Weltbeweger - John Ortberg - E-Book

Weltbeweger E-Book

John Ortberg

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Beschreibung

Jesus Christus hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Menschheit - auf ihre Geschichte, ihre Entwicklung, ihr Zusammenleben und ihre Zukunft. John Ortberg zeichnet die Spuren eines Lebens nach, das die Welt wie kein anderes verändert hat. Sein Wirken prägte Gesellschaft, Kunst, Wissenschaft, Politik und Bildung - bis heute. Aber auch Begriffe wie Menschenwürde, Mitleid, Vergebung und Hoffnung erhielten durch ihn entscheidende Bedeutung. Meisterhaft gelingt es Ortberg, das Vermächtnis dieses unvergleichlichen Weltbewegers auf den Punkt zu bringen. Übrigens: John Ortberg ist mehrmals wöchentlich mit seiner Predigtreihe im TV zu sehen. Und zwar auf ERF 1. Nähere Termine unter www.erf.de

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John Ortberg

Weltbeweger

Jesus – wer ist dieser Mensch?

Aus dem Englischen übersetzt

von Elke Wiemer

Über den Autor

John Ortberg ist einer der Pastoren der Menlo Park Presbyterian-Gemeinde in Menlo Park, Kalifornien. Bei ihm vereinen sich erstaunlich tief gehende Einsichten mit einer klaren Verständlichkeit und einem ansteckenden Sinn für Humor. Kein Wunder, dass seine Bücher regelmäßig zu Bestsellern werden.

Zurzeit auf Deutsch von ihm erhältlich: „Das Leben, nach dem du dich sehnst“, „Jeder ist normal, bis du ihn kennenlernst“, „Abenteuer Alltag“, „Glaube & Zweifel“ und „ICH – einzigartich“.

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Kapitel 1: Der Mann, der einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will

Kapitel 2: Das Ende der Menschenwürde

Kapitel 3: Eine Menschheitsrevolution

Kapitel 4: Was Frauen wollen

Kapitel 5: Ein unangesehener Gastdozent

Kapitel 6: Jesus war kein bedeutender Mensch

Kapitel 7: Hilf deinen Freunden, strafe deine Feinde

Kapitel 8: Es gibt Dinge, die dem Kaiser nicht zustehen

Kapitel 9: Gutes Leben oder guter Mensch?

Kapitel 10: Und die Welt ist doch klein

Kapitel 11: Eine altmodische Sache namens Ehe

Kapitel 12: Einmalig in der Kunstgeschichte

Kapitel 13: Freitag

Kapitel 14: Samstag

Kapitel 15: Sonntag

Schlusswort: Ein unfassbarer Gedanke

Quellenangaben

Vorwort

Es wurde schon so viel über Jesus geschrieben, dass man sich unwillkürlich fragt, was es denn noch zu sagen gibt. Mein Vater war presbyterianischer Prediger und mein Großvater auch. Daher habe ich Jesus schon früh kennengelernt. Aber als ich als Mitglied der Presbyterianischen Kirche Menlo Park John Ortbergs Predigt mit dem Titel „Wer ist dieser Mensch?“ hörte, drehte ich mich zu meiner Cousine um (die ebenfalls Tochter eines presbyterianischen Predigers ist) und sagte zu ihr: „So habe ich das noch nie gesehen.“ Zum Glück gibt es Pastoren, denen es gelingt, die Geschichte von Jesus Christus auf immer neue Weise zu vermitteln. Denn sie erzählen sie in einer Sprache, die sie in unseren modernen, schwierigen Zeiten lebendig werden lässt. In „Weltbeweger“ belegt John Ortberg eindrücklich, welchen Einfluss Jesus auf die Geschichte und das menschliche Miteinander hat.

Vor allem erinnert uns dieses Buch daran, dass Christus ein echter Revolutionär war. Die zusammenfassende Aussage des Apostels Paulus über den christlichen Glauben schlug in der damaligen Zeit ein wie ein Blitz: „Denn durch den Glauben an Jesus Christus seid ihr nun alle zu Kindern Gottes geworden. … Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Christus seid ihr alle eins.“ Bis dahin bestimmte der Status bei der Geburt das Leben eines Menschen bis zu seinem Tod. Aber mit dem Kommen von Christus, der selbst auf seine göttlichen Vorrechte verzichtete, um als hilfloses Kind auf unsere Welt zu kommen und wie ein gemeiner Verbrecher zu sterben, war ein für alle Mal klar, dass jedes Leben in Gottes Augen wertvoll ist. Aus diesem Glaubenssatz leitet sich die in unserer Verfassung verankerte Gleichberechtigung aller Menschen ab.

Zahlreiche biblische Berichte veranschaulichen, dass Jesus Christus diese Dinge nicht nur gesagt, sondern auch gelebt hat. Er aß mit gesellschaftlichen Außenseitern, berührte die Unreinen, nahm Frauen in den Kreis seiner Jünger auf, offenbarte sich diesen „Bürgern zweiter Klasse“ nach seiner Auferstehung und wies die Heuchler zurecht, die in ihrem religiösen Eifer den Buchstaben des Gesetzes genau befolgten, sich aber nicht um ihre Mitmenschen kümmerten. Letzten Endes weigerte er sich, sich selbst vor dem Tod zu retten, um die Prophezeiung von der Auferstehung zu erfüllen und dadurch die ganze Menschheit zu retten.

Seine Nachfolger begannen in der Folgezeit, ebenso zu handeln, und das alles in der Überzeugung, dass jedes menschliche Leben kostbar ist. Die Gemeinschaft der Gläubigen, die Christen genannt wurden, kümmerte sich um Kranke und Behinderte, baute Krankenhäuser, setzte sich für die allgemeine und die universitäre Schulbildung ein und half den Armen in weit entfernten Ländern, „denn sie werden die ganze Erde besitzen“.

John Ortberg zeigt, dass seit jenem schicksalsträchtigen Sonntag vor so langer Zeit nichts an unserem menschlichen Dasein mehr so ist wie vorher. Wir sagen mit Johann Sebastian Bach: „Gott helfe mir“ (wie er am Anfang seiner Werke schrieb). Und wir erfreuen uns an dem Glauben, dass Gott auf unsere Gebete antwortet. Aber allzu oft vergessen wir zu sagen: „Gott allein die Ehre“, wie Bach es am Ende seiner großartigen Werke tat.

Die wahre Stärke dieses Buches liegt in der Erforschung des zentralen Widerspruchs unseres Glaubens: Wenn wir Jesus nachfolgen, dann bedeutet das nicht, es immer leicht zu haben. Bei Nachfolge geht es um die Einladung, auch unangenehme Dinge zu tun, wenn wir tatsächlich nach seinem Vorbild leben wollen: „Meine Feinde lieben?“ – „Meinen Besitz den Armen geben und das Kreuz auf mich nehmen?“ – „Sterben, um zu leben?“

Jesus wird uns in diesem Buch als eine komplexe Persönlichkeit mit einer aufwühlenden Lehre beschrieben. Manchmal ist er „sauer“ auf die, die ihn nicht verstehen, oft nimmt er seine Jünger hart ran, und doch ist er barmherzig mit denen, die in Not sind. Am Ende dieses Buches wollen wir ihn besser kennenlernen.

