen Industrie.

Dass dennoch Ostdeutschland nicht das Schicksal Süditaliens erlitt, ist auch den Gewerkschaften und im Wesentlichen der IG Metall zu verdanken. Ihr Konzept lautete »Industrielle Kerne retten«, wodurch die Basis für eine Re-Industrialisierung gelegt werden sollte. Hierfür mussten sehr schnell und sehr konkret industriepolitische Konzepte für Branchen und Betriebe gewissermaßen aus dem Boden gestampft werden und mit politischem Druck von »unten« umgesetzt werden. Der Handlungsdruck war immens, und die Erfolgsbilanz ist gemischt. Betriebe wie EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt, die Kerne des Werkzeugmaschinenbaus in Chemnitz sowie die Erhaltung des Zentrums der optischen Industrie in Jena stehen auf der Habenseite, die Rettungsversuche beim Landmaschinenbau sowie beim Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann scheiterten.

Zudem wurden Neuansiedlungen erreicht – wie zum Beispiel der Aufbau einer neuen Produktionsstätte des Volkswagenkonzerns in Zwickau oder Opel in Eisenach. Aber ohne das Engagement der IG Metall sähe die Bilanz viel düsterer aus. Unter den spezifischen Herausforderungen der Nach-Wende-Zeit konnte (und musste) die IG Metall zudem Erfahrungen hinsichtlich praktischer Wirkungen von Industriepolitik sammeln. Erfahrungen, die sich in den nachfolgenden Jahren auch für Westdeutschland als hilfreich erwiesen.

Vierte Phase: Kurswechsel erforderlich

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hätte wohl keiner vorausgesehen, in welch dramatischer Weise sich die ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme zuspitzen würden. Sichtbares Zeichen hierfür war die tiefgreifende Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09, von der sich viele Staaten Europas bis heute nicht erholt haben. Spätestens seit dieser neuen Weltwirtschaftskrise ist nicht mehr zu leugnen, dass die grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme neue Antworten erfordern. Die IG Metall hat einen grundlegenden Kurswechsel eingefordert. Unsere Ziele sind qualitatives Wachstum und ein nachhaltiger Umbau der industriellen Produktion, damit es gelingt, die Chancen für ein »Gutes Leben« auch künftigen Generationen zu ermöglichen.

Auch viele Akteure in Politik und Gesellschaft sind sich zunehmend der neuen Herausforderungen bewusst geworden. Allerdings gibt es nach wie vor Widerstände bei den Befürwortern der reinen Marktwirtschaftslehre, die aus ordnungspolitischen Gründen eine intervenierende Industriepolitik vehement ablehnen. Der IG Metall kam deshalb mehr denn je die Rolle eines Promotors nachhaltiger Industriepolitik zu. Das zeigte sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 besonders deutlich. Die IG Metall setzte sich erfolgreich für adäquate Maßnahmen zur Stabilisierung der industriellen Produktion ein – wie zum Beispiel die Sicherung der Stammbelegschaften durch Kurzarbeit und die Stabilisierung des Absatzes von PKW durch die Abwrackprämie. Maßnahmen, die mit dafür verantwortlich waren, den drohenden Abbau von Arbeitsplätzen und damit Arbeitslosigkeit für viele Beschäftigte zu verhindern.

Das zeigt sich aber auch bei anderen gesellschaftspolitischen Großprojekten wie zum Beispiel der Nationalen Plattform Elektromobilität (NPE) und – ganz aktuell – der Energiewende.

Die IG Metall war seit 2009 wesentlicher Promotor beim Aufbau der Nationalen Plattform Elektromobilität. Angesichts der ökologischen Anforderungen ist ein nachhaltiger Umbau der Automobilindustrie unumgänglich. Dies wird zu gravierenden Veränderungen in den Wertschöpfungsketten und Mobilitätskonzepten führen. Die NPE hat hierzu durch die Förderung der Entwicklung neuer Antriebsformen einen wesentlichen Beitrag geleistet. Es handelt sich um eine beispielhafte sektorale industriepolitische Initiative unter Beteiligung der wesentlichen Akteure aus Industrie, Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und Verbänden.

Mit einem abgestimmten Konzept von Maßnahmen in ganz unterschiedlichen Feldern wie Forschung und Entwicklung, akademische und berufliche Bildung, Normung und Standardisierung sowie zur Unterstützung des Markthochlaufs soll erreicht werden, dass Deutschland zu einem Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität wird. Erstmals wurde ein Fahrplan für eine koordinierte Industriepolitik bei einer Zukunftstechnologie mit verbindlichen Investitionszusagen in Forschung und Produktion festgelegt. Hierdurch soll erreicht werden, dass der Übergang vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität gemeistert wird und die Wertschöpfungsketten einer Kernkompetenz der deutschen Wirtschaft nachhaltig umgestaltet und auf diese Weise Arbeitsplätze gesichert werden bzw. neu entstehen. Auch wenn der Elektromobilität in Deutschland heute noch nicht der Durchbruch gelungen ist, geht kein Weg an einer koordinierten industriepolitischen Steuerung vorbei.

Eine weitere Großbaustelle bei einer nachhaltigen Umstrukturierung der Industrie – die Energiewende – wird von der IG Metall unterstützt. Ohne globale, tiefgreifende und rasche Veränderungen in der Energieproduktion und -verwendung wird sich die Klimakatastrophe nicht verhindern lassen. Die Katastrophe von Fukushima zeigte zudem in aller Deutlichkeit, dass die Atomenergie keinen Ausweg aus der »Karbonwirtschaft« darstellt.

