Wem die Fragen nicht brennen. - Ingeborg Gleichauf - E-Book

Wem die Fragen nicht brennen. E-Book

Ingeborg Gleichauf

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Beschreibung

Gudrun Ensslin gehörte zur Führungsspitze der RAF. Zugleich war sie eine hochgebildete Person. In ihrer Biografie Ensslins räumt Ingeborg Gleichauf mit den gängigen Stereotypen auf, die die Terroristin als Produkt eines provinziellen Pastorenhaushalts, als hysterische Blondine, als Waffen- und Modefetischistin sehen, und zeichnet ein differenziertes Bild einer so widersprüchlichen Persönlichkeit.

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Impressum

© 2024 AvivA Verlag

AvivA Britta Jürgs GmbH

Emdener Straße 33, 10551 Berlin

[email protected]

www.aviva-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

eBook-Herstellung: CulturBooks

Lektorat: Julia Baudis, Britta Jürgs

Erscheinungsdatum: Juni 2024

ISBN 978-3-95988-255-2

Über das Buch

Gudrun Ensslin gehörte zur Führungsspitze der RAF. Zugleich war sie eine hochgebildete Person. In ihrer Biografie Ensslins räumt Ingeborg Gleichauf mit den gängigen Stereotypen auf, die die Terroristin als Produkt eines provinziellen Pastorenhaushalts, als hysterische Blondine, als Waffen- und Modefetischistin sehen, und zeichnet ein differenziertes Bild einer so widersprüchlichen Persönlichkeit.

Über die Autorin

Ingeborg Gleichauf

Wem die Fragen nicht brennen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: »Es ist verrückt, auf ›Autoritäten‹ zu bauen«
Kapitel 1 »Zu klären, wie man so geworden ist, wie man sich findet«
Kapitel 2 »Das gemeinsame gegenseitige Leibchen zuknöpfen«
Kapitel 3 »Also das Leben suchen«
Kapitel 4 »Etwas Barockes, fleischlich-festliches, todesverwesliches«
Kapitel 5 »Ne Kaltschnäuzigkeit, die ich eigentlich gar nicht habe«
Kapitel 6 »Als wäre es jetzt immer sehr einfach, etwas zu tun.«
Kapitel 7 »Wem die Fragen nicht brennen, bei dem zünden auch die Antworten nicht«
Kapitel 8 »Der Mensch im System«
Kapitel 9 »Standpunkt ist für mich der Typ, der aufsteht«
Nachwort »Nicht Ding, sondern Mensch«
Fußnoten
Quellenverzeichnis
Danksagung

Vorwort: »Es ist verrückt, auf ›Autoritäten‹ zu bauen«

Wer war Gudrun Ensslin?

Vor allem doch wohl eine strenge Pastorentochter, die sich irgendwann der gewaltsamen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und einem Ganoven namens Andreas Baader hingab. Dieser Eindruck entsteht zwangsläufig, sobald man vertraut auf das, was über Ensslin geschrieben wurde und was viele Leute bis heute über sie zu sagen wissen. Plakative Sätze. Selbst in Hans Magnus Enzensbergers 2014 erschienenem Erinnerungsbuch Tumult, in dem er einen Besuch von Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und einer weiteren Person, deren Namen ihm entfallen sei, in Berlin-Friedenau im Jahr 1970 schildert, heißt es: »Auch die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, die sich in eine Waffen- und Klamottenfetischistin verwandelt hatte, war anwesend. Unbestrittener Chef dieser Gespensterarmee war der abscheuliche Andreas Baader, ein flüchtiger Genosse, der als Fotomodell für ein Schwulenmagazin gearbeitet hatte und außer sich selbst vor allem schnelle Autos liebte. Die Frauen hatten sich ihm bedingungslos unterworfen. Er trat ihnen gegenüber wie ein Zuhälter auf.«1 Schon sind wir mitten in einer Art Gangsterklamotte gelandet und fühlen uns fast gezwungen, die Frage zu stellen, ob sich eine Beschäftigung mit solch einer Person überhaupt lohnt. Betrachten wir die Aussagen Enzensbergers genauer: Was ist so bedeutsam an einer Pfarrerstochter, dass man es unbedingt erwähnen muss, wenn man Gudrun Ensslin einführt? Von der Pfarrerstochter zur Waffen- und Klamottenfetischistin: Da bleibt der Frau keine Chance, etwas von ihrer individuellen Biografie preiszugeben. Als sei sie von Anfang an ein Niemand gewesen, eingezwängt in verschiedene Rollenzuschreibungen. Eine Angepasste, eine Verführte, eine ganz und gar Unfreie. Eine Frau, die Wert auf Kleidung legt, was ist daran auszusetzen? Ein Urteil kann diese Charakterisierung nicht genannt werden. Viel eher ist Enzensberger offenbar einem bereits vielfach geäußerten Vorurteil aufgesessen. Auf jeden Fall transportieren diese Sätze über Gudrun Ensslin eine ziemlich gereizte Stimmung – den Autor betreffend.

