Weltwundern – Vom Glück, die Orientierung zu verlieren - Michaela von Bargen - E-Book

Weltwundern – Vom Glück, die Orientierung zu verlieren E-Book

Michaela von Bargen

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Beschreibung

Ein inspirierendes Buch über eine Familie, die das Abenteuer suchte und einen neuen Lebensentwurf fand Im Sommer 2018 macht sich Michaela von Bargen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern auf die Reise, der Plan: In anderthalb Jahren mit dem selbst ausgebauten Truck auf der Panamericana von Alaska nach Argentinien. Vier Jahre später sind sie noch immer unterwegs und von Reisenden längst zu im Ausland Lebenden geworden. Mehrfach musste die Familie eine Vollbremsung einlegen − ein Motorschaden in San Francisco, eine Bandscheiben-OP in Costa Rica und schließlich eine Pandemie, die alle weiteren Reisepläne auf Eis legte. Doch eine Rückkehr nach Deutschland kommt für die sechs nicht infrage. Immer wieder richten sie ihren Kompass neu aus, die vielen Höhen und Tiefen zwingen Michaela und ihre Familie, sich zu hinterfragen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Welche Lebensmodelle gibt es? Was bedeutet für uns Sicherheit? In jeder Etappe und jeder Pause steckt so auch eine Auseinandersetzung damit, was tatsächlich wichtig ist, worauf sie vertrauen und ob auch für sie in der Stille eine Chance besteht. 

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Seitenzahl: 421

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Michaela von Bargen

Weltwundern

Vom Glück, die Orientierung zu verlieren

 

 

 

Über dieses Buch

Ein inspirierendes Buch über eine Familie, die das Abenteuer suchte und einen neuen Lebensentwurf fand

 

Im Sommer 2018 macht sich Michaela von Bargen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern auf die Reise, der Plan: in anderthalb Jahren mit dem selbst ausgebauten Truck auf der Panamericana von Alaska nach Argentinien. Vier Jahre später sind sie noch immer unterwegs und von Reisenden längst zu im Ausland Lebenden geworden. Mehrfach musste die Familie eine Vollbremsung einlegen − ein Motorschaden in San Francisco, eine Bandscheiben-OP in Costa Rica und schließlich eine Pandemie, die alle weiteren Reisepläne auf Eis legte. Doch eine Rückkehr nach Deutschland kommt für die sechs nicht infrage. Immer wieder richten sie ihren Kompass neu aus, die vielen Höhen und Tiefen zwingen Michaela und ihre Familie, sich zu hinterfragen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Welche Lebensmodelle gibt es? Was bedeutet für uns Sicherheit? In jeder Etappe und jeder Pause steckt so auch eine Auseinandersetzung damit, was tatsächlich wichtig ist, worauf sie vertrauen und ob auch für sie in der Stille eine Chance besteht.

Vita

Michaela von Bargen wurde 1977 in Hannover geboren. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert, als Texterin gearbeitet und ist, seit sie Mutter wurde, Expertin für Neuanfänge. Zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern reist sie seit 2010 um die Welt, hat in Südafrika, Norddeutschland und Costa Rica gewohnt. Seit 2020 lebt die Familie in Quito/Ecuador. Am liebsten ist sie draußen, gern mit den Händen in der Erde oder den Füßen in Bewegung, immer mit den Gedanken am nächsten fernen Ort.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung und -illustration Alexander Hanke/Zum Heimathafen

Illustrationen im Innenteil Lotta von Bargen

Karte © Peter Palm, Berlin

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01613-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Karte der Reiseroute

Panik

Teil 1 Auf und davon

Richtige Zeit, falscher Ort

Neue Welt

Es braucht ein Dorf …

Scheinwerferlicht

Zeit für Sonnenuntergänge

Endloses Nichts

Wilde Welt

Inselleben

Die Lücke

Licht- und Schattengestalten

Sorgen

Wunderland

Balance

Unverstellter Horizont

Synapsenglühen

Teil 2 Drunter und drüber

Koffer voller Vertrauen

Magnetfeld

La Paz heißt Frieden

Festland

Leben und Tod

Paradies verbummelt

Indiana Jones

Opfer

Zahnrad

Zeitstrahlwechsel

Welt und Dorf

Brieffreunde

Luftwurzeln

Erschütterungen

Gefahr und das Rettende

Hindernisse

Platz für neue Pläne

Vom Overlander zum Expat

Zaunloser Vorgarten

In andere Köpfe gucken

Applaus

Wildes Leben

Glitzerschuppen

Fast wilde Weihnachten

Sterben üben

Hässliche Stiefschwester

Neurogenese

Inselparadies

Teil 3 Hier und jetzt

Himmel und Hölle

Hoffnung

Hüter der Welt

Glück

Jekyll und Hyde

Ohrwurm

Flucht

Gestrandet

In andere Köpfe gucken

No Limits

Dank

Für Timm, Lotta, Paula, Carl und Max

Panik

El Salvador: San Salvador, Juni 2019

Ich ersticke. Jedes Einatmen kostet Willenskraft, bei jedem Ausatmen überkommt mich Brechreiz. Mein Magen flimmert, mein Herz wummert, mein Hals wird eng, und vor den Augen verschwimmt der Computerbildschirm zu Wortnebel. Ich schließe die Augen, versuche, die Panik zu beherrschen, klare Gedanken zu fassen.

Es ist Nacht. Still. Keine Sirenen, kein Verkehr, keine Stimmen. Nur ein leises, regelmäßiges Klicken vom Elektrozaun auf der anderen Seite des Bürgersteigs. Orangegelbe Straßenlaternen erhellen den Innenraum unseres Campingtrucks. Es ist sicherer, im gleißenden Licht zu stehen. Seit gestern parken wir vor der Notaufnahme des Krankenhauses. Die Sicherheitsleute bewachten die Kinder, während ich drinnen zwischen weinenden, teils blutverschmierten Verwandten anderer Patient:innen auf Neuigkeiten wartete.

Später habe ich stundenlang schlaflos den Atemzügen der Kinder gelauscht. Ein vertrauensvolles Tiefschlafatmen. Was würde ich dafür geben, auch Timms Atem lauschen zu können. Irgendwann habe ich seine Abwesenheit nicht mehr ausgehalten und bin aus dem Bett geklettert. Jetzt sitze ich wieder wie den ganzen Tag zuvor am Rechner und versuche, eine Entscheidung zu treffen.

 

Der letzte Monat war die bisher aufregendste, die erschöpfendste und forderndste Zeit unserer Reise. Belize war abenteuerlich, abwechslungsreich und anders als erwartet. Guatemala hat uns tief berührt, den Kindern eine neue Sprache geschenkt, uns die Navigationsinstrumente gekostet und vor Herausforderungen gestellt, die jede:r Langzeitreisende einmal zu verkraften hat: fürchterliche Straßen, medizinische Probleme, einen Einbruch. All das war zu bewältigen, nicht unbequemer als ein Stein im Schuh. Jetzt allerdings ist ein ganzes Bein nicht mehr funktionsfähig. Ich habe das erste Mal das Gefühl, an meine Grenzen zu stoßen. Bewegungsunfähig in einem der gefährlichsten Länder der Welt zu stranden, ist ein Albtraum. Ich fühle mich verletzlich, ausgeliefert, habe Angst. Angst, die mich nicht schlafen lässt. Die mich aber nicht lähmen darf, weil jemand die Stellung halten muss. Zu sehen, wie der Mensch, den man am meisten liebt, leidet und nur unter Morphium bestehen kann, schmerzt. Mich gleichzeitig um die Kinder zu kümmern, meine Angst vor ihnen zu verbergen, all die Arztgespräche hier und in Deutschland, die vielen Telefonate mit der Versicherung, das Homeschooling, Kochen und Einkaufen überfordern mich komplett.

