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Dieses eBook: "Weltgeschichtliche Betrachtungen" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Diese ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d. h. das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, d.h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte. Die Philosophie aber, um uns zunächst mit ihr selbst auseinanderzusetzen, steht, wenn sie wirklich dem großen allgemeinen Lebensrätsel direkt auf den Leib geht, hoch über der Geschichte, welche im besten Falle dies Ziel nur mangelhaft und indirekt verfolgt." Jacob Burckhardt (1818-1897) war ein Schweizer Kulturhistoriker mit Schwerpunkt Kunstgeschichte. Er lehrte jahrzehntelang an der Universität Basel. Grosse Bekanntheit erhielt er durch sein Buch Die Cultur der Renaissance in Italien.
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Seitenzahl: 364
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Die Aufgabe, die wir uns für diesen Kursus gestellt haben, besteht darin, eine Anzahl von geschichtlichen Beobachtungen und Erforschungen an einen halb zufälligen Gedankengang anzuknüpfen, wie ein andermal an einen andern.
Nach einer allgemeinen einleitenden Darlegung unserer Ansicht über dasjenige, was in den Kreis unserer Betrachtung gehört, werden wir von den drei großen Potenzen Staat, Religion und Kultur zu sprechen haben, dann zunächst deren dauernde und allmähliche Einwirkung aufeinander, besonders die des Bewegten (der Kultur) auf die beiden stabilen behandeln, weiterhin zur Betrachtung der beschleunigten Bewegungen des ganzen Weltprozesses übergehen, der Lehre von den Krisen und Revolutionen, auch von der sprungartigen zeitweisen Absorption aller anderen Bewegungen, dem Mitgären des ganzen übrigen Lebens, den Brüchen und Reaktionen, also zu dem, was man Sturmlehre nennen könnte, darauf von der Verdichtung des Weltgeschichtlichen, der Konzentration der Bewegungen in den großen Individuen sprechen, in welchen das Bisherige und das Neue zusammen als ihren Urhebern oder ihrem Hauptausdruck momentan und persönlich werden, und endlich in einem Abschnitt über Glück und Unglück in der Weltgeschichte unsere Objektivität gegen Übertragung des Wünschbaren in die Geschichte zu wahren suchen.
Wir wollen nicht eine Anleitung zum historischen Studium im gelehrten Sinne geben, sondern nur Winke zum Studium des Geschichtlichen in den verschiedenen Gebieten der geistigen Welt.
Wir verzichten ferner auf alles Systematische; wir machen keinen Anspruch auf »weltgeschichtliche Ideen«, sondern begnügen uns mit Wahrnehmungen und geben Querdurchschnitte durch die Geschichte und zwar in möglichst vielen Richtungen; wir geben vor allem keine Geschichtsphilosophie.
Diese ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d. h. das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, d.h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte. Die Philosophie aber, um uns zunächst mit ihr selbst auseinanderzusetzen, steht, wenn sie wirklich dem großen allgemeinen Lebensrätsel direkt auf den Leib geht, hoch über der Geschichte, welche im besten Falle dies Ziel nur mangelhaft und indirekt verfolgt.
Nur muß es eine wirkliche, d. h. voraussetzungslose Philosophie sein, welche mit eigenen Mitteln arbeitet. Denn die religiöse Lösung des Rätsels gehört einem besonderen Gebiet und einem besonderen inneren Vermögen des Menschen an.
Was nun die Eigenschaften der bisherigen Geschichtsphilosophie betrifft, so ging sie der Geschichte nach und gab Längendurchschnitte; sie verfuhr chronologisch. Sie suchte auf diese Weise zu einem allgemeinen Programm der Weltentwicklung durchzudringen, meist in höchst optimistischem Sinne.
So Hegel in seiner Philosophie der Geschichte. Er sagt (S. 12 f.), der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringe, sei der einfache Gedanke der Vernunft, der Gedanke, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei, und das Ergebnis der Weltgeschichte müsse (sic!) sein, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen sei, – was alles doch erst zu beweisen und nicht »mitzubringen« war. Er spricht (S. 18) von dem »von der ewigen Weisheit Bezweckten« und gibt seine Betrachtung als eine Theodicee aus, vermöge der Erkenntnis des Affirmativen, in welchem das Negative (populär: das Böse) zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet; er entwickelt (S. 21) den Grundgedanken, die Weltgeschichte sei die Darstellung, wie der Geist zu dem Bewußtsein dessen komme, was er an sich bedeute; es soll eine Entwicklung zur Freiheit stattfinden, indem im Orient einer, dann bei den klassischen Völkern wenige frei gewesen, und die neuere Zeit alle frei mache. Auch die behutsam eingeleitete Lehre von der Perfektibilität, d. h. dem bekannten sogenannten Fortschritt, findet sich bei ihm (S. 54).
Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.
Es ist aber überhaupt die Gefahr aller chronologisch angeordneten Geschichtsphilosophien, daß sie im günstigen Fall in Weltkulturgeschichten ausarten (in welchem abusiven Sinne man den Ausdruck Geschichtsphilosophie kann gelten lassen), sonst aber einen Weltplan zu verfolgen prätendieren und dabei, keiner Voraussetzungslosigkeit fähig, von Ideen gefärbt sind, welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben.
Freilich ist nicht bloß bei Philosophen der Irrtum gang und gäbe: unsere Zeit sei die Erfüllung aller Zeit oder doch nahe daran und alles Dagewesene sei als auf uns berechnet zu betrachten, während es, samt uns, für sich, für das Vorhergegangene, für uns und für die Zukunft vorhanden war. Ihr besonderes Recht hat die religiöse Geschichtsübersicht, für die das große Vorbild Augustins Werk de civitate dei ist, das an der Spitze aller Theodiceen steht. Uns geht sie hier nichts an.
Auch andere Weltpotenzen mögen die Geschichte nach ihrer Art ausdeuten und ausbeuten, z. B. die Sozialisten mit ihren Geschichten des Volkes.
Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird.
Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vorstufe zu uns als Entwickelten; – wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches.
Jene sind mit Spekulation über die Anfänge behaftet und müßten deshalb eigentlich auch von der Zukunft reden; wir können jene Lehren von den Anfängen entbehren, und die Lehre vom Ende ist nicht von uns zu verlangen.