Ein paar Zitate aus der RAF-Forschung mögen verdeutlichen, warum Gudrun Ensslin bis heute als Schattengestalt mit schwäbisch-provinziellem Pastorentochterhintergrund in der öffentlichen Meinung herumgeistert. So schreibt zum Beispiel Karin Wieland in ihrem 2006 in dem von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen Sammelband Die RAF und der linke Terrorismus erschienenen Essay über Andreas Baader: »Gudrun Ensslin war der Typus der begabten Sekretärin, sehr aufmerksam, mit einem guten Gedächtnis, sie schrieb alles mit, war loyal bis zur Selbstaufgabe und träumte von der Erfüllung durch eine große Aufgabe. Sie war eine dünne, blasse Frau, deren gierige Züge in jungen Jahren noch apart wirkten.«2 Quellen, die solche Charakterisierungen belegen könnten, werden nicht genannt. Überhaupt ist es auffällig, dass in vielen Büchern über die RAF und vor allem in jenen, die hohe Auflagen erzielt haben, scheinbar eindeutige Persönlichkeitsmerkmale der Protagonistinnen und Protagonisten einfach so in den Raum gestellt und Zitate fast nie ausgewiesen werden. Es herrschen sehr freie Ansichten darüber, wie man sich einer prägnanten Person der Zeitgeschichte nähern könnte oder sollte. Besonders unangenehm ist dies auch deshalb, weil die grundlegenden Texte zum Thema RAF aufeinander aufbauen. Butz Peters schreibt in seinem Buch Tödlicher Irrtum über Gudrun Ensslin und das Jahr 1968: »Anders als Andreas Baader, der sich von Kindesbeinen an als Rabauke und Rebell gebärdet hat, war sie bis vor vier Jahren ein ›braves Mädchen‹, entwickelte sich ganz nach den Vorstellungen ihrer Eltern. Bis zum Alter von dreiundzwanzig. Wohlbehütet wuchs sie auf.«3 Woher der Autor das alles weiß: keine Angaben dazu. Und Stefan Aust schreibt zum Jahr 1965: »Gudrun gewann Abstand zum festgefügten, strengen und sittsamen Pfarrhaushalt in Bad Cannstatt.«4 Auch was er über ihre Reaktion auf den Mord an Benno Ohnesorg bemerkt, ist nicht belegt: »Erregt wurde hin und her diskutiert, wie man auf den Tod Benno Ohnesorgs reagieren sollte. Eine junge Frau, schlank, mit blonden Haaren, weinte hemmungslos und schrie: ›Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren!‹ Gudrun Ensslin traf damit etwas, was viele fühlten und dachten.«5 Aust zitiert an dieser Stelle aus dem Buch Hitler’s Children von Jillian Becker. Die Szene soll sich im Republikanischen Club in Berlin abgespielt haben. Offenbar hat der Berliner SDS-Landesvorsitzende Tilman Fichter darüber berichtet. Auch in Dorothea Hausers Buch über Baader und Herold ist die Rede vom »Todesengel« Gudrun Ensslin. Gerd Koenen stellt in Vesper, Ensslin, Baader hingegen fest, dass andere Teilnehmer der Diskussion im Republikanischen Club sich gar nicht an diese Szene erinnern könnten und daran zweifelten, ob Ensslin überhaupt anwesend gewesen sei an jenem Abend. Gerd Koenen ist überhaupt einer der ganz wenigen, die kritisch mit solcherlei Mutmaßungen umgehen. Er gibt zu, dass man »doch kaum ein lebendiges Bild der Person hinter der sphinxhaften Ikone der RAF-Zeit«6 habe.

Jillian Beckers Buch erschien 1977. Es hat auf fast alle Nachfolgewerke über die erste Generation der RAF eingewirkt. Selbst Kurt Oesterle, Autor des vielbeachteten Buchs über den Vollzugsbeamten Horst Bubeck, schwärmt im Jahr 2015 noch davon, welch Erweckungserlebnis die Lektüre von Hitler’s Children für ihn bedeutete.7 Dabei ist gerade dieser Text von einer unerträglichen Subjektivität und journalistischen Nachlässigkeit geprägt. Man spürt vor allem immer dann, wenn es um Ensslin geht, eine mit Vorurteilen gespickte, völlig unverstellte Aversion. Über die junge Gudrun Ensslin schreibt Becker: »Schon das blonde Schulmädchen hatte markante, ausgeprägte Gesichtszüge, eine gerade Nase und ein bestimmtes Kinn. Sie äußerte radikale und extreme Meinungen, die sie daheim vernommen hatte und mit jugendlicher Emotionalität aufheizte.«8 Da möchte man doch gern über die Quelle informiert werden. Immer wieder ist bei Becker und ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern von Exaltiertheit die Rede oder sogar von Hysterie. Becker schreibt über die »hysterische Blondine«, darüber, dass schon die junge Ensslin »keine friedfertige Seele war«. Über die Beziehung Ensslins zu Andreas Baader ist zu vernehmen: »Für diesen neuen Mann war sie gleichsam bestens vorbereitet, nicht nur durch die Langeweile mit dem Kind oder durch ihren politischen Geschmack an der Gewalt – sondern auch durch ihre Natur und ihre Erziehung, durch all die Jahre im Pfarrhaus, durch die Zucht in der Zwangsjacke moralischer Skrupel.«9 Ja, die Natur. Dagegen ist nichts zu machen. Der pure Essentialismus tritt uns entgegen, wenn Jillian Becker versucht, Ensslin zu charakterisieren. »1967 traf Andreas die weißgesichtige, überspannte, schrillstimmige Gudrun Ensslin. Sie verliebte sich in ihn. Er ging mit ihr ins Bett, sie fand das Erlebnis lohnend.«10 Wie kann die Autorin all das wissen? Wie kommt sie zu ihrem Urteil? Und warum loben so viele Menschen ein solch schrecklich banales Machwerk? Martin Greiffenhagen etwa schrieb im Spiegel vom 31. Oktober 1977, die Abschnitte über Meinhof und Ensslin seien von einer »geistes- und politikgeschichtlichen Hellsichtigkeit«. Ulrike Meinhofs Ziehmutter Renate Riemeck zeigte sich total begeistert.11 Als habe man sich darauf verständigt, nur eindeutige, fest umrissene, holzschnittartige Bilder zu akzeptieren. Bis heute.