Mit „Weltbeweger – Wer ist dieser Mensch?“ gibt John Ortberg denen, die bereits glauben, und denen, die sich nicht ganz sicher sind, einige triftige Gründe, nach Antworten zu suchen. Und er erinnert uns daran, dass wir uns auch wirklich auf die Suche begeben sollten, denn diese Frage ist die wichtigste Frage überhaupt.

Condoleezza Rice

ehem. US-Außenministerin

Danksagung

Das Neue Testament berichtet von zehn Aussätzigen, die von Jesus geheilt wurden; nur einer von ihnen kam zurück, um sich zu bedanken, und das war ausgerechnet ein Samariter. Mit dieser einen Geschichte wurde der Menschheit auf unvergessliche Art und Weise vermittelt, was es heißt, Mitgefühl mit den Notleidenden zu haben, die Ausgestoßenen nicht auszuschließen, und wie schön Dankbarkeit sein kann.

Das hier ist also ein solcher „samaritischer Augenblick“ – eine Gelegenheit, innezuhalten und einigen Menschen zu danken, denen ich Dank schulde. Ich bin meiner Gemeinde äußerst dankbar, dass sie es mir ermöglicht, mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen. Dieses Buch ist stärker als die meisten anderen aus unserem Miteinander heraus entstanden, und ich bin dankbar für die unzähligen Gespräche und Rückmeldungen zu diesem Thema.

Glenn Lucke und das Team von Docent Research – ganz besonders Sharon Miller – waren eine unschätzbare Hilfe bei der Suche nach Quellen und Geschichten. Bei einem unvergesslichen Frühstück mit dem Geschichtswissenschaftler David Kennedy bei Bob und Dottie King (die ihr Haus auf großzügige Weise zur Verfügung gestellt haben) habe ich viel darüber gelernt, wie Historiker ihr Handwerk verstehen.

Mein Freund Gary Moon ist zum großen Teil dafür verantwortlich, dass dieses Buch gerade diesen roten Faden hat. Scot McKnight und Mark Nelson haben mir an einigen Weggabelungen wertvolle Ratschläge gegeben. Dallas Willard weist auf einzigartige Weise auf Jesus hin und hat mir in zahlreichen Gesprächen geholfen, im Meer der Menschheitsgeschichte das Kielwasser von Jesus zu entdecken.

Chuck Bergstrom und Rick Blackmon waren, wie immer, meine Resonanzkörper und Rückmelder, aber vor allem sind wir Freunde fürs Leben.

Linda Barker, mit der ich zusammenarbeite, ist eine große Bereicherung, sowohl was die Organisation als auch was die Kreativität angeht. Blues Baker ist nicht nur ein wunderbarer Freund, sondern auch ein Partner im Gemeindedienst. Es ist eine Ehre, mit ihm zusammenzuarbeiten. Nancy Duarte hat viel über die Botschaft dieses Buches nachgedacht und darüber, wie man sie überzeugend vermitteln kann. Man muss sich bloß in die Nähe der Duarte Group begeben und wird schon kreativer.

John Sloan war weitaus mehr als nur ein Lektor – er war Partner und Mit-Träumer und liebt Gedanken und Worte ebenso wie ich. Jim Ruark und Laura Weller haben mit Liebe und Sorgfalt an jedem Satz gefeilt.

Sealy und Curtis Yates sind auf halbem Weg dazugestoßen, und durch sie wurde die Reise viel fröhlicher und spannender.

Meine Tochter, Laura Turner, ist selbst eine begabte Autorin und war eine unermüdliche Quelle an Ideen und Rückmeldungen zu diesem Buch.

N.T. Wright hat mich so großzügig mit seinem Wissen, seinen Beobachtungen und seiner Ermutigung bedacht, dass ich mich veranlasst sehe, an dieser Stelle den altbekannten Hinweis einzufügen, dass er nicht für etwaige, noch vorhandene Fehler verantwortlich zeichnet, sondern mich vielmehr vor noch mehr Fehlern bewahrt hat.

Sam und Betsy Reeves haben mir großzügigerweise ihr Haus zum Schreiben zur Verfügung gestellt. Sam unterbricht mich aber oft, und so gehen viele der Fehler hier wahrscheinlich auf sein Konto.

Nancy nimmt nach fast dreißig Jahren Ehe immer noch Anteil an meinen Gedanken und am Schreiben.

Soli Deo gloria.

Kapitel 1

Der Mann, der einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will

Am Tag nach Jesu Tod sah es so aus, als würde jede Spur, die er vielleicht in dieser Welt hinterlassen hatte, schnell wieder verschwunden sein. Aber stattdessen ist sein Einfluss auf die Menschheitsgeschichte unvergleichlich.

Und um diesen Einfluss geht es in diesem Buch. Wenn man sich ausgiebig mit den Fakten beschäftigt, stellt das auch heute noch jeden vernünftig denkenden Menschen – ganz gleich, welche Einstellung er zum Christentum hat – vor die Frage: „Wer war dieser Mensch?“

Es gibt viele Gründe, weshalb er in historischen Aufzählungen fehlt. Der offensichtlichste Grund ist vielleicht die Art und Weise, wie er gelebt hat. Jesus hat seine Botschaft nicht laut und nachweislich verbreitet, wie ein politischer oder militärischer Führer. Er argumentierte nicht, dass die Geschichte schon zeigen würde, dass sein Glaube für alle Zukunft überlegen sein würde. Er hat seinen Jüngern nicht eröffnet: „Hier sind die Beweise für meine Göttlichkeit … Wenn ihr sie annehmt, werde ich euch annehmen.“

Wenn jemand gestorben ist, lässt der Einfluss dieser Person auf die Welt normalerweise sofort nach. Während ich dieses Buch schreibe, gedenkt die Welt des gerade verstorbenen Innovators der IT-Branche, Steve Jobs. Irgendjemand witzelte, noch vor zehn Jahren hätten wir einen Bob Hope, einen Johnny Cash und einen Steve Jobs gehabt; jetzt hätten wir weder Jobs noch Cash noch Hope. Aber Jesus hat das, was üblicherweise geschieht, auf den Kopf gestellt, wie er auch vieles andere auf den Kopf gestellt hat. Der Einfluss von Jesus war hundert Jahre nach seinem Tod größer als zu seinen Lebzeiten; nach fünfhundert Jahren war er noch größer, und nach eintausend Jahren bildete sein Vermächtnis die Grundlage für weite Teile Europas. Nach zweitausend Jahren hat er mehr Nachfolger an mehr Orten auf dieser Welt als je zuvor. Ob das Vermächtnis einer Person über deren Lebenszeit hinaus Bestand haben wird, zeigt sich gewöhnlich bei ihrem Tod. Als Alexander der Große, Julius Cäsar, Napoleon, Sokrates oder Mohammed starben, hatten sie alle einen gewaltigen Ruf. Als Jesus starb, schien es, als sei sein Auftrag gescheitert und seine winzige Bewegung am Ende. Wenn es eine Auszeichnung für den „wahrscheinlichsten Posthum-Erfolg“ gäbe, so wäre Jesus der Allerletzte auf der Liste der möglichen Kandidaten gewesen.

Sein Leben und seine Lehre brachten Menschen einfach dazu, ihm nachzufolgen. Er schrieb Geschichte, indem er ganz unten anfing, Liebe und Annahme verbreitete und jedem die Freiheit ließ, darauf zu reagieren. Er stand ganz bewusst auf Kriegsfuß mit Rom, wo man ihn einfach wie eine lästige Mücke zerquetscht hätte. Und er wurde zerquetscht.