Immerhin ist man dem Kentauren den höchsten Dank schuldig und begrüßt ihn gerne hie und da an einem Waldesrand der geschichtlichen Studien. Welches auch sein Prinzip gewesen, er hat einzelne mächtige Ausblicke durch den Wald gehauen und Salz in die Geschichte gebracht. Denken wir dabei nur an Herder.
Übrigens ist jede Methode bestreitbar und keine allgültig. Jedes betrachtende Individuum kommt auf seinen Wegen, die zugleich sein geistiger Lebensweg sein mögen, auf das riesige Thema zu und mag dann diesem Wege gemäß seine Methode bilden.
Da nun unsere Aufgabe insofern eine mäßige ist, als unser Gedankengang keine Ansprüche macht, ein systematischer zu sein, dürfen wir uns auch (heil uns!) beschränken. Wir dürfen und müssen nicht nur absehen von vermutlichen Urzuständen, von aller Betrachtung der Anfänge, sondern auch uns beschränken auf die aktiven Rassen und in denselben auf die Völker, deren Geschichte uns Kulturbilder von genügender und unbestrittener Deutlichkeit gewährt. Fragen wie die nach Einwirkung von Boden und Klima und die nach der Bewegung der Weltgeschichte von Osten nach Westen sind Einleitungsfragen für Geschichtsphilosophen, nicht für uns,1 und daher ganz zu übergehen, sowie auch alles Kosmische, die Lehre von den Rassen, die Geographie der drei alten Weltteile u. dgl.2
Überall im Studium mag man mit den Anfängen beginnen, nur bei der Geschichte nicht. Unsere Bilder derselben sind meist doch bloße Konstruktionen, wie wir besonders bei Gelegenheit des Staates sehen werden, ja bloße Reflexe von uns selbst. Gering ist die Gültigkeit des Schlusses von Volk zu Volk oder von Rasse zu Rasse. Was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können, sind ohnehin schon ganz späte Stadien. Das ägyptische Königtum des Menes z. B. deutet auf eine lange und große Vorgeschichte hin. Und nun sollten wir gar an Fragen wie die herantreten, welches die Menschheit der Pfahlbauten war? Wie schwer sehen wir in unsere Zeitgenossen und Nächsten und wie vollends in Menschen anderer Rassen usw.
Unumgänglich ist hier eine Erörterung über die große Gesamtaufgabe der Geschichte im allgemeinen, über das, was wir eigentlich sollten.
Da das Geistige wie das Materielle wandelbar ist und der Wechsel der Zeiten die Formen, welche das Gewand des äußeren wie des geistigen Lebens bilden, unaufhörlich mit sich rafft, ist das Thema der Geschichte überhaupt, daß sie die zwei in sich identischen Grundrichtungen zeige und davon ausgehe, wie erstlich alles Geistige, auf welchem Gebiete es auch wahrgenommen werde, eine geschichtliche Seite habe, an welcher es als Wandlung, als Bedingtes, als vorübergehendes Moment erscheint, das in ein großes, für uns unermeßliches Ganzes aufgenommen ist, und wie zweitens alles Geschehen eine geistige Seite habe, von welcher aus es an der Unvergänglichkeit teilnimmt.
Denn der Geist hat Wandelbarkeit, aber nicht Vergänglichkeit.
Und neben der Wandelbarkeit steht die Vielheit, das Nebeneinander von Völkern und Kulturen, welche wesentlich als Gegensätze oder als Ergänzungen erscheinen. Man möchte sich eine riesige Geisteslandkarte auf der Basis einer unermeßlichen Ethnographie denken, welche Materielles und Geistiges zusammen umfassen müßte und allen Rassen, Völkern, Sitten und Religionen im Zusammenhang gerecht zu werden strebte. Obwohl dann auch in späten, abgeleiteten Perioden bisweilen ein scheinbares oder wirkliches Zusammenpulsieren der Menschheit eintritt, wie die religiöse Bewegung des VI. Jahrhunderts v. Chr. von China bis Jonien3 und die religiöse Bewegung zu Luthers Zeit in Deutschland und in Indien.4
Und nun das große durchgehende Hauptphänomen: Es entsteht eine geschichtliche Macht von höchster momentaner Berechtigung; irdische Lebensformen aller Art: Verfassungen, bevorrechtete Stände, eine tief mit dem ganzen Zeitlichen verflochtene Religion, ein großer Besitzstand, eine vollständige gesellschaftliche Sitte, eine bestimmte Rechtsanschauung entwickeln sich daraus oder hängen sich daran und halten sich mit der Zeit für Stützen dieser Macht, ja für allein mögliche Träger der sittlichen Kräfte der Zeit. Allein der Geist ist ein Wühler und arbeitet weiter. Freilich widerstreben diese Lebensformen einer Änderung, aber der Bruch, sei es durch Revolution oder durch allmähliche Verwesung, der Sturz von Moralen und Religionen, der vermeintliche Untergang, ja Weltuntergang kommt doch. Inzwischen aber baut der Geist etwas Neues, dessen äußeres Gehäuse mit der Zeit dasselbe Schicksal erleiden wird.
Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen; es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstrebenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge »geistig zu überwinden« und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß, und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben.
Die Wirkung des Hauptphänomens ist das geschichtliche Leben, wie es tausendgestaltig, komplex, unter allen möglichen Verkappungen, frei und unfrei daherwogt, bald durch Massen, bald durch Individuen sprechend, bald optimistisch, bald pessimistisch gestimmt, Staaten, Religionen, Kulturen gründend und zerstörend, bald sich selbst ein dumpfes Rätsel, mehr von dunkeln Gefühlen, die durch die Phantasie vermittelt sind, als von Reflexionen geführt, bald von lauter Reflexion begleitet und dann wieder mit einzelnen Vorahnungen des viel später erst sich Erfüllenden.
Diesem ganzen Wesen, dem wir als Menschen einer bestimmten Zeit unvermeidlich unseren passiven Tribut bezahlen, müssen wir zugleich beschauend gegenübertreten.