Auch Butz Peters webt in seinem Buch Tödlicher Irrtum weiter an diesem einförmigen Gebilde. So können wir dort bezüglich Gudrun Ensslin erfahren: »Sie ist raffiniert, analytisch, machtbewusst und zurückhaltend.«12 Zudem hält er sie für »die stille und engagierte Denkerin an Baaders Seite. Die Einflüsterin.«13 Beim Einflüstern war er allerdings nicht dabei und wie eine »stille Denkerin« genauer zu charakterisieren wäre, erfahren die Lesenden ebenfalls nicht

Die Vorurteile halten sich bis in die jüngste Gegenwart: In dem Heft GEO Epoche Nr. 72 vom April 2015 schreibt Jörg-Uwe Albig über die Begegnung von Ensslin und Baader: »Bei einem Treffen von Aktivisten lernt er die drei Jahre ältere Germanistikstudentin Gudrun Ensslin kennen. Die Pfarrerstochter von der Schwäbischen Alb, auf deren Nachttisch noch bis zum 22. Lebensjahr die ›Bibelrüste des Evangelischen Mädchenwerkes‹ lag, hat in ihrer protestantischen Jugend die Bereitschaft zum Selbstopfer gelernt. Sie träumt davon, sich für eine große Aufgabe zu verzehren – vorzugsweise für eine, die ein geliebter Mann verkörpert.«14 In ebendiesem GEO-Heft ist auch ein Foto abgebildet, das Gudrun Ensslin auf einer Demonstration zeigt, mit Kinderwagen und einem Mann an ihrer Seite. Es ist nicht Bernward Vesper, aber die Bildunterschrift lautet: »Beim ›Tag der offenen Tür der Air Force Base Tempelhof‹ am 16. Juli 1967 demonstrieren auch Bernward Vesper und seine Verlobte Gudrun Ensslin«15.

Am 7. Januar 2016 erscheint in der Tageszeitung Die Welt ein Artikel mit dem Titel »Die heilige Selbstverwirklichung von Terroristen«. Darunter die Fotos von acht Terroristen, beginnend mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Es folgen Ramírez Sánchez, genannt Carlos, Mohammed Atta, Anders Breivik, Uwe Böhnhardt, Osama bin Laden, Salah Abdeslam. Sie alle sollen laut Verfasser des Artikels »Geistesverwandte im suizidalen Narzissmus der unbedingten Tat« sein. Als Zeuge dieser Art von Geistesverwandtschaft muss Peter-Jürgen Boock herhalten. Er glaubt, große Ähnlichkeiten zwischen den Taten der RAF und heutigen terroristischen Akten feststellen zu können. Vor allem das Täterprofil sei dasselbe. Und dann geht es um Gudrun Ensslin und ihre »religiöse Unfehlbarkeit«. Hinzu käme ein starker Narzissmus. Und: die »berüchtigte heideggersche Entschlossenheit«. Kurz danach wird aus dem chinesischen Sprichwort »Wer keine Angst vor Vierteilung hat, wagt es, den Kaiser vom Pferd zu zerren« der Satz: »Nur wer den Tod nicht fürchtet, kann den Kaiser vom Pferd ziehen.« Und schon ist man bei suizidalen Motiven angelangt. Darüber hinaus ordnen die Verfasser des Artikels das falsche Zitat auch noch der falschen Person, nämlich Ulrike Meinhof, zu. Es ist Gudrun Ensslin, die das Sprichwort zitiert, und zwar in der Erklärung zum Abbruch des Hungerstreiks vom 30. April 1977. So entlarvt sich ein ziemlich schlampig arbeitender Journalismus, gepaart mit offensichtlich höchst bruchstückhafter philosophischer Kenntnis, denn mit Martin Heideggers Begriff der »Entschlossenheit« hat das alles rein gar nichts zu tun.

