E. S. Schmidt
Welt der Schwerter
Band 1
High Fantasy
Inhaltsverzeichnis
Welt der Schwerter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Danksagung
Karte
Impressum
Orientierungsmarken
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Nun also wurde mir die Salbung zuteil, und ich zittere. Ist es Ehre oder Bürde, Vorrecht oder Fluch?
– 14. Akh’Eldash, 1. Eintrag, Vers 3
Selbst sein Husten war der eines Tyrannen: gewaltig, derb und von despotischer Lautstärke. Speichel sprühte von Ruothgars Lippen, und sein Gesicht rötete sich vor Anstrengung.
Siluren senkte den Blick. Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren stand er im königlichen Gemach. Vermisst hatte er diese Audienzen nicht, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er auch die Begegnungen beim gemeinsamen Mahl vermieden. Hoffentlich gesundete Ruothgar bald und ging wieder auf die Jagd oder brach aus irgendeinem Anlass in die Provinz auf.
Der Hustenanfall verebbte, und Ruothgar sank keuchend zurück. Jetzt erst trat Siluren in den Geruch nach altem Schweiß und dem Nachttopf unter dem Bett. Er verneigte sich. »Du hast mich rufen lassen, Vater.«
»Ja. Dich und Coridan.«
Es ging also nicht um etwas, das er getan oder versäumt hatte, sonst hätte Ruothgar mit der Zurechtweisung nicht auf Coridan gewartet.
Kanzler Panald trat hinter den Samtvorhängen vor, den Blick gesenkt und die Hände vor dem Bauch gefaltet.
»Warum ist er hier?«
»Der Kanzler muss über die wichtigen Dinge im Schloss Bescheid wissen.« Ruothgar wedelte mit einem leeren Glas, und sein Mundschenk füllte es neu. Blauer Felarer. Der schwere Rote war Ruothgars Gesundheit sicher nicht zuträglich, aber kein Wort Silurens würde den König je von eigenen Wünschen oder Plänen abrücken lassen.
»Ist Cor denn im Schloss?«
Ruothgar schnaubte. »Er hat Besseres zu tun, als in der Stube zu hocken und seine Nase in Papier zu stecken.«
Siluren reagierte schon lange nicht mehr auf diese Sticheleien. Hoffentlich konnte er bald zu seiner Lektüre von Shin Fus Werk zurückkehren. Vermutlich war seine Übersetzung das einzige Exemplar östlich der erstarrten Riesen. Welch wunderbarer Schatz! Schon die ersten klugen Worte dieser Abhandlung über den Krieg hatten ihn in ihren Bann gezogen, vor mehr als siebenhundert Jahren niedergeschrieben und noch immer so wahr. Nun lag das Buch auf Silurens Bett wie eine wartende Geliebte, während er hier Zeit vertat.
Siluren trat an eines der Fenster. Unten kehrten Diener den Neuschnee von den Wegen. Wie sehr er sich nach dem Frühling sehnte! Früher hatte Ruothgar ihn stundenlang in der Kälte exerzieren lassen, damit er sie zu lieben lernte – umsonst. Siluren hasste sie ebenso wie die Trostlosigkeit der Landschaft und den Mangel an frischem Obst und Gemüse.
Ein Reiter galoppierte heran, und obgleich die Bleiglasfenster die Sicht verzerrten, wusste Siluren, wer der Mann war. Schon der Ulphan, auf dem er ritt, war etwas Besonderes. Ulphane hatten von ihren Vorfahren, den Wisenten, eine gewisse Schwerfälligkeit geerbt, doch einem Züchter in den Seelanden war eine elegantere, schnellere Erblinie mit rotbraunem Fell gelungen. Nur eine Handvoll Männer in Galathräa besaßen einen solchen Kupfer-Ulphan, und nur einer von ihnen pflegte diese Kostbarkeit mit so halsbrecherischer Kühnheit über den gefrorenen Boden zu jagen. Das Tier schlitterte, als der Reiter es auf die Hinterhand zwang, und war kaum zum Stehen gekommen, als er aus dem Sattel sprang. Ehe ein Diener die Zügel übernommen hatte, verschwand er aus Silurens Blickfeld.
Siluren wandte sich um. »Cor wird gleich hier sein.«
Ruothgar hatte derweil das nächste Glas Wein geleert. »Gut.«
Schweigen senkte sich erneut über den Raum. Ruothgar starrte auf den Schädel eines wilden Wisents, der ihm gegenüber die Wand zierte. Die vier Hörner, jedes so lang und dick wie ein Männerbein, machten deutlich, wie mächtig das Tier zu Lebzeiten gewesen sein musste. Ruothgar hatte es mit dem Bogen erlegt, als er gerade einmal zehn Jahre alt gewesen war.
Ungezählte Male hatte Siluren diese Geschichte gehört, stets gefolgt von einem Vortrag darüber, was von einem zukünftigen König erwartet wurde. Heute genügte Ruothgars Blick dorthin, um all das in Erinnerung zu rufen, dazu jede enttäuschte Erwartung, jeden bitteren Vorwurf und vor allem jenen Höhepunkt des Versagens: den unseligen Karindenbock.
Energische Schritte näherten sich, dann klopfte es. Auf einen Wink des Königs öffnete der Türdiener, und klirrenden Schritts trat Coridan ein. Er roch nach Ulphan, nach Kälte und Schnee und hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, seinen wolfspelzverbrämten Mantel abzulegen. Vor Ruothgars Bett sank er auf ein Knie und neigte den Kopf. »Majestät.«
Coridans Haltung drückte eine tief empfundene Ehrerbietung aus, um die Siluren ihn beneidete. Wie gerne hätte er seinem Vater und König solchen Respekt entgegengebracht.
»Steh auf, Sohn.« Ruothgar hielt Coridan die Hand hin. Der küsste den königlichen Siegelring, trat einen Schritt zurück und nickte Siluren zu, der den Gruß auf die gleiche verhaltene Art erwiderte.
Ruothgar stemmte sich hoch, und der Diener beeilte sich, ihm Kissen in den Rücken zu schieben. Schließlich saß der König aufrecht und betrachtete seine Söhne, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Zwar hatten beide Ruothgars breite Schultern und den edlen Wuchs geerbt, doch während Siluren die weichen Züge und das blonde Haar seiner Mutter besaß, war Coridan kantig und schwarzhaarig. Selbst frisch rasiert lag ein Bartschatten auf seinem Kinn. Siluren war zwar größer, Coridan dafür breiter und muskulöser.
Doch so stattlich sie beide auch waren, Siluren wusste, dass das Strahlen in den Augen des Königs nicht ihm galt. Coridan, dessen Mut ein Jahr zuvor die Schlacht von Carondim gewendet hatte, war ganz nach dem Herzen des Vaters geraten. Er wäre der ideale Thronfolger gewesen. Doch seine Mutter war eine einfache Magd, und so stand ihm der Thron nicht zu.
Diese Tatsache bedauerten sie wohl alle drei.
»Seit Monaten«, begann Ruothgar, »liegt mir Panald in den Ohren, dass ich endlich meine Nachfolge regeln soll, und ich denke, er hat recht.«
»Es ist nur ein Schnupfen«, sagte Cor. »In ein paar Tagen bist du wieder auf den Beinen.«
Im ersten Moment war Siluren geneigt, ihm zuzustimmen. Er konnte sich den Doppelthron nicht ohne Ruothgar vorstellen. Der König hatte über vierzig Jahre alt werden müssen, bis sein Vater nach der Akh’Eldash geschickt hatte, und er würde seine Macht so schnell nicht wieder hergeben. Das hatte er Siluren oft genug unter die Nase gerieben.
Doch es war erschreckend, wie schnell Ruothgar in den letzten Wochen gealtert war. Jahre der Unmäßigkeit im Arbeiten wie im Feiern forderten ihren Preis. Selbst die unwillige Handbewegung, die er jetzt machte, wirkte ungewohnt fahrig.
»Ich habe den Schwirrer heute fliegen lassen. Die Tempelschwestern werden die Zeremonie vollziehen und die Akh’Eldash salben. Sobald sie hier ist, heiratet ihr.« Er musterte Siluren scharf, erwartete wohl Widerspruch. Doch Siluren hatte immer gewusst, dass es eines Tages geschehen würde. Er hatte nur gehofft, dass ihm die Ehe mit einer Unbekannten und die Bürde der Krone noch eine Weile erspart bleiben würden.
