Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre -  - E-Book

Weltliteratur im SPIEGEL - Band 2: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre E-Book

0,0

Beschreibung

Weltliteratur im SPIEGEL Band 2: Schriftstellerporträts aus dem SPIEGEL der Jahre 1960 bis 1969, ausgewählt und eingeleitet von Martin Doerry. Mit Beiträgen über die Gruppe 47, Louis Aragon, Ingeborg Bachmann, Tania Blixen, Heinrich Böll, Günter Grass, die Gebrüder Grimm, Peter Handke, Gerhart Hauptmann, Ernest Hemingway, Georg Heym, Stefan Heym, Rolf Hochhuth, Jewgenij Jewtuschenko, Uwe Johnson, James Joyce, James Krüss, Karl May, Marquis de Sade, Nathalie Sarraute, Jean-Paul Sartre und William Shakespeare.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 535

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Nathalie Sarraute und der „Nouveau Roman“
Reizbewegungen
Tania Blixen
Faselgeschichten
Gebrüder Grimm
A bis Zypressenzweig
Ernest Hemingway
Wem die Stunde schlägt
Ingeborg Bachmann
Auf der Schaukel
James Joyce
Odysseus in Dublin
Heinrich Böll
Brot und Boden
Georg Heym
Füße im Kraut
Gerhart Hauptmann
Ungeheures durchgemacht
Jewgenij Jewtuschenko
Mensch, du hast Mut
Karl May
Karl der Deutsche
Gruppe 47
Richters Richtfest
Rolf Hochhuth
Ein Kampf mit Rom
Günter Grass
Zunge heraus
Uwe Johnson
Das einfache, schwierige Leben
William Shakespeare
Schwan oder nicht Schwan
James Krüss
Gruppe 64
Stefan Heym
Tag X
Uwe Johnson
Nicht Romeo, nicht Julia
Gruppe 47
Ach ja, da liest ja einer
Marquis de Sade
Die Natur, dieses Tier
Peter Handke
Zarte Seelen, trockene Texte
Martin Walser
Wortwörtliche Streichlerei
Peter Handke
Tot und sauber aufgeräumt
Jean-Paul Sartre
Sporn im Fleisch
Peter Handke
Angenehme Zerstörung
Günter Grass
Sowas durchmachen
Günter Grass
„Unser Grundübel ist der Idealismus“
Louis Aragon
Sohn des Wahnsinns
Impressum
Vorwort

Weltliteratur im SPIEGEL

Von Günter Grass bis Peter Handke: Schriftstellerporträts der Sechzigerjahre
Kein Jahrzehnt hat die Bundesrepublik Deutschland mehr verändert als die Sechzigerjahre. Und kein Jahrzehnt hat auch den SPIEGEL mehr geprägt als diese Epoche. In seinen Anfängen ein politisch noch schwer zu verortendes Blatt, liberal, national und antikommunistisch zugleich, entwickelte sich das Magazin erst mit der SPIEGEL-Affäre zum Sprachrohr des linksliberalen Bürgertums. Der Angriff auf den SPIEGEL, 1962 von Kanzler Konrad Adenauer („Ein Abgrund von Landesverrat!“) und seinem Verteidigungsminister Franz Josef Strauß mit großer Härte, aber erfolglos durchgeführt, hat das Magazin zur Ikone der Pressefreiheit in Deutschland gemacht, zum Hort des unbestechlichen, mutigen Journalismus schlechthin. 
Doch bis dahin hatte die Redaktion einen weiten Weg zurückgelegt. Ihr gehörten in den Anfangsjahren neben vielen jungen Talenten auch ein paar Herren mit eher dunkler, tiefbrauner Vergangenheit an. Erst zu Beginn der 60er zog ein neuer liberaler und kritischer Geist in die Redaktionsflure des Hamburger Pressehauses ein. Die Ansprüche an politische Integrität und journalistische Qualität stiegen dementsprechend. Im Vorfeld der 68er Revolte wuchs die Bereitschaft zur intellektuell-politischen Auseinandersetzung, sowohl in der Redaktion als auch in der Gesellschaft allgemein. Die Literatur dieser Zeit dokumentierte den Wandel – und sie beförderte ihn. Ein Starautor der Nachkriegsliteratur, Heinrich Böll, wurde schon 1961 auf den SPIEGEL-Titel gehoben. „Der Kölner Heinrich Böll“, so hieß es in der Titel-Geschichte, „ist nächst dem Kölner Konrad Adenauer der zweitwichtigste Beitrag des katholischen Rheinlands zu dem Bild, das sich die Welt von Deutschland macht.“ Ausführlich wird das Werk Bölls vorgestellt, seine Kritik am restaurativen Grundzug der Adenauer-Republik gelobt. Und doch wäre es nicht der SPIEGEL dieser Zeit gewesen, wenn die – damals noch ungenannten – Autoren nicht eine Menge Spott über den Erfolgsschriftsteller ausgegossen hätten. Böll, so das Urteil, verfalle immer wieder in „wahre Orgien penetrant-nahsichtiger Realistik“, er neige zu einem „Grau-in-grau-Realismus“, der geradezu nervtötend sei. Wer wissen will, warum der Nobelpreisträger Heinrich Böll heute kaum noch gelesen wird, muss eigentlich nur die Titelgeschichte des Jahres 1961 studieren. 
Die politische Seite der Literatur rückt von nun an immer mehr in den Vordergrund. Der russische Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, ein Idol der kritischen Jugend im Sowjetreich, wird mit einer Titelgeschichte verewigt; Rolf Hochhuth, der Papstkritiker und Autor politpropagandistischer Theaterstücke, schafft es mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ ebenfalls aufs Cover. Auch hier allerdings bleiben die anonymen SPIEGEL-Autoren bei aller Begeisterung für den antiklerikalen Hochhuth bei der Wahrheit: Der gescholtene Papst Pius XII. werde in diesem Drama doch recht einseitig dargestellt: „Hochhuths Behauptung, dass ein Papst-Protest Hitlers Judenverfolgung aufgehalten hätte, bleibt unbeweisbare Hypothese.“ Literaturthemen zählen in den frühen 60ern zu den attraktivsten Titel-Motiven: Karl May, Shakespeare oder Gerhart Hauptmann werden in langen Porträts gewürdigt, immer mit einigem Respekt und doch auch zuweilen boshafter Kritik. Genüsslich wird etwa aus den Notizen Gerhart Hauptmanns zitiert, die sich in dessen Nachlass auf einem Exemplar des Thomas-Mann-Romans „Der Zauberberg“ fanden. Mann hatte eine Hauptfigur nach dem Vorbild Gerhart Hauptmanns gestaltet – was dem Porträtierten freilich gar nicht gefiel: „Diesem idiotischen Schwein soll ich gleichen?“, notierte Hauptmann empört. Die Mischung aus nüchterner Analyse und unterhaltsamer Erzählung gehörte schon damals zum Markenzeichen des Nachrichtenmagazins. Ein gediegenes Porträt Tania Blixens, zum Beispiel, wurde 1960 mit einer kleinen Anekdote über ein Dinner angereichert, das die dänische Autorin in den USA mit den Kollegen Arthur Miller und Carson McCullers absolviert hatte: „Das Dinner verlief anders, als es die Arrangeure erwarteten“, schrieb der SPIEGEL, Blixen habe sich nur für Millers Gattin Marylin Monroe interessiert und rauschend mit ihr unterhalten. „In ihrem ganzen Gespräch“, so wird eine dänische Quelle zitiert, „kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor.“ Blixens Fazit: „Marilyn Monroe ist unwiderstehlich“, aber „nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte“. 
Hinzu kamen bald neue journalistische Formen, die Reportage, zum Beispiel, oder die von einem namhaften Autor gezeichnete Literaturkritik. Reinhard Baumgart rezensierte Uwe Johnson, Rolf Becker schrieb über „Das Einhorn“ von Martin Walser („verbalartistische Koitus-Koloraturen“) und Hans Christoph Buch über Peter Handke. 
Überhaupt: der junge Handke. Der aufgehende Stern am Literaturhimmel der Bundesrepublik wurde aufmerksam begleitet, zumeist ziemlich kritisch und doch mit einiger Anerkennung für seine geniale Selbstvermarktung. Einen Höhepunkt der Handke-Berichterstattung markiert die große Reportage über einen Ausflug der Gruppe 47 im Jahr 1966 ins amerikanische Princeton. SPIEGEL-Autor Erich Kuby war so verstört wie fasziniert vom Auftritt des Jung-Genies: „Dieser Mädchenjunge Peter“, schrieb Kuby, „mit seinen zierlich über die Ohren gekämmten Haaren, mit seinem blauen Schirmmützchen, fast ist man geneigt zu sagen: mit seinem blauen Schirmmätzchen, seinen engen Höschen, seinem sanften Ostereigesicht“, dieser langhaarige Schnösel Peter Handke also attackierte mit Verve die „läppische Art von Literatur“, die seine älteren Kollegen in Princeton vorgetragen hätten. Kuby gab Handke Recht und konnte ihn doch kaum ertragen – auch das ein schönes Zeitdokument der Jahre vor der Studenten-Revolte. 
Die allerdings fegte dann so ungefähr alles vom Tisch, was bis dahin im SPIEGEL literarisch gewürdigt wurde. Für einen historischen Moment wird die Literatur zur Politik (und manchmal auch umgekehrt). Titelgeschichten wurden nur noch über politisch aktive Autoren geschrieben, 1968 über den Helden der Pariser Studenten Jean-Paul Sartre, 1969 über den Willy-Brandt-Wahlhelfer Günter Grass. 
Brandt gewann bekanntlich die Wahl. Eine neue Ära begann, erstmals bekam es der SPIEGEL mit einem sozialdemokratischen Kanzler zu tun – und mit Autoren, die schnell ihr Interesse an der Politik verloren. Aber das wäre schon das nächste Kapitel: Der SPIEGEL und die Schriftsteller der 70er Jahre. Viel Spaß bei der Lektüre!
Martin Doerry
SPIEGEL 18/1960
NATHALIE SARRAUTE

Reizbewegungen

Nur je eine einzige Ja-Stimme entfiel bei der alljährlichen Pariser Literaturpreis-Kür im vergangenen Herbst auf die termingerecht angebotenen Avantgarde-Romane von Alain Robbe-Grillet „Dans le labyrinthe“ und Nathalie Sarraute „Le Planétarium“. Obwohl eine Preiskrönung, die unweigerlich Auflage und Verkaufsziffer in die Höhe schnellen läßt, somit entfiel, zeigt sich schon heute, daß der negative Entscheid der konservativ eingestellten Preisrichter-Majorität vom französischen wie vom internationalen Publikum nicht akzeptiert worden ist.