Deutschland hat die Kapazitäten und die Fähigkeiten, hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Mehr noch: Die IG Metall sieht große Chancen für neue Märkte im Bereich der alternativen Energieerzeugung sowie für energieeffiziente Produkte, Maschinen und Anlagen. Im Endeffekt wird hierdurch eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze entstehen – eine Entwicklung, die jetzt schon zu erkennen ist. Andererseits ist nicht zu leugnen, dass es auch Verlierer der Energiewende geben kann. Die Aufgabe einer intelligenten oder »Guten Industriepolitik« ist es, hier nach Lösungen im Sinne einer sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit zu suchen.

Ohne die Gewerkschaften wird das nicht zu bewältigen sein. Gerade bei den energieintensiven Industrien – dies gilt aber gleichsam für die gesamte Industrie – stehen wettbewerbsfähige Energiekosten im Vordergrund. Die IG Metall setzt sich für Lösungen ein, mit denen Verdrängungswettbewerb verhindert werden kann und Arbeitsplätze gesichert werden. Bei den Herstellern von Gas- oder Dampfturbinen wäre die Antwort eine Diversifizierung der Produktion – eine Aufgabe, bei der zuvorderst die Unternehmen selbst gefordert sind, die aber auch von einer Industriepolitik flankiert werden müssen.

Ein grundlegender Kurswechsel steht noch aus

Dennoch müssen wir heute feststellen: Ein wirklich grundlegender Kurswechsel für einen sozial-ökologischen Umbau der Industrie steht noch aus. Die ökologische Krise gewinnt an Brisanz, und mittlerweile ist es sehr zweifelhaft, ob der unabänderliche Anstieg der durchschnittlichen Temperatur auf der Erde auf plus 2° C begrenzt werden kann, denn der CO2-Ausstoß steigt weltweit unvermindert weiter. Schon werden in neuen Szenarien 4 bis 5° C prognostiziert – mit nicht mehr beherrschbaren katastrophalen Folgen für die Menschheit.

Die bisherigen internationalen Vereinbarungen zur Reduzierung des Ausstoßes von CO2 sind zu unverbindlich und erweisen sich zunehmend als unrealistisch. Deshalb hat sich der industriepolitische Handlungsdruck nicht nur in Deutschland, sondern auch global enorm erhöht. Ein rasches Umsteuern in Richtung einer ökologischen Nachhaltigkeit ist deshalb erforderlich. Neben umweltfreundlichen Formen der Energieerzeugung impliziert dieses zugleich eine größere Energie- und Ressourceneffizienz sowie intelligente Mobilitätskonzepte. Beides ist angesichts einer sich abzeichnenden Knappheit der endlichen Ressourcen nicht nur aus klimapolitischen Gründen notwendig.

Damit ist nun keineswegs eine Absage an weiteres wirtschaftliches Wachstum verbunden. Angesichts der Armut und der wirtschaftlichen Probleme in weiten Teilen der Welt wäre eine solche Forderung nahezu absurd. Vielmehr geht es um ein qualitatives Wachstum. Das gilt auch für Deutschland, das einer der Hauptlieferanten für energieeffiziente Produkte ist. Es geht um die Realisierung eines ressourceneffizienten, nachhaltigen Entwicklungspfades, der der wachsenden Weltbevölkerung ein gutes Leben und eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen ermöglicht. Voraussetzung dafür ist ein grundlegender Umbau unserer Industriegesellschaft, der uns in den nächsten 50 Jahren gelingen muss.

Im Kontext der fortschreitenden Globalisierung hat sich das Shareholder-Value-Prinzip immer stärker durchgesetzt. Heute steuern direkt und indirekt internationale Finanzmarktakteure mehr und mehr das Unternehmensgeschehen. Kurzfristige Renditeüberlegungen haben den Vorrang vor einer langfristig gesteuerten Unternehmensentwicklung. Für die Beschäftigten ist diese Entwicklung mit negativen Konsequenzen wie zum Beispiel einer Zunahme prekärer Beschäftigung verbunden.

Angesichts dieser Entwicklung gewannen auf der wirtschaftspolitischen Ebene »neoliberale« Konzepte an Bedeutung: Die sogenannten Hartz-Reformen unterstützten die Zunahme prekärer Beschäftigung. Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, der Abbau von Sozialleistungen sowie die Reduzierung öffentlicher Investitionen dominierten somit die Strategien zur Bewältigung krisenhafter Entwicklungen und zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Austeritätskonzepte und »Low Road« sind in der neoliberalen Politik »angesagt« – mit den in Europa bekannten negativen Folgen von hoher Arbeitslosigkeit, geringerer Arbeitsplatzsicherheit und reduzierter sozialer Absicherung sowie einer zunehmend ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung.

Der industrielle Aufstieg der BRIC-Staaten, insbesondere Chinas und Südkoreas, der nicht zuletzt auf eine dezidierte und autoritäre Industriepolitik mit einem ausgeprägten sektoralen Ansatz zurückzuführen ist, setzt sich unvermindert fort. Die Gewichte in der Weltwirtschaft verteilten sich neu. Noch vor 30 Jahren wäre jemand, der den Aufstieg Chinas zu einer der führenden oder gar zur führenden Industrienation in der Welt vorhergesagt hätte, nicht ernst genommen worden. Es ist keine Frage, dass die Probleme alter Industrienationen wie Frankreich, Italien oder Großbritannien mit dieser Entwicklung zusammenhängen.