Ruothgar wirkte enttäuscht über Silurens Schweigen. »Ein toter Fisch könnte mehr Begeisterung zeigen als du.«
»Wann wird der Kanzler aufbrechen?« Cor lenkte mit dieser Frage die Aufmerksamkeit des Königs wieder auf sich. Noch immer war Siluren dankbar für diese kleinen Gesten des Schutzes.
Ruothgar erwiderte: »Ich habe nicht vor, Panald zum Tempel zu senden. Diese Ehre wird dir zuteilwerden.«
Cor war sichtlich überrascht. »Du sendest mich, um die Akh’Eldash zu holen?«
»Wer wäre besser geeignet, die Braut des zukünftigen Königs zu beschützen, als dessen Bruder?« Ruothgar winkte dem Türdiener. »Ruf den Schreiber her – und du, Cor, stellst dir deine Truppe zusammen.«
»Jawohl, Vater.«
»Wähle keine allzu prachtvollen Burschen, sonst verfängt sich die Akh’Eldash in Wunschträumen, die Siluren nur enttäuschen kann.« Er lachte. »Seine Mutter hat es jedenfalls genossen, ein wenig rauer angepackt zu werden.«
Man hatte Siluren seine Mutter als zart, fast feenhaft beschrieben, eine Fünfzehnjährige, die nur das Leben im Tempelstift gekannt hatte. Was mochte sie empfunden haben, als der grobschlächtige, fast dreimal so alte Ruothgar in der Hochzeitsnacht über sie hergefallen war?
Diesmal nützte ihm sein Schweigen nichts – Ruothgar las den Unwillen in seinen Augen. »Glaub es ruhig. Deine Mutter hat sich nie beklagt.«
»Immerhin hat sie an einem Leben mit dir nicht sonderlich festgehalten.«
Ruothgar erstarrte. Sein weingerötetes Gesicht verdunkelte sich noch mehr. »Hinaus!«
Siluren gehorchte wortlos. Mit schnellen, hämmernden Schritten durchquerte er Salon und Vorzimmer. Erst im Kabinett wurde ihm bewusst, dass er floh. Er blieb stehen und ballte die Fäuste, um das Zittern zu bezwingen.
Coridan war ihm gefolgt, trat nun neben ihn. »Das hättest du nicht sagen sollen.«
»Er auch nicht.«
Natürlich hatte Ruothgar seine Frau geliebt. Der No’Ridahl, der Kuss der Göttin, sorgte dafür, dass jeder Mann in Liebe zur Akh’Eldash entbrannte, sobald er das Mal auf ihrer Stirn erblickte. Damit garantierte die Göttin seit über tausend Jahren, dass der König seine Macht mit dem Tempel teilte.
Doch solange Siluren lebte, war der Doppelthron auf der rechten Seite leer gewesen.
»Ich frage mich«, sagte Coridan, »warum er mich schickt. Es war immer die Aufgabe des Kanzlers, die Akh’Eldash nach Hohenvarkas zu geleiten.«
Ruothgars Plan war leicht zu durchschauen und entsprach dessen Sicht auf das Leben. Der König hatte nie begriffen, dass Coridan trotz aller Ähnlichkeiten ganz anders war. Er durchschaute einen solchen Plan nicht einmal, wenn er so offen vor ihm lag.
»Er hofft, dass du die Akh’Eldash entschleierst, in Liebe entbrennst und mir den Thron streitig machst.«
Vermutlich wäre das die beste Lösung. Coridan den Thron einfach zu überlassen, war unmöglich. Widerspruch würde sich regen, Begehrlichkeiten, alte Feindschaften und Bündnisse neue Kraft bekommen, und schließlich würde ein Kampf um die Herrschaft das Reich verwüsten, wie zur Zeit des Bruderkrieges. Wenn Cor allerdings den Thron im Handstreich nähme und die Ehe mit der Hohepriesterin seinen Anspruch bestätigte, konnte er seine Position womöglich halten.
»Das«, sagte Coridan, »wird niemals geschehen.«
Innerlich seufzte Siluren, aber er sagte nur: »Ich weiß.«
***
Lynn trat auf die Balustrade hinaus, und wie stets war der Ausblick beeindruckend. Die weißen Gebäude des Tempelstifts hingen an dem steilen Südhang des Thul-Massives wie die Nester der Bergschwalben, und dieser Balkon war einer von Lynns Lieblingsorten. Von hier aus sah man über den Hof hinweg und an den Felsnadeln der drei Ammen vorbei weit hinaus in die Ebene der Riefenau. Dieser weite und doch geführte Ausblick bot mit dem Wechsel der Jahreszeiten immer neue Eindrücke. Es war wunderbar zu verfolgen, wie sich langsam aber stetig der Frühling näherte, wie in der Ferne die Wiesen bereits grünten, während zu Lynns Füßen noch festgetretener Schnee den Hof bedeckte.
Lynn hatte erwartet, auf der Balustrade mehr Kanonissen vorzufinden, aber da war nur Thaja. »Wo sind denn die anderen?«
»Bei Beringa. Um sie hübsch zu machen.«
Lynn schnaubte. »Ob Tharundin sich auch so viele Gedanken über sein Aussehen gemacht hat, bevor er hier eingeritten ist?«
»Natürlich!« Thajas Augen leuchteten. »Sieh ihn dir doch nur an!« Sie beugte sich vor und sah so aufgeregt nach unten, als wäre es ihr Verlobter, der im Hof gerade seinen Ulphan neben dem seines Vaters zügelte. Doch es war Beringas sehnlichst erwarteter Cousin und Bräutigam, Tharundin von Tremagant. Dabei war der Frühling, die klassische Jahreszeit für die Brautschau, gerade erst angebrochen. Dass Tharundin so früh kam, sprach auch für seine Ungeduld.
Lynn stützte die Arme auf die steinerne Brüstung und musterte den Anwärter kritisch. Die rotgefärbten Hörner seines Ulphans, die auffälligen Pluderhosen und das samtene Wams waren ziemlich übertrieben, und was bei einem so jungen Mann vielleicht noch angehen mochte, wirkte bei seinem Vater geradezu lächerlich. »Welch prächtiges Beispiel für den Nachwuchs unseres Hochadels.«
»Ich weiß gar nicht, was du hast.« Thaja schüttelte den Kopf. »Der junge Markgraf ist doch wirklich ansehnlich.«
»Noch ist er kein Markgraf, sondern bloß Sohn. Trotzdem läuft er schon, als trüge er sein Schwert nicht an der Seite, sondern zwischen den Beinen.«
Zu komisch, wie verlegen Thaja wurde. Man konnte zusehen, wie sich ihre Wangen verdunkelten, als drehe jemand am Docht einer Lampe. »Warum sagst du immer solche Dinge?«
»Stimmt es etwa nicht?« Lynn löste sich von der Brüstung und stolzierte umher, die Arme angewinkelt, die Hüfte nach vorne gedrückt. »Seht her«, sagte sie mit tiefer Stimme, »ich bin der Sohn des Markgrafen. Ich mache alle Frauen glücklich.«
Thaja hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, aber es lag auch ein wenig Furcht in ihren Augen. Auch sie würde in wenigen Wochen den Mann kennenlernen, dem ihr Vater sie versprochen hatte. Sie wusste nur, zu welcher der adeligen Familien er gehörte und dass er zwanzig Jahre älter war als sie selbst. Da hatte Beringa es doch besser getroffen. Immerhin war ihr Bräutigam ein entfernter Cousin, mit dem sie als Kind bereits gespielt hatte, und etwa in ihrem Alter. Trotzdem beneidete Lynn sie nicht. Beringa würde bald schon feststellen, wie sehr sich die Männer im wahren Leben von den Helden der romantischen Balladen unterschieden, die sie sich immerzu rezitieren ließ. Der Tempel mochte ein Käfig sein, aber er war Lynn lieber als derjenige, den Beringa im Begriff war, zu betreten.