Und doch …

Jesu Vorstellung von einem guten Leben verfolgt die Menschen weiter und fordert sie heraus. Sein Einfluss durchzieht die Geschichte wie ein Kometenschweif den Himmel. Er inspiriert und motiviert Künstler, Wissenschaftler, Regierungen, Mediziner und Lehrende. Er hat die Menschen gelehrt, was Würde, Mitgefühl, Vergebung und Hoffnung sind.

Wie der britische Autor G.K. Chesterton es einmal treffend formulierte: Seit er auf die Erde kam, „reicht es nicht mehr zu sagen, Gott ist im Himmel, und auf der Erde ist alles in Ordnung; denn es geht das Gerücht um, Gott habe seinen Himmel verlassen, um die Erde in Ordnung zu bringen“1.

Jesus ist die berühmteste Persönlichkeit der Geschichte. Sein Einfluss in dieser Welt ist ungeheuer groß und keineswegs zufällig.

Berühmte Persönlichkeiten haben so manches Mal versucht, sich ihre Unsterblichkeit zu sichern, indem sie Städte nach sich benannten. In der Antike wimmelte es von Städten, die zum Gedächtnis an Alexander Alexandria oder nach den römischen Kaisern Cäsarea genannt wurden. Als Jesus auf der Erde lebte, hatte er kein festes Zuhause. Und doch lebe ich heute in der Gegend von San Francisco, einer Stadt, die nach Franz von Asissi benannt ist, der wiederum ein Nachfolger von Jesus war. Die Hauptstadt unseres Bundesstaates heißt Sacramento, weil Jesus einmal mit seinen Jüngern zusammen zu Abend gegessen hat – das heilige Abendmahl –, das jetzt ein Sakrament der Kirche ist. Jede Landkarte erinnert uns an diesen Mann.

Mächtige politische Regime haben oft versucht, ihren Einfluss zu festigen, indem sie die Zeitrechnung mit dem Jahr ihrer Machtübernahme neu begonnen haben. Die römischen Kaiser haben Ereignisse nach ihrer Regierungszeit datiert und die Geschichtsschreibung an der Gründung Roms ausgerichtet. Die Französische Revolution hat versucht, der Welt Aufklärung zu bringen, und das mithilfe eines neuen Kalenders, der den Beginn der Herrschaft der Vernunft kennzeichnete. Die Zeitrechnung der früheren Sowjetunion begann mit dem Sturz des Zaren und der theoretischen Machtübernahme des Volkes. In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde dort der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ gegründet, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Glauben auszurotten. Auf dem Titelblatt einer Zeitschrift von 1929 sah man zwei Arbeiter, die Jesus mithilfe einer Schubkarre auf den Müll warfen. Doch ihr Anführer, Jemeljan Jaroslawski, ärgerte sich über die Hartnäckigkeit des christlichen Glaubens. „Das Christentum ist wie ein Nagel“, sagte er, „je mehr man darauf schlägt, desto tiefer treibt man ihn hinein.“2

Die Vorstellung, Jesus würde versuchen, den Menschen einen Kalender aufzuzwingen, ist lächerlich. Der Beginn seines Auftretens wurde von Lukas genauestens nach dem römischen Kalender festgehalten: „Es war im 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus verwaltete als Statthalter die Provinz Judäa; Herodes herrschte über Galiläa, sein Bruder Philippus über Ituräa und Trachonitis, und Lysanias regierte in Abilene.“3 Jesus trat aus dem Verborgenen für einen kurzen Augenblick an die Öffentlichkeit – vielleicht für drei, vielleicht aber auch nur für ein Jahr.4 Und doch werden wir heute jedes Mal, wenn wir auf den Kalender schauen oder etwas datieren, daran erinnert, dass dieses ungeheuer kurze Leben irgendwie zum Wendepunkt der Geschichte wurde.

Berühmte Persönlichkeiten versuchen häufig, ihr Vermächtnis zu bewahren, indem sie andere Menschen nach sich benennen. In der Bibel werden mehrere Personen mit dem Namen „Herodes“ oder sogar „Herodias“ erwähnt, die uns an Herodes den Großen erinnern sollen. Am Tag nach Jesu Tod hat niemand aus dem kleinen Kreis derer, die ihn kannten, ein Kind nach ihm benannt. Aber heute benennt man höchstens noch Pizzerien, Hunde oder Spielcasinos nach Cäsar und Nero, während die in der Bibel erwähnten Namen in unseren Söhnen und Töchtern weiterleben.

Ob ein Mensch verrückt ist, kann man am schnellsten und einfachsten dadurch herausfinden, ob er die folgenden drei Fragen beantworten kann: wer er ist, wo er ist und welcher Tag es ist. Ich wurde nach einem Freund von Jesus benannt – John (Johannes). Ich lebe in einer Gegend, die nach einem anderen Freund von Jesus benannt wurde – Franz –, und ich wurde 1957 Jahre nach Jesus geboren. Wie kann es sein, dass die Bezugspunkte meines Lebens so stark mit einer einzigen Person zusammenhängen?

Niemand weiß, wie Jesus ausgesehen hat. Es gibt aus seiner Zeit keine Gemälde oder Skulpturen von ihm. Es gibt noch nicht einmal eine Beschreibung seines Aussehens. Trotzdem sind Jesus und seine Jünger die Personen, die weltweit in künstlerischen Werken am häufigsten abgebildet werden. Das Bild von ihm, das etwa 400 n.Chr. in der byzantinischen Kunst entstand, ist das bekannteste überhaupt.

Er wurde in Filmen von Frank Russell (1898), H.B. Warner, Jeffrey Hunter, Max von Sydow, Donald Sutherland, John Hurt, Willem Dafoe, Christian Bale, Jim Caviezel und vielen anderen dargestellt. Lieder über ihn wurden von unzähligen Künstlern gesungen, angefangen mit dem ersten bekannten Loblied, das der Apostel Paulus im Brief an die Philipper niederschrieb, bis hin zu einem Album von Justin Bieber („Under the Mistletoe“), das Weihnachten 2011 erschien.

Und Jesus ist wahrscheinlich auch die Person, die Menschen mit Identitätsstörungen am häufigsten zu sein glauben. (Milton Rokeachs Schrift „Die drei Christusse von Ypsilanti“5 ist hier ein Klassiker.) Bilden sich Buddhisten mit Identitätsstörungen eigentlich auch ein, Buddha zu sein?

Verzweifelte Menschen, dankbare Menschen, wütende Menschen – sie alle benutzen seinen Namen, wenn sie beten, danken oder fluchen. Ob bei Taufen, Hochzeiten, im Krankenzimmer oder bei Beerdigungen – die Menschen werden in Jesu Namen geboren, getraut, behandelt oder beerdigt.

Vom finsteren Mittelalter bis zur Postmoderne ist er der Mann, der einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will.