Und nun gedenken wir auch der Größe unserer Verpflichtung gegen die Vergangenheit als ein-geistiges Kontinuum, welches mit zu unserem höchsten geistigen Besitz gehört; Alles, was im entferntesten zu dieser Kunde dienen kann, muß mit aller Anstrengung und Aufwand gesammelt werden, bis wir zur Rekonstruktion ganzer vergangener Geisteshorizonte gelangen. Das Verhältnis jedes Jahrhunderts zu diesem Erbe ist an sich schon Erkenntnis, d.h. etwas Neues, welches von der nächsten Generation wieder als etwas historisches Gewordenes, d. h. Überwundenes zum Erbe geschlagen werden wird.
Auf diesen Vorteil verzichten zunächst nur Barbaren, welche ihre Kulturhülle als eine gegebene nie durchbrechen. Ihre Barbarei ist ihre Geschichtslosigkeit und vice versa. Sie haben etwa Stammsagen und ein Bewußtsein des Kontrastes mit ihren Feinden, also historisch-ethnographische Anfänge. Allein das Tun bleibt rassenhaft unfrei; schon von der Gebundenheit der Sitte usw. durch Symbole kann erst das Wissen von einer Vergangenheit frei machen.
Und sodann verzichten auf das Geschichtliche noch Amerikaner, d. h. ungeschichtliche Bildungsmenschen, welche es dann doch von der alten Welt her nicht ganz los werden. Es hängt ihnen alsdann unfrei, als Trödel an. Dahin gehören die Wappen der Newyorker Reichen, die absurdesten Formen der kalvinistischen Religion, der Geisterspuk usw., zu welchem allem aus der bunten Einwanderung noch die Bildung eines neuamerikanischen leiblichen Typus von zweifelhafter Art und Dauerhaftigkeit kommt.
Unser Geist ist aber zu dieser Aufgabe in hohem Grade von der Natur ausgerüstet.
Der Geist ist die Kraft, jedes Zeitliche ideal aufzufassen. Er ist idealer Art, die Dinge in ihrer äußeren Gestalt sind es nicht.
Unser Auge ist sonnenhaft, sonst sähe es die Sonne nicht.5 Der Geist muß die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen. Damit erhält auch der Satz Historia vitae magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.
Wie weit ist nun das Resultat Skeptizismus? Gewiß hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist; denn die Aufbesserung von seiten der Religion bleibt hier auf sich beruhen.
Vom unechten läuft zu gewissen Zeiten die Welt ohnehin voll, und wir sind nicht daran schuld; bisweilen kommt er dann plötzlich aus der Mode. Vom echten könnte man nie genug haben.
Das Wahre, Gute, Schöne, braucht bei unserer Betrachtung, richtig gefaßt, keine Not zu leiden. Das Wahre und Gute ist mannigfach zeitlich gefärbt und bedingt; auch z. B. das Gewissen ist zeitlich bedingt; aber die Hingebung, zumal die mit Gefahren und Opfern verbundene, an das zeitlich bedingte Wahre und Gute ist etwas unbedingt Herrliches. Das Schöne freilich könnte über die Zeiten und ihren Wechsel erhaben sein, bildet überhaupt eine Welt für sich. Homer und Phidias sind noch schön, während das Wahre und Gute jener Zeit nicht mehr ganz das unserige ist.
Unsere Kontemplation ist aber nicht nur ein Recht und eine Pflicht, sondern zugleich ein hohes Bedürfnis; sie ist unsere Freiheit mitten im Bewußtsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten.
Aber freilich kommen wir auf das Bewußtsein der allgemeinen und individuellen Mängel unseres Erkenntnisvermögens und der sonstigen Gefahren, wodurch die Erkenntnis bedroht ist, oft zurück.
Vor allem müssen wir das Verhältnis der beiden Pole Erkenntnis und Absichten bedenken. Schon in der geschichtlichen Aufzeichnung begegnet unser Verlangen nach Erkenntnis oft einer dichten Hecke von Absichten, welche sich im Gewand von Überlieferungen zu geben suchen. Außerdem aber können wir uns von den Absichten unserer eigenen Zeit und Persönlichkeit nie ganz losmachen, und dies ist vielleicht der schlimmere Feind der Erkenntnis. Die deutlichste Probe hiefür ist: Sobald die Geschichte sich unserem Jahrhundert und unserer werten Person nähert, finden wir alles viel »interessanter«, während eigentlich nur wir »interessierter« sind.
Dazu kommt das Dunkel der Zukunft in den Schicksalen der Einzelnen und des Ganzen, in welches Dunkel wir dennoch beständig die Blicke richten, und in welches die zahllosen Fäden der Vergangenheit hineinreichen, deutlich und für unsere Ahnung evident, aber ohne daß wir sie verfolgen können.
Wenn die Geschichte uns irgendwie das große und schwere Rätsel des Lebens auch nur geringstenteils soll lösen helfen, so müssen wir wieder aus den Regionen des individuellen und zeitlichen Bangens zurück in eine Gegend, wo unser Blick nicht sofort egoistisch getrübt ist. Vielleicht ergibt sich aus der ruhigeren Betrachtung aus größerer Ferne ein Anfang der wahren Sachlage unseres Erdentreibens, und glücklicherweise sind in der Geschichte des Altertums einige Beispiele erhalten, wo wir das Werden, Blühen und Vergehen nach Hauptvorgängen und geistigen, politischen und ökonomischen Zuständen jeder Richtung bis auf einen hohen Grad verfolgen können, vor allem die Geschichte von Athen.
Besonders gerne verkappen sich aber die Absichten auch als Patriotismus, so daß die wahre Erkenntnis in der Beschränkung auf die Geschichte der Heimat ihre Hauptkonkurrenz findet.
Wohl gibt es Dinge, worin die heimatliche Geschichte für jeden ihre ewigen Vorzüge haben wird, und sich mit ihr zu beschäftigen, ist eine wahre Pflicht.
Allein sie würde als Korrektiv ein großes anderes Studium bedürfen, wäre es auch nur, weil sie in so hohem Grade mit unseren Wünschen und Befürchtungen verflochten ist, weil wir bei ihr unaufhörlich gestimmt sind, von der Seite der Erkenntnis auf die Seite der Absichten hinüberzuneigen. Ihre anscheinend so viel größere Verständlichkeit beruht zum Teil auf einer optischen Täuschung, nämlich auf unserem viel nachdrücklicheren Entgegenkommen, welches mit großer Blindheit geschehen kann.