Im Gegenteil: Der von Robbe-Grillet und der Sarraute entfesselten Literatur-Revolution – einer radikalen, programmatischen Ummodelung der populärsten Literaturgattung Roman unter dem anfänglich verwendeten Slogan „Roman futur“ („Roman der Zukunft“) –liefern heute sogar verbissene Verteidiger der herkömmlichen Roman-Schreibweise nur noch Rückzugsgefechte. Frankreichs jüngste literarische Richtung hat sich zu einer kompakten Schule ausgewachsen, die internationales Prestige gewinnen konnte und inzwischen zum gängigen Exportartikel geworden ist. Autoren und Kritiker verwenden denn auch für den „Roman futur“, der über das Stadium, in dem er als Zukunftsmusik hätte abgetan werden können, längst hinausgelangt ist, das gemäßere Etikett „Nouveau Roman“, zu deutsch: „Neuer Roman“.
Um seinen Initiator Robbe-Grillet (Jahrgang 1922) und die Senior-Pionierin Nathalie Sarraute (Jahrgang 1902) hat sich eine stattliche Gruppe von Romanschriftstellern geschart, die zumindest über das einig ist, was sie ablehnt. Immer mehr Bücher dieser Gruppe werden, wiewohl sie vom Herkömmlichen nicht immer zugunsten ihrer Verständlichkeit entschieden abweichen, ins Englische und Amerikanische, neuerdings auch ins Deutsche übersetzt.
Allerdings war für westdeutsche Interessenten anfangs die Kenntnis der Stilprinzipien des französischen „Neuen Romans“ auf doktrinär-extreme Bücher von Alain Robbe-Grillet  eingeengt. Inzwischen kann der reise- und kongreßfreudige Bretone Robbe-Grillet, der dem „Nouveau Roman“ auch als Verleger – in seiner Eigenschaft als „Directeur littéraire“ der international berühmten „Editions de Minuit“ – die Bahn ebnet, sogar in Deutschland auf genauere Bekanntschaft mit den Methoden des „Neuen Romans“ rechnen. Schon bevor Robbe-Grillet unlängst auf eine „Werbetournee für die Literatur seiner Freunde“ ging, waren außer seinen Büchern erste Verdeutschungen der Prosa von Nathalie Sarraute, von Michel Butor, Claude Simon und – in der Schweiz – von Jean Cayrol herausgekommen*.
Ankündigungen weiterer Übersetzungen aus der Schule des „Nouveau Roman“ lassen zudem bei westdeutschen Buchverlagen die Geneigtheit erkennen, sich zumindest aus Konkurrenzgründen künftig mit Renommierstücken der französischen Avantgarde auszustatten. So sicherte sich zum Beispiel der Hamburger Claassen Verlag die deutschen Rechte des Romans „Le Fiston“ („Das Söhnchen“) von Robert Piniget. Obendrein beeilte sich der versierte Literatur-Manager Robbe-Grillet, einen Hinweis zu geben, der auf deutsche Literatur-Konsumenten dieser Jahre offenbar unwiderstehlich wirkt. Robbe-Grillet erläuterte, seine „Schule“ berufe sich auf das Vorbild der Roman-Revolutionäre Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka. Diese „Pioniere“ nämlich hätten „für ihre Zeit“ den Roman neuer Art geschaffen, wie jetzt er und seine Freunde „den Roman für unsere Zeit“ zu schreiben glaubten. Insoweit wollten er und seine Mitstreiter sich nicht als „Avantgarde“, als Vorhut, betrachtet wissen, meinte Robbe-Grillet, sondern als „Arrièregarde“, als Nachhut. Spezifizierte der Propaganda-Tourist des „Nouveau Roman“: „Der Meister von Nathalie Sarraute ist Proust, der von Michel Butor ist Joyce, der meine ist Kafka.“
Mit Bedacht schränkte Robbe-Grillet allerdings das Nachfolge-Verhältnis der Autoren des „Nouveau Roman“ zu jenen „Pionieren“ und „Meistern“ auf den Begriff „schockartige Begegnung“ ein, wie sie im Leben jedes Schriftstellers vorkomme. Tatsächlich kann den Pariser Roman-Neuerern am allerwenigsten vorgeworfen werden, sie ahmten vorgeprägte literarische Muster und fremde Stile nach. Wohl aber wenden sie sich an ein Publikum, das seine Entzifferungskunst hinlänglich an Proust, Kafka und Joyce trainiert hat.
Noch zu Lebzeiten von Joyce (der „Ulysses“-Dichter starb im Januar 1941) setzte Nathalie Sarraute, damals völlig ohne Rückhalt an Gleichgesinnten, dem literarischen Frankreich Prosastudien vor, deren Originalität Gefahr lief, von den Lesern als Zumutung empfunden zu werden:
Überall scheinbar quollen sie hervor, ausgekrochen aus der lauen, etwas feuchten Luft, sie flossen langsam hin, als hätten die Mauern sie ausgeschwitzt oder die umgitterten Bäume, die Bänke, die schmutzigen Trottoirs, die Parks.
In langen düsteren Trauben zogen sie sich zwischen den toten Fassaden der Häuser hin. Ab und zu bildeten sie vor den Auslagen der Kaufhäuser festere Knoten, die sich nicht bewegten und, wie leichte Stauungen, Strudel verursachten.
Eine befremdende Stille, eine Art verzweifelter Genugtuung ging von ihnen aus. In der Weißwaren-Ausstellung betrachteten sie aufmerksam die Wäschestöße, welche Schneegebirge geschickt nachahmten, oder auch eine Puppe, deren Zähne in regelmäßigen Abständen aufleuchteten und erloschen, aufleuchteten, erloschen, aufleuchteten, erloschen – immer in gleichen Abständen wieder aufleuchteten und wieder erloschen.
Sie sahen lange hin, ohne sich zu rühren, sie blieben da, hingegeben, vor den Schaufenstern, immer bis zum nächsten Mal den Augenblick des Weitergehns aufschiebend. Und die kleinen stillen Kinder, die ihnen die Hand gaben, warteten neben ihnen, müde vom Schauen, zerstreut, geduldig.
Wie in diesem Einleitungskapitel der „Tropismen“, die nach über zwanzig Jahren nun auch in Deutschland zu haben sind – der Band umfaßt 24 fortlaufend bezifferte Abschnitte ohne Überschrift von je zwei bis vier Buchseiten Länge –, hat die Pionier-Autorin des „Nouveau Roman“ auch sonst auf Personennamen, auf eine Story verzichtet. Statt dessen fixiert Nathalie Sarraute Momentaufnahmen aus verschiedenartigen Daseinsbereichen, belichtet bei Einzelexistenzen oder anonymen Gruppenwesen Regungen und Reaktionen, wie sie ähnlich von Naturwissenschaftlern als „Tropismen“ bestimmt zu werden pflegen. Die Physiologen verstehen darunter durch Außenreize wie Licht, Betastungen, Verletzungen oder chemische Einflüsse ausgelöste und gelenkte Eigenbewegungen von Pflanzen und Hohltieren, die sich gemäß der „Reizrichtung“ biegen und krümmen.
Der Analogie zuliebe wählte Nathalie Sarraute für ihre sozusagen mikroskopischen Prosastudien den Buchtitel „Tropismen“: Sie setzte eine Gleichartigkeit zwischen jenen unwillkürlichen „Reizbewegungen“ niederer Organismen voraus, mit denen die Pflanzen- und Tierphysiologen zu tun haben, und den gleich unwillkürlichen „Reizbewegungen“, die das menschliche Innenleben steuern.
Die Dichterin Sarraute versucht aus gleichsam wissenschaftlicher Sicht eine neue, exakte dichterische Perspektive zu gewinnen. Sie will „den Reichtum und die Komplexität des seelischen Lebens“ (Sarraute) glaubhaft in Worte fassen, indem sie etwa detailliert beschreibt, was sich in einem Mann während eines Gesprächs mit seiner Frau abspielt:
Sie saß zusammengekauert in einem Winkel des Fauteuils, sie wand sich, der Hals war gereckt, die Augen traten hervor: „Ja, ja, ja, ja“, sagte sie, jeden Teil ihres Satzes mit einem Kopfschütteln billigend. Sie war fürchterlich, sanft und geistlos, ganz glatt, und nur ihre Augen traten hervor. Sie hatte irgend etwas Beängstigendes, Beunruhigendes, und ihre Sanftmut war eine Drohung.
Er fühlte, daß man sie um jeden Preis wieder aufrichten, besänftigen mußte, aber daß es nur jemand mit übermenschlicher Kraft könnte, jemand, der den Mut hätte, ihr gegenüber zu bleiben, hier, bequem sitzend, behaglich ausgestreckt In einem anderen Fauteuil ... der ihren Blick auffinge und sich nicht abwendete, wenn sie sich krümmte ...
Er begann zu sprechen, ohne Pause zu sprechen, gleichgültig von wem, gleichgültig wovon, begann sich schnell, schnell hinundherzubewegen (wie die Schlange vor der Musik? wie die Vögel vor der Boa? er wußte nicht mehr), ohne stillzuhalten, ohne eine Minute zu verlieren, schnell, schnell, solange es noch Zeit war, sie zurückzuhalten, Ihr zu schmeicheln. Sprechen, aber wovon sprechen? von wem? von sich, natürlich von sich, von den Seinen, von seinen Freunden, von seiner Familie, von ihren Geschichten, von ihren Fehlern, von ihren Geheimnissen, von allem, was man besser verbergen sollte – aber da es sie interessieren konnte, aber da es sie befriedigen konnte, durfte man nicht zögern, man mußte es ihr sagen, Ihr alles sagen, sich von allem entblößen, ihr alles geben, solange sie da sein würde, in einen Winkel des Fauteuils gekauert, ganz sanft, ganz geistlos, sich windend.
Es stecke „eine Menge ironischer Weisheit hinter der subtilen Beschreibung, und die jeweilige Situation ist durchaus getroffen“, gaben die „Bücher-Kommentare“ zu. Die „Süddeutsche Zeitung“ bescheinigte der Sarraute „einen Stil, wie man ihn hierzulande noch nicht gelesen hat“, und resümierte, der „einzige Inhalt“ der „Tropismen“ sei „unser aller Inhaltslosigkeit“.