Vielleicht hatten sie recht. All jene, die meinten, es wäre unverantwortlich, in einem Campingtruck mit vier Kindern von Kanada nach Argentinien zu reisen. Vielleicht ist es so weit, vielleicht ist der Moment gekommen, an dem wir uns geschlagen geben müssen. Vielleicht …

Teil 1Auf und davon

Kanada und die USA

Richtige Zeit, falscher Ort

Auf dem Atlantik, Kurs auf Halifax/Kanada, Juli 2018

Wer in Norddeutschland aufgewachsen ist, dem kriecht ein grauer Tag nicht so schnell in die Seele. Manches ist in Grau sogar am allerschönsten: das Meer zum Beispiel. Blauer Himmel und friedliche See sind nett, schäumende Wellen, Wolkenfetzen und Wind, der einem den Kopf frei pustet, sind heilsam.

Das dachte ich bisher. Bisher allerdings habe ich das Meer meist vom Land aus betrachtet, in Gedanken beim nächsten Heißgetränk. Die letzten Tage waren ein Perspektivwechsel. Ich kenne das Meer nun auch von obendrauf, von mittendrin und ein kleines bisschen von untendrunter, dann nämlich, wenn gierige Wellenzungen über dem Bug der Atlantic Sea brechen. Einmal kurz habe ich gestern ein anderes Schiff gesehen, einen Punkt am Horizont. Ansonsten Wasser und Himmel in allen Schattierungen von Grau und Blau. Unter uns endloses Schwarz, aber daran mag ich nicht denken.

Hinter uns liegen anstrengende Wochen, ein Abschiedsmarathon, all die Vorbereitungen, die man trifft, wenn das Leben zu Hause für achtzehn Monate ohne einen weitergehen muss. Ein paar Tage auf See, der Seele Zeit geben hinterherzukommen, dachten wir, sei eine gute Idee. Darum befinden wir uns nun mit vier Kindern auf demselben Containerschiff wie unser Campingtruck, mit Kurs auf Kanada.

Für Schiffe sei der sicherste Ort der Hafen, doch dafür wären sie nicht gemacht, soll Einstein gesagt haben. Auch wir scheinen nicht für Häfen gemacht. Ein kurzer Stopp im Trockendock, eine Generalüberholung und dann wieder in See stechen – so verlief unser Leben in den letzten zwanzig Jahren. Nie waren wir länger als vier Jahre an einem Ort, immer wieder zog es uns raus in die wilde Welt. Der Atlantik ist heute alles andere als wild, und doch hat mein innerer Seebär weiche Knie. Das Grau des Himmels schleicht mir ins Gemüt, im Schlepptau all die Zweifel und Fragen, die ich in den letzten Wochen erfolgreich weggewuselt habe.

Ein Containerschiff ist nicht der richtige Ort für Kinder, findet unser Kapitän. Er hatte bisher nie Kinder an Bord. Wie er denken viele: Kinder wollen Sicherheit und Stabilität, sie brauchen Klassenkameraden, Reitstunden, Geburtstagspartys, ein eigenes Zimmer als Rückzugsort. Sie ihrer Freunde zu berauben, um sie mit der Familie als einzigem konstanten Sozialkontakt um die Welt zu schleifen, ist ein Verbrechen. Wir sind Egoisten, die den Kindern unsere Lebensweise aufdrücken. Als nicht ausgebildete Lehrer riskieren wir die Bildung und die Zukunft unseres Nachwuchses, wenn wir uns anmaßen, sie selber zu unterrichten. Kinder müssen eigene Wege gehen können, selbstständig werden dürfen, sich abnabeln. Wir hingegen pferchen vier Kinder in einen Campingtruck, gerade so groß wie der heimische Vorflur, nehmen ihnen all ihre sozialen Kontakte, die gewohnte Stabilität, karren sie durch die Schurkenstaaten Lateinamerikas.

Jetzt, wo ich zum Stillhalten gezwungen bin, sickern wie ein stetiger Nieselregen die Zweifel in meine zuvor betonharte Zuversicht, weichen sie auf. Richten wir Schaden an, anstatt wie erhofft unser aller Leben zu bereichern? Im Alltag stoße ich als Mutter oft an meine Grenzen. Schaffe ich es, meiner Rolle unter den erschwerten Bedingungen einer Reise gerecht zu werden? Werden Timm und ich genug Freiraum haben, es schaffen, ein Paar zu bleiben, oder werden wir zum Versorgungsteam? Können wir vielleicht nicht die Tragweite dessen überblicken, was wir den Kindern abverlangen? Freuen sie sich wirklich so sehr auf die Reise, oder ist es unser Enthusiasmus, der sie ansteckt? Ist es einfach nur ihr grenzenloses Vertrauen in unsere Entscheidungen, das sie antreibt?

 

Dies ist nicht unsere erste Reise dieser Art: Vor vier Jahren machten wir, erschöpft, schmutzig und erfüllt von einer neunmonatigen Reise durch Afrika, eine Vollbremsung vor dem Tor eines idyllischen Hofs in Norddeutschland. Der Hof, das war der Ort, auf den wir uns seit dem Aufbruch in Kapstadt gefreut hatten. Nach ein paar Jahren Leben in Südafrika hatten wir damals beschlossen, zurück in die Heimat zu ziehen, besser: zu fahren, um den Übergang vom einen in den anderen Lebensabschnitt so weit wie möglich zu strecken. Bevor Timm bei unserer Ankunft aus dem Defender stieg, um den heimischen Boden zu küssen, gaben wir sechs uns ein Versprechen: In vier Jahren, komme, was wolle, würden wir von Kanada nach Argentinien reisen. Die Zeit der Afrikareise war die intensivste und schönste Zeit, die wir als Familie bis dahin hatten erleben dürfen. Von Afrika aus zu starten, fühlte sich anders an, als jetzt in Deutschland aufzubrechen. Wir waren damals unerschütterlicher. Die letzten Jahre in Deutschland haben uns wider Willen gezähmt, den Pioniergeist mit deutschem Sicherheitsdenken vernebelt. Und das, obwohl wir nach der Zeit in Afrika geschworen hatten, uns nicht wieder einsaugen zu lassen. Weder von Ängsten noch vom Alltag. Das Familienleben sollte an allererster Stelle stehen. Wir haben vom Landleben geträumt, vom Selbstversorgen, von krähenden Hähnen und glücklich im Garten tollenden Kindern, von Apfelernte und Kaminfeuer. Vieles konnten wir verwirklichen. Wir haben einen 200 Jahre alten Hof restauriert, Timm hat für seine Firma gearbeitet, unseren Campingtruck «Roger» geplant und gebaut. Ich hab mich um die Kinder gekümmert, um eine schnell wachsende Schafherde, um Hühner, Kaninchen, Meerschweinchen, Pfauen, Katzen, Schweine, ein durchgeknalltes Pony. Ich habe einen Garten angelegt, Timm hat mir ein Gewächshaus gebaut, jeden Abend sind wir todmüde von all der frischen Luft und der körperlichen Arbeit ins Bett gefallen. Zeit, all das zu genießen, haben wir uns nicht genommen.

Im Frühling haben wir die Gartenliegen unter dem Walnussbaum aufgestellt, das Ruderboot aus der Scheune geholt und am Steg festgemacht. Im Herbst dann haben wir die Liegen wieder eingelagert, das Boot zurück in die Scheune gebracht – ohne einmal bewundert zu haben, wie die Sonne durch das Blätterdach des Walnussbaumes blinzelt, ohne jemals in der Abenddämmerung geangelt zu haben.

Wir haben viel geschafft, unseren Landlebentraum gelebt – leider im Zeitraffer. Die Zeit scheint in den letzten Jahren wieder schneller zu vergehen, und die Kinder werden in Lichtgeschwindigkeit groß. Ich möchte die Zeit anhalten, einfrieren und so viel Jetzt wie möglich konservieren. Ich will nicht, dass die Kindheit meiner Kinder an mir vorbeirast, spüre einen extremen Wunsch nach Überschaubarkeit, nach Reduktion, nach Besinnung auf das Wesentliche. Die Magie des Elternseins, nämlich die Welt durch die Augen unserer Kinder zu entdecken, ist in letzter Zeit zu kurz gekommen. Wir suchen nach einem Weg, der Zeit ihr Tempo zu rauben. Vielleicht finden wir ihn auf und mit dieser Reise.