Der Patriotismus, den wir dabei zu entwickeln glauben, ist oft nur ein Hochmut gegenüber von anderen Völkern und schon deshalb außerhalb des Pfades der Wahrheit, oft aber gar nur eine Art der Parteisucht innerhalb des eigenen vaterländischen Kreises, ja er besteht oft nur im Wehetun gegen andere. Die Geschichte dieser Art ist Publizistik.
Neben heftigen Feststellungen metaphysischer Begriffe, heftigen Definitionen des Guten und Rechten, wobei, was außerhalb liegt, Hochverrat ist, kann ein Fortleben im ordinärsten Philisterleben und Erwerbtreiben bestehen.
Es gibt aber neben dem blinden Lobpreisen der Heimat eine ganz andere und schwerere Pflicht, nämlich sich auszubilden zum erkennenden Menschen, dem die Wahrheit und die Verwandtschaft mit allem Geistigen über alles geht, und der aus dieser Erkenntnis auch seine wahre Bürgerpflicht würde ermitteln können, wenn sie ihm nicht schon mit seinem Temperament angeboren ist.
Vollends im Reiche des Gedankens gehen alle Schlagbäume billig in die Höhe. Es ist des Höchsten nicht so viel über die Erde zerstreut, daß heute ein Volk sagen könnte, wir genügen uns vollständig, oder auch nur: wir bevorzugen das Einheimische, hält man es doch nicht einmal wegen der Industrieprodukte so, sondern greift bei gleicher Qualität, Zoll und Transport mitberechnet, einfach nach dem Wohlfeilern oder bei gleichen Preisen nach dem Besseren. Im geistigen Gebiet muß man einfach nach dem Höheren und Höchsten greifen, das man erreichen kann.
Das wahrste Studium der vaterländischen Geschichte wird dasjenige sein, welches die Heimat in Parallele und Zusammenhang mit dem Weltgeschichtlichen und seinen Gesetzen betrachtet, als Teil des großen Weltganzen, bestrahlt von denselben Gestirnen, die auch anderen Zeiten und Völkern geleuchtet haben, und bedroht von denselben Abgründen und einst heimfallend derselben ewigen Nacht und demselben Fortleben in der großen allgemeinen Überlieferung. Schließlich wird durch das Streben nach reiner Erkenntnis auch die Eliminierung oder Beschränkung der Begriffe Glück und Unglück für die Weltgeschichte notwendig. Die Darlegung, weshalb dies zu geschehen hat, möge dem letzten Kapitel dieses Kursus vorbehalten bleiben; hier aber möge nun zunächst auch von der diesen Mängeln und Gefahren gegenüberstehenden speziellen Befähigung unserer Zeit zum Studium des Geschichtlichen gesprochen werden.
Fußnoten
1 Wir verweisen hierüber auf E. v. Lasaulx, Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, S. 72 u. 73 ff.
2 Ebenda S. 34 ff., 46 f., 88 ff.
3 Vgl. Lasaulx, S. 115.
4 Vgl. Ranke, Deutsche Geschichte, Bd. I, S. 226.
5 Vgl. die bei Lasaulx S. 8 zitierte, Goethes bekanntem Spruch zugrunde liegende Stelle aus Plotin 1, 6, 9: ου γαρ αν πωποτε ειδεν οφθαλμοσ ηλιον ηλοειδησ μη γεγενημηνοσ
Ob wir eine spezifisch höhere geschichtliche Erkenntnis besitzen, läßt sich fragen.
Lasaulx (S. 10) meint sogar, »daß von dem Leben der heutigen Völker Europas bereits so viel abgelaufen sei, daß die nach einem Ziel konvergierenden Direktionslinien erkannt werden, ja Schlüsse auf die Zukunft gezogen werden können.«
Aber so wenig als im Leben des Einzelnen ist es für das Leben der Menschheit wünschenswert, die Zukunft zu wissen. Und unsere astrologische Ungeduld danach ist wahrhaft töricht.
Ob wir uns das Bild eines Einzelnen vorstellen, der z. B. seinen Todestag und die Lage, in der er sich dann befinden würde, vorauswüßte, oder das Bild eines Volkes, welches das Jahrhundert seines Untergangs vorauskennte, beide Bilder müßten als notwendige Folge zeigen eine Verwirrung alles Wollens und Strebens, welches sich nur dann völlig entwickelt, wenn es »blind«, d. h. um unser selbst willen, den eigenen inneren Kräften folgend, lebt und handelt. Die Zukunft bildet sich ja nur, indem dies geschieht, und wenn es nicht geschähe, so würde auch Fortgang und Ende des Menschen oder Volkes sich anders gestalten. Eine vorausgewußte Zukunft ist ein Widersinn.
Abgesehen von der Nichtwünschbarkeit ist das Voraussehen des Künftigen für uns aber auch nicht wahrscheinlich. Vor allem stehen ihm die Irrungen der Erkenntnis durch unser Wünschen, Hoffen und Fürchten im Wege, sodann unsere Unkenntnis alles dessen, was man latente Kräfte, materielle wie geistige, nennt, und das Unberechenbare geistiger Kontagien, welche plötzlich die Welt umgestalten können. Ferner kommt hier auch die große akustische Täuschung in Betracht, in der wir leben, insofern seit vierhundert Jahren die Reflexion und ihr Raisonnement, durch die Presse bis zu völliger Ubiquität verstärkt, mit ihrem Lärm alles übertönt und scheinbar auch die materiellen Kräfte völlig von sich abhängig hält, und doch sind diese vielleicht ganz nahe an einer großen siegreichen Entfaltung anderer Art, oder es wartet eine ganz entgegengesetzte geistige Strömung vor der Tür. Siegt dann diese, so nimmt sie die Reflexion samt deren Trompeten in ihren Dienst, bis wiederum auf ein weiteres. Endlich mögen wir uns, auch was die Zukunft betrifft, unserer geringen Kenntnis der Völkerbiologie von der physiologischen Seite bewußt sein.
Wohl aber ist unsere Zeit zur Erkenntnis der Vergangenheit besser ausgerüstet als eine frühere.