„Äußerlich geht es um nichts, innerlich um alles“, konstatierte die „Frankfurter Allgemeine“, rechnete indessen die Prosakünstlerin „nicht der radikalen Schule ..., sondern der zärtlichen“ zu und folgerte, somit greife „die Essenz ihrer (der Sarraute) Innerlichkeit nicht wie eine Säure ätzend an“, sondern verbreite „Lebenserkenntnis von der skeptisch-gescheiten, zugleich aber auch selbstvertrauend-einsiedlerischen Sorte“. Im „Tagesspiegel“ ermittelte der Berliner Literaturkritiker Günter Blöcker: „Die zierlich gedrechselten, scheinbar inhaltsarmen Texte erweisen sich als wirklichkeitshaltiger, als mancher kompakte Roman es ist.“
Gleichwohl blieb das Erstlingsbuch der 1902 in der Industriestadt Iwanowo nordöstlich von Moskau geborenen Nathalie Sarraute, als es 1939 vom Pariser Verlag Denoel einem noch nicht auf den „Nouveau Roman“ eingestellten Publikum unterbreitet wurde, ziemlich unbeachtet, bis die „Editions de Minuit“ unter der Ägide von Robbe-Grillet 1957 eine Neuausgabe veranstalteten, auf der auch die deutsche Ausgabe basiert.
Nicht allein dieser Neuausgabe, sondern auch dem rund ein Jahrzehnt nach dem „Tropismes“-Erstdruck erschienenen ersten Roman der Sarraute „Portrait d'un inconnu“. („Bildnis eines Unbekannten“) haftet allerdings die odiose Eigenheit an, heute nur mehr ein überholtes Anfangsstadium der Roman-Revolution quasi historisch zu beglaubigen.
Für die Publicity dieses Anfangs-Romans – die nun, verspätet, von Frankreich aus auch auf die USA und England übergreift – hatte der Existentialismus-Autor Jean-Paul Sartre gesorgt: In einem Vorwort, das er dem „Portrait d'un inconnu“ mitgab, deklarierte Sartre das Buch als „Anti-Roman“ und attestierte der Autorin eine Technik des Erzählens, die „es ermöglicht, die menschliche Wirklichkeit in ihrer wahren Existenz zu treffen“.
Zumindest in Frankreich profitierte von solchem Pauschal-Lob auch das dritte der insgesamt fünf Bücher, die Nathalie Sarraute bisher vorzuweisen hat: der Roman „Martereau“ (1953), der nun ebenfalls in deutsch vorgelegt wurde. „Diese Romane sind“, formulierte im Hinblick auf die „Martereau“-Ausgabe die „Neue Zürcher Zeitung“, „Verwirklichungen eines langjährigen Planes, einer weitherstammenden Vision und bringen es damit freilich auch zu einer Meisterschaft, die weit über der nervösen Vielschreiberei unserer Tage steht.“ In jedem Fall dürfen die Sarraute-Bücher als exemplarisch dafür gelten, um was es den Autoren des „Nouveau Roman“ geht.
Spezifische Roman-Neuerung im Sarraute-Produkt Nr. 3, dem „Martereau“, ist das Fehlen jenes „unpersönlichen Tons“, in dem sich der Epiker herkömmlicherweise als über den Dingen stehender Chronist – vorweg oder nachträglich – beim Leser einführt. Der „Martereau“-Leser muß sich ohne objektive Beschreibung in der Umwelt ihm fremder Existenzen zurechtfinden. Radikal ist er der Möglichkeit beraubt, die Hauptgestalt – die im Gegensatz zu den im Buchtitel genannten Eheleuten „Martereau“ keinen Namen hat – von außen zu betrachten. Dafür fordert ihm die „Martereau“-Verfasserin das Kunststück ab, in die einzige Hauptfigur hineinzuschlüpfen und sie „von innen zu erkennen“.
Zu diesem Zweck ist der Roman „Martereau“ in der Ich-Form erzählt. Jedoch fußt Nathalie Sarraute keineswegs auf jenem altbewährten Ich -Roman-Typus, der in ihren Augen ein verkappter Er-Roman ist – in dem also der Autor der erzählenden Person viel mehr zudiktiert, als von dem vorgeblichen Ich-Erzähler zu erwarten ist, wie etwa in Grimmelshausens „Simplicissimus“ (1668) oder in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“, dessen Urfassung (1854) erst später von der Er-Form in die Keller glaubwürdiger erscheinende Ich-Form (1879/80) transponiert wurde. Auch bei andersgearteten Beispielen des in der ersten Person erzählten Romans – etwa „Hunger“ (1890) von Knut Hamsun oder „Die Fessel“ (1913) von Colette – knüpft der Ich-Roman „Martereau“ nicht an; ebenso hat Nathalie Sarraute der Annahme vorgebeugt, sie projiziere sich selbst auf das „Ich“ ihres Romans.
In „Martereau“ ist das Roman-Ich ein Wesen, dem nach eigenem Bekenntnis das „Auge eines Besessenen, eines Verbohrten oder eines Visionärs“ (bescheidenen Ausmaßes) eignet. Das Ich-Wesen erblickt seine Mitmenschen und sein Milieu stets in mehr oder minder verzerrter Spiegelung. Es ist Medium für eigene und fremde Gemütsbewegungen, Gefühlserregungen, seelische Kompensationen und gedankliche Reflexionen. „Alle Gemälde seit dem Impressionismus“ seien, rechtfertigt die Sarraute ihre Methode, sozusagen „in der ersten Person gemalt“.
Was am erzählenden „Ich“ des Romans „Martereau“ zunächst am deutlichsten wahrnehmbar wird, ist eine überaus empfindliche Reizbarkeit gegenüber Launen, Emotionen, unterschwelligen Seelenregungen und kaschierenden Redensarten. Erst nachdem der Leser als vorherrschenden Wesenszug des anonymen Roman-Ich das fortwährende, willfährige Eingehen auf die Mitwelt herausgefunden hat, wird ihm klar, daß der Ich-Erzähler ein verhältnismäßig junger Sonderling mit kunstgewerblichen Ambitionen sein muß, der infolge einer – ungenannten – Krankheit auf die Gastfreundschaft und Hilfe ihm widerwärtiger, naher Verwandter angewiesen bleibt.
Später stellt sich heraus, daß der Onkel dieses Roman-Ichs, ein robuster Geschäftsmann, dem kränklichen Neffen den Vertrieb selbstentworfener Sessel und Sofas ermöglicht, diese Unterstützung jedoch mit einer Geringschätzung verquickt, deren sich der junge Mann vergebens zu erwehren sucht. Realer Kern der banalen Romanfabel ist das Scheitern der entscheidenden Anstrengung, die der Neffe unternimmt, um den Onkel, dessen Frau und Tochter zu nötigen, ihn als vollwertig anzuerkennen.
Das Drama solcher familiären Auseinandersetzungen vergegenwärtigt sich allein in einem das ganze Buch füllenden Selbstgespräch des Ich-Erzählers. In wörtlich zitierten, kürzeren oder längeren Unterhaltungen registriert der Ich-Erzähler, was seine Verwandten –und dann auch Monsieur und Madame Martereau – sowohl untereinander als auch mit ihm aushandeln. Daneben vermerkt der Erzähler den jeweiligen Stand des Hörigkeitsverhältnisses, das den Onkel an die Tante kettet, sowie das zeitweise aufkommende Zerwürfnis zwischen Onkel und Tante auf der einen und dem Ehepaar Martereau auf der anderen Seite.
Vor allem aber protokolliert der Ich-Erzähler die psychischen Reflexe, die das Gebaren und der Redefluß seiner Verwandten und sein zeitweiliger Umgang mit dem Ehepaar Martereau in ihm selbst auslösen. Unermüdlich ist er darauf erpicht, die anderen zu durchschauen, sie als Heuchler zu entlarven und den wahren „Sinn ihrer Regungen zu entziffern“. Denn das Zusammenleben von Onkel, Tante, Cousine und Ich-Erzähler funktioniert – was den familiären „Stimmungsspiegel“ betrifft – wie ein System von kommunizierenden (miteinander verbundenen) Röhren, von dem der Neffe und Cousin, mag er noch so sehr unter dem Egoismus der anderen drei stöhnen, nicht ausgeschlossen werden möchte.
Ärger nämlich als das – keineswegs unverdiente – Mißtrauen seiner Verwandten quält ihn die Furcht, Onkel und Tante könnten ihn eines Tages als lästig empfinden und „abhängen“. Er sucht daher Kontakt und Ausgleich auf der Plattform erprobter Allerweltsansichten und Gemeinplätze. Seine Angst, die Verwandten könnten an ihm als Unterhalter bei Tisch und als Stimmungs-Blitzableiter eines Tages kein Gefallen mehr finden, schürt seinen Eifer, sich nützlich zu machen. Er verdächtigt schließlich den Biedermann Martereau – den der Onkel als Strohmann bei einer Steuerverschleierung benutzt –der Gaunerei und flüstert dem Onkel ein, Martereau sei im Begriff, ihn zu übertölpeln. Der Onkel bewundert den Scharfsinn des Neffen, doch währt die Bewunderung nur kurze Zeit – die Verdächtigungen fallen in sich zusammen.
Zwischen dem Ehepaar Martereau und den Verwandten sieht der Ich-Erzähler die alte Eintracht wiederhergestellt. Er wird von Madame und Monsieur Martereau mit Verachtung gestraft, gilt vor dem Kollektivgewissen der anderen als Verräter und wird nun erst recht unter die „Herrschaft des Gemeinplatzes“ geduckt. Der junge Mann läßt das auch „brav und scheu“ geschehen – ein Spielball der „Koexistenz widersprüchlicher Gefühle“.
Diese äußerlich bescheidenen Anstrengungen läßt die Sarraute vom Roman-Ich Seite für Seite heruntererzählen. Der Onkel heißt ausschließlich „Er“, die Tante einfach „Sie“, die Cousine ebenfalls nur „Sie“. In der Mehrzahl bedeutet das Fürwort „Sie“ je nachdem Onkel und Tante, Tante und Cousine oder alle drei. Auch Monsieur und Madame Martereau figurieren gemeinsam als „Sie“, sind jedoch dank des ihnen zugebilligten Familiennamens noch am leichtesten zu identifizieren.
Die Namenlosigkeit soll das Durchschnittliche, Gewöhnliche, Gemeine der „von innen her“ getesteten Existenzen betonen, ihre Häufigkeit, die Austauschbarkeit ihrer Eigenschaften. Der Verzicht auf individuelle Benennung signalisiert, daß im Grunde alle Romanfiguren der „Herrschaft des Gemeinplatzes“ unterworfen sind –ausgenommen in einigem Grade Monsieur und Madame Martereau, als Außenstehende, mit denen die Familie nur zeitweise Verkehr pflegt.