Jetzt begrüßte die Priorin den Markgrafen und seinen Sohn. Aus der Entfernung ließen sich keine Worte verstehen, und so belegte Lynn die Szene mit einem eigenen Dialog. Sie lispelte: »Ich freue mich immer, Kundschaft begrüßen zu können.« Dann senkte sie die Stimme. »Wir kommen, um die neue Ware zu besehen.«
Thaja verpasste ihr einen Rippenstoß. »Du bist unmöglich.«
Lynn tat entrüstet. »Ein Mann wird sich doch noch umsehen dürfen, oder?«
Natürlich bestand das Eheversprechen zwischen Tharundin und Beringa schon seit Jahren, aber Lynn wusste auch, wie wenig das für den Bräutigam bedeutete. Wahrscheinlich hatte sich der junge Fürst die Hörner schon an den Mägden im Schloss seines Vaters abgestoßen. Mädchen hingegen sperrte man in ein Damenstift, bis der Bräutigam geruhte, sie abzuholen.
Thaja schüttelte den Kopf. »Manchmal denke ich, du magst Männer generell nicht.«
»Von mir aus hätte die Göttin sie nicht zu erschaffen brauchen.«
»Aber ohne Männer – wer würde uns Frauen beschützen?«
»Ohne Männer«, gab Lynn zurück, »wovor müssten wir Frauen beschützt werden?«
»Und du wunderst dich, dass dein Vater keinen Gatten für dich findet.«
»Wundern? Ich habe sie doch alle mit Absicht vergrault.«
Thaja grinste und zitierte den Weisen von Grent: »Wohl dem, der wünscht, was er hat.«
Unrecht hatte sie nicht. Als Lynn mit sieben Jahren in das Stift gekommen war, war sie bereits versprochen gewesen – doch ihr vierzehn Jahre älterer Bräutigam war in irgendeiner Schlacht gefallen. Ihre fehlende Trauer entsprang nicht der Herzlosigkeit – sie hatte den Mann niemals kennengelernt.
Inzwischen war sie mit ihren neunzehn Jahren zu alt, für ihren Vater bestand kaum noch Aussicht, jemals einen Kandidaten für sie zu finden. Obwohl sie im Stift auf ihre Aufgaben als zukünftige Edeldame und Mutter bestens vorbereitet worden war. Sie hatte alles erlernt, was ein Mann des Adels von seiner Ehefrau billigerweise erwarten konnte: ein wenig Lesen und Schreiben – nicht zu viel, denn das machte die Augen hässlich –, ein wenig Reiten und die Falknerei – aber nicht so viel, dass sie ihren Gatten dabei würde beschämen können. Sie kannte die Geschichte ihres Landes, konnte ihren Kindern die Religion nahebringen und das Personal herumkommandieren. Doch was half alles Sticken, Musizieren und Gedichte Vortragen, wenn sie ihren zukünftigen Gatten in Grund und Boden zu reden vermochte? Und, so hatte es ein Anwärter einmal formuliert, was half ihr Verstand, wenn sie nicht den Anstand besaß, nicht zu zeigen, wie viel sie davon besaß?
Ihre beiden jüngeren Schwestern, die ebenfalls im Stift gelebt hatten, waren jedenfalls schon verheiratet, denn trotz aller Bemühungen ihres Vaters hatte keiner der Kandidaten eingewilligt, statt des versprochenen fügsamen Mädchens die kratzbürstige Lynn zu ehelichen.
Lynn war das ganz recht. Sie hatte keine romantischen Vorstellungen vom Eheleben und nicht das Bedürfnis, einem herrschsüchtigen Gatten das Haus zu führen und ihm nach seinem Gutdünken zu Willen zu sein. Viel lieber wäre sie als Anwärterin und später als Heilige Schwester im Tempel geblieben. Sie hatte mehr Zeit ihres Lebens im Hochstift des Haupttempels verbracht als im zugigen Wasserschloss ihrer Eltern. Hier fühlte sie sich geborgen, dies hier war ihr Zuhause. Aber die Priorin hatte das abgelehnt. »Gehorsam«, hatte sie gesagt, »Demut und Unterwerfung unter die Gesetze der Schwesternschaft. Das wird dir schwerfallen, Lynneth. Du wirst daran zerbrechen. Vorerst sehe ich deinen Platz nicht hier.«
Offenbar gab es für eine Frau nur die Wahl, wem sie gehorchen wollte, nicht ob. Und so würde sie in wenigen Monaten zu ihrer jüngeren Schwester Ella ziehen, und helfen, deren rotznäsigen Sohn zu hüten, und was so in den nächsten Jahren an Blagen noch dazukommen mochte. Eigentlich war Lynn mit ihren neunzehn Jahren jetzt schon zu alt für das Tempelstift, aber es hatte Ella einige Zeit gekostet, ihren Gatten zu überreden, Lynn überhaupt aufzunehmen. Lynn würde die ewige Tante sein, mehr geduldet als erwünscht, aber damit würde sie schon fertig werden.
Schwerfallen würde ihr nur, all das hier zu verlassen. Schwester Tharinas Lektionen würde sie zwar nicht vermissen – Kinn hoch und Schultern zurück, junge Damen! Eine Frau von Stand wahrt stets Haltung! –, aber sie genoss das unbeschwerte Leben im Kreise ihrer Freundinnen. Der einzige wirkliche Schmerz in Lynns Leben war, dass diese Freundinnen nach und nach fortgingen. Jeder Abschied machte ihr erneut das Herz schwer. Nicht nur, weil sie die Mädchen niemals wiedersehen würde, sondern auch, weil sie, so sehr sie ihnen ein Leben angefüllt mit Liebe und Freude wünschte, doch immer das Schlimmste befürchtete. Wie oft hatte sie in späteren Briefen Kummer und Enttäuschung zwischen den Zeilen lesen müssen.
Nun war also Beringa an der Reihe. Diese romantische Seele, die nur darauf wartete, ihren zukünftigen Gatten mit all ihrer Liebe zu überschütten. »Ich hoffe«, sagte Lynn, »Tharundin erkennt, was er an ihr hat.«
Schweigen antwortete ihr, und als Lynn sich umblickte, hatte Thaja den Kopf in den Nacken gelegt und starrte bewegungslos in den Himmel.
»Fühlst du dich gut?« Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Thaja zu Boden stürzte und in Zuckungen verfiel.
Thaja streckte den Arm aus und zeigte gen Himmel. »Ist das ein Schwirrer?«
Also kein Anfall. Erleichtert hob Lynn den Blick und kniff gegen das gleißende Sonnenlicht die Augen zusammen. Ein dunkler Punkt näherte sich dem Turm, in dem die Schwirrer gehalten wurden. Er beschrieb eine Kurve und ein Sonnenstrahl ließ das Blau der Deckflügel schillern.
Ob sie Schwester Albirga Bescheid geben sollten? Aber vermutlich war die ohnehin dort oben und hatte die Ankunft des Boten längst bemerkt.
Die Besucher waren im Haus verschwunden und es blieb nicht viel mehr zu sehen als die Stallburschen, die sich um die Ulphane kümmerten. »Komm«, sagte Lynn, »lass uns nach Beringa sehen. Die Arme ist bestimmt schon ganz aufgeregt.«
Die beiden verließen ihren Aussichtsposten und begaben sich in den Salon, wo eine Schar aufgeregter Mädchen um Beringa herumflatterten. Sogar die kleine Sibyllin steuerte ihre Ratschläge bei.
»So wird das nichts. Die Zöpfe sind viel zu fest.«
»Lass mich mal die Schleife binden.«
»Du machst die Wangen zu rot. So sieht sie ja aus wie eine Küchenmagd.«
Lynn lächelte über das Durcheinander und fühlte sich seltsam erhaben über den Aufruhr. Beringa drehte sich auf dem Polster zu ihr um. »Endlich bist du da. Du begleitest mich doch, oder?«
»Natürlich. Das habe ich dir doch versprochen.«
Jedes Mädchen ging mit einer Ehrendame zu den Gesprächen mit dem Anwärter, denn wenn auch die wesentlichen Punkte des Ehevertrages schon längst zwischen den Vätern ausgehandelt worden waren, so ließ man den jungen Leuten doch die eine oder andere kleine Entscheidungsfreiheit. Diese Bereiche wollten geklärt und schriftlich festgehalten sein, bevor die Priorin ihre Schützlinge ziehen ließ. Da die Priorin zur Neutralität verpflichtet war, hatte Lynn bei diesen Verhandlungen schon oft als scharfzüngige und entschlossene Advokatin ihrer Freundinnen fungiert.