Entschleunigung und Familienzeit aber sind nicht die einzigen Gründe, die unseren Wunsch nähren, auf Reisen zu gehen. Orte, egal wie perfekt sie scheinen, fühlen sich für uns nie langfristig gut an. Irgendwann, meistens dann, wenn es gemütlich wird, überkommt Timm und mich ein unstillbares Verlangen nach der Welt vor dem heimischen Gartenzaun. Während diese Eigenschaft unseren Vorfahren das Überleben sicherte, ihnen neue Jagdgründe und Siedlungsgebiete bescherte, stoßen wir mit dieser Sehnsucht heute auf Widerstände. Unsere Gesellschaft ist auf Bleiben programmiert. Erkundungsverhalten, wie Verhaltensbiologen das Eindringen eines Lebewesens in zuvor nicht besuchte Areale bezeichnen, steht aus Sicht der Entwicklungspsychologie im Gegensatz zur Fähigkeit, sich zu binden. Was – und das ist eine meiner größten Ängste – ist, wenn wir den Kindern diese Unruhe einpflanzen? Gibt es Eigenschaften, die genauso wichtig sind wie die, Kontinuität pflegen zu können? Flexibilität, Neugier, Entdeckergeist, Resilienz, Offenheit, Kreativität, Mut – sind das nicht vielleicht Qualitäten, die zukünftige Generationen eher brauchen werden als die Fähigkeit, an Gewohntem festzuhalten?

Forscher haben herausgefunden, dass circa 20 Prozent der Weltbevölkerung Träger des Gens DRD4–7R sind. Es ist vermehrt in Nomadenvölkern und Kulturen zu finden, deren Ursprung auf Migrationsbewegungen zurückzuführen ist. Träger dieses Gens zeichnet eine ausgeprägte Neugier, erhöhte Risikobereitschaft und eben eine verstärkte Sehnsucht, Neues zu entdecken, aus. Wie weit verbreitet war das Gen wohl unter den Passagieren der Titanic?

Heute in den frühen Morgenstunden haben wir in etwa die Stelle überquert, an der sie gesunken ist. Mein Herz klumpt. Kurz. Dann beginnt es zu hüpfen. Ein schüchterner Sonnenstrahl zaubert Lichtreflexe auf die stahlgrauen Wellen, der Horizont eine klare dunkelgraue Linie, weit und breit ist kein Eisberg in Sicht. Wir werden nicht sinken. Nicht mit dem Schiff, nicht auf andere Art. Wir sind nicht mehr zur richtigen Zeit am falschen Ort, wir sind auf dem Weg.

Neue Welt

Kanada: Halifax, August 2018

Ich schrecke aus dem Tiefschlaf, bin in Sekunden hellwach. Irgendetwas stimmt nicht, aber ich erkenne nicht, was es ist. Alles scheint normal. Das Bett vibriert leicht unter dem Brummen der Motoren. Ich setzte mich auf, meine Augen tasten sich durch die Finsternis, suchen das Bullauge, finden den Weg hinaus aufs Meer. Aus der Dunkelheit blinkt es mir rot entgegen. Kurz vergesse ich zu atmen, dann fluten Endorphine meinen Körper: Es ist die Fahrwassermarkierung – Land in Sicht!

Wenige Minuten später stehe ich angezogen an Deck. Es ist 4 Uhr 30, auf dem Schiff ist es noch ruhig. Über mir funkeln die Sterne, vor mir und auf der Wasseroberfläche die Lichter von Halifax. Unendlich klein fühle ich mich zwischen all dem Gefunkel und gleichzeitig unbesiegbar: Wir haben die erste Etappe unserer Reise geschafft, wir haben Kanada erreicht.

Zwischen uns und der Heimat liegt der Atlantik. Ich nehme einen tiefen Atemzug, merke, wie das Gefühl von Freiheit den letzten Zipfel meiner Lungenflügel erreicht. Zum ersten Mal verstehe ich, warum es Lungenflügel heißt. Mit dem Atem durchdringt mich die Erkenntnis, wie sehr ich mich in den letzten Jahren an das Gefühl zu ersticken gewöhnt habe.

Die Zeit in Afrika hat mich mehr verändert, als ich erwartet hatte. Es fühlte sich an, als passe die Lücke, die ich hinterlassen hatte, nicht mehr und als müsste ich mich mit Gewalt wieder hineinzwängen. Ständig drückte und zwackte es an einer Stelle. Ich habe einige blaue Flecken davongetragen.

Zunächst dachte ich, das sei eine Übergangsphase und ich bräuchte Zeit, mich wieder auf die neue alte Umgebung einzustellen. Ich hatte schließlich schon so oft neu angefangen, warum sollte das nicht auch an einem vertrauten Platz gelingen? Alles Einstellungssache, dachte ich. Auch an einem Ort, an dem man vieles kennt, kann man, davon war ich damals überzeugt, das Gefühl von Abenteuer am Leben erhalten.

Timm und mir war der Abschied von Kapstadt nicht leichtgefallen. Wir hatten gerne dort gelebt. Für die Kinder aber, das war uns bei einem Sommerurlaub in Deutschland klar geworden, wurde Kapstadt zu einem goldenen Käfig. Es ist ein wundervoller Ort, solange Kinder klein sind. Wachsen aber die ersten zarten Flügel, ist Südafrika beengend.

Kinder, besonders die der weißen Oberschicht, stehen unter Dauerbeobachtung. Sie leben hinter Mauern, manchmal zusätzlich von einem Elektrozaun geschützt. Selbst in der norddeutschen Kleinstadt aufgewachsen, wünschten Timm und ich unserem Nachwuchs mehr Freiheit. Drei Monate nach dieser Erkenntnis saßen wir im Geländewagen auf dem Weg Richtung Deutschland.

Die erste Zeit in der Heimat dann war ich total berauscht von den physischen Freiheiten, die uns das Leben dort bot. Vieles, was in Südafrika nicht denkbar gewesen wäre, war plötzlich möglich. Die Kinder blühten auf, genossen ihren neuen Bewegungsradius, und von mir fiel eine Anspannung ab, von der mir nicht klar war, dass sie nicht Teil von mir ist. Aber es dauerte nicht lange, da verlor diese vordergründige Freiheit ihren Glanz. Die physische Freiheit hatte einen hässlichen Zwilling: mentale Enge. Ich fühlte mich gefangen in dörflichen Strukturen, mir fehlten Abenteuer und Input. Ich hatte Sehnsucht nach Menschen, die an mir rüttelten, mich aus gewohnten Gedankenschleifen holten, mich inspirierten, zwangen, über mich hinauszuwachsen. Obwohl unser Leben von außen betrachtet perfekt war, wir uns mit dem Landleben einen lang gehegten Traum erfüllten, blieb eine große Sehnsucht ungestillt.

Diesem Gefühl von Leere trat ich entgegen, indem ich immer wieder an mir rüttelte. Ich schrieb Listen, nahm mir vor, täglich eine Gewohnheit zu brechen, jede Woche ein Buch zu lesen, mich einmal im Monat einer Sache zu stellen, vor der ich Angst hatte. Das Lernen und Neues zu erleben, dachte ich, sei der Schlüssel zum Sich-lebendig-Fühlen. Unser Landleben-Projekt bot mir hierfür Tausende Möglichkeiten. Mit den Händen in der Erde, knöcheltief in Hühner- oder Schafsmist, schreibend, mit der Nase in Büchern und den Gedanken auf der nächsten Reise konnte ich mich kurzfristig ablenken.

Die innere Leere aber kam immer wieder zurück, und das schlechte Gewissen, sich trotz eines privilegierten Lebens gefangen zu fühlen, erdrückte mich. Warum konnte ich mich nicht an unserem schönen Haus am See, am friedlichen Kleinstadtleben erfreuen, an all der Ordnung, Struktur und Sicherheit, von der ich in Südafrika dachte, ich würde sie vermissen?

Ich sprach außer mit Timm mit kaum jemandem darüber. Wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass das Bekunden von Unzufriedenheit über ein Leben, von dem viele träumten, mich noch mehr ins Abseits katapultieren würde. Immer wieder verhedderte ich mich in den Zuschreibungen und Rollen, die mein Umfeld für mich bereithielt. Mit kaum einer konnte und wollte ich mich identifizieren. Was aber genau ich wollte und wer ich war, wusste ich auch nicht. Umgeben von Menschen, von denen viele behaupteten, «angekommen» zu sein, fühlte ich mich dauerhaft fehl am Platz.