Bezeichnend ist ferner, daß der Buchtitel „Martereau“, abweichend vom traditionellen Schema, die Hauptfigur des Romans verdeckt, statt auf sie hinzudeuten oder sie zu nominieren. Vollends symptomatisch für die Revolutions-Absicht ist, daß die Autorin Sarraute gegenseitiges Mißtrauen als Romanthema wählte.
Es wäre allerdings abwegig, hierin eine persönliche Konfession der Autorin zu erblicken, wie sie sich etwa aus der „Menschlichen Komödie“ des womöglich prominentesten aller Roman-Autoren, Honoré de Balzac (1799-1850), noch heute ablesen läßt. Für den Romancier der „Comédie humaine“ ermittelte der Literarhistoriker Gaëtan Picon: „Der Mensch Balzac füllt sein Werk wie ein Gefäß – gleichwie das Wasser das Becken füllt, in das es rinnt.“
Dieser Subjektivismus des Roman-Genies Balzac ist indessen gerade das, was die Schule des französischen „Neuen Romans“ für nicht mehr nachahmbar erachtet. Ihre Autoren erstreben eine „objektive“ Romanliteratur. Die Lebensdaten der Schriftstellerin Nathalie Sarraute bieten denn auch keinerlei Anhalt für den Verdacht, sie könnten zu „Martereau“ Romanstoff geliefert haben. Seit nahezu 35 Jahren ist Nathalie Sarraute, wohnhaft in der Nähe der Champs-Elysées, mit dem Pariser Juristen Raymond Sarraute verheiratet. Sie hat zwei verheiratete Töchter und einen Sohn. Sie besuchte das Lycée Fénelon, studierte in Paris, Oxford und Berlin Literatur- und Rechtswissenschaft und erwarb in beiden Disziplinen den akademischen Grad einer Lizentiatin.
Dagegen spielt das Thema des gegenseitigen Mißtrauens eine wesentliche Rolle im theoretischen Programm der Roman-Revolutionäre. Zur gleichen Zeit (1956), in der Robbe-Grillet sein Manifest „Une Voie pour le roman futur“ („Freie Bahn für den Roman der Zukunft“) veröffentlichte, begründete die Sarraute in ihrem Essayband „L'Ère du soupçon“ („Das Zeitalter des Mißtrauens“) die konsequente Absage an die traditionelle Literatur: „Wir sind in das Zeitalter des Mißtrauens eingetreten.“
Mißtrauen trübe heutzutage zumal das ursprüngliche Vertrauensverhältnis zwischen Romanleser und -verfasser, unterstellt Nathalie Sarraute. Genährt werde das beiderseitige Mißtrauen dadurch, daß die „Gestalten, wie der alte Roman sie verstand (und wie sie mit dem ganzen alten Apparat in Szene gesetzt wurden), die moderne psychologische Realität nicht mehr einzuschließen vermögen“.
Der Leser neige dazu, auch Romangestalten fortschrittlicher Prägung – „um der Bequemlichkeit des alltäglichen Lebens willen“ und „als Folge einer langen Übung“ – nach konventioneller Romankonsumenten-Manier und eigenem Geschmack zu typisieren und mit ihnen „die in seinem Gedächtnis aufbewahrte riesige Sammlung von Wachsfiguren“ zu vergrößern.
Somit müsse der Autor eines „Nouveau Roman“, wolle er seine Romanfiguren vom Leser nicht schematisch unter dessen literarische Reminiszenzen eingereiht sehen, radikal jenes „bequeme Verfahren“ aufgeben, das die Epiker bisher kultivierten. Es habe darin bestanden, daß der Romancier „sparsam Teilchen von sich selbst mit Wahrscheinlichkeit bekleidet und sie – natürlich ein bißchen auf gut Glück – auf seine Helden verteilt, von wo sie der Leser seinerseits durch eine Art Abschälarbeit wieder ablöst, um sie wie bei einem Lottospiel in die entsprechenden Kästchen zu setzen, die er in sich selbst vorfindet“.
Gegen derlei „Abschälarbeit“ will Nathalie Sarraute in ihrem neuesten – ebenfalls in diesem Jahr deutsch erscheinenden – Roman „Das Planetarium“ gründliche Maßregeln getroffen haben. Die Vorgänge kreisen um ein junges Ehepaar, um die Anschaffung von Möbeln und den Erwerb der Wohnung einer alleinstehenden Tante; der astronomische Titel ist rein metaphorisch.
Mit dem Blick auf die Regeln des „Nouveau Roman“ lobte schon jetzt der Romancier- und Revolutions-Kollege Michel Butor: „Der Roman von Nathalie Sarraute hilft verstehen, wie es kommt, daß es noch immer Romane gibt.“
*Nathalie Sarraute: „Tropismen“; Verlag Günther Neske, Pfullingen; 96 Seiten; 8,50 Mark. Nathalie Sarraute: „Martereau“; Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 244 Seiten; 9,80 Mark. Claude Simon: „Der Wind“; R. Piper Verlag, München; 308 Seiten; 15,80 Mark. Jean Cayrol: „Der Umzug“; Verlag Otto Walter, Olten; 228 Seiten; 14,80 Mark. Jean Cayrol: „Die Fremdkörper“; Verlag Otto Walter, Olten; 200 Seiten; 14,80 Mark.
SPIEGEL 32/1960
TANIA BLIXEN

Faselgeschichten

Babette, exquisite Köchin in einem feudalen Restaurant, hat während der Kommune-Aufstände nach dem Französisch-Deutschen Krieg von 1870/71 ihr Herz für ihre Klasse entdeckt und den Kommunarden die Gewehre laden helfen, mit denen Babettes aristokratische Gäste – und nicht nur die – erschossen werden.
Nach dem Ende des Aufstands entkommt Babette aus Paris, findet in Norwegen eine neue Stellung bei zwei alten Damen, die wenig Sinn für Kochkünste haben, und fühlt sich um die Bewunderung betrogen, die ihre frühere Kundschaft über delikat zubereitete Speisen äußerte. So beschwert sich Babette bei den Norwegerinnen: „Sie müssen verstehen, Mesdames“, sagte sie schließlich, „diese Leute gehörten zu mir, es waren meine Leute. Sie waren dazu erzogen und geübt, mit größerem Aufwand (zu speisen), als Sie, meine lieben Damen, auch nur begreifen können.“
Babettes paradoxe Klage über den Verlust ihrer alten Bewunderer, die sie hatte umbringen helfen – der tragikomische Seelenkonflikt einer Köchin aus Leidenschaft und Revolutionärin aus Standesbewußtsein –, ist repräsentativ für die Art, in der die 75jährige dänische Autorin Tania Blixen – vollständig: Karen Baronesse Blixen-Finecke – in ihren Geschichten Probleme und Schicksale anzulegen pflegt.
In einem beinahe 30jährigen Schriftstellerleben hatte ihr diese Art des Erzählens überall Erfolg eingetragen, nur nicht in Deutschland. Erst das neueste Buch der Blixen, das kürzlich in deutscher Sprache erschienen ist und in dem auch Babettes Geschichte erzählt wird – die „Schicksalsanekdoten“* – scheint Wandel zu schaffen. Die „Schicksalsanekdoten“ fanden weit über den kleinen Kreis stereotyper Blixen-Verehrer hinaus auch in Deutschland Widerhall und hoben die Autorin in der Bundesrepublik zum erstenmal in die Sphäre der Erfolgsautoren; ihr Buch tauchte sogar in der Bestseller-Liste der Hamburger „Zeit“ auf.
Bis zu den „Schicksalsanekdoten“ war Tania Blixen die einzige skandinavische Autorin von Weltruf, die weder durch deutsche Vermittlung ihren Weg zur Weltliteratur machte noch in Deutschland anerkannt und gelesen wurde. Auch Hemingways oft zitierter Ausspruch, daß Tania Blixen den Literatur-Nobelpreis eher verdient habe als er, hatte die Zurückhaltung der deutschen Leser gegenüber der Dänin nicht ändern können.
In den Vereinigten Staaten dagegen hatte sich die dänische Baronin Blixen gleich mit ihrem ersten Buch, „Seven Gothic Tales“ (1934), durchgesetzt, und als Tania Blixen im Winter 1958/59 nach Amerika fuhr, wurde ihr Besuch zu einer Art öffentlichem Ereignis: „Es waren nicht nur meine Bücher, die sie gelesen hatten, sondern viele kannten mich vom Aussehen her. Ich konnte im Theater oder auf der Straße nicht gehen, ohne angesprochen zu werden. Kann einem Schriftsteller etwas Hübscheres widerfahren? Es war ein merkwürdiges Erlebnis.“
Höhepunkt des öffentlichen Triumphs war damals ein festliches Diner, bei dem die europäische Aristokratin mit der kräftigen Nase neben den amerikanischen Dramatiker Arthur Miller („Hexenjagd“) und dessen Stargattin Marilyn Monroe gesetzt wurde. Um die Differenz zwischen den beiden gegensätzlichen Frauen zu mildern, war die amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers („Das Herz ist ein einsamer Jäger“), berühmt dafür, ebenso handfest schreiben wie trinken zu können, hinzugezogen worden.
Doch das Diner verlief anders, als die Arrangeure erwarteten: Zwischen den drei Dichtern fand nur ein kurzer gegenseitiger Austausch von Lob für die eigenen und Tadel für die Werke anderer Schriftsteller statt; dann widmete Tania Blixen sich ausschließlich Marilyn Monroe; die beiden Frauen schieden als Freundinnen.
Konstatierte der Berichterstatter der „Berlingske Tidende“: „In ihrem ganzen Gespräch kam das Wort Buch nicht mehr als höchstens einmal vor.“ Tania Blixen: „Wir hatten eine riesig vergnügliche Unterhaltung über Jugend, Alter und Teenager.“ Und: „Marilyn Monroe ist ganz unwiderstehlich. Sie ist nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte ...“
Dem englischen Sprachbereich, der ihr am Ende für Schriftsteller seltene Publicity-Triumphe bereitete, hatte sich Karen Blixen von Anfang an zugewandt. Karen, am 17. April 1885 als Tochter des Offiziers und Gutsbesitzers Wilhelm Dinesen in Rungsted auf Seeland geboren und auf dem väterlichen Gut erzogen, hatte kurz vor dem ersten Weltkrieg den Baron Blixen-Finecke geheiratet und war mit ihm nach Britisch-Ostafrika (Kenia) ausgewandert. Fast zwanzig Jahre lang bewirtschaftete sie dort eine Kaffeefarm, zwei Drittel der Zeit allein, da sie sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg von ihrem Mann trennte, der wieder nach Europa zurückfuhr.