»Aber«, sagte Beringa, »sei nicht zu streng mit Tharundin, ja? Er ist so ein Herzensguter.«
Lynn lächelte. »Keine Sorge. Tharundin wird sich heute Abend glücklich preisen, deine und nicht meine Hand erhalten zu haben.« Sie betrachtete mitleidig Beringas völlig überschminkte Augen. »Soll ich Blinthe rufen lassen?«
»Oh ja, bitte! Lass Blinthe kommen!«
Lynns Zofe konnte mit ihren Farben selbst ein pausbäckiges Engelchen wie Beringa zur Schönheit formen. Doch als sich Lynn jetzt an die Aufwärterin wandte, die gerade frisches Gebäck brachte, läuteten die Glocken.
Abrupte Stille senkte sich über die Mädchen, und sie tauschten fragende Blicke. Welchen Grund gab es, sie zu so ungewöhnlicher Zeit zusammenzurufen? Lynn dachte an den Schwirrer und Sorge kroch in ihren Magen. Überraschende Nachrichten waren selten gute.
Tuschelnd und eng zusammengedrängt liefen die Mädchen die lange Treppe in den Anbetungssaal hinunter, begleitet vom beunruhigenden Ruf der Glocken. Unterwegs stießen die Tempelschwestern zu ihnen, offenbar genauso überrascht wie sie. Gemeinsam drängten sie in den Saal und stellten sich jede vor eines der Kissen, die in Reihen auf dem Boden lagen. Keine von ihnen kniete darauf nieder. Es war unwahrscheinlich, dass man sie zur Anbetung zusammengerufen hatte.
Die Priorin erwartete sie schon. Sie stand an der Stirnseite des Saales, direkt vor der Tür, die ins Heiligtum der Erdmutter führte. Neben ihr stand Schwester Albirga, auf deren Gewand überall blau schillernde Schuppen hafteten. Die Schwirrer waren gerade in der Häutung.
Die Priorin hob die Hände und wartete, bis die Gruppe ihrer Schutzbefohlenen ruhig war. Dann legte sie die Fingerspitzen vor dem Bauch zusammen. »Meine lieben Töchter und Schwestern«, begann sie. »Vor wenigen Augenblicken ist ein Schwirrer des Königs in unserem Turm gelandet. Der König hat entschieden, dass Prinz Siluren sich noch in diesem Jahr vermählen soll. Es ist an der Zeit, dass die Göttin aus eurem Kreis seine Braut erwählt. Bis dies geschehen ist, müssen alle anderen Pläne ruhen.«
Für einen eisigen Augenblick herrschte absolute Stille. Dann schluchzte Beringa auf und brach in Tränen aus.
***
Aus den Nüstern der Ulphane dampfte der Atem in den klaren Morgen, das Klappern ihrer Hufe hallte über den Schlosshof von Hohenvarkas. Es war kalt, aber nicht mehr ganz so frostig wie in den letzten Tagen. Coridan zog seinen Sattelgurt nach und blickte auf, als er Huftritte hörte. Dendar kam herangeritten, grinsend mit seinem viel zu breiten Mund, der sein Gesicht zerschnitt wie eine Mondsichel.
Auch er war der Bastard eines Fürsten, doch Dendars Vater hatte ihn nie als Sohn anerkannt. Dabei zeigten schon die rötlichen Haare, dass er aus dem Hause DeHellin stammte. Er hatte auch die kurze Nase und sogar die schiefen Schneidezähne seines Vaters geerbt.
»Guten Morgen, mein Prinz!«
Mit dieser Anrede verspottete er Coridan bereits seit Kindertagen. Natürlich stand Coridan aufgrund des minderwertigen Blutes seiner Mutter dieser Titel nicht zu. Dennoch hatte er das Recht, einen gehörnten Ulphan zu reiten, denn sein Vater hatte ihm eine verwaiste Grafschaft in den Bergen als Lehen zugesprochen. So war Coridan immerhin ein Graf, was Dendar nicht von sich behaupten konnte. Doch das tat seiner immer guten Laune keinen Abbruch. »Wie ich sehe, haben die Stallknechte deinen Jorand fein gemacht.«
Es dauerte einen Moment, bis Coridan begriff, worauf Dendar anspielte. Die Knechte hatten Jorands rötliches Fell gestriegelt, bis es trotz der Winterwolle glänzte wie Kupfer, und ihm die vier kurzen, gebogenen Hörner poliert. Dagegen sprach nichts, doch zu allem Überfluss hatten sie silberne Aufsätze auf die Spitzen gesetzt.
Coridan knurrte unwillig. Er zupfte den Tand ab und drückte ihn einem der Diener in die Hand.
»Wenigstens zu diesem Anlass hättest du die Hörner einfärben können«, spottete Dendar. »Du siehst aus wie ein Bauer.«
»Dann bist du wohl die Bäuerin.«
Dendars Tier besaß keine Hörner, denn ohne Titel auf einem gehörnten Ulphan zu reiten, hätte ihn den Kopf gekostet. Sein Ulphan war weiblich, ebenso wie die vier Zugtiere vor der Kutsche. Neben den massigen Kühen wirkte Jorand, der schlanke Renner, geradezu zierlich, und klein im Vergleich zu den riesigen, schwarzen Bullen, deren Widerrist auch schon mal einen ausgewachsenen Mann überragen konnte. Aber er besaß Hörner, und das allein war das Standesmerkmal, auf das es ankam.
Coridan ordnete Sattelblatt und Steigbügel. »Die Küche lässt auf sich warten. Vielleicht siehst du mal nach.«
Dendar drehte sich im Sattel um. »Ich glaube, sie kommen gerade.«
Ein helles Lachen klang zu ihnen herüber, zwei Mägde erschienen in der Seitentür des Westflügels. Als sie die wartenden Männer sahen, strafften sich ihre Körper, und ihre Mienen wurden ernst. Ihnen folgte die ältliche Köchin in Begleitung Silurens, dem sie gerade kokett in die Seite stieß. »Ihr flunkert doch!« Dann fiel ihr Blick auf Coridan und das Lächeln schwand.
Ähnliches geschah oft, nicht nur bei der Köchin, die als Silurens Amme ein besonderes Verhältnis zu dem Prinzen hatte. Immer wieder sah Coridan Furcht in den Augen der Dienerschaft, wenn ihre Blicke ihn trafen. Zu ähnlich war Coridan seinem Vater, zu sehr erinnerte er die Menschen an den König, der aufbrausend und unberechenbar war, unmäßig in allem, was er tat, sowohl in seiner Großzügigkeit als auch in seiner Grausamkeit. Niemand fühlte sich sicher in Ruothgars Nähe.
Wie anders reagierten die Leute auf Siluren! Seine Freundlichkeit war ebenso verlässlich wie sein Mitgefühl. Er sah die Menschen, sah jeden Einzelnen, ob es sich um einen Fürsten oder um einen Diener handelte – oder um den Bastard, der sein Halbbruder war.
Siluren trat jetzt auf diesen zu. »Ich wollte dir eine sichere Reise wünschen.«
Coridan zuckte leichthin die Achseln. »Es ist keine gefährliche Strecke. In einem Halbmond wirst du deine Braut in den Armen halten.«
»Meine Braut.« Siluren seufzte.
»Wenn die Erdmutter dir eine hässliche Trine erwählt, gebe ich sie zurück.«
Siluren musste lächeln. »Ich werde sie lieben – der No’Ridahl zwingt mich ja dazu. Aber sie …« Er ließ den Satz unbeendet, und Coridan wusste, warum.
Über die letzte Akh’Eldash, Silurens Mutter, wurde im Schloss nur selten gesprochen. Ihr Tod lag über zwanzig Jahre zurück, eine halbe Ewigkeit. Als sie Siluren geboren hatte und gestorben war, war Coridan ein Jahr alt gewesen, und was er über die Akh’Eldash wusste, stammte aus dem Mund anderer.
Offenbar war sie zierlich gewesen, sanft und freundlich, aber auch erstaunlich willensstark für eine Fünfzehnjährige. Man sprach von ihrer Güte, ihrer Disziplin und ihrem Pflichtbewusstsein. Niemals aber hatte er irgendjemanden sagen hören, dass sie Ruothgar geliebt habe.