Im Jahr 2007 kommt Kurt Oesterles Buch Stammheim. Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck und die RAF-Häftlinge heraus. Dabei handelt es sich um die überarbeitete Version seines bereits 2003 erschienenen Buchs Stammheim. Die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck. Oesterle hat lange Gespräche mit Bubeck geführt und möchte ihm als wichtigem Zeitzeugen gerecht werden, indem er fast kommentarlos erzählt. Eine bestimmte Atmosphäre wird erzeugt, ein Bild entsteht. Wie auch sollte es anders sein. Es ist ein Buch über Horst Bubeck und dessen Erfahrungen mit Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe geworden. Ein Erfahrungsbericht. Also höchst subjektiv. Ob allerdings damit die Baader-Meinhof-Geschichte »entmythologisiert« wird, wie die FAZ schrieb, ist mehr als fraglich, auch wenn Bubeck einige sachdienliche Hinweise gibt auf bestimmte Verhaltensweisen der vier RAF-Mitglieder. Hinweise, die auch für dieses Buch von Nutzen sind. Menschlich aber kommt den Leserinnen und Lesern vor allem einer näher: Horst Bubeck selbst. Er wird im Buch zu dem, der er im Knast nie war: Er wird Hauptfigur. Das ist völlig legitim, weil hier endlich einer sprechen darf, der die meiste Zeit seines Lebens gehorchen und zuhören und sich einiges gefallen lassen musste. Aber eine neue Geschichte der RAF wird nicht erzählt, denn deren Protagonistinnen und Protagonisten werden an der Leine einer Erfahrungsberichterstattung vorgeführt. Sie werden aller Geheimnisse entkleidet und allzu oft entsteht der Eindruck, als hätten sie lediglich ein Kasperletheater aufgeführt mit ein paar ernsten Einsprengseln. Die sogenannte »Entmythologisierung« gehorcht einer subtilen Beeinflussungsstrategie: »Auch in einen Bildungskampf sah sich der mittlere Beamte im siebten Stock verwickelt. ›Frau Ensslin, bitte auf deutsch‹, mußte er bisweilen fordern, wenn er den soziologisch gespeisten RAF-Jargon nicht verstand. Baaders Lieblingswort war ›explizit‹, und er gebrauchte es nicht nur ausnahmsweise. Den Kampf, der im siebten Stock auf dem Wissenssektor tobte, bringt Bubeck auf die Formel ›Universität gegen Volksschule‹. Im Unterschied zu den Bildungswunderkindern mit der langen Schul- und Studiendauer hatte er gerade sieben, auch noch vom Krieg zerhackte Grundschuljahre absolviert, bevor man ihn mit fünfzehn Jahren in eine Lehre als Herrenfriseur schickte.«16 Solche Sätze erzählen etwas über die Schwierigkeit, in Kriegszeiten zu einer ordentlichen Schulbildung zu kommen. Indem diese schwierigen Zeiten aber in Kontrast gesetzt werden zu den so viel besseren Chancen, die die RAF-Gefangenen hatten, werden die Lesenden zur Parteinahme gezwungen. Sie blicken mit Bubecks Augen auf diese gebildeten Früchtchen, die eigentlich dankbar sein müssten und nun im Gefängnis hochnäsig einem Vollzugsbeamten gegenüber ihre Bildung zur Schau tragen.

Ohne die alten Deutungsmuster und Vorurteile zu wiederholen, hat der Erziehungswissenschaftler Alex Aßmann seine detailreiche und hervorragend recherchierte, 2018 erschienene bildungstheoretische Studie Gudrun Ensslin: Die Geschichte einer Radikalisierung verfasst. Allerdings endet das Buch mit Ensslins Gang in die Illegalität.

2023 erscheint im Secession Verlag in Berlin ein Roman von Stephanie Bart mit dem Titel Erzählung zur Sache. Es handelt sich um ein vielstimmiges sprachliches Gewebe, in dem eine Stimme hervorsticht, die wiederum aus vielen Stimmen zusammengesetzt ist: Gudrun Ensslin, oder besser das »Team Ensslin«, wie die Autorin es im Nachtrag zum Roman nennt, spricht. In ganz entscheidender Weise ist die Autorin selbst auch Teil des »Teams«, sogar in einer gewissermaßen leitenden Funktion, denn sie wählt aus, dazu gehört, wessen Stimme sich verbindet mit Ensslins Person. Damit wird aber, wenn auch auf spielerische Weise, wieder ein System geschaffen, denn Gudrun Ensslin kann den Stimmen, die im Chor mit ihrer Stimme sprechen, nichts entgegnen. Die Macht der geschlossenen Systeme wird nicht aufgebrochen.

Und dann gibt es auch noch die filmische Auseinandersetzung mit der RAF. Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta stammt aus dem Jahr 1981. Ein Film über die beiden Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin soll es sein. Aber ist er das wirklich? Margarethe von Trotta hat Gudrun Ensslin nie persönlich kennengelernt. Mit Gudruns Schwester Christiane Ensslin war sie hingegen befreundet seit den Dreharbeiten zum Film. Ihr ist der Film auch gewidmet. Sie ist die Hauptfigur: ganz die liebende junge Frau, die alles aufgibt, um ihrer Schwester beizustehen, über den Tod hinaus. Aus »Julianes« Mund erfahren wir, dass »Marianne« eine außergewöhnliche Frau war. Ihre, Julianes, Liebesbeziehung, wird im Detail geschildert. Juliane bekommt die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen. Marianne hingegen bleibt Hintergrundfigur. Die Zuschauer leben und leiden vor allem mit Juliane und ihrem Freund. Die Bilder und Dialoge versetzen sie in die Lage, sich zu identifizieren mit dieser Schwester, die diesen total sympathischen, total liebevollen Freund aufgibt für ihren Kampf um Gerechtigkeit. Sehr präsent ist in diesem Film auch das evangelische Pfarrhaus, und vor allem Pfarrer Ensslin hat keine Chance, sich aus der Rolle des harten, strengen Pastors herauszuwinden. Marianne bleiben nur ein paar kleine Auftritte und wenige politische Statements.