Als infolge der Weltwirtschaftskrise der Kaffeepreis zu Beginn der dreißiger Jahre ins Bodenlose fiel, zog sich Tania Blixen von Afrika auf das Stammgut der Familie nach Dänemark zurück. Dort begann sie, „um mich abzulenken, zu schreiben, wie ich es in der Regenzeit auch schon in Kenia hie und da getan hatte ... Was blieb mir denn, ich hatte nichts gelernt und außerdem kein Geld“.
Sie schrieb sieben Geschichten auf und schickte das Manuskript nicht an einen dänischen, sondern an einen englischen Verleger. Mit gutem Grund: Die Geschichten waren nicht dänisch, sondern englisch geschrieben. Als Tania Blixen Jahre später von einem dänischen Journalisten gefragt wurde, warum sie ihre Erzählungen in englischer Sprache niedergeschrieben habe, antwortete sie: „In der ganzen dänischen Literatur gibt es nicht ein Buch dieser Art, auf englisch gibt es viele, und sie werden herb gelesen, die Engländer lieben so ein Faselbuch.“
Mit „Faselbuch“ meinte sie ihren Erzählungsband „Gothic Tales“. Die Blixen: „Ich weiß kein anderes Wort für Bücher, in denen alles mögliche Phantastische passierte.“
Bereits in diesem Band, dem Faselbuch „Gothic Tales“, ist das Thema zu erkennen, um das es der Blixen in allen ihren Erzählungen geht: die unpathetische, zuweilen humoristische, zuweilen etwas feierliche Erläuterung der Besonderheit jedes menschlichen Schicksals, dem keiner entgehe. Sich diesem Schicksal stellen, ohne die Contenance zu verlieren, ist höchste Tugend, vis-à-vis diesem Schicksal die Beherrschung verlieren oder ihm gar zu entkommen versuchen, ist schlimmstes Vergehen.
Tania Blixens Welt ist ein schönes Jammertal: es anständig, korrekt, ja edelmännisch hinter sich zu bringen, die einzige Aufgabe. Hohe Pflicht: zunächst und zuallererst Haltung bewahren.
Dieser Pflichtübung hat die Blixen gleich in einer ihrer ersten Erzählungen, „Die Sintflut von Norderney“, eine Gruppe von Leuten konfrontiert. Durch eine Sturmflut sind Badegäste auf dem Heuboden eines Hauses vom Meer eingeschlossen. In ihrer prekären Lage – sie werden nicht gerettet – stilisieren die Eingeschlossenen ihren letzten Auftritt in dieser Welt zu einer korrekten gesellschaftlichen Zusammenkunft.
„Madame“, wendet sich ein Gast an ein Fräulein Malin, „mir ist von Ihnen erzählt worden, daß sich jedermann bei Ihren Empfängen wohl fühle und auch jeder voll Eifer bestrebt sei, sich von der besten Seite zu zeigen. Das möchten wir auch heute nacht so halten. Ich bitte Sie, hier die Hausfrauenpflichten zu übernehmen und in diesem Heubarn Ihre Künste zu üben!“
Diese höfliche Bitte erfüllt das Fräulein Malin denn auch, und zwar „vollendet gut“; sie „bewirtet ihre Gäste mit dem seltenen Luxus der Verlassenheit, Finsternis und Gefahr, sie hatte überdies den Tod selbst zu ihrer Bereitschaft stehen als die große Überraschung der Nacht, die ihr keine andere Gastgeberin streitig machen konnte.“ Das Motto: „Frei lebt, wer sterben kann.“
Solche Maximen werden von der Blixen stets ohne pädagogische Attitüde und erst recht ohne Anspruch auf poetisches Sendungsbewußtsein vorgetragen. Die Dänin Blixen wehrt sich dagegen, eine „professionelle Schriftstellerin“ genannt zu werden. „Schriftsteller – was ist das? Ist das eine Stellung? Kann man sagen: Nun will ich ein Buch schreiben, es soll von dem und dem handeln? ... Ich denke doch nicht. Ich bewundere Emile Zola, der sich täglich hinsetzen und vier Seiten schreiben konnte – aber ich verstehe ihn nicht.“ Ein anderer skandinavischer Autor, Knut Hamsun, hatte seiner Frau Marie eingestanden: „Die Schriftstellerei verachte ich zutiefst.“ Tania Blixen formulierte etwas Ähnliches. Sie „kann nicht sagen, wie man heutzutage einen Nutzen im Schreiben erkennen könnte. Selbstverständlich ist es für einen selbst von Bedeutung, was man sagen möchte, aber von da aus zu schließen, daß auch gebraucht wird, was man zu sagen hat, ist doch ein weiter Sprung“.
Die Skepsis gegenüber der Schriftstellerei hat die dänische Autorin zu sparsamster Produktion verpflichtet. Nach dem ersten Geschichtenband erschien ihr Buch „Afrika, dunkel lockende Welt“, das ihren Namen in der angelsächsischen Welt endgültig durchsetzte.
Danach folgten wieder Erzählungen – „Wintermärchen“ –, ein Buch, das die dänische Baronin Blixen auf dänisch geschrieben hat. Die späteren Bücher hat Tania Blixen – in eklatantem Gegensatz zur Tradition der skandinavischen Literatur – in englisch geschrieben. Bis dahin hatten sämtliche skandinavischen Schriftsteller und Literaten von Rang, wenn sie überhaupt ihre Muttersprache verließen, das Deutsche einer anderen Fremdsprache vorgezogen.
Seit die skandinavische Literatur im 19. Jahrhundert – angeregt durch die französische Aufklärung, den deutschen Idealismus und die deutsche Romantik – aus provinziellen Interessen erwachte, war es in den nordischen Ländern üblich, Eier und Speck nach England, Geist aber nach Deutschland zu verkaufen. An den jungen Dänen Georg Brandes, den später weltberühmten Literaturkritiker, schrieb der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen („Nora“) 1872: „Das Ausland ist es, wo wir Nordländer unsere Feldschlachten gewinnen müssen. Ein Sieg in Deutschland, und Sie werden daheim die Oberhand haben.“ Ibsen mußte es wissen, seine eigenen Stücke waren durch die Aufführungen an deutschen Bühnen weltbekannt geworden.
Brandes ging nach Berlin, der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen hat zwischen 1864 und 1891 lange in Dresden und München gelebt; der schwedische Dichter und Frauenfeind August Strindberg („Fräulein Julie“) wohnte ebenfalls mehrmals in Deutschland und wurde durch Berliner Inszenierungen seiner Stücke berühmt; der dänische Autor Herman Bang sagte von sich, daß er „berlin-närrisch“ sei.
Jens Peter Jacobsen („Niels Lyhne“) hatte zwar unmittelbar in seiner Heimat Erfolg, aber auch er machte seinen schriftstellerischen Weg, über die nationalen Grenzen hinaus, durch Deutschland, vor allem dank der enthusiastischen Anerkennung durch Rilke. Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf („Gösta Berling“) erreichte mit ihren Büchern in Deutschland Verkaufserfolge wie wenige deutsche Autoren; Knut Hamsun schließlich, letztes Fabeltier der nordischen Literatur vor Tania Blixen, fühlte sich seinen deutschen Bewunderern so verpflichtet bereits sein erster Roman „Hunger“ war von einem Deutschen verlegt worden –, daß er im Zweiten Weltkrieg gegen seine patriotischen Landsleute für die Deutschen Stellung nahm, weshalb ihn die Norweger nach dem Ende der Besatzung verfemten.
Wirklich hat erst der Zweite Weltkrieg diese Tradition zumindest unterbrochen, wenn nicht zerstört – zum Schaden durchaus für beide Seiten. Über das Heimatland der Blixen, Dänemark, berichtete Friedrich Sieburg – der vor Jahrzehnten als Korrespondent in Kopenhagen gearbeitet hatte und mit einer Dänin verheiratet gewesen war – vor wenigen Jahren: „Dänemark hat sich gewissermaßen bereit erklärt, auf jedes kulturelle Band mit der Außenwelt zu verzichten, denn es hat nur das Band mit Deutschland zur Verfügung.“ Und: „Die Gegenwart beweist es. Dänemark ist literarisch nicht einmal Provinz, es ist überhaupt nicht zu gewahren ... Inzwischen ist die Literatur wie ausgedörrt und bietet nichts mehr, das als Beitrag zur Weltliteratur aufgefaßt werden könnte ... Karen Blixen, wird man einwenden, aber diese dänisch geborene und heute wieder in ihrer alten Heimat lebende Schriftsteilerin hat ihre großen Bücher auf englisch geschrieben.“
Wirklich hat Tania Blixen als erste bewiesen, daß es für Skandinavier auch ohne den durch Tradition und Erfolg erprobten Umweg über Deutschland eine Verbindung zum Weltmarkt der Literatur gibt. Sie hat ihren eigenen Kurs bewußt eingeschlagen, obwohl sie nach Beginn des Zweiten Weltkriegs als Korrespondentin in Berlin gearbeitet hat.
Dementsprechend schwach war das Echo der dänischen Autorin in Deutschland: Ihre beiden ersten Bücher, die in den dreißiger Jahren in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart erschienen sind, wurden wenig beachtet; nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es über Jahre, bis sie wieder aufgelegt wurden. Zwei weitere Erzählungsbände erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt, ein Band erschien bei Rowohlt.
Erst bei den „Schicksalsanekdoten“ – wiederum bei einem anderen Verlag, bei S. Fischer – war der Druck des Weltruhms offenbar stark genug geworden, um die Zurückhaltung in Deutschland zu durchbrechen. Zudem sind allerdings diese Anekdoten auch das Konsequenteste, was die Blixen bisher zu ihrem alten Thema geschrieben hat. Das Schicksal tritt hier als eine Art Person, als ein Partner auf, der sich von niemandem und um keinen Preis betrügen läßt und an dem jedermann auf makabre Weise scheitert, der einen solchen Betrug versucht.
Das erfährt Herr Clay, „ein ungeheuer reicher Teehändler“, der um 1860 in Kanton lebt. Herr Clay schätzt eine Geschichte, die ihm erzählt worden ist und die ihn tief beeindruckt: Es ist die Geschichte eines Seemanns, der für fünf Guineen von einem alten gebrechlichen Mann angeheuert wird. Der junge, kräftige Matrose soll dem alten Mann einen Sohn zeugen, den der Alte mit seiner jungen Frau nicht mehr bekommen kann. Am Ende bekräftigt der Seemann, er habe nie eine schönere Frau gekannt und infolgedessen noch nie so leicht fünf Guineen verdient.