Aber das ist noch nicht alles …

Jaroslav Pelikan, ein Historiker der Universität Yale, schrieb: „Ganz gleich, was man persönlich von Jesus von Nazareth hält oder über ihn glaubt, er ist seit fast zweitausend Jahren die beherrschende Gestalt westlicher Geschichte. Wenn man mit einem gigantischen Magnet auch noch das kleinste Stückchen Geschichte, das die Spur seines Namens trägt, herausziehen könnte, was wäre dann wohl noch übrig?“6

Wir leben in einer Welt, in der der Einfluss von Jesus ungeheuer groß ist, auch wenn sein Name nicht unbedingt genannt wird. Wenn wir seinen Einfluss messen wollen, so ist die größte Herausforderung dabei die Tatsache, dass wir die Art und Weise, wie er unsere Welt geprägt hat, heute für selbstverständlich halten. G.K. Chesterton sagte, wenn man den Einfluss von Jesus messen wolle, dann sei „die beste Methode, außer sich gänzlich ins Christentum hineinzubegeben, die, sich gänzlich außerhalb des Christentums zu begeben“7.

Durch Jesus sah man Kinder in einem anderen Licht. Der Historiker O.M. Bakke verfasste eine Studie mit dem Titel „When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity“ (Als Kinder Menschen wurden: Das Aufkommen der Kindheit im frühen Christentum), in der er festhielt, dass Kinder in der Antike gewöhnlich erst etwa am achten Tag Namen bekamen. Bis dahin bestand die Möglichkeit, dass ein Kind getötet oder zum Sterben ausgesetzt wurde – ganz besonders, wenn es deformiert oder vom weniger erwünschten Geschlecht war.8 Dieser Brauch änderte sich wegen einer Gruppe von Menschen, die sich daran erinnerten, dass sie Nachfolger desjenigen waren, der gesagt hatte: „Lasset die Kinder zu mir kommen.“

Jesus war nie verheiratet. Aber sein Umgang mit Frauen führte dazu, dass eine Gemeinschaft von Nachfolgern entstand, die für Frauen so anziehend war, dass sie sich ihr scharenweise anschlossen. Die Gemeinde wurde von ihren Gegnern sogar genau deshalb verunglimpft. Was Jesus über Sexualität lehrte, sollte zur Aufhebung einer Doppelmoral führen, die sogar im römischen Gesetz verankert war.

Jesus schrieb nie ein Buch. Und doch entstand durch seinen Aufruf, Gott mit dem ganzen Verstand zu lieben, eine Gemeinschaft, die solche Ehrfurcht vor dem Lernen hatte, dass sie das bewahrte, was von den Lehren übrig war, als der Rest der Antike durch etwas zerstört wurde, das manchmal auch das finstere Mittelalter genannt wird. Mit der Zeit sollte die Bewegung, die er ins Leben gerufen hatte, Bibliotheken und Gemeinschaften für Bildung gründen. Letzten Endes wurden Oxford und Cambridge und Harvard und Yale und praktisch das gesamte westliche Bildungssystem durch seine Nachfolger gegründet. Aus dem Verständnis, dass dieser Jesus, der selbst als Lehrer die Wahrheit verbreitete, seinen Nachfolgern aufgetragen hatte, allen Menschen die Möglichkeit zum Lernen zu geben, entstand der Grundsatz, dass alle Menschen lesen und schreiben können sollten.

Er hatte nie eine hohe Position inne und führte auch keine Armee an. Er sagte, sein Königreich sei „nicht aus dieser Welt“9. Sowohl am Anfang als auch am Ende seines Lebens stand er auf der falschen Seite, was das Gesetz betraf. Und doch führte die Bewegung, die er ins Rollen brachte, letztlich dazu, dass römische Kaiser nicht länger angebetet wurden. Darüber hinaus wurden ihre Gedanken auch in Dokumenten wie der Magna Carta zitiert, rief sie die Tradition des Gewohnheitsrechtes im angelsächsischen Rechtswesen und die Einschränkung der Regierungsgewalt ins Leben. Sie untergrub die Macht des Staates, statt sie zu verstärken, wie es andere Religionen im britischen Empire getan hatten. Es ist dieser Bewegung zu verdanken, dass Sätze wie „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden [sind]“10 (die aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten stammen) in die Geschichte eingegangen sind.

Das Römische Reich, in dem Jesus lebte, war nicht nur prachtvoll, sondern auch grausam, besonders wenn man krank oder ein Sklave war oder eine Missbildung hatte. Und dieser Lehrer sagte einmal: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan!“11 Langsam kam der Gedanke auf, dass etwas gegen das Leid jedes einzelnen Menschen unternommen werden musste und dass diejenigen, die helfen können, es auch tun sollten. Krankenhäuser und alle möglichen Hilfsaktionen gingen aus dieser Bewegung hervor; und selbst heute noch tragen sie oft Namen, die uns an ihn und seine Lehren erinnern.

Demut, die in der Antike verachtet wurde, wurde in Form eines Kreuzes verehrt und schließlich als Tugend geehrt.

Feinde, die eigentlich Rache verdient hatten („Hilf deinen Freunden und strafe deine Feinde“), wurden plötzlich liebens-wert. Vergebung war nicht länger ein Zeichen von Schwäche, sondern ein Akt moralischer Größe.

Sogar wenn es ums Sterben geht, kann man sich dem Einfluss von Jesus kaum entziehen. Der Brauch, Tote auf Friedhöfen und in Gräbern beizusetzen, stammt von seinen Nachfolgern. Man spricht von der „letzten Ruhestätte“. Das beinhaltet die Hoffnung auf die Auferstehung. Auf den Grabsteinen steht meist der Geburts- und der Todestag mit einem Bindestrich dazwischen. Die Länge eines menschlichen Lebens wird durch den Abstand dieser Tage zur Geburt von Jesus festgelegt. Wer sich einen Grabstein nicht leisten kann, kennzeichnet ein Grab meist durch ein Kreuz, zur Erinnerung an den Tod Jesu. Wenn ein Karikaturist auf das Leben nach dem Tod verweisen will, so genügt auch heute noch ein Bild von Petrus in den Wolken neben einem großen Tor. Was auch immer der Tod mit dem Leben von Jesus gemacht hat, er hat jedenfalls seinem Einfluss keinen Riegel vorgeschoben. In vielerlei Hinsicht fängt er an diesem Punkt erst an.

Jesus ist der Mann, der nicht aufgab.

Aber nicht nur das.

Jesus ist zutiefst mysteriös, und das nicht nur, weil er vor sehr langer Zeit in einer Welt gelebt hat, die uns fremd ist. Jesus ist nicht nur aufgrund der Dinge, die wir nicht über ihn wissen, mysteriös. Er ist auch wegen der Dinge, die wir über ihn wissen, mysteriös.

Wie der anglikanische Theologe N.T. Wright feststellte, ist das, was wir über ihn wissen, „so anders als das, was wir über jeden anderen wissen, dass wir uns gezwungen sehen, uns zu fragen – wie es die Menschen damals offensichtlich auch getan haben –: Wer ist dieser Mensch? Für wen hält er sich und wer ist er wirklich?“12 Von dem Zeitpunkt an, als er auf der Schwelle zum Mannsein stand und anfing, über Gott zu diskutieren, wird uns berichtet, dass die Menschen sich über ihn wunderten und selbst seine eigenen Eltern fassungslos waren (Lukas 2,47–48). Als er anfing zu lehren, waren die Menschen manchmal begeistert und manchmal rasend vor Wut, aber sie waren immer verwundert. Pilatus verstand ihn nicht, Herodes bedrängte ihn mit Fragen, und seine eigenen Jünger waren oft genauso verwirrt wie alle anderen. Wie Wright treffend sagte: „Die Menschen, die ihm damals zuhörten, sagten Dinge wie: ‚Noch nie haben wir jemanden so reden gehört‘, und damit meinten sie nicht nur seinen Tonfall oder seine gekonnte Rhetorik. Jesus hat die Menschen damals verwirrt und er verwirrt uns noch heute.“13

Der Einfluss von Jesus auf die Geschichte bleibt ein Puzzle von Fragen. Wenn wir uns sein kurzes Leben anschauen, ist es genauso verwirrend. Niemand wusste so recht, was man von ihm halten sollte.