Ich beneide viele um ihre Zufriedenheit, um ihre Überzeugung, genau dort zu sein, wo sie sein wollten. Und im selben Moment misstraue ich dieser Ansicht. Entspringt sie möglicherweise mangelnder Vorstellungskraft? Habe ich aber das Recht, ihre Zufriedenheit zu hinterfragen? Ich empfand mich wie ein Sandkorn im Getriebe, das durch sein ewiges Geknarze den anderen die Freude am Bleiben verdarb. Mein ganzes Leben schon wünsche ich mir, endlich irgendwo Wurzeln zu schlagen, und doch reiße ich sie jedes Mal, wenn ihre zarten Ausläufer sich in der Erde verankern wollen, wieder aus und ziehe weiter. Es ist, als schlügen zwei Herzen in meiner Brust, die völlig unterschiedliche Bedürfnisse haben. Manche Freunde glauben, unsere Wanderlust sei ein Weglaufen vor uns selbst. Ich glaube, es ist ein Weglaufen vor dem Selbst, das einem aufgestempelt wird, sobald man länger an einem Ort bleibt.

Ich weiß, dass ich in spätestens achtzehn Monaten wieder einen Weg zurück in dieses Leben finden muss, und hoffe, dass ich ein Rezept entdecke, das mir Zufriedenheit in diesen Strukturen ermöglicht.

Jetzt aber, da zwischen uns und zu Hause endlich ein Meer liegt, kann ich aufatmen. Solange wir in Europa waren, schien es mir oft, als grabsche das alte Leben mit langen Armen nach uns. Von Liverpool aus war Timm sogar noch einmal nach Hause geflogen, weil die Arbeit es verlangte. Das wäre nun nicht mehr so leicht möglich. Zwischen uns und zu Hause liegt ein Ozean und vor uns die Freiheit: achtzehn Monate Zeit für eine Reise, die uns auf mindestens 26000 Kilometern durch alle Klimazonen der Welt, von Alaska bis an die Südspitze des amerikanischen Kontinents, nach Feuerland führen wird. Nun verwischt das Wasser unsere Spuren. Diese Erkenntnis haut mich fast aus den Flipflops.

 

Zehn Stunden später liege ich erschlagen von unserem ersten Tag in Halifax im Bett unseres gemieteten Hauses. Unser Campingtruck Roger ist noch nicht entladen, muss am nächsten Tag vom Zoll freigegeben werden. Das Bett quietscht bei jeder Bewegung, die Matratze hängt durch, sämtliche Federn des Kerns bohren sich mir wahlweise in den Rücken oder in die Seite. Es ist heiß, feuchte Luft wabert, von krächzenden Ventilatoren in Bewegung gesetzt, durchs Haus. Aus dem Küchenschrank riecht es nach inkontinenter Katze, aus den Badezimmerfugen wachsen Pilze. An keinem Ort der Welt wäre ich gerade lieber.

In nur wenigen Stunden hat Halifax mein Herz erobert. Wenn man nach sieben Tagen auf dem Meer endlich wieder Land erblickt, ist man automatisch verliebt. In den puren Anblick von greifbarem Horizont, in Grün, daran, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Es ist aber nicht alleine die Erleichterung, wieder auf festem Boden zu stehen, die mich Kanada schon nach einem Tag lieben lässt.

Wir hatten keine Vorstellung von Halifax gehabt. Ohne einen kanadischen Dollar in der Tasche waren wir heute nach einem tränenreichen Abschied von der philippinischen Crew, die während der Überfahrt ihre gesamte aufgestaute Liebe und Sehnsucht nach ihren Familien über Max und Carl ausgeschüttet hatte, benommen von Bord gestolpert. Wir waren zu warm angezogen, hatten nicht daran gedacht, uns mit Sonnenschutz einzucremen, suchten die erste Stunde nach einem Geldautomaten, der unsere Kreditkarte akzeptierte. Die Zollbeamten hatten angeboten, uns das Gepäck nach Feierabend zu unserem gemieteten Airbnb zu bringen, zumindest mussten wir so nicht schwer schleppen.

Fünfzehn Kilometer waren wir vom Hafen zu unserem Haus gewandert, froh, nicht mehr im Kreis laufen zu müssen. Unterwegs legten wir einen Limonade-und-Burger-Stopp ein, und eine entzückende Kellnerin heilte den Kindern das gebrochene Herz über den Verlust der philippinischen Crew. Am Boardwalk entlang der Waterfront tanzten wir auf einem Volksfest. Überall Menschenschlangen: an den Hüpfburgen, den Verkaufsständen, an den Eisbuden. Und anders als sonst genossen wir das Gewusel. Niemand drängelte, alle lächelten. Der Hipster am Kiosk grinste durch seinen Vollbart, gratulierte uns zur «beautiful family». Glück perlte durch die kleinsten Adern, sammelte sich im Herzen und ließ es fast platzen. Ich konnte mich nicht sattsehen an den zuckergussbunten Holzhäusern, an den Veranden mit Schaukelstühlen, in denen Menschen saßen, die Bücher und Zeitung lasen, die uns, wenn sie aufblickten, zuwinkten. Meine Augen schlemmten sich durch die bunten Vorgärten, die schattigen, breiten Straßen, die Namen wie «Bliss Street» tragen und die man nicht über Zebrastreifen, sondern über einen Regenbogen überquert. Autofahrer stoppten, lange bevor wir diesen erreichten, lächelten, als Max auf halbem Weg über die Straße noch einmal umdrehte, um eine Glasmurmel aufzuheben.

 

Nach einer unruhigen ersten Nacht fährt Timm am nächsten Morgen zeitig zum Hafen, um Roger aus dem Zoll auszulösen. Ich bin nervös. Zu viele Geschichten anderer Reisender sorgen in meinem Kopf für Aufruhr. Sie handeln von aufgebrochenen Fahrzeugen, von fehlenden Navigationsinstrumenten, zerstörten Schlössern, eingeschlagenen Fenstern. Im Schiffsbauch hatten wir Roger ein paarmal besuchen dürfen, hatten die roten Zollsiegel inspiziert, die über jede Klappe, Tür, über jeden Fensterrahmen geklebt worden waren. Immer war alles in Ordnung gewesen.

Nur schwer können die Kinder und ich uns auf den Schulmorgen konzentrieren, springen erleichtert auf, als draußen endlich das geliebte Motorengeräusch dröhnt. Die Straße vor unserem Haus ist breit, wir können direkt vor dem Eingang parken und den unversehrten Roger dort für die Weiterreise vorbereiten.

 

Kanadier:innen lieben es groß. In den Kloschüsseln könnte man einen Bernhardiner baden, Trockner und Waschmaschine sind für die Wäsche des weitesten Familienkreises nebst Cousine dritten Grades ausgelegt, Kühlschränke sind Kühlhäuser. Die Lieblingsfahrzeuge der Kanadier:innen – Pick-up-Trucks – sind brüllende Monster. Der unseres Nachbarn hat 650 PS, und damit cruist Timm einen ganzen Vormittag von Baumarkt zu Baumarkt, um Einkäufe zu erledigen und unsere Gaszylinder wieder aufzufüllen, die wir aus Sicherheitsgründen für die Verschiffung leeren mussten. Im Minutentakt machen Jogger, Rad- oder Autofahrer eine Vollbremsung, fragen Omis mit Hund, Opas mit Gehstock oder die Müllabfuhr nach Rogers, nach unserer Geschichte. Und während Roger für deutsche Straßen und Gemüter häufig zu groß, zu hoch, zu laut erschien, sind Kanadier:innen versessen nach ihm, machen Fotos, posten sie auf Social Media. Am dritten Tag in Halifax haben wir einen neuen Status: Ausflugsziel.

Roger, das sagt uns der Briefträger nach einer Führung durch den Truck, sei ein kanadischer Mann in Fahrzeugform: robust, unerschütterlich und ohne unnötigen Schnickschnack.