Demgegenüber hat Deutschland von dieser globalen Verlagerung der industriellen Schwerpunkte – zumindest bisher – durchaus profitiert, weil es Produkte, Maschinen und Anlagen für die neuen Industrien und qualitative hochwertige dauerhafte Konsumgüter – wie zum Beispiel Autos – für die wohlhabenden neuen Käuferschichten in diesen aufstrebenden Ländern verkaufen konnte. Durchaus offen ist jedoch die Frage, ob diese Vorteile des Standortes Deutschland von Dauer sind.

Die neuen Industriestaaten lernen schnell. Da die deutsche Industrie in diese Wachstumsmärkte investiert und dort strategische Partnerschaften eingeht, könnte der qualitative Vorsprung hochwertiger, in Deutschland produzierter Industriegüter dahinschmelzen. So erwägt zum Beispiel die Deutsche Bahn AG, Züge künftig auch in China zu kaufen – eine direkte Herausforderung für alle Systemhäuser wie Siemens, Bombardier, Stadler und Alstom. China baut zurzeit massiv Kapazitäten in dieser Branche auf und will verstärkt den Weltmarkt bedienen. Hierbei handelt es sich um keine singuläre Entwicklung. Ein weiteres Beispiel: Der einzig ernst zu nehmende Konkurrent von Google ist der chinesische Softwarehersteller Baidu, mit dem Audi und Mercedes jüngst eine Kooperation zur Entwicklung von Kartendaten eingegangen sind.

Die schwierige Frage, ob wir uns bereits in einer »vierten technologischen Revolution« befinden, ist umstritten. Es ist jedoch keine Frage, dass die Digitalisierung, die Entwicklung neuer Antriebssysteme im Automobilbereich sowie neue Entwicklungen in der Nano- und Biotechnologie gravierende Auswirkungen auf Produktionsprozesse, die Wertschöpfungsketten, die Zahl der Arbeitsplätze, die Qualifikationsanforderungen sowie die Arbeitsbedingungen haben werden. Neue Produkte für den Endverbraucher, neue Maschinen und Anlagen für die Industrie und neue Formen von hybrider Wertschöpfung durch eine neue Arbeitsteilung zwischen Fertigung und Dienstleistungen (Industrie 4.0) sind entstanden bzw. werden in naher Zukunft entstehen und müssen industriepolitisch gemeistert werden. Dies erfordert auch einen erheblichen Bedarf an Steuerung hinsichtlich der arbeitspolitischen wie auch der sozialen Auswirkungen.

Last but not least werden die Folgen der demografischen Entwicklung immer deutlicher. Hier zeichnen sich erhebliche Probleme und Herausforderungen ab. Stütze des deutschen Industriemodells sind hoch motivierte und qualifizierte Beschäftigte. Es sind nicht nur die Ingenieure, die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, sondern auch die un- und angelernten Arbeitskräfte, die für die Erfolge der Industrie stehen. Angesichts fehlenden Nachwuchses aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge und bereits heute schon überalterter Belegschaften ergibt sich ein erheblicher Handlungsdruck.

Die Bildungsreserven müssen erschlossen werden, das duale Bildungssystem und die sogenannten MINT-Fächer attraktiver gemacht werden. Zugleich sollten ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine Politik der Guten Arbeit die Chance erhalten, bis zum Erreichen des Rentenalters zu arbeiten. Einmal mehr zeigt sich: Ohne die Verknüpfung mit einer wirksamen Arbeits-, Bildungs- und Qualifikationspolitik ist Industriepolitik zum Scheitern verurteilt.

»Gute Industriepolitik« braucht Partner in Politik und Gesellschaft

Die Re-Industrialisierung Ostdeutschlands, die Nationale Plattform Elektromobilität sowie die Energiewende sind drei herausragende Beispiele, in welcher Weise die IG Metall industriepolitische Ansätze mit geprägt hat und weiter mitgestaltet. Dies gilt natürlich auch für viele andere Bereiche der Industrie – sei es der Schiffbau, die Stahlindustrie oder der Maschinenbau. Dabei musste die IG Metall mit ihren industriepolitischen Vorstellungen für eine zukunftsorientierte Industriepolitik gegen Widerstände bei den Vertretern der reinen Lehre der Marktwirtschaft in der jeweiligen Bundesregierung, insbesondere im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), ankämpfen. Es fehlte somit auf der politischen Seite der Partner, mit dem man gemeinsam Kernfragen einer nachhaltigen Industriepolitik angehen konnte. Damit sollen keineswegs Interessenunterschiede verwischt werden. Vielmehr geht es um eine prinzipielle Dialogbereitschaft und die Suche nach Schnittmengen für ein gemeinsames industriepolitisches Vorgehen.

Mit der Bildung der neuen Bundesregierung im Jahr 2013 änderte sich jedoch die Situation. Anders als ihre Vorgängerinnen hat die große Koalition den Wert der Industrie für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands erkannt und bekennt sich zu einer aktiven Industriepolitik, die über das Setzen von Rahmenbedingungen deutlich hinausgeht. Insofern ist Bewegung in die bundesdeutsche Industriepolitik gekommen. Im Rahmen der verschiedenen Initiativen (Bündnis »Zukunft der Industrie«, Plattform »Industrie 4.0«, Plattform »Innovative Digitalisierung der Wirtschaft«, Expertenkommission »Stärkung von Investitionen in Deutschland« und diverse Branchendialoge) wurde ein umfassender Dialogprozess auf den Weg gebracht, an dem die Gewerkschaften beteiligt sind.