Aber es ist kein willkürliches, absurdes, sinnloses Puzzle.

Wenn man versucht, sein Leben zu verstehen, ist das, als erwache man aus einem Traum. Es ist, als warte man auf eine Antwort, und wenn man sie schließlich erhält, merkt man, dass man sie irgendwie schon immer kannte. Es ist wie ein Licht auf einem unbekannten Weg, das einen, wenn man ihm folgt, nach Hause führt.

Jesus ist genauso schwer festzunageln wie Wackelpudding. Könige glauben, wenn sie sich auf seinen Namen berufen, könnten sie sich seine Autorität zu eigen machen. Aber Jesus, der Befreier, bricht immer wieder aus. Wo die Menschen seine Autorität benutzt haben, um die Sklaverei zu begründen, sahen ein William Wilberforce oder ein Jonathan Blanchard darin einen Aufruf zur Freiheit. Er inspirierte Leo Tolstoi, der wiederum Mahatma Gandhi inspirierte, der wiederum Martin Luther King inspirierte. Er inspiriert Desmond Tutu, von einer Kommission für Wahrheit und Versöhnung zu träumen und dafür zu beten.

Die Zahl von Gruppierungen, die für sich beanspruchen, „für“ Jesus zu sein, ist unerschöpflich14: Juden für Jesus, Moslems für Jesus, Exfreimaurer für Jesus, Motorradfahrer für Jesus, Cowboys für Jesus, Ringer für Jesus, Clowns für Jesus, Handpuppen für Jesus und sogar Atheisten für Jesus, um nur einige zu nennen.

Der Gewerkschaftsführer Eugene Debs nannte ihn einen Freund des Sozialismus: „Jesus Christus gehört zur Arbeiterklasse. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass er mein Freund und Kumpel ist.“15 Dagegen sagte Henry Ford, sein Kapitalismus sei in Wahrheit christlicher Idealismus. Die Quäker verstanden seine Botschaft als den Befehl zum Pazifismus („als Christus Petrus entwaffnete, entwaffnete er uns alle“), während Kaiser Konstantin wegen der Verheißung des Sieges durch das Kreuz zum Glauben kam („in diesem Zeichen wirst du siegen“).

Denken Sie nur einmal darüber nach, welche Menschen Jesus verbindet: den Bürgerrechtler und Baptistenpastor Jesse Jackson und den Baptisten-Fernsehprediger Jerry Falwell; den Bush-Kritiker Jim Wallis und den Bush-Befürworter Jim Dobson; die Realistin Anne Lamott (Autorin) und Thomas Kinkaide, den Maler idyllischer Szenerien; den Evangelisten Billy Graham und den Sportler und Prediger Billy Sunday; Bill Clinton und „Bill“ Shakespeare; Bono, Bach und den Gospelsänger Bev Shea; Galileo, Isaac Newton und Johannes Kepler; Thomas von Aquin und Thomas von Kempen; T.S. Elliot und C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien; den Politiker George Washington, den Schauspieler Denzel Washington und den Botaniker George Washington Carver; die farbige Frauenrechtlerin Sojourner Truth und den Südstaatengeneral Robert E. Lee; Kaiser Konstantin und Karl den Großen; die Republikanerin Sarah Palin und den Demokraten Barack Obama; den englischen Dichter John Milton, die amerikanische Folkloregestalt Paul Bunyan, die Roman- und Filmgestalt Mr Rogers und Jimmy Carter und Peter den Großen:

Jesus hat etwas an sich, das die Mensch anstachelt, Dinge zu tun, die sie eigentlich lieber nicht tun würden: Franz von Assisi verzichtete auf all seinen Besitz; Augustinus gab seine Mätresse auf; John Newton gab den Sklavenhandel auf und Pater Damien seine Gesundheit.

Der agnostische britische Griesgram Malcolm Muggeridge stutzte, als er eine Leprastation in Indien besuchte, die von den Missionarinnen der Nächstenliebe geführt wurde. Als er Mutter Teresas Arbeit sah, wurde ihm mit aller Macht bewusst, dass Humanisten keine Leprastationen betrieben.16

Jesus ist der Mann, den niemand kennt.

Aber nicht nur das.

Der Erste, der über ihn geschrieben hat und später unter dem Namen Paulus bekannt werden sollte, sagte, er sei ihm ungebeten und ungewollt erschienen. Und Jesus pflegte auch weiterhin dort aufzutauchen, wo er nicht immer gesucht oder willkommen war.

Die Autorin Mary Karr, Tochter einer Mutter, die siebenmal verheiratet war, Marys Spielsachen verbrannte und versuchte, ihre Tochter zu erstechen, war ihr Leben lang Agnostikerin. Karr war die gefeierte Autorin von „Der Club der Lügner“ und chronische Alkoholikerin. Jesus war wirklich der Letzte, mit dem sie gerechnet hätte. Sie sagte: „Wenn Sie mir ein Jahr zuvor gesagt hätten … dass ich eines Tages flüsternd in einem Beichtstuhl meine Sünden bekennen oder auf den Knien den Rosenkranz beten würde, hätte ich mich kaputtgelacht. Eher wäre ich Striptänzerin geworden. Oder Spionin. Oder Drogenkurier. Oder Killerin.“17

Jesus war Lehrer, aber irgendwie nicht nur das. Er behauptete, er habe etwas auf eine Art verkündet oder entdeckt oder eingeführt, wie es Lehrer sonst nie taten. Der Historiker Pelikan schrieb: „Justinian baute die Hagia Sophia in Konstantinopel und Johann Sebastian Bach schrieb seine h-Moll-Messe nicht einfach im Namen eines großen Lehrers oder sogar des größten Lehrers überhaupt. Es gibt keine Kathedralen, die zur Ehre von Sokrates errichtet wurden.“18

Wie konnte Jesus bloß die Irrtümer seiner Nachfolger überdauern? Inquisition, Hexenjagd, Kreuzzüge, die Verteidigung der Sklaverei, Imperialismus, Ablehnung der Naturwissenschaften und Religionskriege kommen und gehen und kommen zurück. Voreingenommenheit und Intoleranz und Engstirnigkeit breiten sich über Kontinente und Jahrhunderte aus. Geld- und Sexskandale, in die christliche Führungspersönlichkeiten verwickelt sind, scheinen kein Ende zu nehmen, und seine Nachfolger bereiten Jesus wahrscheinlich mehr Sorgen als seine Feinde. Vielleicht scheint er deshalb so viel unterwegs zu sein.