Ein weiteres Beispiel: der Film Stammheim (1986) von Reinhard Hauff. Wichtige Prozesstage werden am Originalschauplatz nachgestellt. Am blassesten bleibt die Figur Gudrun Ensslin. Sie schweigt oder schreit und immer schaut sie verbiestert drein. Ganz anders Ulrike Meinhof. Eine viel komplexere Figur. Das Drehbuch stammt von Stefan Aust. So perfekt der Film gemacht ist, so eindrücklich manche Szenen sind, es bleibt doch diese Leerstelle, die von einer schattenhaft-blassen Gudrun Ensslin lediglich ab und zu kurz ausgefüllt wird.

Und schließlich ist natürlich die berühmte Aust-Verfilmung von Der Baader Meinhof Komplex (2008) unter der Regie von Uli Edel unbedingt zu erwähnen. Die Rolle Gudrun Ensslins hat Johanna Wokalek übernommen. Trotz sehr guter Schauspieler und Schauspielerinnen ist der Erkenntnisgewinn bezüglich der RAF gegen null gehend. Ein wenig Gangsterfilm, ein wenig Liebesdrama, ein wenig Sozialromantik. Mit Gudrun Ensslin in der Badewanne, mit Andreas Baader im schnellen Auto, mit Ulrike Meinhof in Jordanien. Das reicht bei Weitem nicht, um einen Denkprozess über die RAF in Gang zu setzen. Der Film beginnt dort, wo das Denken bereits am Ziel angekommen ist: nach der Urteilsverkündung.

Am besten, man schaut sich diese Filme allein vom filmischen Gesichtspunkt aus an und ignoriert mögliche Botschaften. Eine echte Annäherung an Gudrun Ensslin wird in keinem der angeführten Beispiele versucht.

Vorurteile halten sich, Bilder werden reproduziert, Pseudotatsachen wieder und wieder zitiert. Es herrscht ein seltsamer Einheitston, eine Mischung aus kalter Distanz und Subjektivität, manchmal verbunden mit einer schier unerträglichen, überheblichen Schnoddrigkeit. Eine gewisse Angst vor der differenzierten Analyse, vor einem vorurteilsfreien Denken und nicht zuletzt vor einem möglichen Scheitern scheint in der Welt der RAF-Literatur und in der filmischen Auseinandersetzung vorzuherrschen. So hat die Person Gudrun Ensslin keine Chance, etwas von sich preiszugeben. Muss eine seriöse Diskussion nicht ihre Quellen, etwaige Zeitzeugenberichte kritisch hinterfragen? Ist das Geschehene zwangsläufig oder gab es irgendwann für die Handelnden Möglichkeitsspielräume, die hätten genutzt werden können? Über Gudrun Ensslin ist vieles bekannt und dennoch ist die Person selbst bis heute eine Unbekannte geblieben. Als könnte oder wollte man ihr das Personsein überhaupt absprechen. Als müssten alle, die sich mit der RAF und speziell mit Ensslin beschäftigen, zeigen, warum sie selbst mit diesen Leuten, dieser gewaltbereiten Frau, nichts zu schaffen haben. Was Leser und Leserinnen in diesen Texten, die höchste Objektivität beanspruchen, dann vor allem wahrnehmen, sind die Verfasser und Verfasserinnen dahinter. Vermeintliche Objektivität verkehrt sich in deutlich erkennbare Subjektivität.

Gudrun Ensslin bleibt dadurch Gefangene eines Systems, einer Gruppe selbst ernannter Fachleute. Auf all die Sekundärtexte und Filme wird im Laufe dieses Porträts immer wieder eingegangen werden, weil sie im Bild, das die interessierte Öffentlichkeit von der ersten RAF-Generation und speziell von Gudrun Ensslin hat, so überaus präsent sind. Sich mit Gudrun Ensslin auseinanderzusetzen, heißt auch, sich mit Ensslin-Deutungen auseinanderzusetzen.

Im Gang durch das Dickicht der vielen Bücher, Aufsätze, Filme, Dokumentationen wurde mir klar, wie sehr all diese Bilder auch mich jahrelang besetzt hielten. Da waren Schauspielergesichter im Kopf, Schauspielergesten und Sätze, die alle, Filmfiguren und Autoren und Autorinnen der RAF-Fachliteratur, irgendwann vor- oder nachgesprochen haben. Die Person Gudrun Ensslin sollte mir dadurch nahekommen und wurde mir doch immer fremder. Der Beginn einer neuen Beschäftigung wurde damit markiert, denn gerade in ihrem Fremdwerden bekam Ensslin eine besonders intensive Präsenz. In ihrem Buch über die RAF bedauert die Philosophin und Journalistin Carolin Emcke, dass es nicht immer gelinge, sich nicht vereinnahmen zu lassen von den »vorgeprägten Erzählungen«17. Jede Beschäftigung mit dem Thema RAF wird sich immer wieder herauszuwinden haben aus dem, was bereits gesagt oder geschrieben wurde. Dieser Problematik war und bin ich mir voll bewusst.