Dadurch wird ein Klima der Kooperation geschaffen, das die Gefahren eines unvollständigen Wissens über zukünftige industrielle Entwicklungen vermindern sowie die Fehler eines Top-down-Ansatzes vermeiden kann. Allerdings macht ein anderer Dialogprozess noch keine wirklich neue Industriepolitik aus. Die Zukunft wird zeigen, ob der neue Anlauf wirklich zu konkreten Maßnahmen, Initiativen und Projekten führt, die den Ansprüchen der IG Metall an eine »Gute Industriepolitik« gerecht wird.

Eine gewisse Skepsis lässt sich angesichts der ersten konkreten Ergebnisse nicht verhehlen: In dem Bericht der Expertenkommission »Stärkung von Investitionen in Deutschland« im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, wurden die alten Fronten unverändert deutlich. Der Befund ist unstrittig: Es gibt in Deutschland ein Defizit an öffentlichen und privaten Investitionen. Insbesondere die öffentliche Infrastruktur ist mittlerweile aufgrund der Sparpolitik und des »Evangeliums« einer schwarzen Null teilweise in einem maroden Zustand. Streit entzündete sich vielmehr an den Vorschlägen zur Behebung der Investitionsdefizite.

Die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagene Finanzierung von öffentlichen Investitionen durch private institutionelle Anleger wurde von den Gewerkschaftsvertretern in der Expertenkommission entschieden abgelehnt. Stattdessen sollen sie durch den Abbau von Steuerprivilegien für sehr hohe Vermögen, Einkommen und Erbschaften, die konsequente Ausnutzung des gegebenen Verschuldungsspielraumes und durch höhere Schulden im Sinne der Goldenen Regel der Finanzwissenschaft finanziert werden. Zugleich wurden die steuerpolitischen Vorschläge der Kommissionsmehrheit zur Förderung von privaten Investitionen abgelehnt, weil sie »insgesamt dazu führen würden, die ohnehin ungleiche steuerliche Belastung von Arbeit und Kapital zulasten des Faktors Arbeit, aber auch zulasten der öffentlichen Hand, zu verschieben.«3

Einmal mehr wurde deutlich, dass Investitionspolitik als Teil der Industriepolitik kein interessenfreier Raum ist und politische Machtfragen in Dialogprozessen eine große Rolle spielen. Insofern kann es nur von Vorteil sein, wenn die Gewerkschaften verstärkt die Kooperation mit anderen Organisationen in der Zivilgesellschaft (NGOs) suchen. Die Chancen für eine solche Zusammenarbeit haben sich verbessert. Der Wert der Industrie für eine nachhaltige Umgestaltung unserer Wirtschaft wird mittlerweile von vielen NGOs gesehen und anerkannt. Schnittmengen für ein gemeinsames Vorgehen beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft sind vorhanden.

Eckpunkte einer »Guten Industriepolitik«

Angesichts der oben dargestellten »Megatrends« sowie positiver und negativer Erfahrungen mit bisherigen industriepolitischen Ansätzen und Initiativen ergeben sich neue Anforderungen an eine Industriepolitik der Zukunft. Diese wird die IG Metall aktiv im Interesse ihrer Mitglieder mitgestalten. Eine Industriepolitik der Zukunft muss »Gute Industriepolitik« sein. Die IG Metall kann hierbei – dieses sollte der historische Rückblick zeigen – auf ihren industriepolitischen Aktivitäten in der Vergangenheit aufbauen. Anders als die »Marktideologen« in Wissenschaft und Politik war sie sich immer der Defizite und negativen Folgen einer ungesteuerten und ungezügelten Marktwirtschaft bewusst und mit ihren industriepolitischen Vorschlägen auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme.

Unter den heutigen Bedingungen bekommt nun die Forderung nach einer integrierten Industriepolitik neues Gewicht. Sie erfordert einen Masterplan oder eine »Roadmap«, die gemeinsam von allen Beteiligten zu entwickeln und mit anderen Politiken wie der Innovationspolitik, der Energiepolitik, der Regionalpolitik oder der Arbeits- und Bildungspolitik zu verbinden ist. Hierbei ist im Sinne der Gleichgewichtigkeit von ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit von folgenden Eckpunkten auszugehen:

Der notwendige ökologische Umbau der Industriegesellschaft erfordert mehr als eine Energiewende. Es geht um grundlegende Veränderungen in der Produktionsweise, die zugleich zu neuen Strukturen in den Wertschöpfungsketten führen werden. Die Realisierung einer durchaus machbaren Effizienzrevolution, »Besser statt billiger« durch »Cradle to Cradle«, von neuen Mobilitätskonzepten, von Produkten im Sinne eines nachhaltigen Konsums oder auch Fair Trade sind Marksteine für einen solchen Umbau.

Der ökologische Umbau bietet der deutschen Industrie neue Chancen im globalen Wettbewerb. Hierbei kann sie auf ihren Erfolgen aufbauen. Diese beruhen auf qualitativ hochwertigen Produkten, Systemlösungen und starken industriellen Clustern. »Low Road« hat in der Konkurrenz mit den aufstrebenden Schwellenländern keine Chance. Damit ist keineswegs nur eine Hightech-Förderung durch die FuE-Politik gemeint. Gerade nicht FuE-intensive Industrien sowie Lowtech-Industrien sind unverzichtbare Bestandteile der Wertschöpfungsketten und damit in die Förderung einzubeziehen. Andererseits hat es die deutsche Industrie in der Vergangenheit versäumt, sich den Zugang zu Schlüsseltechnologien wie dem IT-Bereich oder der Batterietechnik zu verschaffen. Solche technologischen Lücken sind von einer nachhaltigen Industriepolitik gezielt anzugehen.