Als äußere Förderungen hat sie hiebei die Zugänglichkeit aller Literaturen durch das viele Reisen und Sprachenlernen der neueren Welt und durch die große Ausbreitung der Philologie, ferner die Zugänglichkeit der Archive, die dem Reisen verdankte Zugänglichkeit der Denkmäler vermittelst der Abbildungen, zumal der Photographien, die massenhaften Quellenpublikationen durch Regierungen und Vereine, die jedenfalls vielseitiger und mehr auf das Geschichtliche als solches gerichtet sind, als dies bei der Kongregation von St. Maur und bei Muratori der Fall war.
Dazu kommen innere Förderungen und zwar zunächst negativer Art.
Dazu gehört vor allem die Indifferenz der meisten Staaten gegen die Resultate der Forschung, von welcher sie für ihren Bestand nichts fürchten, während ihre dermalige zeitliche Form (die Monarchie) unendlich viel nähere und gefährlichere Feinde hat, als jene je werden kann, überhaupt die allgemeine Praxis des laisser aller et laisser dire, weil man noch ganz anderes aus der täglichen Gegenwart in jeder Zeitung muß passieren lassen. (Und doch ließe sich behaupten, daß Frankreich die Sache zu leicht genommen hat. Der radikale Zweig seiner Historiographie hat eine große Einwirkung auf die seitherigen Tatsachen geübt.6
Sodann ist hier auch auf die Machtlosigkeit der bestehenden Religionen und Konfessionen gegenüber jeder Erörterung ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Lage hinzuweisen. Eine gewaltige Forschung hat sich der Betrachtung jener Zeiten, Völker und Zustände zugewandt, wo sich die ursprünglichen Vorstellungen bildeten, von welchen die Religionen sind mitbestimmt oder geschaffen worden. Eine große vergleichende Mythologie, Religions- und Dogmengeschichte ist auf die Länge nicht auszuschließen gewesen. Und nun die Förderungen positiver Art: Vor allem haben die gewaltigen Änderungen seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts etwas in sich, was zur Betrachtung und Erforschung des Früheren und des Seitherigen gebieterisch zwingt, selbst abgesehen von aller Rechtfertigung oder Anklage.
Eine bewegte Periode wie diese dreiundachtzig Jahre Revolutionszeitalter, wenn sie nicht alle Besinnung verlieren soll, muß sich ein solches Gegengewicht schaffen.
Nur aus der Betrachtung der Vergangenheit gewinnen wir einen Maßstab der Geschwindigkeit und Kraft der Bewegung, in welcher wir selber leben.
Sodann gewöhnte das Schauspiel der französischen Revolution und ihre Begründung in dem, was vorhergegangen, den Blick an die Erforschung nicht bloß materieller, sondern vorzugsweise geistiger Kausalitäten und an deren sichtbares Umschlagen in materielle Folgen. Die ganze Weltgeschichte, soweit die Quellen reichlicher fließen, könnte eben dasselbe lehren, allein diese Zeit lehrt es am unmittelbarsten und deutlichsten. Es ist also ein Vorteil für die geschichtliche Betrachtung heutiger Zeit, daß der Pragmatismus viel höher und weiter gefaßt wird als früher. Die Geschichte in Auffassung und Darstellung ist unendlich interessanter geworden.
Dazu haben sich durch den Austausch der Literaturen und durch den kosmopolitischen Verkehr des XIX. Jahrhunderts überhaupt die Gesichtspunkte unendlich vervielfacht. Das Entfernte wird genähert; statt eines einzelnen Wissens um Curiosa entlegener Zeiten und Länder tritt das Postulat eines Totalbildes der Menschheit auf.
Endlich kommen hiezu die starken Bewegungen in der neueren Philosophie, bedeutend an sich und beständig verbunden mit allgemeinen weltgeschichtlichen Anschauungen.
So haben die Studien des XIX. Jahrhunderts eine Universalität gewinnen können wie die früheren nie.
Fußnoten
6 Vgl. Pressensé, Les leçons du 18 mars, S. 194 ff.
Was aber ist nun unsere Aufgabe bei der Enormität des geschichtlichen Studiums, das sich über die ganze sichtbare und geistige Welt erstreckt, mit weiter Überschreitung jedes früheren Begriffs von »Geschichte«?
Zur vollständigen Bewältigung würden tausend Menschenleben mit vorausgesetzter höchster Begabung und Anstrengung lange nicht ausreichen.
Denn tatsächlich herrscht die stärkste Spezialisierung bis in Monographien über die kleinsten Einzelheiten hinein. Wobei auch sehr wohlmeinenden Leuten bisweilen jeder Maßstab abhanden kommt, indem sie vergessen, welche Quote seines Erdenlebens ein Leser (der nicht ein bestimmtes persönliches Interesse am Gegenstand hat) auf ein solches Werk wenden kann. Man sollte bei Abfassung einer Monographie jedesmal Tacitus' Agricola neben sich haben und sich sagen: je weitläufiger, desto vergänglicher.
Schon jedes Handbuch über eine einzelne Epoche oder über einen einzelnen Zweig des geschichtlichen Wissens weist in eine Unendlichkeit von ermittelten Tatsachen hinein. Ein verzweiflungsvoller Anblick beim Beginn des geschichtlichen Studiums!
Für den, welcher sich vollständig diesem Studium und sogar der historischen Darstellung widmen will, haben wir hier auch gar nicht zu sorgen. Wir wollen keine Historiker und vollends keine Universalhistoriker bilden. Unseren Maßstab entnehmen wir hier von derjenigen Fähigkeit, welche jeder akademisch Gebildete bis zu einem gewissen Grade in sich entwickeln sollte.
Wir handeln ja, wie gesagt, nicht sowohl vom Studium der Geschichte, als vom Studium des Geschichtlichen.