Der britische Theologe Andrew Walls hat festgestellt, dass die meisten Religionen ihr Zentrum nach wie vor dort haben, wo sie ursprünglich herstammen. Aber bei der Jesus-Bewegung ist das anders. Sie begann in Jerusalem, wurde aber von niederen Heiden mit solcher Leidenschaft angenommen, dass sie sich durch den damaligen Mittelmeerraum nach Nordafrika, Alexandria und Rom ausbreitete. Dann nahmen sie sich noch mehr Barbaren zu Herzen, sodass sie sich nach Nordeuropa und schließlich auch Nordamerika ausbreitete. Im vergangenen Jahrhundert gab es noch einmal eine große Verschiebung: Die Mehrheit der Christen weltweit lebt jetzt in der südlichen und östlichen Hemisphäre. Auf die Frage, warum das so ist, antwortet Walls: „Der christliche Glaube ist in seinem Innersten verwundbar und zerbrechlich. Man könnte sagen, es ist die Verwundbarkeit des Kreuzes.“19 Wo der Glaube zu lange zu viel Geld und zu viel Macht hat, da verdirbt er, und das geografische Zentrum verlagert sich.

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson hat einmal gesagt: „Der Name Jesu ist nicht in die Weltgeschichte hineingeschrieben, sondern hineingepflügt worden.“20

Der britische Science-Fiction-Autor, Historiker und Soziologe H.G. Wells staunte, dass nach zwei Jahrtausenden

„ein Historiker wie ich, der sich selbst nicht einmal Christ nennt, immer noch das Bild vorfindet, das sich unwiderstehlich auf das Leben und die Person dieses überaus bedeutenden Menschen konzentriert … Der Historiker prüft die Größe einer Persönlichkeit mithilfe der Frage: ,Hat er etwas hinterlassen, das weiter wächst?‘ Hat er Menschen dazu gebracht, neue Gedanken zu denken, die auch nach ihm noch Bestand hatten? Bei diesem Test steht Jesus ganz oben auf der Liste.“21

Warum?

Vielleicht lebte er einfach zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht war Jesus bloß ein mitfühlender Mensch, der gerade in dem Moment daherkam, als die römische Infrastruktur stark war, die griechische Philosophie die Autorität der Götter untergrub, das Heidentum ausstarb, soziale Strukturen zusammenbrachen, wenig Stabilität und viel Sorge und Leichtgläubigkeit da war … Vielleicht hatte er einfach nur Glück. Oder vielleicht war Jesus auch bloß ein freundlicher, einfacher, unschuldiger Mensch mit einer netten Mutter und einem Händchen für einprägsame Sprüche, der zur rechten Zeit am rechten Ort war. Eine Art Jesus Gump. Vielleicht ist sein Platz in der Geschichte nur das Resultat eines großen Zufalls.

Aber vielleicht auch nicht.

Kapitel 2

Das Ende der Menschenwürde

Er kam ohne jede Würde auf diese Welt.

Vermutlich wäre er als Mamser bezeichnet geworden. Das ist der hebräische Ausdruck für ein uneheliches jüdisches Kind. In jeder Sprache gibt es einen Ausdruck für Mamser, und es ist immer ein hässliches Wort. Sein Kinderbett war ein Futtertrog. Seine ersten Spielkameraden waren vierfüßig. Er war in Lumpen gewickelt. Er wurde in einem Stall geboren, war die Zielscheibe eines mordlüsternen Politikers und ein Flüchtlingskind.

Und er sollte noch würdeloser sterben: angeklagt, geschlagen, blutig, verlassen, nackt, bloßgestellt. Er hatte keinen Status. Königliche Würde wäre das Letzte, was einem in den Sinn kommt, wenn man über Jesus nachdenkt.

Und doch gibt es in der Geschichte einen König. Jesus wurde geboren, „als Herodes König von Judäa war“1.

In den Augen eines antiken Lesers verkörperte Herodes – nicht Jesus – in dieser Geschichte Größe. Herodes war von edler Abstammung, befehligte Armeen und war im römischen Senat so angesehen, dass man ihm schon im Alter von dreiunddreißig Jahren den Titel „König der Juden“ verlieh. Seine politischen Schachzüge waren so ausgeklügelt, dass er sich vierzig Jahre lang auf seinem Thron behaupten und sogar Kaiser Augustus überreden konnte, ihm seine Stellung zu überlassen, obwohl er sich mit Augustus’ Erzfeind Marcus Antonius verbündet hatte. Er war der größte Bauherr seiner Zeit. „Zur Zeit des Herodes baute niemand so viele Bauwerke, die ein so helles Licht auf diese Zeit warfen.“2 Die gewaltigen Steine des Tempels, den er errichten ließ, stehen noch zweitausend Jahre später.

Jesus war ein Baumeister. Zimmermann. Wahrscheinlich hat er in einer Stadt namens Sepphoris für einen von Herodes’ Söhnen gearbeitet. Doch nichts von dem, was er baute, hat überlebt. In der Antike hätte Herodes alle Sympathien auf seiner Seite gehabt. Er war den Göttern näher, war ein Wächter des Römischen Friedens und Ratgeber des Kaisers. Seine vollständige Biografie trägt den Titel „Herodes, König der Juden, Freund der Römer“. Und die beiden Bezeichnungen hängen untrennbar zusammen: Wäre Herodes nicht ein Freund der Römer gewesen, wäre er nicht König der Juden geworden.

Jesus hingegen wurde „Freund der Sünder“ genannt. Und das war nicht als Kompliment gemeint. Er wurde sogar als Feind der Römer verhaftet.

Herodes herrschte zu einer Zeit, in der nur die Rücksichtslosen überlebten. Er beugte sich vor niemandem. Er hatte zehn oder elf Frauen. Er verdächtigte die Einzige davon, die er je wirklich liebte, zu hohe Ambitionen zu haben, und ließ sie hinrichten. Er ließ auch seine Schwiegermutter, zwei seiner Schwäger und zwei seiner eigenen Söhne von dieser Frau hinrichten. Als sein alter Friseur versuchte, sich für seine Söhne einzusetzen, ließ er ihn ebenfalls hinrichten. Der Kaiser sagte einmal (mit Blick auf das jüdische Verbot, Schweinefleisch zu essen), es sei besser, das Schwein von Herodes zu sein als sein Sohn. Herodes belohnte seine Freunde und bestrafte seine Feinde, was zu seiner Zeit das Kennzeichen von wahrer Seelengröße war.

Jesus verhielt sich als Erwachsener vor dem Nachfolger von Herodes fast genauso schweigsam und passiv wie als Säugling vor Herodes selbst.

Herodes klammerte sich bis zuletzt an seinen Titel. Als er im Sterben lag, ließ er eine Gruppe Aufständischer verhaften, die Anführer bei lebendigem Leib verbrennen und die Übrigen hinrichten. Fünf Tage vor seinem Tod ließ er einen weiteren Sohn hinrichten, weil der versucht hatte, vorzeitig die Macht an sich zu reißen. In seinem Testament verfügte er, dass unzählige angesehene Israeliten am Tag seines Todes hingerichtet werden sollten, damit in Israel auch wirklich Trauer herrschte.

Herodes galt in Rom als der erfolgreichste Herrscher Israels, den das Römische Reich je hatte. Niemand sollte je wieder den Titel „König der Juden“ tragen, mit Ausnahme eines Kreuzigungsopfers, das an einem Freitagnachmittag für einige Stunden am Kreuz hing.