Als wir vor vier Jahren von Kapstadt nach Kiel fuhren, war unser Reise-Set-up deutlich simpler. Wir schliefen zu sechst neun Monate in einem Dachzelt. Um annähernd auf der Kingsize-Matratze Platz zu finden, reihten wir uns wie die Löffel im Besteckkasten auf: einer mit dem Kopf, der Nächste mit den Füßen zum Eingang. Wir hatten keine Dusche, unsere Toilette war der nächste Busch, und gespielt, gekocht und gelernt wurde unter freiem Himmel. Unser Kühlschrank war den Einkaufsmöglichkeiten entsprechend klein, oft aßen wir tagelang Reis mit Ketchup. Uns fehlte es an nichts.

Dieses Mal aber haben wir vier statt zwei Schulkinder, ihre Bedürfnisse haben sich geändert. Ohne persönliche Rückzugsorte, ohne die Möglichkeit, sich erst mit geputzten Zähnen der Welt zu stellen, sie bei Bedarf auszusperren, wollten wir alle nicht noch einmal so lange unterwegs sein.

Als wir begannen, Roger zu planen und zu bauen, ließ Timm jedes Familienmitglied notieren, was ihm bei unserem neuen Reisegefährt wichtig wäre. Für die kleinen Jungs waren es vor allem dicke Monsterreifen, eine Winde, Allrad und ein starker Motor. Die großen Mädchen wollten eine Dusche, ein Klo und einen Schlafplatz, den sie nicht erst umbauen müssten und der ausreichend Privatsphäre böte, sich den Blicken der anderen zu entziehen. Für mich war es wichtig, drinnen kochen zu können und Platz zu haben, vier Kinder im Trockenen zu unterrichten. Timm wollte möglichst lange autark fern der Zivilisation unterwegs sein können. Und wir alle wollten nicht mehr auf unseren Lieblingsplatz des Afrikaautos verzichten: die Dachbank. So wurde Roger im Laufe eines Jahres in der heimischen Scheune und mit der Hilfe einiger Freunde zu dem, was er heute ist: unser fahrendes Tiny House. Von innen schwedisches Ferienhäuschen, von außen extremer Expeditionscamper, wie unser Vermieter in Halifax feststellt.

 

Vier Tage in Halifax vergehen wie im Flug. Obwohl die Hummeln im Hintern Amok laufen, fällt es uns schwer, uns loszureißen. Es gab eine Zeit, da hatte ich die Hoffnung, dass ich, wenn ich alle Orte auf meiner Sehnsuchtsliste abarbeite, irgendwann zur Ruhe würde kommen können. Das Gegenteil, befürchte ich, ist der Fall. Es kommen immer mehr Orte hinzu, die ich nicht abhaken kann, nachdem ich dort war. Stattdessen möchte ich wiederkommen, sie zu einer anderen Zeit, in einem anderen Licht, unter anderen Umständen erleben. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, in Halifax eines der Holzhäuser zu renovieren, will über Farbmuster gebeugt entscheiden, ob die Fassade minzgrün, papayagelb oder lieber puderrosa sein soll. Ich möchte auf meiner Veranda sitzen, Marianna Leky lesen und die weißhaarige Oma mit dem fetten Cockerspaniel zum Kaffee einladen. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder mit den Nachbarskindern Freundschaft schließen. Ich würde gerne Steinchen auf der dünnen Eisdecke des Chocolate Lake flitschen lassen, den Strand im Licht der ersten Frühlingsstrahlen sehen und mich dort gegen den Novemberwind stemmen. Ich möchte regelmäßige Spaziergänge auf dem Fairview-Friedhof unternehmen, die Gräber der Titanic-Opfer, um die sich niemand mehr kümmert, von Unkraut befreien. Es wäre verführerisch, zu bleiben – wäre da nicht diese brennende Neugier, die uns auch dieses Mal zwingt weiterzuziehen.

Es braucht ein Dorf …

Kanada: Nova Scotia, August 2018

Ich sitze auf der Dachbank, der Dampf meines Morgenkaffees kitzelt mich wach. Ich blinzele in die aufgehende Sonne, auf das spiegelglatte Wasser der Bucht, in dem friedlich die Segelboote an ihren Moorings dümpeln. Eine schwache Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. An der Fahrertür steht eine winzig kleine Oma mit riesiger Sonnenbrille und einem Stoffbeutel, auf dem in bunten Buchstaben «Bahamas» prangt. Sie spricht so leise, dass ich von der Dachbank herunterklettere, um sie besser zu verstehen. Wie viele vor ihr möchte sie wissen, woher wir kommen und wohin wir fahren. Ich genieße es so sehr, wieder von einer anderen Sprache als Deutsch umgeben zu sein. Es fühlt sich an, als wären in meinem Kopf die Fensterläden aufgerissen worden, als fege ein frischer Wind hindurch, der alten Ideen neue Namen gibt. Auch die Idee, mit unseren Kindern die Welt zu bereisen, trägt hier in Kanada eine neue Überschrift: «Your kids are the luckiest people on earth!»

Die Oma ist begeistert von unserem Plan, bis an die Südspitze des amerikanischen Kontinents zu fahren, und findet, dass die Kinder ein Riesen-Glück haben, diese Erfahrung machen zu können. Zu Hause dachten viele anders. Ähnlich unterschiedlich waren die Meinungen, als wir 2013 in Südafrika Richtung Heimat aufbrachen. Während in Deutschland besorgte Töne, Zweifel und Ablehnung dominierten, war unser südafrikanisches Umfeld begeistert, interessierte sich hauptsächlich für technische Details, für die Route. Nicht einmal versuchte dort jemand, uns davon abzuhalten, mit dem Auto von Kapstadt nach Kiel zu fahren. Entweder bekamen wir Hilfe, Tipps oder ein ermunterndes Schulterklopfen. Vielleicht liegt es daran, dass Pioniergeist zur Grundausstattung vieler Südafrikaner:innen gehört, Komfortzonen extrem elastisch sind. Sicherlich findet man in Ländern wie Südafrika, Kanada oder den USA, deren Gesellschaftsstruktur anteilig aus mehr Einwanderern besteht, eine größere Dichte des Wanderlust-Gens. Dort fühlen mehr Menschen wie wir. Oft hat mich dieses eingeschränkte Verständnis von dem, was in Deutschland möglich und vorstellbar ist, verunsichert. Nicht immer ist unsere Zuversicht unerschütterlich. Manchmal haben wir Angst, zweifeln. Aber geht es nicht genau darum, es trotz Angst und Zweifeln zu versuchen, sich nicht im Vorfeld von eventuellen Hindernissen abhalten zu lassen?

Hindernisse, die wurden uns in Deutschland zuhauf vor die Füße geworfen. Zum Beispiel die Unwilligkeit der Schulen, unsere Kinder für ein Jahr zu beurlauben und uns so die Möglichkeit zu geben, die Kinder mit den deutschen Schulgesetzen konform zu unterrichten. Anders als in vielen Ländern ist in Deutschland Homeschooling illegal, es herrscht Anwesenheitspflicht in der Schule. Man will sicherstellen, dass jedes Kind die bestmöglichen Bildungschancen bekommt, dass sozial benachteiligte Kinder nicht durchs Raster rutschen. Einleuchtend – und doch würde ich mir mehr Elastizität im Regelwerk wünschen. Ein Homeschooling-Unterricht in Zusammenarbeit mit der Schule ist nur in wenigen Fällen möglich. Unsere einzige Möglichkeit ist, uns in Deutschland abzumelden, um der Schulpflicht zu entgehen. Wir werden kreativ sein müssen, wenn wir den Kindern den Stoff der jeweiligen Klassenstufen vermitteln wollen. Dafür haben wir ein Netz aus Jokern und Nachhilfelehrer:innen, die wir virtuell dazuholen, wenn es hakt. Ich habe eine Heidenangst vor dem Unterrichten, weiß aber, dass darin eine große Chance liegt.

Lotta hatte im Jahr vor unserer Abreise kein einfaches Schuljahr, hat sich oft überfordert gefühlt. Dem Aufruhr der Hormone fiel jeder Lernwille zum Opfer. Schule war eine blöde Pflicht, und hauptsächlich ging es ihr darum, sich mit wenig Aufwand durchzumogeln. Carl empfand, trotz netter Mitschüler:innen und verständnisvoller Lehrer:innen, Schule oft als Zeitverschwendung, war gelangweilt. Zur Schule ging er wegen der Pausen. Max ist zwar gern zur Schule gegangen, hätte aber spätestens jetzt einen ziemlichen Rückschlag einstecken müssen. Ihm fällt Lesen und Schreiben schwer, sich lange zu konzentrieren, überfordert ihn schnell. Er wäre sicher zum Klassenclown mutiert.