Es gibt zum Glück kein Muster, nach dem eine Biografie zu schreiben wäre. Eine Biografie über Gudrun Ensslin, so habe ich im Laufe der Arbeit gelernt, erfordert verschiedene Gangarten. Ein Leben voller Widersprüche ist zu erkunden. Ein Leben, das nicht mit dem Urteil »Lebenslänglich« begann. Ein Leben, das nicht mit einem Selbstmord begann. Sondern mit einer Kindheit, die das Später noch nicht im Auge haben konnte. Manche Momente in diesem Leben wollen besonders behutsam umkreist werden. Auch wenn die meisten Menschen mit einer wie Gudrun Ensslin nichts zu tun haben wollen, zeigt doch gerade sie, zeigt ihre Biografie beispielhaft, wie schnell ein Weg in die Irre führen kann, welche Probleme sich ergeben können, wenn eine junge, hochbegabte Frau zurechtzukommen und ihren Standort zu finden versucht in einer Gegenwart, die sich noch längst nicht befreit hat von den Schrecknissen der jüngsten Vergangenheit. Da ergeben sich notgedrungen Fragen, persönliche, aber auch politische und gesellschaftliche.

Und für mich, die Biografin, gilt das Eingeständnis, dass ich mich nicht mit Gudrun Ensslin beschäftigen würde, wenn ihr Leben mich nicht auf irgendeine Weise berühren würde. Wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es mehr als angemessen ist, sich diesem Leben wieder und neu zu stellen. Diese Spannung aus Nähe und Distanz, die sich ergibt und die eine echte Auseinandersetzung erst ermöglicht. Dazu noch einmal Carolin Emcke: »Ich kann nur sagen, dass es ein Schreiben in dauernder Selbstverunsicherung ist, wie das Spazierengehen in Kindertagen, bei dem der Schulfreund in unregelmäßigen Abständen einem von hinten mit einem leichten Schwung die Füße wegschlug, und man nach einer Weile, selbstverschuldet, immer weniger Tritt auf dem Boden hatte, weil man den Schlag schon vorwegnahm. Gegen diese Angst gilt es anzuschreiben.«18 Diese immer lauernde Selbstverunsicherung wird auszuhalten sein.

Kapitel 1 »Zu klären, wie man so geworden ist, wie man sich findet«

Bartholomä 1940–1948

Das Dorf Bartholomä, das heute rund 2150 Einwohner zählt, ist laut Wikipedia Geburtsort zweier historisch bedeutsamer Persönlichkeiten:

Theodor Wolf (1841–1924), Botaniker und Geologe, Namensgeber der Insel Wolf (Galápagos).

Und:

Gudrun Ensslin (1940–1977), deutsche Terroristin, Mitglied der Rote Armee Fraktion.

Der Anfang ist am schwierigsten. Was konstatiert werden kann: Die Faktenlage bezüglich der frühen Kindheit Gudrun Ensslins erweist sich als äußerst dürftig. Ensslins Eltern sind tot und die noch lebenden Geschwister sowie der Sohn schweigen. Sie haben ihre Gründe.

Dorf, Kirche und Pfarrhaus von Bartholomä aber können besucht werden. Bartholomä liegt in einer landschaftlich sehr schönen und interessanten Umgebung, ungefähr drei bis vier Kilometer »nordwestlich bzw. nordöstlich vom Albtrauf entfernt auf dem nordöstlichen Albbruch. Das Albbruch gehört zur Ostalb, einer von Nordwesten nach Südosten geneigten Fläche. Seine Oberfläche bezeichnet man als Kuppenalb.«19 So sollte sich wenigstens ein Eindruck ergeben, eine Art Bild-Montage dieser Kindheit zwischen 1940 und 1948 zu zeichnen sein, manchmal verwischt oder abstrakt anmutend, manchmal aber auch mit klaren Konturen.

Von 1936 bis 1948 ist Helmut Ensslin Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde von Bartholomä. Er ist erst siebenundzwanzig Jahre jung und zusammen mit seiner Frau Ilse in dieses Dorf auf der Schwäbischen Alb gekommen. Ilse Ensslins Aufgabe wird darin liegen, einen stetig wachsenden Pfarrhaushalt zu bewältigen, denn in den nächsten vier Jahren wird sie vier Kinder auf die Welt bringen. Die Zeitumstände machen es einem pastoralen Berufsanfänger in der Familiengründungsphase nicht gerade leicht, Fuß zu fassen in der neuen Heimat. Von 1933 an war die Gemeinde gespalten in Anhänger und Gegner der Nazis. Offensichtlich setzte sich jedoch etwa 1934 in der evangelischen Kirchengemeinde, also noch unter Ensslins Vorgänger Pfarrer Siegfried Herrmann, der Gedanke durch, dass man sich doch eher gegen die Nationalsozialisten stellen sollte. »Grund dafür war die Gleichschaltung aller Verbände und deren Unterordnung unter bzw. deren Aufgehen in nationalsozialistischen Organisationen.«20 Vor allem wehrte man sich gegen die sogenannten »Notverordnungen«, die bewirken sollten, dass unter anderen auch die Württembergische Landeskirche in die Reichskirche eingegliedert werde. Mitten in diese politischen Turbulenzen hinein fällt die Berufung Helmut Ensslins als Pfarrer von Bartholomä. Er muss sich positionieren, zeigen, auf welcher Seite er steht. In Kirchenkreisen gilt er als kluger Kopf, originell und offen allen brennenden Zeitfragen gegenüber. Betont wird auch seine künstlerische Begabung. Vater Ensslin hat an der Eberhard Karls Universität in Tübingen Theologie studiert. Als Pfarrer in einem Dorf gilt es nun, sich den besonderen ortsspezifischen Herausforderungen zu stellen. Es reicht nicht, intellektuell herausragende Predigten zu halten.