Jede einzelne Erkenntnis von Tatsachen hat nämlich neben ihrem speziellen Werte als Kunde oder Gedanke aus einem speziellen Reiche noch einen universalen oder historischen als Kunde einer bestimmten Epoche des wandelbaren Menschengeistes und gibt zugleich, in den richtigen Zusammenhang gebracht, Zeugnis von der Kontinuität und Unvergänglichkeit dieses Geistes. Neben der unmittelbaren Ausbeutung der Wissenschaften für das Fach eines jeden gibt es eine zweite, auf welche hier hingewiesen werden soll. Vorbedingung von allem ist ein festes Studium; Theologie, Jurisprudenz oder was es sei, muß ergriffen und akademisch absolviert werden, und zwar nicht nur um des Lebensberufes willen, sondern um konsequent arbeiten zu lernen, die Gesamtheit der Disziplinen eines bestimmten Fachs respektieren zu lernen, den nötigen Ernst in der Wissenschaft zu befestigen. Daneben aber sollen diejenigen propädeutischen Studien fortgeführt werden, welche die Zugänge zu allem Weiteren bilden, besonders zu den verschiedenen Literaturen, also die beiden alten Sprachen und womöglich einige neuere. Man weiß nie zu viele Sprachen. Und so viel oder wenig man gewußt habe, darf man die Übung nie völlig einschlafen lassen. Gute Übersetzungen in Ehren – aber den originalen Ausdruck kann keine ersetzen, und die Ursprache ist in Wort und Wendung schon selber ein historisches Zeugnis höchsten Ranges. Sodann muß negativ empfohlen werden die Vermeidung alles dessen, was nur die Zeit vertreiben soll, die man doch kommen heißen und festhalten müßte, die Zurückhaltung gegenüber der jetzigen Verwüstung des Geistes durch Zeitungen und Romane. Für uns handelt es sich überhaupt nur um solche Köpfe und Gemüter, welche der ordinären Langeweile nicht ausgesetzt sind und eine Aufeinanderfolge von Gedanken aushalten können, welche Phantasie genug eigen haben, um der stofflichen Phantasie anderer nicht zu bedürfen, oder, wenn sie dieselbe in sich aufnehmen, ihr nicht untenan werden, sondern sie wie ein anderes Objekt sich gegenüberzuhalten vermögen.
Überhaupt muß man imstande sein, sich temporär von den Absichten völlig wegwenden zu können zur Erkenntnis, weil sie Erkenntnis ist; man muß zumal Geschichtliches zu betrachten fähig sein, auch wenn es sich nicht direkt oder indirekt auf unser Wohl- und Übelergehen bezieht; und auch, wenn es sich darauf bezieht, so soll man es objektiv betrachten können.
Ferner darf die Geistesarbeit nicht bloß Genuß sein wollen. Alle echte Überlieferung ist auf den ersten Anblick langweilig, weil und insofern sie fremdartig ist. Sie kündet die Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit und kommt uns gar nicht entgegen, während das modern Unechte auf uns berechnet, daher pikant und entgegenkommend gemacht ist, wie es die fingierten Altertümer zu sein pflegen. Dahin gehört besonders der historische Roman, den so viele Leute für Geschichte lesen, die nur ein wenig arrangiert, aber im wesentlichen wahr sei.
Für den gewöhnlichen halbgebildeten Menschen ist schon alle Poesie (mit Ausnahme der Tendenzpoesie) und aus der Vergangenheit auch das Vergnüglichste (Aristophanes, Rabelais, Don Quixote usw.) unverständlich und langweilig, weil ihm nichts davon auf den Leib zugeschnitten ist wie die heutigen Romane.
Aber auch dem Gelehrten und Denker ist die Vergangenheit in ihrer Äußerung anfangs immer fremdartig und ihre Aneignung eine Arbeit.
Vollends ein vollständiges Quellenstudium über irgend einen bedeutenden Gegenstand nach den Gesetzen der Erudition ist ein Unternehmen, das den ganzen Menschen verlangt. Die Geschichte z. B. einer einzigen theologischen oder philosophischen Lehre könnte allein schon Jahre in Beschlag nehmen, und gar die ganze eigentliche Theologie, selbst mit Ausschluß der Kirchengeschichte, Kirchenverfassung usw., bloß als Dogmengeschichte und Geschichte der kirchlichen Wissenschaft gefaßt, erscheint als eine Riesenarbeit, wenn wir an alle patres, concilia, bullaria, Scholastiker, Häretiker, neueren Dogmatiker, Homiletiker und Religionsphilosophen denken. Zwar bei tieferem Eindringen sieht man, wie sie einander abschreiben; auch lernt man die Methoden kennen und aus einem kleinen Teil das Ganze erraten, läuft aber Gefahr, die wichtige halbe Seite, welche irgendwo in dem Wust verborgen steckt, zu übersehen, wenn nicht ein glückliches Ahnungsvermögen das Auge vermeintlich zufällig doch darauf führt.
Und dann die Gefahr des Erlahmens, wenn man zu lange mit lauter homogenen Sachen von beschränktem Interesse zu tun hat! Buckle hat sich an den schottischen Predigten des XVII. und XVIII. Jahrhunderts seine Gehirnlähmung geholt.
Und nun vollends der Polyhistor, der nach der heutigen Fassung des Begriffs eigentlich alles studieren müßte! Denn alles ist Quelle, nicht bloß die Historiker, sondern die ganze Literatur und Denkmälerwelt, ja letztere ist für die ältesten Zeiten die einzige Quelle. Alles irgendwie Überlieferte hängt irgendwie mit dem Geiste und seinen Wandlungen zusammen und ist Kunde und Ausdruck davon.
Für unsere Zwecke aber soll nur vom Lesen ausgesuchter Quellen, aber als solcher, die Rede sein; der Theologe, der Jurist, der Philologe möge einzelne Schriftwerke entlegener Zeiten sich aneignen, nicht nur, insofern deren Sachinhalt sein Fach im engeren Sinne berührt, sondern zugleich im historischen Sinne, als Zeugnisse einzelner bestimmter Stadien der Entwicklung des Menschengeistes.
Für den, welcher wirklich lernen, d.h. geistig reich werden will, kann nämlich eine einzige glücklich gewählte Quelle das unendlich Viele gewissermaßen ersetzen, indem er durch eine einfache Funktion seines Geistes das Allgemeine im einzelnen findet und empfindet.
Es schadet nichts, wenn der Anfänger das allgemeine auch wohl für ein besonderes, das sich von selbst Verstehende für etwas Charakteristisches, das Individuelle für ein Allgemeines hält; alles korrigiert sich bei weiterem Studium, ja schon das Hinzuziehen einer zweiten Quelle erlaubt ihm durch Vergleichung des Ähnlichen und des Kontrastierenden bereits Schlüsse, die ihm zwanzig Folianten nicht reichlicher gewähren.