Für uns ist Herodes immer der Bösewicht im Krippenspiel, aber zu seiner Zeit hielten ihn viele für eine herausragende Persönlichkeit, vor allem diejenigen, deren Meinung am meisten galt. Wie es kam, dass Größe heutzutage anders definiert wird, ist Teil dieser Geschichte. Zwar ahnte es damals noch niemand, aber die antike Auffassung von Würde sollte schon bald über den Haufen geworfen werden. Die Menschenwürde würde nicht länger ihre schützenden Flügel ausschließlich über Herodes (und Menschen wie ihn) ausbreiten, sondern alle auf diesem Planeten erreichen.

Die Lebenswege von Herodes und Jesus kreuzten sich, als Sterndeuter aus dem Osten anreisten und sich erkundigten, wo sie den neugeborenen (man beachte den Titel) „König der Juden“ finden könnten. Herodes behauptete zwar, ein Anhänger der Religion des Volkes Israel zu sein, aber es waren die heidnischen Sterndeuter, die voller Respekt und Bescheidenheit nach der Wahrheit suchten. Jesus hatte vom ersten Tag an etwas an sich, das die Menschen dazu zwang, einen Standpunkt einzunehmen.

„Als König Herodes das hörte, war er bestürzt“ – was wohl eine starke Untertreibung war! – „und mit ihm alle Einwohner Jerusalems.“3 Jetzt wird klar, warum.

„Herodes war außer sich vor Zorn … Er ließ alle Jungen unter zwei Jahren in Bethlehem und Umgebung umbringen. Denn nach den Angaben der Sterndeuter musste das Kind in diesem Alter sein. So erfüllte sich die Vorhersage des Propheten Jeremia: ‚Schreie der Angst hört man in der Stadt Rama, das Klagen nimmt kein Ende. Rahel weint um ihre Kinder, sie will sich nicht trösten lassen, denn ihre Kinder wurden ihr genommen.‘“4

Ich wurde in einer Kirche groß, in der jedes Jahr ein Krippenspiel aufgeführt wurde. Wir zogen Bademäntel an und taten, als seien wir Maria und Josef und die Hirten und die Weisen. Aber irgendwie kam Herodes in diesen Krippenspielen nie vor. Seine Tat wurde als „Der Kindermord des Herodes“ bekannt.

Über solche Ereignisse schreibt man keine Lieder. Die Nacht, in der Jesus geboren wurde, war nicht so still und heilig, und das kleine Kind schläft nicht „in himmlischer Ruh“.

Herodes schickt in der Folgezeit seine Soldaten nach Bethlehem, in die Häuser wehrloser Bauernfamilien, die ihnen nicht Einhalt gebieten können. Sie stürmen hinein, und wenn sie einen männlichen Säugling finden, ziehen sie ihr Schwert und stoßen es dem Kind in den Leib. Dann gehen sie wieder. Jahrhunderte später schrieb jemand ein Lied: „Kleine Stadt, Bethlehem, nahe bei Jerusalem, Gott war dir zugetan.“5 Aber Herodes war ihr alles andere als zugetan, als er nach Jesus suchte.

Matthäus betont den schmerzhaften Unterschied zwischen Bauer und König: „Rahel weint um ihre Kinder.“ Die Rabbiner sagen, dass die jüdische Stammesmutter Rahel Jahrhunderte zuvor in Bethlehem begraben worden war, und zwar in der Nähe der Straße, die aus Israel wegführt, damit sie um die hilflosen Vertriebenen weinen konnte, die ihre Heimat verlassen mussten.

Schon bald sollten noch mehr Menschen Bethlehem verlassen. Die Eltern von Jesus flohen nach Ägypten, als Jesus noch hilflos und ahnungslos war. Herodes, der ganze Städte bauen ließ und Armeen anführte, wurde Herodes der Große genannt.

Jesus gab niemand die Bezeichnung „Jesus der Große“. Matthäus gibt Jesus immer wieder einen ganz anderen Namen: „Er blieb über dem Haus stehen, in dem das Kind war … wo sie das Kind mit seiner Mutter Maria fanden … und beschenkten das Kind … flieh mit dem Kind und seiner Mutter nach Ägypten! … denn Herodes sucht das Kind und will es umbringen. Da brach Josef noch in der Nacht mit Maria und dem Kind nach Ägypten auf … kehre mit dem Kind und seiner Mutter heim ins Land Israel!“6

Die Bezeichnung „Kind“ war vor allem zur damaligen Zeit ein starker Gegensatz zu „König“ oder „der Große“. In der von Status geprägten Welt der Antike standen Kinder auf der untersten Stufe der Hierarchie. Sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen bedeuteten die Worte für „Kind“ so viel wie „nicht sprechend“. Kinder waren in ihren Augen einfach keine vernunftbegabten Wesen.

Platon schrieb über den „Pöbel mit bunt gemischten Gelüsten, Schmerzen und Freuden“, den man unter Kindern, Sklaven und Frauen vorfand. Es war bekannt, dass Kinder Angst hatten, schwach und hilflos waren. „Keines unter den Tieren neigt so sehr zu Tränen“, schrieb Plinius der Ältere.7 Kind sein hieß abhängig, schutzlos, anfällig, verletzlich und in Gefahr zu sein.

Diese Eigenschaften wurden in der Antike nicht mit Heldentum in Verbindung gebracht. Ein Held vollbrachte etwas. Einem Kind stieß etwas zu. In den Geschichten über Herkules wird davon berichtet, dass dieser schon, als er noch in der Wiege lag, zwei Giftschlangen packte und mit seinen bloßen kleinen Händchen tötete. Im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus erfanden die Menschen Geschichten über Jesus, der schon als Kind große Macht gehabt haben soll. In einer dieser Geschichten erweckt er Vögel aus Ton zum Leben. In einer anderen bewirkt er auf wundersame Weise den Tod eines Kindes. Aber es waren die Art von Geschichten, die die Griechen für ihre Sagenhelden erfunden hatten, um ihnen schon als Kinder Würde zu verleihen. In den vier Evangelien stehen keine derartigen Geschichten über das Kind Jesus.

Herodes der Große vollbrachte Dinge. Dem Kind Jesus stießen Dinge zu.

Dann wird diese Geschichte etwas auf den Kopf gestellt. Der nächste Abschnitt im Leben von Jesus wird mit dem Satz „Als Herodes gestorben war …“ eingeleitet.8

Im 2. Kapitel erwähnt Matthäus sogar drei Mal, dass Herodes tot war. Matthäus wollte seinen Lesern klarmachen, dass Herodes der Große mit all seinem Wohlstand, seiner Ehre, seiner Macht und seiner Krone jetzt Herodes der Tote war.

Herodes starb. Das ist eine subtile Erinnerung an den großen Gleichmacher. Wer wird wohl noch sterben?

Ein Freund hat mir einmal eine Uhr geschenkt, die ich heute noch trage. Auf dem einen Zeiger steht „Denk daran“ und auf dem anderen „Du wirst sterben“. Jedes Mal, wenn mich jemand nach der Uhrzeit fragt, schaue ich auf diese Uhr. Jedes Mal, wenn ich auf die Uhr schaue, sagt sie mir: „Denk daran, du wirst sterben.“ Ein Freund hat mir diese Uhr geschenkt. Kein besonders guter Freund … aber sie erinnert mich an etwas sehr Wichtiges.