Drei von vier Kindern fällt es trotz guter Noten und Cleverness schwer, im Schulalltag glücklich mitzuschwimmen. Woran liegt das? Ich glaube, dass unser Schulsystem nicht darauf ausgerichtet ist, jedem Kind sein eigenes Entwicklungs- und Lerntempo zuzugestehen. Der Lehrplan und die Klasse geben Tempo und Lerninhalt vor, Mithalten ist Schülerpflicht. Klappt es nicht, trägt je nach Sichtweise jemand die Hauptschuld. Unfähige Lehrer:innen, faule oder dumme Schüler:innen, lasche oder überehrgeizige Eltern. Ein Zustand, der für alle Beteiligten nicht zufriedenstellend sein kann.

Lösungen habe ich leider noch keine. Ich wünsche mir vor allem mehr Freiheiten – für Lehrer:innen, für Eltern, aber vor allem für Schüler:innen. Die Freiheit, Dinge auszuprobieren. Das deutsche Schulsystem lässt dies leider kaum zu. Für mich fühlt es sich oft so an, als würden die Erwachsenen von morgen statt zu selbstständigem Denken auf Gleichschritt programmiert. Wir sind keine Outschooler, keine Systemkritiker, merken aber, dass für uns irgendetwas nicht funktioniert. Was genau das ist, hoffen wir auf der Reise und mit dem Abenteuer, die Kinder selbst zu unterrichten, herauszufinden. Vielleicht scheitern wir, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall werden wir am Ende schlauer sein.

Als ich noch von der heimatlichen Komfortzone aus auf dieses Unterfangen geblickt habe, war ich deutlich mutiger. Immer wieder frage ich mich in den letzten Wochen sorgenvoll, ob es uns gelingen wird, jede Lücke zu schließen oder sie erst gar nicht aufkommen zu lassen. Was wird es mit uns machen, wenn wir gleichzeitig Lehrer:in und Eltern sind, werden wir es schaffen, zwischen diesen Rollen zu springen? Werden wir genug Geduld aufbringen, den Bedürfnissen von vier Kindern auf verschiedenen Lern- und Entwicklungsstufen gerecht zu werden? Timm macht sich weniger Sorgen als ich, sieht das Unterrichten als Chance, auch sein eigenes Schulwissen aufzupolieren. Am Abend sehe ich ihn häufig in Schulbücher vertieft, um sich für den nächsten Tag vorzubereiten. Bei mir, die in Physik, Chemie und Mathe eher zu Dekozwecken im Unterricht anwesend war, könnte man polieren, wie man wollte, da würde nichts glänzen. Zum Glück ergänzen Timm und ich uns, und jeder hat da Schwächen, wo der andere seine Stärken hat. Wir werden alle viel Disziplin aufbringen und uns immer wieder neu justieren müssen.

In Kanada ist es nicht ungewöhnlich, seine Kinder selbst zu unterrichten, und viele gehen deutlich entspannter mit der Thematik um. Als ich der Oma von den Sorgen berichte, die mich in Bezug auf das Homeschooling quälen, winkt sie ab. Sicher werden die Kinder andere Dinge lernen, als in Deutschland gefordert sind, vielleicht werden sie ein Schuljahr wiederholen müssen. Stattdessen aber werden sie vieles gelernt haben, dessen Bedeutung wir erst in der Zukunft verstehen werden. Ein Jahr früher oder später seinen Abschluss zu machen, was bedeute das schon, wenn man ein ganzes Leben betrachtet? Das aus dem Mund einer Achtzigjährigen zu hören, ist tröstlich. Die Kinder, da ist sich die Oma sicher, werden mehr lernen, als ihnen ein Jahr in der Schule vermitteln kann.

«You must enjoy every moment of your adventure.» Sie hätte sich als junger Mensch gern die Welt angesehen, hatte aber nie die Möglichkeit. Die letzten Jahre habe sie versucht, all das nachzuholen, sie zeigt auf ihre Tasche mit dem «Bahamas»-Schriftzug. Es sei jedoch nicht dasselbe als alter Mensch. Vieles von dem, was sie gerne erleben würde, erlaube ihr Körper nicht mehr. Fallschirmspringen zum Beispiel. Und darum, davon ist sie überzeugt, wäre es eine Sünde, die Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, auszuschlagen. Gott meine es gut mit uns, wir sollten das Geschenk annehmen, vertrauen, dass alles gut gehen wird. Ich hauche ein leises «Danke» durch meinen zugeschnürten Hals. Sie breitet die Arme aus, drückt mich mit einer Kraft an sich, die vermuten lässt, dass ein Fallschirmsprung sehr wohl im Rahmen der Möglichkeiten wäre.

Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass es ein Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen. In unserem Fall hat sich das nicht bewährt. Das Dorf war uns zu eng. Wir brauchen die Welt. Welch ein Glück, dass dies im Rahmen unserer Möglichkeiten liegt.

Bevor sie geht, greift die Oma in ihre Bahamas-Tasche, holt eine kleine, gestrickte Puppe mit hellgrünem T-Shirt, dunkelgrüner Hose und Mütze hervor. Sie stricke jeden Tag eine davon und verschenke sie an Menschen, die ihr auf ihrem Spaziergang begegneten. Diese hier, sie reicht sie mir, solle uns beschützen und daran erinnern, dass wir großes Glück haben. Und ein bisschen, und dabei tippelt sie von links nach rechts, ein angedeuteter Tanz, würde ein Teil von ihr auf diese Weise doch die Welt bereisen. Ich bedanke mich, verspreche, die Puppe ins Cockpit zu setzen, dorthin, wo wir sie immer sehen können.

Einen Namen bräuchte sie noch, findet die Oma, und wir beschließen, sie Chester zu nennen – nach diesem wunderhübschen Ort, an dem wir uns getroffen haben.

Während ich der alten Dame hinterherblicke, beginne ich zu glauben, dass unsere Kinder vielleicht wirklich die gesegnetsten Kinder der Welt sind. Denn egal, ob wir in achtzehn Monaten das deutsche Klassenziel erreicht haben, sie werden sicher gelernt haben, auf unbekannte Menschen zuzugehen und sich in einer fremden Sprache zu unterhalten. Sie werden sich in Gegenden zurechtgefunden haben, die ganz anders als ihre gewohnte Umgebung sind. Sie werden fremdes Essen probiert und gelernt haben, wie wichtig es ist, Rücksicht zu nehmen, mit wenig auszukommen, und das zu schätzen, was man hat. Sie werden verinnerlicht haben, dass es nicht immer bequem sein kann und soll, dass es manchmal keinen anderen Weg gibt als mittendurch und dass die Komfortzone nicht der spannendste Platz ist.

Wir versuchen, unseren Kindern zu vermitteln, wie man es schafft, sich von der Komfortzone nicht einzäunen zu lassen. Aber – und diese Frage beschäftigt uns seit Jahren – ist es egoistisch, den Kindern unsere Unruhe einzupflanzen? Oder können wir es eh nicht vermeiden? In unserem Bekanntenkreis gibt es unzählige Beispiele dafür, dass Kinder sich automatisch für die Leidenschaften der Eltern interessieren. Der Nachwuchs fußballbegeisterter Eltern spielt oft selbst Fußball. Ist der Papa Landwirt, können die Kinder früh Trecker fahren. Egal, welche Interessen oder Leidenschaften Eltern mitbringen, oft werden die Kinder auf diese geprägt. Bei uns ist es das Reisen. Mit achtzehn Monaten war Lotta das erste Mal in Afrika, hat bis zu ihrem elften Lebensjahr mehr Zeit dort verbracht als in Deutschland. Paula ist mit zwei Wochen zum ersten Mal geflogen, Carl wurde unterwegs gezeugt, und Max hat in den ersten Jahren seines Lebens unseren Defender als sein Zuhause betrachtet. Reisen war schon immer Teil ihres Lebens, ist so normal für sie wie Treckerfahren für den Bauernnachwuchs. So wie das Bauernkind den Trecker vielleicht mal an die Scheunenwand setzt, werden auch unsere Kinder zwischendurch scheitern und hadern. Irgendwann allerdings, wenn sie erwachsen sind, werden sie hoffentlich verstehen, dass wir ihnen das Beste mitgegeben haben, was wir zu bieten haben: unsere Begeisterung für die große weite Welt.