Hier scheint der Betrug am Schicksal gelungen, was Herrn Clay, der glaubt, das Schicksal in seinem Leben zumindest einmal selbst schon betrogen zu haben, besondere Genugtuung verschafft. Die Freude wird ihm gehörig getrübt, als sein junger Sekretär ihm ironisch erklärt, diese Geschichte sei nicht wahr; alle Seeleute in der Welt erzählten diese Mär, und sie erzählten diese Geschichte, weil sie „nie wirklich vorgekommen“ sei. „Wenn sie geglaubt hätten, daß es je geschehen könnte, hätten sie es nicht erzählt.“
Clay aber will, daß die Geschichte Wahrheit wird. Der Sekretär bekommt den Auftrag, eine junge Frau für Clay zu suchen, die bereit ist, für eine gewisse Summe Geldes die Hauptrolle in der Geschichte zu übernehmen. Den Seemann treibt Herr Clay selbst auf.
Der Sekretär findet die Frau: Es ist Fräulein Virginie, die – was dem Teehändler Clay unbekannt bleibt – Tochter eines ehemaligen Kompagnons von Herrn Clay, den Clay ins Elend gebracht und am Ende sogar zum Selbstmord getrieben hatte, als er ihm eine Teeladung pfändete.
Genau der Gegenwert des damals gepfändeten Tees aber ist es, den Virginie nun für die Hauptrolle in Clays Geschichte fordert. Die Geschichte wird in Gang gesetzt, und Clay stirbt, ohne je zu erfahren, daß in dieser Nacht nicht seine Geschichte Wirklichkeit geworden ist, sondern daß das Schicksal Clays Hartherzigkeit gegenüber dem französischen Kompagnon auf Heller und Pfennig abgerechnet hat.
Ob der Erfolg, den sie mit dieser Art Geschichten jetzt in Deutschland hat, Tania Blixen veranlassen wird, ihr Verhältnis zu den Deutschen zu intensivieren, scheint fraglich. Zwar ist sie kürzlich in Deutschland gewesen, aber ihr Besuch hatte einen speziellen Zweck: Er galt dem General von Lettow-Vorbeck. Mit dem damaligen Oberstleutnant Lettow-Vorbeck ist die junge Baronin 1913 auf demselben Schiff nach Afrika gefahren. Lettow-Vorbeck, der den „Pferdeverstand“ der Dänin in Gesprächen an Bord schätzen lernte, bat sie, für ihn in Kenia Pferde zu kaufen. Das tat Tania Blixen auch, aber über dem Transport der Pferde von Kenia zum deutschen Schutztruppenkommandeur brach der Erste Weltkrieg aus.
So fuhr die Blixen nun nach Hamburg, um, wie sie kurz angebunden mitteilte, den General nach beinahe 50 Jahren etwas zu fragen, was sie ihn damals zu fragen vergessen hatte.
*Tania Karen Blixen: „Schicksalsanekdoten“; S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 290 Seiten 13,50 Mark.
SPIEGEL 20/1961
GEBRÜDER GRIMM

A bis Zypressenzweig

Heute, Dienstag, 10. Januar 1961, pünktlich 17 Uhr, letztes Imprimatur erteilt", telegraphierte der Germanist Professor Bernhard Beckmann aus Berlin an seinen Kollegen Professor Theodor Kochs in Göttingen und setzte hinzu: "gaudeamus". Anlaß zu dem alten Kommersruf "gaudeamus" – "Laßt uns fröhlich sein!" – war der vorläufige Abschluß eines lexikalischen Sprachwerks, das zu seiner Vollendung nicht weniger als 123 Jahre gebraucht hatte: das "Deutsche Wörterbuch" der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm.
Elf Bände haben die wissenschaftlichen Mitarbeiter zweier Arbeitsstellen in Ostberlin und in Göttingen seit 1946 zusammengestellt oder komplettiert und den einundzwanzig bereits fertigen hinzugefügt. Etwa 1,25 Millionen Mark brachte die Ost-„Deutsche Akademie der Wissenschaften“, die sich als Nachfolgerin der ehemaligen Preußischen Akademie fühlt, für die Sammel- und Forschungsarbeit auf, rund eine halbe Million Mark warf die West-„Deutsche Forschungsgemeinschaft“ für die Göttinger Arbeitsstelle aus.
Die Ostberliner Arbeitsstelle wird von Professor Bernhard Beckmann – dem Absender des Telegramms – geleitet. Sie ist dem Direktor des Ostberliner „Instituts für Deutsche Sprache und Literatur bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften“, Professor Theodor Frings, verantwortlich, der das „Deutsche Wörterbuch“ gegenüber der Akademie vertritt.
Im Westen hat diese Funktion Professor Hans Neumann, ordentliches Mitglied der Göttinger „Akademie der Wissenschaften“. Ihm verantwortlich und sein leitender Mitarbeiter in der Göttinger Arbeitsstelle ist Professor Theodor Kochs – der Telegramm-Empfänger.
Nach dem Telegramm-Avis von Ost nach West, von Beckmann an Kochs, sind nun – 109 Jahre nachdem am 1. Mai 1852 die erste Lieferung „A bis Allverein“ fertig wurde – die letzten drei von insgesamt 380 Lieferungen des „Deutschen Wörterbuchs“, durch Professor Beckmanns Imprimatur zum Druck freigegeben, im Buchhandel zu erwerben: zum Preis von acht Mark (378. Lieferung), zehn Mark (379. Lieferung) und zwölf Mark (380. Lieferung). In 32 zumeist mehr als tausend Seiten starken Bänden gespeichert, in zusammen etwa 66 000 Lexikonspalten abgehandelt, sind zum ersten Male so gut wie alle Wörter der neuhochdeutschen Sprache registriert, in alphabetischer Reihenfolge geordnet und, soweit möglich, in allen ihren abgewandelten Bedeutungen erläutert.
Der gesamte Wortbestand der deutschen Sprache, wie sie etwa seit Luthers Zeiten in der Literatur, in der Wissenschaft und im volkstümlichen Ton bis heute gebraucht wird – die sogenannte neuhochdeutsche Sprache also –, ist endlich von A bis Zypressenzweig katalogisiert und geordnet, ist zu messen, zu zählen, zu übersehen und in Ost und West zum Ladenpreis von 1529,60 Mark zu erwerben – wenn auch zur Zeit nur auf dem Papier. Da bei einem Luftangriff auf Leipzig die Lagerbestände des S. Hirzel Verlags vernichtet wurden, der allein das „Deutsche Wörterbuch“ von der ersten bis zur letzten Lieferung verlegt hat, sind gegenwärtig nur 24 Bände lieferbar. Der inzwischen verstaatlichte Verlag hofft, die vergriffenen acht Bände innerhalb der nächsten zehn Jahre nachgedruckt zu haben. „Es klingt fast wie ein Märchen“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „daß ein Gemeinschaftswerk deutschen Geistes, das die Grimms ursprünglich allein in etwa sieben, acht Bänden bewältigen wollten und sollten, nach so langer Zeit und vielfachen Krisen im Jahre der deutschen Teilung 1961 durch gemeinsame Anstrengung von hüben und von drüben doch noch vollendet werden konnte.“
Wirklich hat sogar der Staatsrat-Vorsitzende Walter Ulbricht, trotz aller hitzigen Vorliebe für die Theorie von der Existenz zweier deutscher Staaten, aus Anlaß der Vollendung des Wörterbuchs die Existenz einer deutschen Nation bestätigt. „Sie und alle Mitarbeiter am Grimmschen Wörterbuch“, schrieb er an Professor Frings und bezog die Göttinger ausdrücklich ein, „haben bewiesen, daß trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen eine fruchtbare Zusammenarbeit im Interesse unserer deutschen Nation möglich ist.“
Wie märchenhaft immer es klingen mag, daß ein solches Gemeinschaftswerk „im Jahre der deutschen Teilung 1961“ vollendet werden konnte – die Idee, eine Bestandsaufnahme der deutschen Sprache zu wagen, ist ebenfalls ein Produkt der deutschen Teilung gewesen und von Jacob Grimm ausdrücklich so verstanden worden. „Was haben wir denn gemeinsames als unsere sprache und literatur“, schrieb er im Jahre der deutschen Kleinstaaterei 1854 im Vorwort zum ersten Band des Wörterbuchs und konstatierte eine „in allen edlen schichten der nation anhaltende und unvergehende sehnsucht ... nach den gütern, die Deutschland einigen und nicht trennen“. Im Vorwort zum letzten, zum 32. Band nahmen die Herausgeber genau ein Jahrhundert später Jacob Grimms Wort wieder auf: „Sein Anliegen ist wieder unser Anliegen geworden; der Geist, in dem er das Werk begann, ist auch der Geist derer, denen das Geschick die Aufgabe zugewiesen hat, sein Werk zu beenden.“
Zwischen der Drucklegung des ersten und der Drucklegung des letzten Bandes war die staatliche Einheit der Deutschen erreicht und wieder verspielt worden. Vor der Drucklegung des ersten Bandes wie nach der Drucklegung des letzten Bandes stärkt sich die Zukunftshoffnung derjenigen, die einer deutschen Nation einen einheitlichen Staat wünschen, an den Vorbildern im Dämmer der Vergangenheit. Aber ebenso wie das Motiv, ein deutsches Wörterbuch zu planen, aus dem Unbehagen an der politischen Realität stammte, ebenso war auch der Anlaß, das Wörterbuch zu beginnen, politisch bedingt. „Ohne die Göttinger Vertreibung“, schrieb der spätere Literaturhistoriker an der Berliner Universität Wilhelm Scherer, „hätten wir das deutsche Wörterbuch nicht bekommen.“
Jacob wie Wilhelm Grimm zählten zu jener couragierten Professoren-Gruppe der „Göttinger Sieben“, die gegen den Verfassungsbruch ihres Königs protestiert hatten und daraufhin ihrer Posten enthoben und zum Teil des Landes verwiesen worden waren. Der Auftrag an die Grimms, mit der Herausgabe eines Wörterbuchs der deutschen Sprache zu beginnen, war – laut Scherer –„die Form, in welcher am würdigsten für die äußere Lebensstellung der Brüder gesorgt werden konnte, die von einer deutschen Regierung zerstört, von keiner der übrigen noch wieder aufgebaut worden war“.