»Die Akh’Eldash wird jung und formbar sein«, sagte Coridan. »Manche Fürsten senden ihre Töchter schon mit sechs Jahren ins Damenstift. Du bist der Kronprinz. Sie wird dich anhimmeln.«
Siluren nickte mit saurer Miene. »Ich werde also ein unmündiges Kind heiraten.«
»Das hab ich nicht …«
»Schon gut, Cor. Du musst mich nicht aufmuntern.« Siluren griff in die Manteltasche und holte ein hölzernes Kästchen heraus. »Das gehörte meiner Mutter.« Er strich mit dem Daumen über die feinen Intarsien – ein geflügelter Löwe, das Wappentier des Hauses Etharold. »Es ist eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ich von ihr habe.«
»Soll ich es deiner Braut geben?«
»Es ist ein Pfand meiner besten Absichten, ein Zeichen dafür, dass ich bereit bin, mich ihr ohne Vorbehalte zuzuwenden. Schon jetzt, ehe ich ihrem Bann verfalle.«
»Was immer du erwartest, der Zauber der Erdmutter wird dich nicht zum willenlosen Sklaven machen.«
Siluren warf einen Blick zum Fenster des Königs hinauf. »Glaub mir, das weiß ich.«
Coridan sah den Schmerz im Blick seines Halbbruders. Wahrscheinlich wünschte sich Siluren, ein wenig vom Zauber seiner Mutter hätte auch auf ihn abgestrahlt, dass Ruothgars Liebe zu der Akh’Eldash auch ihren Sohn umfasst hätte. Doch die Liebe des Vaters hatte von Anfang an Coridan gegolten.
Silurens Geburt hatte das Leben der Akh’Eldash gekostet. Allein das schon mochte Ruothgars Herz gegen ihn gewendet haben. Zudem war Siluren ein schwächliches Kind gewesen, blass und kränkelnd. Immer seltener hatte Vater die Amme rufen lassen, um ihm das Kind zu präsentieren. Und später, als Siluren endlich alt genug gewesen war, um ein Schwert zu halten, hatte er Papier und Feder vorgezogen. Vater war es gewohnt, seinen Willen zu bekommen, doch der Befehl des Königs vermochte aus Siluren keinen Krieger zu machen. Als Knabe und als Jüngling bemühte er sich redlich, doch die fordernden Schwertübungen und die schonungslosen Exerzitien bewirkten nur, dass er wieder und wieder das Bett hüten musste.
Irgendwann gab Vater es auf – und Siluren suchte sich seine eigenen Lehrer. Von diesem Tage an blühte er auf. Er las mehrere Bücher im Monat, lernte, die Saiten der Kithalla zu schlagen und begann einen stetigen Schriftwechsel mit den Denkern des Landes. Wegen seiner zurückgenommenen, freundlichen Art fiel es kaum jemandem auf, doch Siluren war ganz sicher der klügste Mann im Schloss, ach was, in ganz Varkaspol und weit darüber hinaus. Hätte Vater nur einmal die Augen geöffnet, um seinen Sohn wirklich anzusehen, so wäre ihm aufgefallen, dass Siluren mehr Wissen und Einsicht besaß als alle Berater und Kanzler, die jemals durch diese Hallen geschlichen waren. Sein Kopf und sein Herz würden ihn dereinst zu einem besseren König machen, als Vater es je hatte sein können, davon war Coridan tief überzeugt.
Silurens Blick kehrte vom Fenster zu ihm zurück. »Auch die Akh’Eldash will, dass man sie um ihrer selbst willen liebt, nicht aufgrund eines magischen Zeichens. Sie hat mein Mitgefühl.«
»Das kann sie sich nicht aussuchen – genauso wenig wie du. Aber ich werde ihr dein Unterpfand übergeben.« Coridan nahm das Kästchen und etwas darin klapperte. Fragend blickte er auf.
»Es ist ein Amulett, ein Abbild der Erdmutter. Sag der Akh’Eldash, ich werde das Lager erst mit ihr teilen, wenn sie es mir zukommen lässt.«
»Das wird Vater nicht gefallen. Die Hochzeit ist für den Blütenmond angesetzt, und er wird erwarten, dass sie vollgültig ist.«
»Niemand kann von mir erwarten, dass ich die Ehe mit einem Kind vollziehe.«
Coridan kannte diesen Blick. Vater hielt Siluren für schwach, weil der sich nicht an den üblichen Formen des Kräftemessens unter Männern beteiligte. Trinken und Raufen, Spielen und Huren lagen ihm nicht. Doch wenn Siluren sagte, er werde die Akh’Eldash erst berühren, wenn sie bereit dazu war, dann würde nicht einmal sein Vater ihn davon abbringen. So wie damals bei der Sache mit dem Karindenbock.
»Die Erdmutter wird kein Kind erwählen«, sagte Coridan voller Überzeugung. »Vermutlich wird sie dreizehn oder vierzehn sein.« Viel älter wohl kaum, denn in diesem Alter galten die Mädchen als erwachsen, ihre Ausbildung im Stift war abgeschlossen, und sie wurden verheiratet.
»Sag es ihr«, bat Siluren. »Gleichgültig, wie alt sie ist.«
»Selbstverständlich.« Coridan verstaute das Kästchen in seiner Satteltasche. »Auf dem Rückweg werde ich dich ihr in den schönsten Farben malen.«
»Lieber nicht.« Siluren lächelte schwach. »Ruothgar hat recht – wecke besser keine Erwartungen, die ich später enttäusche.«
Die Brüder gaben sich die Hand und Coridan stieg in den Sattel. Sie würden zu viert reisen: er und Dendar auf Ulphanen, dazu der Kutscher Helim und ein junger Soldat namens Srimm, der den Platz hinter dem geschlossenen Aufbau des Wagens einnahm. Es war eine kleine Eskorte, aber Coridan kannte jeden der Männer gut, und Schwierigkeiten waren auf der Reise nicht zu erwarten.
Der Trupp setzte sich in Bewegung und die Räder der Kutsche ratterten über den gepflasterten Hof. Als sie das Tor durchritten, sagte Dendar: »Ich fürchtete schon, der Prinz würde den ganzen Tag vertrödeln.«
»Hast du es eilig?«
»Du natürlich nicht, mit deiner anspruchslosen Strenge. Ich habe einfach mehr Fantasie als du.«
»Worüber fantasierst du denn so?«
Dendars Grinsen reichte von Ohr zu Ohr. »Das Tempelstift ist ein Haus voller Jungfrauen – worüber wohl?«
»Jungfrauen«, wiederholte Coridan betont, »und von Adel. Du wirst keiner von ihnen auch nur die Hand küssen, geschweige denn irgendetwas anderes.«
»Du weißt doch, wenn du eine Nacht in der Nähe einer Frau verbringst, die du begehrst, und die dich begehrt, dann können die Geister es fügen, dass ihr euch in euren Träumen begegnet.«
»Die Geister«, sagte Coridan betont, »werden ihren dunklen Zauber wohl kaum so nah am Mutterschoß weben.«
»Sie hätten es leicht. Überlege dir einmal, wie viele begehrenswerte und völlig ausgehungerte Frauen in diesem Haus zusammengepfercht sind.«
»Du solltest dir andere Fantasien suchen. Der Adel ist bekannt dafür, ungewollte Buhlen aufzuhängen.«
»Man kann einen Mann nicht für seine Träume hängen.«
»Verwette nicht deinen Hals darauf.«
***
Die Priorin hatte dem gesamten Tempel einen Tag des Fastens und Betens verordnet, um sich für das Bevorstehende zu reinigen. Der Markgraf und sein Sohn sowie alle männlichen Diener des Tempels hatten sich im Dorf am Fuße des Tempelberges einquartieren müssen. Kein Mann sollte mit seiner Anwesenheit die Manifestation des weiblichen Prinzips stören.
Am frühen Morgen des folgenden Tages betraten alle Kanonissen gemessenen Schrittes den Anbetungssaal. Der Saal war leer bis auf eine Stundenkerze, die neben der Tür zum Heiligtum stand. Die Flamme zitterte im Luftzug, als die Mädchen eintraten.
Lynn liebte das weiße Ritualkleid. Barfuß und barhäuptig, nur in das kühle Leinen gehüllt, fühlte sie sich der Göttin auf seltsame Weise näher. In solchen Momenten wurde die Sehnsucht, zur Schwesternschaft zu gehören, noch größer. Keine Unsicherheit mehr, kein Warten, keine Furcht. Ihr Lebensschiff würde in einen Hafen einfahren und zur Ruhe kommen. Dies hier, ein Leben, das Frauen in eigener Verantwortung gestalteten, zum Dienste der Göttin selbst, das kam sicherlich dem am nächsten, was sich Freiheit nannte. Vielleicht konnte sie doch noch einmal mit der Priorin sprechen.