Aber man muß suchen und finden wollen, und bisogna saper leggere (De Boni). Man muß glauben, daß in allem Schutt Edelsteine der Erkenntnis vergraben liegen, sei es von allgemeinem Wert, sei es von individuellem für uns; eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, daß uns ein Licht aufgehe, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist.
Und nun hat die Quelle gegenüber der Bearbeitung ihre ewigen Vorzüge.
Vor allem gibt sie das Faktum rein, so daß wir erst erkennen müssen, was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon vorwegnimmt und das Faktum schon verwertet wiedergibt, d.h. eingefügt in einen fremden und oft falschen Zusammenhang.
Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz und ein großer Teil ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes. Auch hier mögen wir wieder der Bedeutung der Originalsprachen und ihrer Kenntnis gegenüber den Übersetzungen gedenken.
Auch geht unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in vollständigem Sinne ein, wobei freilich zu konstatieren ist, daß das Wort »original« eine relative Bedeutung hat, indem, wo jene verloren ist, auch sekundäre und tertiäre ihre Stelle vertreten können. Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so daß jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muß, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des einzelnen. Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird.
Vollends ändert sich das Bild, welches vergangene Kunst und Poesie erwecken, unaufhörlich. Sophokles könnte auf die, welche jetzt geboren werden, schon wesentlich anders wirken als auf uns. Es ist dies auch gar kein Unglück, sondern nur eine Folge des beständig lebendigen Verkehrs. Wenn wir uns um die Quellen aber richtig bemühen, so winken uns als Preis auch die bedeutenden Augenblicke und vorherbestimmten Stunden, da uns aus dem vielleicht längst zu Gebote Stehenden und vermeintlich längst Bekannten eine plötzliche Intuition aufgeht.
Nun aber die schwierige Frage: Was soll der Nichthistoriker aus den ausgewählten Quellen notieren und exzerpieren?
Den materiellen Sachinhalt haben zahllose Handbücher längst ausgebeutet; nimmt er diesen heraus, so türmen sich Exzerpte auf, die er nachher wohl nie mehr ansieht. Und ein spezielles Ziel hat der Leser ja noch nicht. Es kann sich ihm aber eines ergeben, wenn er sich ansehnlich weit und noch ohne zu schreiben, in seinen Autor hineingelesen hat; dann beginne er frisch von vorn und notiere nach jenem einzelnen Ziele hin, lege aber eine zweite Reihe von Notizen über alles dasjenige an, was ihm überhaupt besonders merkwürdig vorkommt, und wären es nur die Kapitelangaben, resp. die Seitenzahlen, mit zwei Worten in betreff des Inhaltes.
Über der Arbeit ergibt sich dann vielleicht ein zweites und drittes Ziel; Parallelen und Kontraste mit anderen Quellen finden sich hinzu usw.
Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«
Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muß, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.
In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im ganzen ein roher Geselle.
Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.
Endlich gehört hierher auch noch ein Wort über unser Verhältnis zu den Naturwissenschaften und der Mathematik als unseren einzigen uneigennützigen Kameraden, während Theologie und Jus uns meistern oder doch als Arsenal benützen wollen und die Philosophie, welche über allen stehen will, eigentlich bei allen hospitiert.
Ob das Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften ihrerseits alle geschichtliche Betrachtung schlechterdings ausschließe, fragen wir dabei nicht. Jedenfalls sollte sich die Geschichte des Geistes nicht von diesen Fächern ausschließen lassen.
Eine der riesigsten Tatsachen dieser Geschichte des Geistes war die Entstehung der Mathematik. Wir fragen uns, ob sich von den Dingen zuerst Zahlen oder Linien oder Flächen loslösten. Und wie schloß sich bei den einzelnen Völkern der nötige Konsensus hierüber? Welches war der Moment dieser Kristallisation?
Und die Naturwissenschaften, wann und wie lösten sie zuerst den Geist von der Furcht vor der Natur und ihrer Anbetung, von der Naturmagie? Wann und wo wurden sie zuerst annähernd ein freies Ziel des Geistes?
Freilich hatten auch sie ihre Wandlungen, ihren zeitweiligen Dienst und ihre systematische Beschränkung und gefährliche Heiligung innerhalb bestimmter Grenzen – bei Priestern.
Aufs schmerzlichste ist die Unmöglichkeit einer geistigen Entwicklungsgeschichte Ägyptens zu beklagen, die man höchstens in hypothetischer Form, etwa als Roman, geben könnte.
Bei den Griechen kamen dann für die Naturwissenschaften die Zeiten der völligen Freiheit; nur taten sie relativ wenig dafür, weil Staat, Spekulation und plastischer Kunsttrieb die Kräfte vorwegnahmen.
Auf die alexandrinische, römische und byzantinisch-arabische Zeit folgt dann das okzidentalische Mittelalter und die Dienstbarkeit der Naturwissenschaften unter der Scholastik, welche nur das Anerkannte stützt.
Aber für die Zeit seit dem XVI. Jahrhundert sind sie einer der wichtigsten Gradmesser des Genius der Zeiten. Was sie etwa retardiert, sind sehr häufig die Akademici und Professoren.
Ihr Vorwiegen und ihre Popularisierung im XIX. Jahrhundert ist ein Faktum, bei dem wir uns unwillkürlich fragen, worauf es hinauswühle, und wie es sich mit dem Schicksal unserer Zeit verflechte.
Und nun besteht zwischen ihnen und der Geschichte nicht nur deshalb Freundschaft, weil sie, wie gesagt, allein nichts von ihr verlangen, sondern weil diese beiden Wissenschaften allein ein objektives, absichtsloses Mitleben in den Dingen haben können.
Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes.
Die Natur bietet die höchste Vollendung des Organismus der Spezies und die größte Gleichgültigkeit gegen das Individuum, ja sie statuiert feindliche, kämpfende Organismen, die bei annähernd gleich hoher organischer Vollendung einander ausrotten, miteinander ums Dasein kämpfen. Auch die Menschengeschlechter im Naturzustand gehören noch hieher: ihre Existenz mag den Tierstaaten ähnlich gewesen sein.