Zu der Protest-Aktion der „Göttinger Sieben“ war es gekommen, nachdem 1837 durch den Tod des englischen Königs Wilhelm IV. die Personalunion zwischen England und Hannover aufgelöst und durch ein Edikt des Thronfolgers für Hannover, Ernst August, die seit 1833 bestehende Verfassung aufgehoben worden war, auf die alle Staatsdiener und mit ihnen die Professoren einen Eid geleistet hatten. Nicht so sehr aus Protest gegen die eigenmächtige Annullierung einer relativ liberalen Verfassung als vielmehr aus kompromißlosem Sinn für die Unverletzbarkeit des Eides wandten sich im ganzen Königreich gegen den Verfassungsbruch, den die Mehrheit heimlich verurteilte, sieben Männer – außer den beiden Grimms die Professoren Dahlmann, Gervinus, Albrecht, Ewald und Weber. Wilhelm Grimm: „Die Charaktere fingen an, sich zu entblättern.“
„Was würde Sr. Majestät dem König der Eid ihrer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von Männern ausginge, die eben erst ihre eidliche Versicherung freventlich verletzt hätten“, formulierten die „Göttinger Sieben“; aber der auf Autokratie erpichte König hatte für folgerichtige Argumentation ebensowenig Sinn wie hundertzwanzig Jahre später der Kanzler Adenauer für den Warnruf jener Göttinger Professoren, die sich gegen eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr wandten.
Kanzler Adenauer bestritt den gegen die Atomrüstung protestierenden Atomphysikern öffentlich schlicht die politische Sachkenntnis. König Ernst August – „Sie wissen ja, Professoren, Tänzerinnen und Huren kann man überall für Geld wiederhaben“ – reagierte auf seine Art. Er enthob die sieben Gelehrten ihrer Ämter und wies drei von ihnen – Gervinus, Jacob Grimm und Dahlmann – aus dem Lande. Innerhalb von 72 Stunden mußten sie das Königreich Hannover verlassen, „widrigenfalls sie gefänglich eingezogen werden“ sollten.
Die Studenten veranstalteten für Jacob Grimm eine Sympathiekundgebung an der hessischen Grenze; offiziell aber wurde der Protest im restaurativen Deutschland mißbilligt. Grimm durfte zwar in Kassel bleiben, von wo er acht Jahre zuvor nach Göttingen gezogen war, seinen Kollegen Gervinus und Dahlmann wurde der Aufenthalt auch dort nicht erlaubt. Den Druck einer Rechtfertigungsschrift, „Über meine Entlassung“, die Jacob Grimm im Januar 1838 zu Papier brachte, verbot der hessische Zensor. So ließ Jacob Grimm seine Schrift in Basel drucken. „'Gib dem Herrn eine Hand, er ist ein Flüchtling', sagte eine Großmutter zu ihrem Enkel“, berichtete er in dieser Schrift. „Und wo ward ich so genannt? In meinem Geburtslande, das an dem Abend desselben Tages ungern mich wieder aufnahm, meine Gefährten sogar von sich stieß.“
Und: „Die Welt ist voll von Männern, die das Rechte denken und lehren, sobald sie aber handeln sollen, von Zweifel und Kleinmut angefochten werden und zurückweichen ... Was ist es denn für ein Ereignis, das an die abgelegene Kammer meiner einförmigen und harmlosen Beschäftigungen schlägt, eindringt und mich herauswirft? Wer, vor einem Jahr noch, – hätte mir die Möglichkeit eingeredet, daß eine zurückgezogene, unbeleidigende Existenz beeinträchtigt, beleidigt und verletzt werden könnte? Der Grund ist, weil ich eine vom Land, in das ich aufgenommen war, ohne alles mein Zutun mir auferlegte Pflicht nicht brechen wollte, und als die drohende Anforderung an mich trat, das zu tun, was ich ohne Meineid nicht tun konnte, nicht zauderte, der Stimme meines Gewissens zu folgen.“
Ende des Jahres 1838 zog auch Wilhelm Grimm mit Frau Dortchen und seinen drei Kindern nach Kassel zurück, und so saßen die Brüder – Jacob 53, Wilhelm 52 Jahre alt – zwar ziemlich mittellos da, aber in zweierlei Hinsicht glücklich. Sie waren wieder in ihrer allerengsten Heimat, und – vor allem – sie waren wieder zusammen.
„Sie hingen“, schrieb Carl Zuckmayer in seiner Monographie über die Brüder Grimm, „an ihrer engsten Heimat, im Hessischen, wie die Katzen am Haus.“ Wirklich hatte Jacob Grimm seine Antrittsvorlesung in Göttingen, vom heimatlichen Kassel für den Autobahnfahrer heute nicht eben sehr viel weiter als einige Zigarettenlängen entfernt, über das „Heimweh“ gehalten. Und für die Anhänglichkeit der Brüder zueinander, ihre Abhängigkeit voneinander, gibt es vielleicht im Märchen, in der deutschen Geistesgeschichte aber kein Beispiel. „Lieber Wilhelm“, schrieb Jacob an seinen Bruder, „wir vollen uns einmal nie trennen, und gesetzt, man wollte einen anderswohin tun, so müßte der andere gleich aufsagen. Wir sind nun diese Gemeinschaft so gewohnt, daß mich schon das Vereinzeln zum Tode betrüben könnte.“
Zuckmayer kommentiert: „Damals war der eine zwanzig, der andere neunzehn. Und das Merkwürdige ist, daß sie den Entschluß zu dieser untrennbaren Gemeinschaft auch wirklich durch ihr ganzes Leben durchgeführt haben.“
Jacob (geboren 1785) und Wilhelm (geboren 1786) waren – von einem Erstling abgesehen, der als Vierteljahrskind starb – die beiden ältesten von insgesamt sechs die Säuglingszeit überlebenden Kindern des Advokaten und späteren Amtmanns Philipp Wilhelm Grimm. Daß ihr Vater aus Hanau, wo sie geboren worden waren, in das ebenfalls hessische Steinau umsiedelte – eine kurze Postkutschenfahrt von Hanau entfernt –, machte den Brüdern den ersten Seelenkummer; sie versuchten, sich hinter geschlossenen Augen vorzustellen, sie seien wieder in Hanau. Besser akklimatisierten sie sich in Kassel, wohin sie kamen, um – nach dem frühen Tod des Vaters – ein Gymnasium zu besuchen; diese Stadt haben sie später als ihre eigentliche Heimat akzeptiert.
1802 ging Jacob Grimm an die Universität Marburg (Jacob: „Die Trennung von ihm, mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geschlafen hatte, ging mir sehr nahe“), aber schon ein Jahr später folgte ihm der stets kränkelnde Wilhelm, der von Jugend an schwer asthma- und herzleidend war, und belegte die gleichen Fächer wie der ältere Bruder: Sie studierten bei einem der prominentesten Rechtsgelehrten der Zeit, dem damals unbestritten ersten Fachmann für Römisches Recht, Carl von Savigny (Betonung auf der ersten Silbe), dem Schwager des romantischen Dichters Clemens Brentano.
Als Zwanzigjähriger folgte Jacob Grimm dem Lehrer Savigny nach Paris, der dort Materialien zu einer Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter sammelte (Wilhelm: „Wie Du weggingst, da glaubte ich, es würde mein Herz zerreißen, ich konnte es nicht ausstehen, gewiß, Du weißt nicht, wie lieb ich Dich habe“), und kam Ende September 1805 endlich zu Bruder und Mutter nach Kassel zurück; er übernahm für hundert Taler jährlich eine Stellung beim Sekretariat des hessischen Kriegskollegiums.
Durch Napoleons Sieg über die Preußen bei Jena und Auerstedt und durch den Tilsiter Diktatfrieden von 1807 mußte der hessische Kurfürst seine Residenz verlassen; Jérôme, der jüngste Bruder des Siegers Napoleon, erhielt die Krone des neugeschaffenen Königreichs Westfalen, zu dem auch Kurhessen geschlagen wurde. Jacob hatte nach der Okkupation für eine Truppenverpflegungs-Kommission zu arbeiten, bekam aber endlich einen Posten als Leiter der Privatbibliothek des Königs Jérôme, der sich das Schloß Wilhelmshöhe oberhalb Kassels als Residenz ausgesucht hatte, und wurde sogar zum „auditeur au conseil d'Etat“ ernannt, zum Auditor im Staatsrat, einem so einträglichen wie aussichtsreichen Regierungsamt. Wilhelm reiste derweil in Sachsen und Preußen umher, besuchte Goethe und den Romantiker Achim von Arnim und konsultierte wegen seiner chronischen Krankheiten in Halle den berühmten Arzt Professor Reil.
Nach Napoleons Niederlage wurden die Brüder Grimm von dem zurückkehrenden Kurfürsten von Hessen, Wilhelm I., in der staatlichen Bibliothek angestellt – Jacob hatte ein erstes Amt nach der Befreiung, den viel besser dotierten Posten eines Legationssekretärs, und seine aussichtsreiche Karriere als Diplomat freiwillig aufgegeben, nachdem er zunächst am Wiener Kongreß hatte teilnehmen müssen. Im Anstellungsdekret für die Brüder brachte der wenig musische Kurfürst die Wendung unter, „daß gedachte bei der Bibliothek angestellt Werdende mehr für die Bibliothek als für sich selbst arbeiten“.
Genau dies aber, nämlich Zeit nicht so sehr für sich selbst, wohl aber für ihre Studien zu haben, war die niemals verhohlene Absicht der Brüder gewesen, derzuliebe sie immer wieder Angebote von akademischen und anderen Ämtern ausgeschlagen hatten. Zu der Zeit, als der Kurfürst in den Anstellungsvertrag für die Brüder die grämliche Mahn-Klausel diktierte, waren beide bereits maßgebende Vertreter ihres Fachs geworden, Begründer, mindestens Mitbegründer der altdeutschen Philologie und Kapazitäten für Germanistik. „Der historische Verlauf“, schrieb der Berliner Ordinarius Professor Scherer über Jacob Grimm, „in welchem sich die altdeutsche Philologie aus unsicherem Tappen und zerstreuter Gelehrsamkeit zum Range einer einheitlichen Wissenschaft erhob, ist der Verlauf seiner eigenen Entwicklung.“
Nicht zuletzt unter dem Eindruck politischer Zerrissenheit, die den Blick der Romantiker (Wackenroder, Tieck, Novalis, Brentano und Arnim) magisch auf die Zeiten mittelalterlicher Reichseinheit und Reichsgröße zwang, wandte sich die deutsche Literatur zum ersten Male nachhaltig ihrer eigenen Vergangenheit und ihren Quellen zu.