Die Schwestern traten ein, alle in die gleichen, schlichten Gewänder gekleidet, selbst die Priorin, denn vor der Göttin waren sie alle gleich. Die Bibliothekarin trug die metallene Kassette mit dem Schlüssel zum Mutterschoß, dem tief im Berg gelegenen Heiligtum. Mit gemessenen Schritten bildeten die Heiligen Schwestern einen Halbkreis um die Tür.
Das Schloss war alt. Es knackte vernehmlich, als die Priorin den spannenlangen Schlüssel darin drehte. Sie öffnete die Tür und kühle, kalkige Luft wehte die Mädchen an. In den Fels gehauene Stufen führten nach unten, tief hinein in den Schoß des Tempelberges. Heute würden sie tiefer eindringen als je zuvor, in die Grotte, die sonst den Heiligen Schwestern vorbehalten war. Und eine von ihnen würde verändert zurückkehren, wiedergeboren als Akh’Eldash, als Hohepriesterin der Erdmutter.
Wer es wohl sein würde? Etwa Beringa, die sich schon seit Jahren auf die Ehe mit ihrem Vetter Tharundin freute? Ob die Göttin tatsächlich so grausam wäre? Vielleicht die kleine Sibyllin – jung genug, um sie zu einer idealen Gattin für einen König zu erziehen. Sicher nicht Thaja – ihre Krankheit schloss sie ebenso aus wie Lynns Alter. Es sei denn natürlich, die Göttin würde Thaja zugleich heilen. Wie wunderbar das für sie wäre!
Das erste Mädchen nahm nun eine Kerze aus der Schale und entzündete sie an der Flamme der Stundenkerze. Die Priorin tauchte ihre Fingerspitze in duftendes Öl und legte sie auf die Stirn der Kanonisse. So gesalbt betrat das Mädchen die Stufen, die ins Dunkel führten. Eine nach der anderen durchschritten die Mädchen das Tor zum Allerheiligsten.
Beringa zögerte lange.
»Du musst keine Angst haben«, flüsterte Lynn. »Du könntest die Braut des Prinzen werden, und später Königin.«
»Aber ich will nur Tharundin«, antwortete Beringa mit erstickter Stimme. »Ich bin ihm doch versprochen.«
»Überlasse dich der Göttin.« Lynn nahm tröstend ihre Hand. Himmel, wie verweint Beringas Augen waren, fast schon entzündet. »Sie wird dir nichts nehmen, wenn sie dir dafür nicht unendlich mehr schenkt. Vertraust du ihr?«
Beringa zögerte, dann nickte sie.
»So ist es gut. Hab keine Angst.« Lynn drehte sie in die Richtung der Grotte und ließ ihre Hand los. »Nun geh schon.« Sie gab Beringa einen sanften Anschub und sah ihr nach, wie sie mit unentschiedenen Schritten auf die Priorin zuging und die Kerze nahm. Lynn fing den Blick der Priorin auf. Die alte Dame nickte sachte. »Du auch, Lynneth.«
»Hohe Schwester.« Lynn straffte die Schultern. »Ihr wisst, ich sollte schon gar nicht mehr im Stift sein.«
»Doch noch bist du es.«
»Die Göttin wird mich wohl kaum erwählen, wenn schon Ihr es nicht tut.«
»Das lass die Große Mutter entscheiden.«
Mit einem stummen Seufzen fügte sich Lynn, nahm die Kerze und entzündete sie. Sie wartete, bis die Priorin das Öl auf ihre Stirn gestrichen hatte, dann betrat sie die Stufen.
Die Stufen waren in den felsigen Boden eines Ganges geschlagen, der in Windungen nach unten führte, sodass Lynn keines der vor ihr gehenden Mädchen mehr sah, doch der Klang ihrer bloßen Füße auf dem Stein hallte als geheimnisvolles Wispern zwischen den Wänden. Die Kerzenflamme flackerte und ließ Schatten über die grob behauenen Wände tanzen. Lynn schützte das Feuer mit der Hand und stieg vorsichtig weiter die kühlen Stufen hinab.
Wie jedes Mal hatte Lynn beim Abstieg in den Mutterschoß das Gefühl, die gewohnte Welt zu verlassen und in eine ganz andere Wirklichkeit einzutreten. Alles war hier anders: die Gerüche, das Licht, sogar die Töne. Sie bewegten sich anders fort, hallten von Wand zu Wand, verwoben sich ineinander wie flüsternde, fragende Stimmen, die den Fels selbst zu füllen schienen. Viel mehr Stimmen, als Mädchen diesen Ort betreten hatten.
Einmal im Jahr, am ersten Frühlingsvollmond, gingen alle Frauen des Tempels diesen Weg. Tief im Inneren der Erdmutter reinigten sie sich – ihren Körper mit dem heiligen Wasser, ihren Geist durch Gebet.
Doch heute würde es anders sein. Keine Reinigung stand ihnen bevor, sondern ein Ritual, das vor über zwanzig Jahren das letzte Mal stattgefunden hatte. Heute würde die Göttin selbst eine von ihnen berühren, und niemand wusste, wer das sein würde.
Nach gut hundert Stufen mündete der Gang in eine natürliche Grotte. Ein stiller See spiegelte die gewölbte Höhlendecke mit solcher Klarheit, dass er wie eine mit aufstrebenden Tropfsteinen gespickte Grube wirkte. Der Anblick dieser scheinbaren Symmetrie war jedes Mal aufs Neue atemberaubend, selbst für jene, die um die Täuschung wussten.
Niemand konnte sagen, wie alt dieses Heiligtum war. Es hieß, schon die Frauen des alten Volkes hätten hier die Erdmutter verehrt.
Der Geruch nach feuchtem Kalk mischte sich mit dem Duft von geschmolzenem Wachs. Die Kerzen der Mädchen standen nun ringsum auf erstarrten Wachskaskaden, die sich von Felsvorsprüngen und aus Nischen ergossen, hinterlassen von Generationen von Besucherinnen. Auch Lynn tropfte ihre Kerze auf einen der mächtigen Wachspanzer. Dann trat sie in den Kreis der Mädchen, die sich am Rand des stillen Sees aufgestellt hatten.
Hinter ihnen betrat die Priorin die Grotte, gefolgt von den Heiligen Schwestern. Lynn erkannte es am Rascheln der Kleider und dem zusätzlichen Licht. Niemand sprach ein Wort. Hier unten war die grobe menschliche Sprache weder erwünscht noch von Nöten. Man hatte ihnen erklärt, was zu tun war. Doch keines der Mädchen machte Anstalten, zu beginnen. Unsichere Blicke flogen unterhalb gesenkter Lider hin und her.
Nun, Lynn war die Älteste und Erfahrenste hier, und da sie nun schon dabei war, konnte sie auch dafür sorgen, dass sie es hinter sich brachten. Sie schob die Träger auf ihren Schultern zur Seite, und der Stoff glitt in einer fließenden Bewegung zu Boden. Die anderen Mädchen folgten ihrem Beispiel. Lynn wartete, bis auch die letzte Kanonisse nackt dastand.
Etwas berührte ihre Finger. Sibyllin schob ihre Hand zaghaft in Lynns und schaute zu ihr auf. Das Mädchen hatte den ganzen Morgen nur von dem Prinzen gesprochen. Allein das Wort übte eine magische Wirkung auf sie aus. Ob die Göttin sie wohl erwählen würde? Ein so junges Mädchen, dem zweitmächtigsten Mann des Reiches ausgeliefert? Lynn wünschte es ihr nicht, aber niemand konnte den Ratschluss der Göttin vorhersagen. Sie drückte Sibyllins Hand sachte und lächelte beruhigend. Dann, mit Sibyllin an der Hand, stieg sie in den Spiegelsee.
Das Wasser war kühl, aber nicht kälter als während des Rituals im Sommer. Doch heute würden sie es nicht dabei bewenden lassen, sich im Becken des Sees zu reinigen. Heute würden sie tiefer dringen, würden ihren Weg über die Grotte hinaus in das Allerheiligste suchen, das sonst nur die Tempelschwestern betraten.