Mit Jesus war eine neue Zeit angebrochen, eine Zeit, in der sich die Ansichten über Könige und Kinder ändern würden. Man könnte sagen, dass mit dem Baby ein Gedanke in der Krippe lag. Ein Gedanke, der zum größten Teil auf jenes kleine Land Israel beschränkt war, der aber auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um sich in die ganze Welt auszubreiten – ein Gedanke, dem sich ebendiese Welt nicht gänzlich widersetzen konnte.

In der Antike beten die Menschen Götter an. Ihre Götter hatten unterschiedliche Namen, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie brachten eine hierarchische Ordnung mit sich. An der Spitze der Schöpfung standen die Götter; darunter kam der König. Unter dem König kamen der Hof und die Priester, die dem König unterstellt waren. Darunter folgten wiederum die Kunsthandwerker, Händler, Handwerker, und darunter kam die große Menge der Bauern und Sklaven, der Abschaum der Menschheit.

Der König war göttlich oder zumindest halb göttlich. Der König war nach damaligem Verständnis nach dem Ebenbild des Gottes erschaffen, der ihn erschaffen hatte. Nur der König war nach dem Ebenbild des Gottes erschaffen! Das war der große Unterschied zwischen dem König und dem Rest der Menschheit. Bauern und Sklaven waren nicht nach dem Ebenbild dieses Gottes erschaffen; sie waren von geringeren Göttern erschaffen.

Hier stehen wir vor der Kluft der Würde. Je weiter unten in der Hierarchie jemand angesiedelt war, desto größer war die Kluft.

Aber diese Kluft wurde von einer Idee infrage gestellt, der dort in der Krippe lag, einer Idee, die Israel schon seit Jahrhunderten gehütet hatte: Es gibt nur einen Gott. Er ist gut. Und jeder einzelne Mensch ist nach seinem Ebenbild erschaffen.

Weil Gott der Schöpfer von allem ist, ist die Erde voll mit seinen Kreaturen. Aber die Menschen spiegeln das Ebenbild Gottes auf eine Weise wider, wie es kein anderes Wesen kann. Sie besitzen die Fähigkeit zu denken, sich zu entscheiden, zu kommunizieren und Dinge zu erfinden. Der Mensch ist ein Geschöpf, das erschaffen kann.

Stellen Sie sich nur einmal vor, was es in den Herzen des „Abschaums der Menschheit“ ausgelöst haben muss, als man ihnen sagte, dass nicht nur der König, sondern sie selbst auch nach dem Ebenbild des einen großen Gottes erschaffen waren. Mann und Frau, Sklave und Bauer – nach Gottes Ebenbild erschaffen.

Gott sagte bei der Schöpfung, dass diese Menschen „herrschen“ sollen. Das ist ein königliches Wort. Aber es ist nicht mehr nur einigen wenigen vorbehalten. Jeder Mensch hat eine königliche Würde. Als Jesus die Menschen ansah, sah er das Ebenbild Gottes. Er sah es in allen. Das ließ ihn jeden Menschen mit Würde behandeln. Dies war der Gedanke, den das kleine Kind in der Krippe „erben“ sollte – Gott hatte ihn Israel anvertraut, und jetzt sollte er durch Jesus Fleisch und Blut werden.

Die Überzeugung, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, hat sich in unserer Welt auf eine Weise verbreitet, die wir oft nicht wahrnehmen. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten beginnt mit den Worten „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“.

In diesem Satz stecken einige grundlegende Gedanken: dass die Menschen erschaffen wurden und nicht durch Zufall entstanden sind; dass ihr Schöpfer ihnen bestimmte Begabungen gegeben hat und ihnen Wert beimisst; sie haben von Natur aus bestimmte Rechte, die respektiert werden müssen, wenn eine Gesellschaft als gut gelten soll. Das gilt für alle Menschen – alle Menschen sind gleich erschaffen.

Die Vorstellung, dass alle Menschen gleich sind, war für die Antike nicht selbstverständlich. Aristoteles dachte nicht, dass alle Menschen gleich erschaffen waren. Er schrieb, dass Ungleichheit – Herren und Sklaven – die natürliche Ordnung der Dinge sei. „Dass einige herrschen und andere beherrscht werden ist nicht nur nötig, sondern auch vorteilhaft; bereits von der Stunde ihrer Geburt an sind einige für die Unterordnung und andere zur Herrschaft ersehen.“9

Wer hat dafür gesorgt, dass sich in der Zeit zwischen Aristoteles und Thomas Jefferson die Auffassungen von der Würde des Menschen so sehr geändert haben?

Nicholas Wolterstorff, der Religionsphilosoph von der Universität Yale, hat festgestellt, dass der Mensch durch die ganze Geschichte hindurch immer in festen Stämmen und Gruppen lebte. Wir glauben also nicht von Natur aus, dass „Außenstehende“ die gleichen Rechte und die gleiche Bedeutung haben, wir grenzen uns immer ab. Was hat also dazu geführt, dass eine moralische Subkultur auftrat, die behauptete, jeder Mensch habe Rechte?

Wolterstorff hat darauf eine erstaunliche Antwort: die Lehren der Bibel, die durch Jesus gelebt und der ganzen Welt zugänglich gemacht wurden und die die Behauptung aufstellen, dass jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen und von ihm geliebt ist.10

Natürlich gibt es Abstufungen, was Begabung, Kraft, Intelligenz oder Schönheit angeht. Aber Martin Luther King sagte: „Es gibt keine Abstufungen, wenn es um die Ebenbildlichkeit Gottes geht.“11

Der Grund dafür, dass jeder Mensch für Jesus so wertvoll ist, ist der, dass jeder Mensch von Gott geliebt wird. Jeder Mensch hat einen ihm „verliehenen Wert“, könnte man sagen.

Als eine unserer Töchter noch ganz klein war, hatte sie eine Puppe, die sie mehr als alle anderen liebte. Diese Puppe hatte ursprünglich einmal ihrer Schwester gehört. Doch sie liebte diese Puppe so sehr, dass sie sie in Beschlag nahm und wir ihrer Schwester eine neue kaufen mussten. Sie nannte ihre Puppe „Baby Tweezers“. Diese wurde so heiß geliebt, dass ihr Kleid irgendwann zerfiel und sie nur noch aus einem kleinen Plastikkopf, Armen und Beinen und ihrem weichen Rumpf bestand. Ab da hieß sie „nackte Baby Tweezers“. Sie wurde aber nicht wegen ihrer Schönheit so geliebt; sie setzte eher einen neuen Maßstab für Hässlichkeit. Sie wurde geliebt, „weil“. Einfach nur „weil“.

Wir durften Baby Tweezers nie wegwerfen. Unsere Tochter liebte Baby Tweezers – und wir liebten unsere Tochter. Baby Tweezers hatte einen „verliehenen Wert“.

Wir kennen alle diese Art von Liebe: ob es ein Haustier ist oder ein Haus, in dem wir zwanzig Jahre gelebt und unsere Kinder großgezogen haben. Man lernt es zu lieben – nicht, weil es besser ist als andere, sondern einfach nur, „weil“.

Der Romanautor George MacDonald schrieb nur zu gerne über Prinzen und Prinzessinnen. Jemand fragte ihn einmal, warum er immer über Prinzen und Prinzessinnen schrieb. „Weil jedes Mädchen eine Prinzessin ist“, erwiderte er.12