»Gute Industriepolitik« muss auf Dauer angelegt sein und steht damit in direktem Widerspruch zu einem finanzmarktgesteuerten Shareholder-Kapitalismus. Dieser hat direkt in nahezu allen kapitalistischen Ländern zu einer immens wachsenden Ungleichverteilung zwischen Einkommen und Vermögen geführt. Diese Entwicklung widerspricht nicht nur allen Wertvorstellungen von Gerechtigkeit, sondern verstärkt auch die Krisenanfälligkeit durch negative Auswirkungen auf die Nachfrage. Notwendig sind deshalb die nationale und internationale Regulierung der Finanzmärkte, eine stärkere Besteuerung von Einkommen, Vermögen und Erbschaften der »Superreichen« und die Ausweitung der wirtschaftlichen Mitbestimmung.

»Gute Industriepolitik« im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit integriert Strategien für Gute Arbeit, fördert Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen und Qualifikationen sowie einer entsprechenden Bezahlung und bekämpft prekäre Beschäftigung. Arbeit als Quelle der Identität gehört zu einem guten selbstbestimmten Leben und muss deshalb wieder ihren Wert bekommen. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ist nur ein erster Schritt zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation des Prekariats. Die erfolgreiche Kampagne »Besser statt Billiger« der IG Metall hat gezeigt, dass das Expertenwissen der Beschäftigten bei betrieblichen Veränderungen und Neuerungen unverzichtbar ist. Solche Beteiligungsprozesse sollten durch staatliche Programme und Mittel gefördert werden. Hierdurch könnten zugleich Spielräume für Aktivitäten und Initiativen der Beschäftigten für Innovationen und betriebliche Umstrukturierungen erweitert werden.

Die Mitbestimmung ist der Pluspunkt im deutschen System und hat sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise bewährt. Eine Kooperation für eine Stärkung der Industrie und der industriellen Beziehungen ist nicht nur in den Betrieben, sondern auch in Branchen bzw. in Clustern und darüber hinaus erforderlich. Wie oben dargestellt, hat die IG Metall eine solche Politik immer verfolgt. Zwar ist in dem neuen Anlauf der Bundesregierung zur Industriepolitik eine Beteiligung der Gewerkschaften endlich in die Tat umgesetzt worden, aber dies kann sich unter einer anderen Bundesregierung auch wieder ändern. Neben der Ausweitung der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten auf der Ebene des Betriebes bzw. des Unternehmens sind deshalb dauerhaft fest institutionalisierte Einrichtungen bzw. industriepolitische Gremien auf Bundes- und Bundesländerebene unter Beteiligung der Gewerkschaften notwendig.

Die Krise hat es gezeigt: Europa ist zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammengewachsen. Eine gesamteuropäische nachhaltige Industriepolitik ist mehr denn je im Sinne einer gegenseitigen Unterstützung erforderlich. »Gute Industriepolitik« impliziert damit eine Renaissance der Industrie in vielen europäischen Ländern. Die europäischen Institutionen sind in der Pflicht, den Prozess einer nachhaltigen Erneuerung der Industrie in Europa auf den Weg zu bringen. Ohne eine intensivierte Zusammenarbeit der europäischen Nationen und ohne die finanzielle Unterstützung von »schwächeren« Nationen wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein.

Zu allen genannten Eckpunkten hat die IG Metall in den letzten Jahren Konzepte entwickelt. Sie zeigen: »Gute Industriepolitik« ist machbar! Zu ihrer Realisierung ist sie jedoch auf starke Partner in der Politik, in der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt in den Betrieben angewiesen. Angesichts der oben skizzierten, teils dramatischen Entwicklungen ist jedoch in jedem Fall auf dem Primat der Politik in einer demokratischen Gesellschaft zu bestehen. Ohne dieses Primat werden die kommenden Anforderungen nicht zu meistern sein. Die IG Metall wird hierzu ihren produktiven Beitrag leisten!

Die Handelspolitik der EU – Instrumente, Ziele, Eckpunkte

Bernd Lange

Die zunehmende Globalisierung stellt uns vor zahlreiche Herausforderungen. Falsch geregelt oder ungeregelt birgt sie die Gefahr eines Wettlaufs nach unten – auf Kosten von Arbeitnehmern, Umwelt- und Verbraucherstandards. Sie bietet, sozial und demokratisch gestaltet, aber auch die Chance, nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu steigern und Arbeitsplätze zu schaffen.

Handel im Zeitalter der Globalisierung

Die Weltwirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten einen drastischen Wandel durchlaufen. Diese Veränderungen werden den Handel auch in Zukunft prägen. Der Einfluss von Technologie, insbesondere der Digitalisierung, als Motor des Wandels spielt dabei eine wesentliche Rolle. Neue Technologien haben Unternehmenskosten gesenkt und neue, kostengünstige Kommunikationsmittel gefördert. Darüber hinaus wurden die Internationalisierung der Produktion und die Schaffung von globalen Wertschöpfungsketten angeregt. So werden Waren nicht mehr allein in Deutschland oder China hergestellt, sondern sind »made in the world«.

Der globale Waren- und Dienstleistungshandel hat sich seit 2004 mehr als verdoppelt, während das globale Bruttoinlandsprodukt um weniger als die Hälfte zugenommen hat. Trotz der kontinuierlich wachsenden Wirtschaftskraft vieler Schwellenländer gelang es der EU, einen hohen Anteil am Welthandel zu halten und sich weiter als größter Exporteur und Importeur der Welt zu behaupten.