Scheinwerferlicht

Nordostkanada, September 2018

Rumms! Ein stechender Schmerz. Dieses Mal hat es mich am rechten Oberkopf getroffen. Ich versuche, Halt zu finden, drücke mein Gesicht tief in Max’ Schnuffelkissen, nur um im nächsten Moment wieder gegen die Decke geschleudert zu werden. Seit einer Ewigkeit probiere ich, rückwärts aus seiner Koje zu klettern. Es ist unmöglich. Timm scheint von der Teerstraße abgefahren zu sein. Ich sehe einen holprigen Feldweg, ab und zu ein Schlagloch durch den aufgewirbelten Staub vor Max’ Fenster. Roger schaukelt wie ein Schiff im Sturm, alles poltert durcheinander, es ächzt und knarzt, immer wieder werde ich in der engen Schlafkoje von Wand zu Wand, dann an die Decke geworfen. Ich ergebe mich meinem Schicksal und beschließe zu warten, bis Roger irgendwann zum Stehen kommt. Was sehr lange nicht passiert. Ich hatte nur einmal kurz eine Auszeit vom Lärm in der Fahrerkabine gebraucht, wollte mich für ein paar Minuten in Max’ Bett kuscheln. Dies ist nun die Strafe.

Als ich sehr viel später lädiert aus dem Wohnkoffer klettere, sind alle bester Stimmung. Timm freut sich, Roger endlich einmal offroad gefahren zu sein, die Kinder hatten die Fahrt über auf der Dachbank gesessen – ein Sitzplatz, der nur abseits öffentlicher Straßen erlaubt ist. Sie sind noch ganz kribbelig vor Aufregung. Roger ist auf einem Kiesstrand zum Stehen gekommen, um uns nichts als Wald und Meer und Sonnenuntergang. Unter meinen Füßen knirschen die Steine, in meinem Kopf die Zähne. So geht es mir seit einer Weile häufiger. Erwartet hatte ich das nicht, nicht schon nach so kurzer Zeit.

Verglichen mit der Art, wie wir vor vier Jahren durch Afrika gereist sind, gleicht das Unterwegssein mit Roger einer Kreuzfahrt. Jeder von uns hat sein eigenes Bett, wir haben eine Küche, ein Bad, können auch während der Fahrt von der Fahrerkabine in den Wohnkoffer wechseln und müssen nicht wegen jeder Pipipause oder wegen jedem Schokohunger anhalten. Theoretisch jedenfalls, denn um unter Belastung bei Geländefahrten nicht zu brechen, ist der Rahmen, der den Wohnkoffer trägt, beweglich gebaut. Und auch die Verbindungen zwischen diesen beiden Elementen sind flexibel. Jede Unebenheit unter den Reifen wird um ein Hundertfaches verstärkt, und so gleicht ein Aufenthalt im Wohnbereich während der Fahrt einem Segeltörn bei hohen Windstärken. Ich bin nicht seetauglich, weder körperlich noch, wie ich gerade feststellen muss, psychisch.

 

Die ersten Wochen hatten wir in Nova Scotia gemütliche Runden gedreht. Kurze Strecken, entspanntes Wetter, Urlaubsgefühle. Nova Scotia ist so bildschön, dass oft schon nach dreißig Kilometern ein neuer Ort zum Bleiben verführte. In der Spätsommersonne leuchteten die Fassaden der Holzhäuser wie das Blaubeer-, Rhabarber- und Pfirsicheis in unseren Waffeltüten. Jede Nacht fanden wir einen Stellplatz am Meer, beobachteten Minke- und Buckelwale vom Frühstückstisch aus. Über uns kreisten Fischadler, abends sangen uns die Brandung, manchmal das Schnaufen der Wale in den Schlaf. Wir umrundeten die Nordspitze Nova Scotias auf dem Cabot Trail, einer der schönsten Panoramastraßen der Welt, stachen das erste Mal mit unserem Faltboot Motte in See, fuhren durch den Sonnenuntergang zum Abendessen in das nächste Hafenrestaurant. In Annapolis Royal, der ersten europäischen Siedlung auf kanadischem Boden, ließen wir uns von Geschichte berühren, wurden von morgendlichen Kirchgänger:innen mit Frühstück beschenkt, von anderen Reisenden mit Geheimtipps versorgt. Zum Abendtee gab’s Lagerfeuer, zum Morgenkaffee Sonnenaufgang und das, ganz ungewöhnlich dieses Jahr, ohne die sonst übliche Mückenplage. Die kurzen Strecken erlaubten uns entspannte Schulmorgen und am Nachmittag genügend Zeit, um die Umgebung zu erkunden. So hätte es bleiben können.

Nun aber verabschiedet sich mit dem Ende der Sommerferien in Deutschland und Kanada auch bei uns ein wenig die Sommerleichtigkeit. Reisen fühlt sich nicht mehr an wie Urlaub, auch in Roger zieht der Alltag ein. Jetzt, wo sich in Deutschland wieder alle Freund:innen der Kinder regelmäßig in der Schule sehen, überfällt unseren Nachwuchs manchmal die Angst, etwas zu verpassen. Heimweh schiebt sich bei den Kindern als dunkle Wolke vor die Frühherbstsonne. Es fühlt sich an, als stünden wir nach einer grandiosen Party plötzlich allein auf der Tanzfläche, benommen, gebadet in gleißendes Scheinwerferlicht, das keinen Raum für Illusionen mehr lässt. Hindernisse, die unsere Sommerlaune in den letzten Wochen weichgezeichnet hat, werden nun gnadenlos beleuchtet, erscheinen auf einmal fast unüberwindbar.

Auf unserem Weg nach Westen kommen wir nur sehr langsam voran, viel langsamer als erwartet. Das liegt vor allem an der Zeit, die wir jeden Tag für die Schule einplanen müssen. Vier Kinder zu unterrichten und gleichzeitig die Strecke zu absolvieren, die notwendig ist, um voranzukommen, scheint unmöglich.

Bevor wir unterwegs waren, hatte ich fantasiert, dass wir Fahrtzeit mit dem Unterricht würden verbinden können. Schule im Schleudergang allerdings funktioniert nicht, und so besteht ein Durchschnittstag im Moment aus drei Stunden Schule am Morgen und zwei Stunden Fahren am Nachmittag. Gerecht werden wir mit dieser Art des Reisens niemandem. Nicht den Kindern, nicht uns, weder dem Schulunterricht noch der Reise. Wir hängen wieder im Hamsterrad fest. Eines, das von außen betrachtet aufregend aussieht, sich von innen aber genauso erschöpfend anfühlt wie unser Alltag in Deutschland. Wir sind alle unausgeglichen, und die Enge in Roger wird immer öfter zur Herausforderung. Manchmal kann ich den Lärmpegel in der Fahrerkabine nicht mehr aushalten, es kostet mich Kraft, mir das nicht anmerken zu lassen. Der Motor brummt nicht, er brüllt, ebenso die 30 Jahre alten Lautsprecher und die Kinder auf der Rückbank, wenn sie gehört werden wollen. Der Einzige, der nie brüllt, ist Timm. Er hat die beneidenswerte Fähigkeit, die Funktion seiner Ohren durch puren Willen einzuschränken, cruist gedankenverloren durch seine eigene Welt. Um zu ihm durchzudringen, brülle auch ich immer öfter. Und immer häufiger verderben mir nicht nur akustische Reize, sondern auch visuelle den Tag: Die ersten Blätter beginnen sich zart rot und orange zu verfärben, kündigen den Herbst an und fordern uns mit Nachdruck auf, uns zu beeilen. Bis nach Alaska liegt eine Strecke von mindestens 7000 Kilometern vor uns, bei unserem derzeitigen Tempo eine nicht bezwingbare Distanz.

Wir wollten der Zeit ihr Tempo rauben, uns treiben lassen, Raum für Überraschungen erlauben. Und nun merke ich schon nach wenigen Wochen, wie naiv dieser Wunsch war. Wie konnte ich denken, dass mit einem Ortswechsel automatisch die Freiheit bei uns einzieht?