Hinter Lynn stiegen auch die anderen Mädchen ins Wasser. Der See geriet dadurch in Bewegung, sein Glucksen und Plätschern hallte in der Höhle wider. Das Wasser wurde tiefer, reichte Lynn schließlich bis zum Bauchnabel. Sibyllin ging es bis über die Brust, und sie reckte furchtsam die Nase in die Höhe. Lynn drückte beruhigend ihre Hand. Tiefer würde das Becken nicht werden.
Sie erreichten das hintere Ende der Höhle, und Lynn tastete mit der freien Hand über die Wand unter der Wasserfläche, fand die abgerundete Kante. Der Durchbruch war groß genug, um sie hindurchzulassen. Sie nickte Sibyllin auffordernd zu und holte tief Luft. Die Kleine tat es ihr nach, und zusammen tauchten sie ab.
Das Wasser war glasklar und der Durchschlupf gut zu erkennen: ein rundes Loch, das in absolute Schwärze führte. Lynn stieg hindurch und zog Sibyllin hinter sich her. Die freie Hand sichernd nach oben gestreckt richtete sie sich dann auf und erreichte schnell die Oberfläche. Das Wasser war hier ebenso flach wie auf der anderen Seite.
Tiefe Finsternis herrschte um sie herum. Lynn hatte keinen Begriff davon, wie groß diese zweite Höhle war. Nach dem Klang zu urteilen, mit dem das Geräusch des plätschernden Wassers zu ihr zurückhallte, musste sie riesig sein – und sie war vollkommen dunkel.
Aus dieser Höhle erstreckte sich ein Gang tief ins Innere der Welt, so tief, dass noch nie ein Mensch an sein Ende gelangt war. Von dort waren die Erstlinge gekommen – die ersten Exemplare eines jeden Lebewesens, das diese Welt beherbergte. Hier waren sie geboren worden. Dies war der wahre Mutterschoß.
In der absoluten Schwärze malte die Einbildung Blitze und Funken vor Lynns Augen. Ob es hier drin außer ihr noch anderes Leben gab? Seltsame Kreaturen, die aus dem Inneren der Erdmutter heraufgekrochen kamen, Nachgeborene der ersten Schöpfung? War dies womöglich mehr als eine Erwählung? Stand ihnen eine Prüfung bevor?
Sibyllin drängte sich an sie, und Lynn spürte das Zittern des Kindes. Sie selbst musste stark sein. Es gab ja auch gar keinen Grund zur Furcht. Dies war der Mutterschoß, der Ursprung allen Lebens. Hier hatte jede Liebe und Fürsorge der Welt ihren Anfang genommen. Hier war sie dem Herzen der Mutter näher als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt. Wo könnte sie sicherer sein?
Beruhigend legte sie eine Hand auf Sibyllins schmalen Rücken, streckte die andere sichernd nach vorne und ging mit entschiedenen Schritten weiter. Der Boden stieg an und sie verließen das Becken, doch auch hier fand Lynn keine Wand. Wieder und wieder tastete sie ins Leere.
Es war sicherer, sich nicht zu weit vom Becken zu entfernen. Lynn wandte sich um. Vom Licht der Kerzen auf der anderen Seite erhellt tanzte der Durchschlupf als bläuliches Oval unter der bewegten Wasseroberfläche und zeigte ihnen so den Rückweg an. Die anderen Mädchen kamen durch die Öffnung, schwarze Silhouetten im schimmernden Oval, wie Geister, die rasch wieder mit der Dunkelheit verschmolzen. Geräusche zeigten, dass sie aus dem Wasser stiegen und sich im Raum verteilten. Lynn setzte sich frierend zu Boden. Sibyllin kauerte sich ebenfalls nieder, drückte sich furchtsam an sie, und Lynn legte ihren Arm um das zitternde, kleine Mädchen.
Schließlich waren alle Kanonissen durch das Loch getaucht, und es begann das Warten in Schwärze und Stille. Je mehr sich Lynn an die Stille gewöhnte, desto lauter klang der gelegentliche Tropfen, der von den Wänden fiel, oder das Schaben, wenn eines der Mädchen sich bewegte. Von links schwebte unterdrücktes Schluchzen zu ihr herüber – Beringa.
Für ein Ritual waren sie seltsam passiv. Ihre Aufgabe war es nur, zu sitzen und zu beten – sich der Göttin hinzugeben, hatte es die Priorin genannt. Lynn hatte sich noch nie sonderlich gut ins Gebet versenken können, zu vielfältig waren ihre Gedanken, zu quälend die erzwungene Tatenlosigkeit. Vermutlich hatte die Priorin recht damit, dass sie nicht in die Schwesternschaft passte. Schon jetzt regte sich ihre Ungeduld. Wenn die Göttin eine von ihnen erwählen wollte, warum konnte sie das nicht jetzt sofort tun? Worauf wartete sie? Sicherlich kannte sie doch das Herz jedes Mädchens hier zur Genüge.
Dennoch blieb ihnen nichts, als ergeben zu warten. Irgendwann würde sich eine von ihnen über die Stirn tasten und den No’Ridahl erfühlen. Dann würde sich diese Erwählte erheben und auf die andere Seite zurückkehren, das Zeichen für alle anderen, ihr zu folgen und das Ritual damit zu beenden.
Wie lange es wohl dauern würde? Lynn verlor jedes Gefühl dafür, wie viel Zeit verging. Es gab nichts außer der Stille, der Kühle und der Dunkelheit. Eine bleierne Müdigkeit legte sich auf sie und ihr Kopf sank auf die angezogenen Knie.
Ein Stöhnen ließ sie zusammenschrecken. Sibyllin klammerte sich an ihren Arm. Hatte sie geschlafen? Wenn ja, wie lange?
Von links hörte sie wieder ein Stöhnen, dann ein Klopfen und Kratzen. Das Geräusch kam ihr bekannt vor, aber woher bloß? Dann erkannte sie es. »Thaja hat einen Anfall!« Ihre Worte hallten hohl in der Stille wider.
Zischen antwortete von mehreren Seiten. Während des Rituals waren Worte tabu. Einen Moment lang zögerte Lynn. Durfte sie das Ritual unterbrechen? Den Zauber der Erdmutter stören? Aber wenn Thaja sich auf die Zunge biss, wie es schon einmal geschehen war, wenn das Blut ihre Kehle hinab lief, und sie nicht bei Bewusstsein war …
Lynn nahm Sibyllins Hand in die Linke und tastete sich mit der Rechten voran, während sie über den glatten Steinboden in Richtung der Laute kroch. Ihre Finger berührten etwas Weiches, Warmes. Etwas, das leise schniefte. Beringa.
Lynn flüsterte: »Kümmere dich um Sibyllin.« Sie legte Sibyllins Hand auf Beringa und kroch nun rascher weiter. Es wurde dringend. Die Geräusche endeten in einem langgezogenen Röcheln.
Wieder ein Körper. Das Mädchen lag lang ausgestreckt auf dem Boden und reagierte nicht auf Lynns Berührung. »Thaja?« Keine Antwort. Jetzt zischte niemand mehr, und so sagte Lynn in die Dunkelheit: »Thaja ist nicht mehr bei sich. Wir müssen sie rausbringen.« Sie ertastete die Schulter der Freundin und hob deren Oberkörper an. Schwer lehnte sich Thajas Gewicht gegen ihre Brust. Lynn roch etwas Metallisches und erriet, dass es Blut war. Hatte Thaja sich auf die Zunge gebissen oder sich an dem Fels den Kopf angeschlagen? Was immer es war, sie würde es erst im Licht sehen können.
Lynn griff unter Thajas Armen hindurch und verschränkte die Hände über deren Brust. Im Aufstehen stemmte sie ihre Last mit in die Höhe. Ihre Beine zitterten, als sie Thaja rückwärtsgehend zum Wasser hinüberzog. Der schimmernde Kreis unter der Oberfläche war ihr Ziel, ihr einziger Fixpunkt in der schwarzen Leere. Bald umspülte das kühle Wasser ihre Füße, das rasch tiefer wurde und ihr einen Teil der Last abnahm.
»Wie kann ich helfen?«, fragte jemand neben ihr.