Erst vor kurzem sind wir uns der Bedeutung von Dienstleistungen innerhalb der Weltwirtschaft bewusst geworden. Dabei hat der Anteil der Dienstleistungen am Gesamthandel stetig zugenommen. Dienstleistungen machen heute etwa 40 Prozent der EU-Gesamtexporte aus. Die EU ist der weltweit größte Dienstleistungsexporteur; an diesem Sektor hängen mehr als zehn Millionen europäische Arbeitsplätze.

Seit 2004 haben sich weltweite Investitionsströme mehr als verdreifacht. Investitionsströme in die EU haben sich in dieser Zeit sogar mehr als verfünffacht. Die EU ist mit jeweils ungefähr einem Drittel der weltweiten aus- und inwärts gerichteten Investitionsströme einer der größten Exporteure und Empfänger von ausländischen Direktinvestitionen.

Wie der ehemalige Generaldirektor der Welthandelsorganisation und EU-Handelskommissar Pascal Lamy betont, hat die Entstehung von internationalen Wertschöpfungsketten das »Merkantilismus-Paradigma« zum Besseren verändert. Der Anreiz für Länder, hohe Zölle für bestimmte Waren zu erheben, um diese Güter in ihrem eigenen Land zu erzeugen, hat stark abgenommen.

Erklären lässt sich dies mit der Tatsache, dass Importe zunehmende Bedeutung für die globalen, aber auch nationalen Wertschöpfungsketten haben. Viele Staaten sind davon abgerückt, allein die Bedeutung von Exporten für die Schaffung von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen hervorzuheben. Allein in Deutschland machen importierte Vorprodukte 40 Prozent des Wertes unserer Industrieexporte aus.

Angesichts dieser Lage ist Handelspolitik nicht mehr nur als Instrument zur Öffnung von Exportmärkten für Unternehmen zu begreifen, sondern verhilft darüber hinaus zur Kostenreduzierung der Einfuhren. Bei diesen Importen handelt es sich in vielen Fällen um Vorprodukte, die im eigenen Land weiterverarbeitet werden. Handelspolitik kann des Weiteren Investitionsströme erleichtern, neue Finanzierungsquellen erschließen und damit die eigene Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Importierte Rohstoffe, Vorprodukte und Dienstleistungen sind für unseren Export unerlässlich. Importe und Exporte sind deswegen zweifelsohne zwei Seiten derselben Medaille. Hohe und faire Standards bilden dafür eine Grundvoraussetzung.

Handel in internationalen Wertschöpfungsketten bedeutet eine wichtige Quelle für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission sind ca. 31 Millionen Arbeitsplätze in der EU, das heißt 14 Prozent aller Beschäftigten, abhängig von Exporten in den Rest der Welt.

Dennoch wird Handel nie eine magische Lösung für wirtschaftliche Probleme darstellen. Dazu bedarf es einer anderen makroökonomischen Politik in der EU. Zudem muss er sich unter den richtigen Bedingungen vollziehen. Studien der OECD weisen darauf hin, dass Handel eine wichtige Rolle bei der Schaffung von besseren Arbeitsplätzen spielt. Da sich die Vorteile von Handel allerdings nicht automatisch ergeben, benötigen wir Regulierungen, die die Handelspolitik ergänzen. Denn auch wenn das Gesamtergebnis der Internationalisierung positiver Natur ist, können Arbeitsplatzverluste in sensiblen Branchen oder sinkende Löhne in bestimmten Sektoren Folge von Handelsliberalisierung sein. Aus diesem Grund muss Handel Hand in Hand mit Investitionspolitik, starken Arbeitnehmerschutzvorschriften, Mindestlöhnen und der Unterstützung bei veränderten Arbeitsbedingungen gehen.

Aufgrund der Tatsache, dass viele Zölle weltweit bereits gesenkt oder komplett abgeschafft wurden, stehen zunehmend sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse im Mittelpunkt der Handelspolitik. Diese bestehen im Wesentlichen aus regulatorischen Standards. Da diese in vielen Fällen auch wichtige gesellschaftliche Werte wie den Schutz der Gesundheit, der Umwelt oder die Sozialpolitik betreffen und sich von Land zu Land teilweise drastisch unterscheiden, ist der Umgang damit sehr viel schwieriger als der mit Zöllen.

Ein ausschließlicher Fokus der Handelspolitik auf die Senkung von Zöllen und die Beseitigung nichttarifärer Hemmnisse geht deswegen in die falsche Richtung. Wir brauchen gute Regeln in umfassenden Handelsabkommen als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Wir müssen nachhaltiges Wachstum stimulieren, gleichzeitig aber Arbeitnehmer, Umwelt und Verbraucher schützen. Wir müssen dazu einen Rechtsrahmen schaffen, der durch die Stärkung von Vorschriften nach den höchsten Standards auf globaler Ebene Sozial- und Umweltdumping ausschließt.

In erster Linie muss sichergestellt sein, dass Handelspolitik den Interessen der Bürger, Verbraucher und Arbeitnehmer gerecht wird. Unsere Handelsabkommen müssen sich an den Vorteilen, die sie für das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger schaffen, messen lassen.

Handelspolitik in der EU: von der Vertraulichkeit der Verhandlungsräume ins Rampenlicht der Öffentlichkeit

Wie der Handel im Allgemeinen, hat auch die Handelspolitik der EU eine wichtige Entwicklung in den letzten Wochen, Monaten und Jahren durchlaufen und sich in meinen Augen deutlich positiv entwickelt.