Die Geschichte dagegen ist der Bruch mit dieser Natur vermöge des erwachenden Bewußtseins; zugleich aber bleibt noch immer genug vom Ursprünglichen übrig, um den Menschen als reißendes Tier zu zeichnen. Hohe Verfeinerung der Gesellschaft und des Staates besteht neben völliger Garantielosigkeit des Individuums und neben beständigem Triebe, andere zu knechten, um nicht von ihnen geknechtet zu werden.
Während die Natur nach einigen Urtypen (wirbellose und Wirbeltiere, Phanerogamen und Kryptogamen usw.) schafft, ist beim Volk der Organismus nicht so sehr Typus als allmähliches Produkt; er ist der spezifische Volksgeist in seiner allmählichen Entwicklung.
Jede Spezies der Natur besitzt vollständig, was zu ihrem Leben gehört; besäße sie es nicht, so lebte sie nicht und pflanzte sich nicht fort. Jedes Volk ist unvollständig und sucht sich zu ergänzen, je höher es steht, um so mehr.
Dort ist der Entstehungsprozeß der Spezies dunkel; vielleicht ist er in Aufsummierung von Erlebnissen begründet, welche zur Aufgabe hinzutreten, aber viel langsamer und altertümlicher. Der Entstehungs- und Modifikationsprozeß des Volkstums beruht erweislich teils auf der Anlage, teils ebenfalls auf Aufsummierung von Erlebtem; nur ist er, weil der bewußte Geist hier mithilft, viel rascher als in der Natur, mit nachweisbarer Wirkung der Gegensätze und der Verwandtschaften, auf die das Volkstum trifft. Während in der Natur die Individuen gerade bei den höchsten Tierklassen für die anderen Individuen – ausgenommen etwa als stärkere Feinde oder Freunde – nichts bedeuten, findet in der Menschenwelt eine beständige Einwirkung bevorzugter Individuen statt.
Dort bleibt die Spezies relativ unverändert; Bastarde sterben aus oder sind von Anfang an unfruchtbar. Im geschichtlichen Leben ist alles voll Bastardtum, als gehörte dasselbe wesentlich mit zur Befruchtung für größere geistige Prozesse. Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung.
In der Natur erfolgt der Untergang nur durch äußere Gründe: Erdkatastrophen, klimatische Katastrophen, Überwucherung schwächerer Spezies durch frechere, edlerer durch gemeinere. In der Geschichte wird er stets vorbereitet durch innere Abnahme, durch Ausleben. Dann erst kann ein äußerer Anstoß allem ein Ende machen.
Unser Thema werden Staat, Religion und Kultur in ihrem gegenseitigen Verhältnisse sein. Hierbei sind wir uns der Willkür unserer Trennung in diese drei Potenzen wohl bewußt. Es ist, als nähme man aus einem Bilde eine Anzahl von Figuren heraus und ließe den Rest stehen. Auch soll die Trennung bloß dazu dienen, uns eine Anschauung zu ermöglichen, und ohnehin muß ja freilich jede fachweise trennende Geschichtsbetrachtung so verfahren (wobei die Fachforschung jedesmal ihr Fach für das wesentlichste hält).
Die drei Potenzen sind unter sich höchst heterogen und nicht koordinierbar, und ließe man auch die beiden stabilen: Staat und Religion, in einer Reihe gehen, so wäre doch die Kultur etwas wesentlich anderes.
Staat und Religion, die der Ausdruck des politischen und des metaphysischen Bedürfnisses sind, beanspruchen wenigstens für das betreffende Volk, ja für die Welt, die universale Geltung.
Die dem materiellen und dem geistigen Bedürfnis im engeren Sinn entsprechende Kultur aber ist für uns hier: der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Sie ist die Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt.
Eine unnütze Prioritätsfrage könnte zwischen den dreien aufgeworfen werden; wir sind hier davon wie von aller Spekulation über die Anfänge dispensiert.
Unser Hauptgegenstand wird zunächst ihre kurze Charakteristik und alsdann die Erörterung ihrer gegenseitigen Einwirkung aufeinander sein.
Bisweilen scheinen sie sogar in der Funktion abzuwechseln; es gibt vorzugsweise politische und vorzugsweise religiöse Zeiten oder wenigstens Momente und endlich Zeiten, die vorzugsweise den großen Kulturzwecken zu leben scheinen. Ferner wechselt ihr Bedingen und Bedingtsein oft in raschem Umschlag; oft täuscht sich der Blick noch lange darüber, welche die aktive und welche die passive ist.
Und jedenfalls existiert in Zeiten hoher Kultur immer alles auf allen Stufen des Bedingens und der Bedingtheit gleichzeitig, zumal wenn das Erbe vieler Epochen schichtweise übereinander liegt.
Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. Nur so viel Licht, daß man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat? Welches sind die Geburtskrisen? Wo liegt die Grenze der politischen Entwicklung, von welcher an wir von einem Staat sprechen können?
Absurd ist die Kontrakthypothese für den zu errichtenden Staat, die bei Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will, wie es gewesen sei, sondern, wie es nach ihm sein sollte. Noch kein Staat ist durch einen wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte. Die Überlieferung, welche Volk und Staat nicht unterscheidet, bleibt gerne bei der Idee von der Abstammung stehen; das Volk kennt Namensheroen und zum Teil eponyme Archegeten als mystische Repräsentanten seiner Einheit,7 oder es hat eine dunkle Kunde bald von einer Urvielheit (die ägyptischen Nomen), bald von einer Ureinheit, die sich später getrennt habe (der Turm von Babel). Aber alle diese Kunde ist kurz und mythisch.
Was für Kunde geht etwa aus dem Nationalcharakter in betreff der Anfänge des Staates hervor? Jedenfalls nur eine sehr bedingte, da er nur in einer unbestimmbaren Quote aus ursprünglicher Anlage besteht, sonst aber aus aufsummierter Vergangenheit, als Konsequenz von Erlebnissen, also zum Teil erst durch die nachherigen Schicksale des Staates und Volkes entstanden ist.8
Oft widerspricht sich die Physiognomie und das politische Schicksal eines Volkes total durch späte Verschiebung und Vergewaltigung.
Ferner kann der Staat zwar um so viel mächtiger sein, je homogener er einem ganzen Volkstum entspricht; aber er entspricht einem solchen nicht leicht, sondern einem tonangebenden Bestandteil, einer besonderen Gegend, einem besonderen Stamm, einer besonderen sozialen Schicht.