In Deutschland war Zeit eine Ressource, die wir mit Aktivität und Ergebnissen gefüllt haben. Mit der Reise wollten wir uns aus diesem Muster befreien. Auf den ersten Blick tanzen wir jetzt zwar zu einer anderen Musik, der Takt aber ist derselbe geblieben: Wochentag, Werktag, Schultag. Wir messen Zeit bloß in anderen Einheiten, rauben ihr aber nicht das Tempo. Wir wollten dringend dem Alltag entfliehen und schaffen uns gerade das nächste Gefängnis, die Wärter sind Kilometer, Ziel und Perfektionismus.

Auf keinen Fall, das hatten wir uns vorgenommen, sollte die Schule zu einem Stressfaktor werden. Wie aber soll das möglich sein, wenn wir auf der anderen Seite auch bei der Schulbildung keine Abstriche machen wollen? Selten stand ich einer Aufgabe so hilflos gegenüber und durfte es mir auf keinen Fall anmerken lassen. Alle vier Kinder wollen unbedingt ihr Klassenziel erreichen, bei unserer Rückkehr wieder in derselben Stufe eingeschult werden. Sie darin zu unterstützen, darauf habe ich mein Wort gegeben, voller Vertrauen in meine Fähigkeiten als Lehrerin, die, so muss ich gerade feststellen, ähnlich ausbaufähig sind wie meine Kenntnisse in Astrophysik.

«Fake it till you make it», einfach so lange so tun, als hätte man alles unter Kontrolle, bis man selbst dran glaubt, funktioniert bei mir leider nicht. Statt von begeisterungswilligem Publikum wird der Zuschauerraum in meinem Hinterstübchen von einer Horde graugesichtiger Männer mit schlecht sitzenden zweireihigen Anzügen bevölkert, die, noch während sie sich hinsetzen, die Schlösser ihrer Aktenkoffer schnappen lassen, um keine Sekunde meines Versagens zu verpassen. Sie schreiben mit, ihnen entgeht nichts, und ohne mit den Mundwinkeln zu zucken, ballern sie mir in monotonem Zweivierteltakt meine Unzulänglichkeiten um die Ohren. Ich bin ihnen hilflos ausgeliefert, und so verführerisch der Gedanke auch ist, aber an der Schulzeit, das machen sie mir gnadenlos deutlich, können wir keine Abstriche machen.

Also bleiben uns als flexible Größen nur die «Fahrtzeit» und «zu fahrende Kilometer». Sosehr es schmerzt, entscheiden Timm und ich, den Loop über Alaska zu streichen. Für uns als reisende und homeschoolende Familie sind die Distanzen einfach zu groß. Es wird Zeit für eine Abkürzung. Wir beschließen, lieber wenige Orte intensiv zu erleben, als der Vollständigkeit halber überall nur durchzuhuschen und Orte auf unserer Liste abzuhaken, ohne dass sie Spuren hinterlassen können. Statt jeden Tag ein bisschen zu fahren, wollen wir versuchen, auf einen intensiven Fahrtag zwei «Entdeckertage» folgen zu lassen, so den Kindern und uns Raum geben, individuellen Bedürfnissen zu folgen. Vielleicht, das hoffe ich sehr, kann ich dann auch mit der Enge und der Lautstärke im Truck gelassener umgehen. Vielleicht ist der eigentliche Wahnsinn, dass wir uns für die Strecke von Kanada bis Argentinien nur achtzehn Monate Zeit genommen haben.

Zeit für Sonnenuntergänge

Kanada: Lake Superior, September 2018

Die ganze Nacht hat der Regen aufs Dachfenster getrommelt. Donner, Blitz und dieser eine Gedanke hielten mich wach: Bitte kein Regen morgen! Jeden anderen Tag, aber bitte nicht morgen! Vergessen ist mein in Afrika gefasster Vorsatz, Regen immer dankbar anzunehmen.

Draußen ist es bleigrau, dichter Nebel verschluckt den Lake Superior, den größten Frischwassersee der Welt. Dieser Ort ist uns gerade speziell genug, um einen besonderen Tag zu feiern: Paulas 12. Geburtstag.

Geburtstage auf Reisen stellen uns jedes Mal vor besondere Herausforderungen. Freund:innen und Familie, die wichtigste Zutat für eine schöne Feier, sind weit weg, die Geschenke fallen deutlich sparsamer aus, müssen irgendwann heimlich besorgt, dann auf kleinstem Raum versteckt werden und den Kriterien «Haben wir Platz?» und «Ist es reisekompatibel?» standhalten. Der Tag soll sich vom normalen Reisealltag unterscheiden und das jeweilige Kind in dem Gefühl baden, das Allerwichtigste in unserem Leben zu sein. Unter keinen Umständen fallen Geburtstage auf einen Schultag, niemals auf einen Fahrtag. Das bedeutet, dass der Ort, an dem wir feiern, besonders schön sein muss.

Wir haben alles gegeben, sind gestern den ganzen Tag gefahren, um diesen Platz zu erreichen. Paulas Wunschliste war zwar bescheiden, aber explizit, und sie hat uns schon vor einigen Wochen mit detaillierten Zeichnungen gebrieft. Sie wünscht sich ein knielanges Kleid mit kurzen Ärmeln. Blau-weiß gestreift soll es sein, und unter keinen Umständen darf es Rüschen, Stickereien oder einen Schriftzug haben, Glitzer ist auf ihrer Zeichnung mit einem Totenkopf und Ausrufezeichen versehen. Es soll aus weichem Jersey sein, die Art Jersey, die sich kühl auf der Haut anfühlt, und auf keinen Fall dürfe der Stoff nach dem Waschen Knötchen bilden. Außerdem wünscht sie sich eine Werkzeugkiste mit eigenem Werkzeug, Farben, Nägeln, Schrauben, einem Cuttermesser, Panzertape, Kleber, Schnur, mit Pinseln in verschiedenen Stärken, und einen Stapel Bauholz hätte sie gerne. Und wenn es ginge, noch eine Überraschung. Die Überraschung haben wir bereits in Liverpool besorgt, Timm hatte sich schnell die Werkzeugkiste reserviert, in meinen Verantwortungsbereich fiel das Kleid. Es ist nun beige-weiß geringelt, sieht aus wie ein überlanges T-Shirt, und ich hoffe sehr, dass es noch in Paulas Toleranzbereich fällt.

 

Um fünf Uhr flüstert der Wecker mich wach. So leise es geht, backe ich einen Geburtstagskuchen, Timm packt die Geschenke ein. Zusammen blasen wir Luftballons auf und schmücken das große Fenster mit der «Happy-Birthday»-Girlande, die bisher jeden Geburtstag der Kinder verziert hat, seit sie geboren wurden. Als wir fertig sind, springen Timm und ich beobachtet von einem Seeadler in den See und steigen gerade noch rechtzeitig ans Ufer, bevor der angrenzende Abhang dem Regen nicht mehr standhält, in den See saust und das glasklare Wasser in eine durchfallfarbene Brühe verwandelt.

Paulas Augen leuchten. Die Dekorationen, die Geschenke, der Kuchen, die Kerzen – alles scheint perfekt. Den Regen blenden wir aus, beginnen den Morgen kuschelig. Wir frühstücken Croissants mit Nutella, hören Die drei Fragezeichen, die Kinder malen, basteln, lesen. Ab und zu öffnen wir ein Fenster, lassen die feuchtwarme Luft heraus und etwas kühlen Nebel herein. Bis plötzlich Max sich beschwert, weil seine Stifte immer Richtung Fenster rollen.

«Stell sie in einen Becher, dann … Moment, warum rollen die Stifte Richtung Fenster?»

Mit einem Satz ist Timm, nur mit Unterhose bekleidet, draußen im Regen, flucht. Wir stehen an einer kleinen Böschung. Vom Regen aufgeweicht, ist der zum Wasser abfallende Teil abgebrochen und hat Roger in eine Schieflage gebracht. Es wird hektisch. Wir können nie sofort losfahren, der Motor muss immer eine Weile laufen, um genügend Druck auf dem Bremssystem aufzubauen.