Viele Jahre lang war die Handelspolitik der EU technokratisch geprägt. Transparenz und Einbeziehung der Zivilgesellschaft sowie der gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter ließen zu wünschen übrig. Einige Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass das Zusammenspiel zwischen der Europäischen Kommission und dem Ministerrat (Erstere verhandelt auf Grundlage eines Mandats des Rates) effizientes Handeln erleichterte, da es Handelspolitik auf Distanz zu protektionistischen, aber auch politischen Kräften hielt. Nationale und politische Interessen der EU wurden weitgehend durch informelle Kontakte mit dem privaten Sektor geformt. Dies war natürlich zutiefst undemokratisch und schrie nach Veränderung.

In den letzten zehn Jahren hat die EU zahlreiche Herausforderungen bewältigt: die bereits erwähnte Evolution global integrierter Lieferketten, die schrittweise Öffnung des internationalen Dienstleistungshandels und den Aufstieg von Schwellenländern. Diese Veränderungen verpflichteten Europa, die Rolle und Aufgabe seiner Handelspolitik zu überdenken. Leider war die Barroso-Kommission in ordoliberalen Dogmen verfangen und verstand Liberalisierung als alleinige Antwort.

Das Ergebnis dieses Reflexionsprozesses und die durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Verbesserungen sind beträchtlich. Mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags im Jahr 2009 wurde die Handelspolitik mit all ihren Aspekten in Bezug auf Handel, ausländische Direktinvestitionen, wirtschaftliche Fragen und geistige Eigentumsrechte unter die ausschließliche Zuständigkeit der EU und die Entscheidungsgewalt auf das Europäische Parlament übertragen. Als Ergebnis dieser Veränderungen und Kompetenzerweiterungen, auch wegen des sich wandelnden Charakters des internationalen Handels selbst, stand die EU-Handelspolitik vor der Herausforderung, ein breites Spektrum von Interessen konsolidieren zu müssen.

Zum einen die Positionen der Mitgliedsstaaten, welche in der Regel in zwei Hauptblöcke unterteilt werden können: der industrielle liberale Norden und der protektionistisch geprägte, defensivere Süden. Zum anderen das Europäische Parlament mit seinen demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertretern von inzwischen 28 Mitgliedsstaaten. Im Laufe der Jahre entwickelten sich immer weitere demokratische Stimmen in der Debatte über den internationalen Handel und die Globalisierung. Neben den bereits erwähnten Institutionen entdeckten Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Umweltgruppen, Verbraucherorganisationen und viele weitere Interessenvertreter das Thema für sich.

Die Diskussion ist inzwischen nicht mehr auf kleine Gruppen von Beamten und Interessenvertretern beschränkt. Die Ablehnung des Anti-Counterfeiting Trade Agreements (ACTA), ein Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums, war eine klare Demonstration des Einflusses der neuen Akteure im handelspolitischen Spiel: Eine beispiellose Mobilisierung innerhalb der Zivilgesellschaft und der Widerstand des Europäischen Parlaments gegen viele Webfehler im Abkommen führten schließlich zur Ablehnung und zum Scheitern von ACTA.

Nach Meinung vieler Beobachter hatte die Europäische Kommission unter ihrem Präsidenten Barroso nicht begriffen, dass sich die Spielregeln mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages vor allem im Hinblick auf Forderungen nach mehr Transparenz grundlegend geändert hatten. Offensichtlich hatte sie sehr mit der neuen Realität zu kämpfen und den Einfluss und das Selbstvertrauen der neuen Akteure unterschätzt.

Auch in der Post-ACTA-Zeit ist die EU-Handelspolitik nicht in der Versenkung verschwunden.

Vor allem die Verhandlungen zwischen der EU und den USA über das Transatlantische Freihandelsabkommen (engl.: Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) haben das Niveau der Diskussion auf eine neue Ebene gehoben und die Notwendigkeit für ein höchstmögliches Maß an öffentlicher Transparenz unterstrichen. Der Grad der Mobilisierung der Öffentlichkeit und die öffentliche Diskussion über TTIP ist höchstens mit den Gesprächen der World Trade Organization (WTO) in Seattle im Jahr 2001 vergleichbar, geht aber in meinen Augen, vor allem aufgrund des weitaus längeren Zeitraumes, in der sie stattfinden, weit darüber hinaus.

Die Handelspolitik der EU im letzten Jahrzehnt: eine Einschätzung aus sozialdemokratischer Perspektive

Die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament setzen sich mit Nachdruck für den Multilateralismus ein und betonen stets den positiven Beitrag, den ein gerechter Handel zur Verringerung der Armut, zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Wohlergehens leisten kann. Der weltweite freie und faire Handel erfordert wirksame, transparente und strenge Regeln auf globaler Ebene.

Multilaterale Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation

Das multilaterale, auf Regeln basierende und 160 Mitglieder umfassende System der Welthandelsorganisation (engl: World Trade Organization – WTO) mit seinem Streitbeilegungsverfahren ist der effizienteste und am besten legitimierte Weg zur transparenten und demokratischen Gestaltung und Ausweitung von Handelsbeziehungen. Multilateralismus ist daher nach wie vor unsere bevorzugte Option.