Ilse Ensslin dürfte sich freuen darüber, dass es ausreichend Platz gibt im und ums Haus. Für die kurz hintereinander geborenen Kinder ist die Lage des Pfarrhauses mit seinem großen Garten jedenfalls ein Glück. Sie können ungehemmt im Freien spielen. Man kann das eine privilegierte Situation nennen. Im Dorf ist die Familie angesehen und wird als harmonisch wahrgenommen. Die Kirche, der Kirchplatz, die Bäume, das Pfarrhaus, eine Art Idylle, damals wie heute.

Im Jahr 2015 feiert die Gemeinde ihren 650. Geburtstag. Zu diesem Anlass ist ein großer Band über Die Geschichte des Dorfes am Rande des Himmels erschienen, dessen Gründungszeit wahrscheinlich im 11.–12. Jahrhundert liegt. Die evangelische Pfarrkirche mit dem romanischen Turm wurde zwischen 1150 und 1250 erbaut. Wer als Baumeister fungierte, ist bis heute nicht bekannt. Betritt man den Kirchenraum, so sticht einem sofort ein barocker Engel in der Mitte des Kirchenschiffs ins Auge. Er ist nicht wie üblich geschlechtslos, sondern lässt sich eindeutig als weiblich identifizieren. In der linken Hand trägt der Engel einen Palmzweig. Dieser Engel hat seine Auferstehung Pfarrer Helmut Ensslin zu verdanken. Er galt nämlich als verschollen, seit die alte Kanzel durch eine neue ersetzt worden war. Pfarrer Ensslin entdeckte das kostbare Stück auf dem Kirchendachboden und brachte es nach dem Krieg in den Innenraum zurück, in jenen Raum, um den herum die Ensslin-Kinder in den frühen Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts spielten. Doch es waren trotz allem Jahre des Kriegs, auch im »Dorf am Rande des Himmels«.

Als Pfarrer Helmut Ensslin seine Stelle in Bartholomä antritt, spielt Oberlehrer Krauss die Kirchenorgel. Seine Begeisterung für den Nationalsozialismus verbirgt er nicht. Bereits unter Pfarrer Herrmann hatte er das Organistenamt ausgeübt. Und mehr noch: Als 1930 einige Kirchenrenovierungen beendet waren und ein Einweihungsfest gefeiert wurde, sang unter Krauss »ein stattlicher Kirchenchor und die Remszeitung brachte einen großen Bericht über dieses Ereignis«.21

Helmut Ensslin äußert sich in seinen Predigten dagegen eindeutig ablehnend gegenüber der NSDAP. Außerdem bezieht er auch bei den regelmäßig stattfindenden Bibelabenden Stellung gegen die Angriffe des »nationalsozialistischen Neuheidentums«. Krauss hätte es am liebsten gesehen, wenn man den Pfarrer vom Dienst suspendiert hätte. Stattdessen wird er selbst vom Kirchengemeinderat aufgefordert, seine Propagandareden einzustellen. Pfarrer Ensslin wird dennoch denunziert und nach dem sogenannten Heimtückegesetz vor dem Oberlandesgericht Stuttgart angeklagt. Zu einer Verurteilung kommt es dank der Intervention des Oberkirchenrats jedoch nicht. So bleibt dem Nazi Krauss nichts übrig, als selbst den Rückzug anzutreten. Ensslin darf allerdings keinen Religionsunterricht erteilen, weil er, wie auch der katholische Pfarrer Wilhelm Sohmer, den Amtseid auf den Führer verweigerte. Ensslins und Sohmers Predigten werden daraufhin überwacht. Wenn man bedenkt, dass viele evangelische Pfarrhäuser der Machtübernahme der Nazis große Zustimmung entgegenbrachten, wird die besondere Stellung Helmut Ensslins noch deutlicher. Die Deutschen Christen waren extrem erfolgreich darin, die Mehrzahl der Landeskirchen zu kontrollieren. »Mit den Glaubensüberzeugungen der Deutschen Christen und verwandter Bewegungen, die ebenso religiös wie politisch geprägt waren, zog nationalsozialistische Weltanschauung in die Pfarrhäuser ein – gewiss nicht in alle, aber eben doch in sehr viele. Die Türen und Fenster des Pfarrhauses, auch der Gemeindehäuser und Kirchen waren weit geöffnet, um die völkischen ›Ideen von 1933‹ einschließlich eines kräftigen Antisemitismus einströmen zu lassen.«22