»Geh zurück und sag der Priorin, was geschehen ist … und ich brauche jemanden, der uns auf der anderen Seite in Empfang nehmen kann.«
»Das mache ich.« Sie spürte die Strömung des Wassers, als das Mädchen an ihr vorbeieilte. Dann fiel ihr ein, dass sie Thaja nicht durch das Loch ziehen und sie gleichzeitig vor dem Wasser schützen konnte. »Jemand muss Thaja Mund und Nase zuhalten, während wir tauchen.«
»Das kann ich tun!«
Vermutlich waren jetzt alle Kanonissen im Wasser. Sie würden das Ritual wiederholen müssen, aber dann war das eben so.
Lynn zog Thaja zum Loch hinüber, dann wartete sie. Jemand tastete über ihre Arme. »Das bin ich«, sagte Lynn. »Thajas Gesicht ist weiter oben.«
Die Finger verließen ihre Haut und kurz darauf kam die Bestätigung.
»Lass sie noch mal atmen, dann machen wir es auf drei.« Es musste schnell gehen, Thaja sollte nicht ersticken. »Eins … zwei …« Bei drei tauchte Lynn ab, ertastete mit Rücken und Schultern die Felswand, ging tiefer und schlüpfte rückwärts durch den Durchbruch. Glücklicherweise war er kaum eine Elle tief, und so tauchte sie kurz darauf in der von Kerzen erhellten Vorhöhle wieder auf. Das nasse Haar klebte um ihren Kopf und hing ihr in die Augen, was sich durch Kopfschütteln nur wenig verbessern ließ. Thajas Gesicht befand sich sicher über der Oberfläche und die andere Kanonisse nahm ihre Hand von Thajas Mund und Nase. Lynn fühlte beruhigt die Atembewegung des Brustkorbes unter ihren Armen.
Immer mehr Mädchen kamen durch den Spalt zurück, und während Lynn Thaja zum Ufer brachte, versicherte sie sich mit einem kurzen Blick, dass auch Beringa und Sibyllin unter ihnen waren. Viele Hände halfen ihr, die noch immer Bewusstlose aus dem See zu tragen. Endlich lag Thaja auf dem steinernen Boden. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und vermischte sich mit dem Wasser.
Lynn strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Wir müssen sie die Treppe hinauftragen.« Für sie allein war Thaja zu schwer. »Beringa, vielleicht kannst du ihre Füße …« Sie stockte, als sie merkte, dass alle sie anstarrten.
»Es reicht«, sagte die Priorin. »Die Schwestern werden sich um Thaja kümmern. Du wirst jetzt mit mir kommen.«
Wollte die Priorin sie tatsächlich maßregeln? Ja, sie hatte das Ritual gestört, aber sie hatte Thaja wohl kaum in der Dunkelheit in ihrem Blut liegen lassen können. »Es tut mir leid«, sagte sie trotzig. »Die Erdmutter wird es verstehen müssen.«
»Das tut sie«, erwiderte die Priorin. »Doch du musst deine Freundin nun anderen Händen überlassen … Akh’Eldash.«
Kapitel 2
So lehren sie es uns, dass wir Frauen nicht nur schwächer sind, sondern auch schlichter im Geiste und in allem geringer. Aber weshalb sollte die Erdmutter einer der unseren dann solche Macht verleihen?
– 14. Akh’Eldash, 5. Eintrag, Verse 17+18
Lynn saß mit angezogenen Beinen in einem der Lehnstühle im Arbeitszimmer der Priorin und zitterte trotz der Wolldecke. Das Zittern kam tief aus ihrem Inneren und wollte einfach nicht aufhören. Wieder und wieder befühlte sie die Erhebung in der Mitte ihre Stirn, dort, wo sie gesalbt worden war. Das Mal hatte eine glatte Oberfläche, glatter als Haut, mehr wie polierter Stein. Sie fühlte die Glätte zwar an den Fingerspitzen, aber an ihrer Stirn war die Stelle völlig taub. Als gehöre dieses Ding nicht zu ihr.
Die Priorin reichte ihr wortlos einen Spiegel. Lynn nahm ihn, zögerte aber, hineinzublicken. Noch konnte es eine einfache Schwellung sein, eine Beule, die sie sich in der Dunkelheit der Höhle zugezogen hatte.
»Schau hinein, Lynneth. Sieh dich an.«
Widerstrebend gehorchte sie. Ein blasses Gesicht schaute ihr entgegen, und auf der Stirn leuchtete rot wie ein Sonnenuntergang der No’Ridahl, der Kuss der Göttin.
Er wirkte durchsichtig, doch dahinter sah Lynn nicht ihre Stirn, sondern in eine weite, offene Leere, in der sich Schlieren bewegten. Bei dem Anblick wurde ihr schwindelig, und sie ließ den Spiegel sinken.
Unzählige Namen hatte man ihm gegeben: Liebesfleck, Himmelsauge, Rotstern, aber auch Sklavenmacher und Knebelstein.
Die Priorin setzte sich neben sie und legte die Hand auf Lynns angezogene Beine. »Du bist die achtundvierzigste Akh’Eldash des neuen Reiches, die Hohepriesterin der Erdmutter.«
Hohepriesterin. Genaugenommen stand sie damit sogar über der Priorin. Doch während die Priorin den Orden führte, waren die Aufgaben der Akh’Eldash ritueller Natur. Sie würde die Liebe der Göttin wirken, was immer das heißen mochte. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich mit dem König des Landes zu vereinigen und ihm Kinder zu gebären.
»Ich bin die Falsche.« Lynn war noch immer wie betäubt. »Die Erdmutter hat sich geirrt.«
Die Priorin lächelte nachsichtig. »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Große Mutter zu hinterfragen. Sie hat entschieden, und niemand kann daran mehr etwas ändern.«
»Aber ich kann das nicht!«
»Was denn?« Der Blick der Priorin wurde streng. »Du wirst der Göttin dienen und ihre Liebe wirken, das ist deine Berufung.«
»Was bedeutet das überhaupt?«
»Dass du allen Menschen das Wesen der Erdmutter zeigst. In dir wird jeder die Liebe der Mutter erkennen.«
Wie sollte sie einem solch enormen Anspruch gerecht werden? Wie sollte irgendein Mensch das können – und nun gerade sie, die noch nie im Leben verliebt gewesen war?
Nicht nur, dass man ihr eine unlösbare Aufgabe stellte, sie durfte noch nicht einmal selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestaltete, um sie zu erfüllen. »Aber ich werde einem Mann gehören.«
»Ja, und er wird dir gehören. Er wird dich lieben.«
»Das ist keine Liebe«, sagte Lynn verstockt. »Es ist ein Zauber.«
Die Priorin seufzte. »Jede Liebe auf der Welt geht auf die Erdmutter zurück: die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die einer Frau zu ihrem Mann und auch die, die der No’Ridahl weckt. Sie alle sind gleichermaßen ein Zauber.« Sie erhob sich. »Warte hier.«
Lynn legte den Spiegel zur Seite und zog die Decke fester um sich, obwohl sie nicht mehr fror. Das Zittern war abgeklungen, und das lähmende Entsetzen wich langsam einem zornigen Trotz. Sie würde natürlich tun, was der Orden von ihr erwartete. Was blieb ihr anderes übrig? Aber sie musste es weder unterwürfig noch gern tun.
Doch. Genau das wurde von ihr verlangt: Ergebenheit und Sanftmut, Demut und Fügsamkeit. Das erwartete man von jeder Ehefrau und umso mehr von der Akh’Eldash, deren Aufgabe es war, ein Vorbild an Liebe und Hingabe zu sein. Aber so war sie nicht, war sie nie gewesen. Die Priorin hatte es selbst gesagt: Sie würde daran zerbrechen – und nun verlangte die Göttin genau das von ihr. Die Große Mutter, die allen ihren Kindern ins Herz sehen konnte, musste doch wissen, dass Lynn die Allerungeeignetste für diese Aufgabe war. Hatte sie das nicht bewiesen, als sie Thaja geholfen und damit das Ritual gestört hatte?
Die Priorin kehrte mit einer Kassette zurück und Lynn fragte: »Wie geht es Thaja?«
»Sie ist aufgewacht und lässt dich grüßen.« Die Priorin setzte sich wieder, stellte das Kästchen auf ihren Schoß und entnahm ihm einen zarten, weißen Stoff. »Der Lorun-Uhn, der Reifschleier der Akh’Eldash.« In ihren Händen entfaltete sich ein luftiges Gespinst. »Man erkennt es von außen kaum, aber er ist in Augenhöhe weniger dicht gewebt.«