Noch Johann Gottfried Herder nahm 1777 in einem Essay als Beispiel für die Jünglingszeit literarischer Entwicklung den Ilias-Dichter Homer, weil er ein Beispiel aus der deutschen Literatur, das er lieber verwendet hätte, nicht kannte: „Großes Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespeare, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest, keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter? Kein Zweifel, sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm; sind verkannt und verachtet.“ Der Balladen-Dichter Bürger forderte 1776 mehr oder minder theoretisch: „Geb' uns einer ein großes Nationalgedicht von der Art der Ilias und Odyssee.“
Zwischen 1757 und 1759 allerdings hatte schon der Schweizer Historiker Bodmer eine Bearbeitung des umfassenden Dokuments mittelhochdeutscher Dichtung, des Nibelungenliedes, veröffentlicht. In der Bibliothek seines Lehrers Savigny entdeckte Jacob Grimm Bodmers Sammlung der Minnesänger; 1803 erschienen die „Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, neu bearbeitet und herausgegeben von Ludewig Tieck“, und in Straßburg sammelten Clemens Brentano und dessen Freund Achim von Arnim deutsche Volkslieder, von denen sie 1805 unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ einen ersten Band veröffentlichten.
Die Suche nach Quellen und Beispielen einer verschütteten deutschen Literatur forderte und brauchte wissenschaftliche Systematik, blieb aber bei den Romantikern in der Hand wenngleich liebevoll-pflegerischer Laien. Zum Range einer selbständigen Wissenschaft kam die Germanistik eher beiläufig; nach der Formulierung Scherers „wurde die altdeutsche Philologie durch verschiedene Hintertüren – der Geschichte, der Theologie, der Jurisprudenz, der Aesthetik, der allgemeinen Literaturwissenschaft – nebenher in die deutsche Wissenschaft eingeführt; wagte sich dann, als sie ihrer selbst sich bewußt zu werden anfing, gleich an ihre höchsten Probleme“ – vornehmlich durch die Brüder Grimm.
Sie endlich machen sich daran, die „Gesänge der Vorfahren“ aus dem Schlamm zu ziehen, in dem Herder die Schätze vermutet hatte. Die Brüder sammeln Märchen aus gedruckten Quellen und aus mündlichen Überlieferungen (und stellen ihre Sammlung dem Romantiker Brentano zur Verfügung, der sie verschludert; sie wird erst in seinem Nachlaß wiederentdeckt). Aus einer Abschrift, die sie glücklicherweise gemacht hatten, und neuen Materialien veröffentlichen die Brüder 1812, 1815 und 1822 die drei Teile ihrer „Kinder- und Hausmärchen“, deren Auflage zeitweilig in Deutschland nur noch von der Bibel übertroffen wird.
1812 veröffentlichen die Brüder eines der bedeutendsten Literaturbeispiele aus dem achten Jahrhundert, das Hildebrandslied, 1815 folgt das Epos „Der arme Heinrich“ von Hartmann von der Aue, 1816 und 1818 erscheinen die beiden Teile der von ihnen erstmals zusammengestellten „Deutschen Sagen“ – der Shakespeare-Übersetzer August Wilhelm Schlegel nennt sie eine „Rumpelkammer wohlmeinender Albernheiten“, denn er schätzt mehr die Brentano-Arnimsche Methode der Neu- und Nachdichtung und hat weniger Sinn für die wissenschaftliche Absicht der Grimms, die Texte so original wie möglich zu bieten.
Jacob publiziert unter vielem anderen eine vierbändige „Deutsche Grammatik“, eine zweibändige „Geschichte der deutschen Sprache“, zwischendurch sein grundlegendes Buch über „Deutsche Rechtsaltertümer“. Er ist der Ansicht, „Poesie und Recht sind gemeinsamen Ursprungs“, beide seien „aus einem Bett miteinander aufgestanden“.
Wilhelm übersetzt derweil dänische und schottische Literatur-Altertümer, er veröffentlicht – unter vielem anderen – zwei grundlegende Bücher über Runen, er publiziert Werke mittelhochdeutscher Dichter wie Wernher vom Niederrhein und Konrad von Würzburg; gemeinsam geben die Brüder die Lieder der Edda und irische Märchen heraus. Fast immer arbeiten sie dabei aufs engste und freundschaftlichste mit Professor Karl Lachmann zusammen, der sie zwar nicht an Popularität, sicher aber an Bedeutung für die mittelhochdeutsche Philologie übertrifft: Er ist der erste Herausgeber kritischer Ausgaben des Nibelungenliedes und der Werke Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach.
Bis auf gelegentliche Reisen des einen oder anderen wohnten die Brüder zusammen in Kassel, und an ihrem friedfertigen Nebeneinander und sachlich ergiebigen Miteinander änderte sich auch nichts, als der 39jährige, immer wieder schwer kränkelnde Wilhelm im Jahre 1825 die Apothekertochter Dorothea Wild heiratete, ein bei der Hochzeit 30jähriges Mädchen, das beide Brüder von dessen Kindheit an gekannt hatten. Von den vier Kindern, die Dorothea – genannt Dortchen – und Wilhelm Grimm bekamen, starb das älteste acht Monate nach der Geburt. Das nächstälteste, der später als Kunsthistoriker prominente Herman Grimm („Michelangelo“), hat Einzelheiten aus dem Alltag der Brüder Grimm überliefert – des Vaters Wilhelm, des Onkels Jacob –, die eine fast unglaubhafte Übereinstimmung zwischen beiden belegen.
„Nur das Kritzen der Feder war zu hören“, so beschreibt Herman die gemeinsame Arbeit der Brüder, „oder bei Jacob manchmal ein leises Hüsteln ... Die Züge des einen wie des andern waren immer in leiser Bewegung. Die Brauen hoben oder senkten sich. Zuweilen blickten sie in die leere Luft. Manchmal standen sie auf, nahmen ein Buch heraus ... und blätterten darin.“
Sogar die Bibliothek besaßen beide gemeinsam, nur von einigen wenigen Standardbüchern, die ständig gebraucht wurden, hatten sie zwei Exemplare angeschafft. Ihre Interessen, ihre Geschmäcker differierten kaum – höchstens insoweit, als Jacob ein Stück Muschelkalk, Wilhelm einen Bergkristall als Briefbeschwerer benutzte. Nur in einer Sache unterschieden sie sich, laut Herman Grimms Zeugnis, deutlich: „Wilhelm ging langsam, Jacob rasch. Zusammen sind sie so nie gegangen.“
Zusammen nicht, aber gleichzeitig – wenn sie sich dann, in ihrer späteren Berliner Zeit, im Tiergarten immer wieder begegneten, nickten sie sich freundlich und wortlos zu.
Der hessische Kurfürst Wilhelm I. und sein Nachfolger Wilhelm II. hatten beide Grimms – Wilhelm arbeitete inzwischen fünfzehn Jahre an der Bibliothek – mit Gehaltsaufbesserungen nicht sonderlich verwöhnt; nun, beim Tode des Ersten Bibliothekars, schlug Wilhelm II. auch das Gesuch der Brüder ab, ihnen die Posten eines Ersten und Zweiten Bibliothekars zu überlassen.
Aber erst 1829, als auch der Haushalt mit Dortchen und den Kindern auf die Dauer nicht mehr zu finanzieren war, gaben die Brüder einem seit Jahren beharrlichen Drängen nach und folgten einem Ruf nach Göttingen – Jacob wurde, für tausend Taler jährlich, ordentlicher Professor und Bibliothekar, Wilhelm, für fünfhundert Taler, Bibliothekar an der damals größten deutschen Universitätsbibliothek; 1831 erhielt auch Wilhelm eine Professur. Der hessische Kurfürst: „Die Herren Grimms gehen weg! Großer Verlust! Sie haben nie etwas für mich getan.“
In Kassel hatten die Brüder 600 und 300, im letzten Jahr 700 und 400 Taler Jahresgehalt und waren bei aller Sparsamkeit mit den gemeinsamen 1100 Talern nicht mehr zurechtgekommen, obwohl ihr Lebenszuschnitt fast preußische Gelehrtenkargheit erreichte – als Reiseandenken zum Beispiel schickte Jacob seiner Nichte aus Basel ein Efeublatt; bei seiner Schwägerin Dortchen wünschte er sich ein andermal, „wenn ich so kühn sein darf, einen neuen Hosenträger...; hier kann ich ihn nicht bestellen, weil ich das Muster nicht vom Leibe missen kann“. Und als sie nach dem Göttinger Eklat ausgewiesen worden waren, Jacob vorweg, gab Wilhelm seinem Bruder brieflich „noch eine böse Nachricht: auf Deinem eingekochten Kirschensaft setzt sich oben Schimmel an“.
Zunächst aber standen den Brüdern in Göttingen relativ ruhige Arbeitsjahre bevor, wobei anfangs ein Vergleich mit der Kasseler Zeit trotz allem zugunsten Kassels ausfiel: In Kassel, klagte Jacob brieflich, habe er täglich drei Stunden Bibliotheksdienst gehabt „und dann volle, süße Muße“ für die Forschung, in Göttingen „begehrt die Bibliothek allein 36 oder wenigstens 32 Stunden“ wöchentlich, „und es sollen Vorlesungen versucht werden“. Und: „Das Auftreten zu bestimmten Stunden auf dem Katheder hat etwas Theatralisches und ist mir zuwider.“
Möglicherweise unter dem Eindruck der Katheder-Wirksamkeit hat Jacob Grimm später die Bedeutung öffentlichen Aufsehens anders eingeschätzt. „Ohne unsere Protestation“, schrieb er nach dem Göttinger Eklat an Clemens Brentanos Schwester, Bettina von Arnim, „wäre der Gewalt alles, was sie wollte durchgegangen und jetzt schon Grabesstille über der Sache. Auf die erste Kraft des rechtmäßigen Widerstands stützte sich alles folgende, und aus dem kleinen Kreis des ersten, ins Wasser geworfenen Steins ist nun ein weiter und breiter Wellenschlag geworden. Diese Bewegung . . . bringt Deutschland mehr Segen als das versumpfte Gewässer.“
Zumindest brachte sie den Plan zu einem ersten umfassenden Sammelwerk des deutschen Wortschatzes, denn schon Monate nach der Amtsenthebung der Grimms – so berichtete Jacob später – „geschah uns von der Weidmannschen Buchhandlung der Antrag, unsere unfreiwillige Muße auszufüllen und ein neues großes Wörterbuch der deutschen Sprache abzufassen“.