Allerdings hat sich die wirtschaftliche und politische Situation seit Gründung der WTO im Jahr 1995 dramatisch verändert. Schwellenländer wie Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika (die BRICS-Staaten), Mexiko und Indonesien wie auch die neuen CIVET-Gruppe (Kolumbien, Indonesien, Vietnam, Ägypten, Türkei) sind zu wichtigen Akteuren auf globaler Ebene geworden. Sie haben ihren Platz in der neuen Weltordnung eingenommen und vertreten ihre eigenen offensiven und defensiven Handelsinteressen. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen gestalten sich Verhandlungen im Rahmen der WTO komplex und äußerst schwierig. Das Ende der einstmals bipolaren Welt mit »armen und reichen« Ländern hat die Situation noch komplizierter gemacht. Zudem wurde die Lage durch die Finanz- und Wirtschaftskrise weiter verschärft.

Die EU muss alles unternehmen, um die Rolle der WTO als das am besten organisierte Organ der globalen wirtschaftspolitischen Steuerung in ihren drei wichtigsten Funktionsbereichen – der Rechtsetzung, der Überwachung von Vorschriften und ihrer Durchsetzung – zu unterstützen und zu verbessern.

Der Stillstand bei der Doha-Entwicklungsagenda gefährdet die erste Funktion der WTO. Die EU sollte nicht zulassen, dass diese Situation die WTO bei der Erfüllung ihrer anderen beiden Kernaufgaben beeinträchtigt.

Das Bali-Abkommen hat gezeigt, dass trotz aller Skepsis und Hürden in Teilfragen Fortschritte durchaus möglich sind. Die EU sollte nun gemeinsam mit weiteren WTO-Partnern auf diesen Erfolg aufbauen und Fortschritte in sensiblen Bereichen anstreben. Die jüngste Vereinbarung auf der neunten Ministerkonferenz in Bali hat keine Erfolge in umstrittenen Themen wie Landwirtschaft erzielt. Die WTO steht vor der schwierigen Aufgabe, sich selbst neu zu erfinden, um weiter relevant zu bleiben. Gleichzeitig muss sie ihre bisher erbrachten Leistungen verteidigen.

Die Arbeit an einer WTO-Reform sollte eine der Prioritäten der EU sowie aller weiteren WTO-Mitglieder bleiben. Es gilt Vorschläge zur Reform des WTO-Systems umzusetzen, um der Organisation mehr Wirksamkeit und Transparenz zu verleihen und eine stärkere Rechenschaftspflicht abzuverlangen. Wir fordern die EU-Kommission sowie den Rat dringend auf, sich politisch stärker für die Verbesserung des multinationalen Handelssystems einzusetzen. Ferner sollte Europa flexibler werden. Wir müssen unsere wirtschaftliche Macht und unseren politischen Geist nutzen, um Einfluss auf unsere Partner, vor allem die Vereinigten Staaten und China, auszuüben, damit eine Blockade überwunden werden kann. Der Weg in die Zukunft kann nur gemeinsam beschritten werden.

Auf längere Sicht fordern wir eine Regelung für Arbeitsnormen im Rahmen der WTO. Denn ob ein Land grundlegende Arbeitsnormen einhält oder nicht, hat natürlich Auswirkungen auf den Handel. Um der Missachtung dieser Normen ein Ende zu bereiten, benötigen wir einen Durchsetzungsmechanismus, möglicherweise in Form eines handelsbezogenen Übereinkommens über Arbeitsnormen ähnlich dem TRIPS-Abkommen welches Rechte des geistigen Eigentums regelt.

Für lange Zeit war die WTO eine klare Priorität der Europäischen Union. Seit sich aber herauskristallisierte, dass die multilateralen Gespräche in absehbarer Zeit nicht zu einem umfassenden Abkommen führen würden, ist die EU-Handelspolitik dazu übergegangen, bilaterale Handelsabkommen zu forcieren. Dass man den politischen Realitäten Rechnung trägt, ist verständlich, dennoch ist dieser Kurswechsel bedauerlich, hat sich die WTO doch als effektives Forum zur Regelung von Handelsstreitigkeiten und zum Abbau von Protektionismus erwiesen.

Regionale und bilaterale Handelsabkommen – Global Europe: Competing in the world

Aufgrund dieser Entwicklungen hat die EU im vergangenen Jahrzehnt regionale und bilaterale Handelsverhandlungen aufgenommen, zum Beispiel mit der südamerikanischen Staatengemeinschaft MERCOSUR, Kanada, Indien, Kolumbien und Peru, Südkorea, Singapur, Japan und natürlich den Vereinigten Staaten.

Regionale und bilaterale Handelsabkommen können zwar nützlich sein, um eine WTO-plus-Agenda voranzubringen, wenn sich ein Konsens in der WTO als zu schwierig erweist – beispielsweise wenn es darum geht, Sozial- und Arbeitsnormen durchzusetzen. Jedoch besteht auch die Gefahr, dass derartige Abkommen das multilaterale System untergraben und der Wirtschaft schaden, indem sie ein unübersichtliches, inkompatibles Geflecht an Regelungen für verschiedene Länder schaffen.

Dieser als »Spaghetti-bowl«-Effekt bekannte Zustand beschreibt ein für Marktteilnehmer verwirrendes Geflecht an divergierenden Regeln und Vorschriften, deren Komplexität es Unternehmen schwer oder unmöglich macht, von den Vorteilen von Handelsabkommen zu profitieren. Es ist deshalb offensichtlich, dass in bilateralen und regionalen Abkommen möglichst vergleichbare und kompatible Normen gelten müssen, um diesen »Spaghetti-bowl«-Effekt zu vermeiden.