Was also ist das für ein Mann, dieser Helmut Ensslin, der Vater der zukünftigen Terroristin, der auf dem Dachboden einen Engel aufstöbert und ihn in die Kirche zurückbringt? Der seine Meinung zur NSDAP offen von der Kanzel herab kundtut? Ende 1940 hat er vier Kinder, Michael (1937), Ulrich (1938), Christiane (1939) und Gudrun (15. August 1940). Er scheint ein recht eigenwilliger Mensch zu sein, einer, der nicht gern tut, was andere von ihm verlangen, einer, der lieber selbst entscheidet und handelt. Er ist Mitglied der Bekennenden Kirche und hat die Schriften Karl Barths studiert. Doch trotz seiner ablehnenden Haltung Hitler gegenüber zieht er in den Krieg. Der erste Gestellungsbefehl lautet auf den 3. März 1941, der zweite auf den 6. Juni. Zunächst wird er aber als unabkömmlich eingestuft, weil ihn die Kirchengemeinde braucht. Felddiensttauglich ist er ohnehin nicht erklärt worden. Aber offenbar lässt er sich noch einmal mustern, und zwar, ohne es seiner Behörde zu melden. Aus seiner Dienstakte ist zu ersehen, dass sie sich über diese Entscheidung wundert. Sie erklären es sich damit, dass er es aus einer »falschen Ehrauffassung heraus«23 tut. Wahrscheinlich will Helmut Ensslin jedoch eher weiteren Streitereien wegen seiner politischen Haltung aus dem Weg gehen. Bei dieser heimlichen Musterung wird er für tauglich befunden: Er kann nun zum Beispiel als Beobachter oder für andere Spezialdienste eingesetzt werden. Und so leistet der Pfarrer ab dem 28. Januar 1942 Garnisonsdienste im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren. Ebenfalls in seiner Dienstakte findet sich der Vermerk, dass er mit Wirkung vom 1. Oktober 1942 zum Gefreiten befördert und nun nach Wehrsoldgruppe 15 besoldet wird und 126,09 Reichsmark im Monat erhält.

Ilse Ensslin muss bis Kriegsende ohne ihren Mann auskommen. Der frommen Frau steht bei der Erziehung und Versorgung ihrer vier Kinder nur das Haus- und Kindermädchen Erna Niederberger zur Seite. Sie kommt ihren Pflichten nach, so wie es von der Kirchenleitung erwartet worden war, die die Eheschließung mit Helmut Ensslin ausgesprochen gutgeheißen hatte. Doch wer ist diese Frau über ihre Rolle als Pastorengattin hinaus? Die Informationen bezüglich der Persönlichkeit Ilse Ensslins sind spärlich. Immer wenn die Rede auf die Familie Ensslin kommt, erzählen die Leute von ihm, dem Pfarrer, der in seiner Freizeit gemalt habe, abstrakt und gegenständlich. Ein Geistlicher, der nachdenkt, belesen ist, gern diskutiert. Helmut Ensslin ist kein typischer Pfarrer, seine pastorale Selbstinszenierung orientiert sich nicht vor allem an tradierten Gesten und Reden. Er ist sehr eigen, schwer zu fassen und unvorhersehbar im Denken und Handeln. Die Frau an seiner Seite soll dagegen viel unauffälliger gewesen sein, verschlossen, naturverbunden, sehr familiär, aber das ist durchaus nichts Besonderes für diese Zeit: Damals hatten Frauen so zu sein, das galt für die »Frau Pastor« allemal. Allerdings hat sie einen vergleichsweise hohen Status: Sie hat zum Ansehen des Pfarrhauses beizutragen. Ihre Aufgabe besteht darin, für alle da zu sein. Dennoch darf sie sich nicht »gemein machen«, das heißt, sie sollte einen gebührenden Abstand halten zu den Menschen in der Gemeinde. Natürlich gab es zu allen Zeiten auch Pfarrfrauen, die die gängigen Rollenzuschreibungen durchbrachen, aber zu diesen gehört Ilse Ensslin ganz offensichtlich nicht. Es lassen sich keine Hinweise darauf finden, dass sie sich in der Zeit des Nationalsozialismus in irgendeiner Form des Widerstands aktiv eingebracht hätte. Es ist ihr Mann, der Kontakte nach außen unterhält, Menschen ins Haus holt, mit denen er brennende Zeitfragen bespricht.

In Friedenszeiten hat ein Pfarrhaus eine ganz andere Funktion, ist weit eher »Glashaus«, Ort pastoraler und familiärer Selbstinszenierung, als in Zeiten politischer Umtriebe. Diese Jahre des Kriegsgeschehens erlebt Gudrun nicht bewusst. Sie ist zu klein. Atmosphärisches jedoch bekommt sie mit Sicherheit mit. Der Eindruck des Idyllischen ist daher nur vordergründig.

Und dennoch: Das kleine Mädchen Gudrun mit den rötlich-blonden Zöpfen wird von den Menschen ihrer Umgebung als fröhliches Kind beschrieben. Beim Spiel im Freien legt sie keine Zaghaftigkeit an den Tag. Ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Gottfried berichtet in einem Radio-Feature aus dem Jahr 2005, Gudrun habe im Alter von drei oder vier Jahren eines Tages einen Schlittenunfall gehabt. Dabei habe sie sich an der Stirn verletzt und stark geblutet. Sie sei ohne Weinen nach Hause gekommen.24 Darüber hinaus lässt sich nichts Genaues über das Familienleben der Ensslins im Dorf Bartholomä herausfinden. Das hängt stark damit zusammen, dass die Leute in jenen Jahren voll und ganz mit der Bewältigung des eigenen Alltags beschäftigt sind.

Helmut Ensslin kehrt nach dem Krieg nach Bartholomä zurück und tritt seine alte Pfarrstelle wieder an. Über Pfarrer Ensslins Predigten in der unmittelbaren Nachkriegszeit gibt es keine Informationen. Auch können wir nicht wissen, welche Rolle er genau im Familienalltag spielt. Ebenso im Dunkel bleiben müssen die Erfahrungen, die das Kind Gudrun Ensslin in dieser Kriegs- und Nachkriegszeit im Dorf Bartholomä macht. Viele Faktoren kommen zusammen, spielen ineinander. Auf jeden Fall ist sie zunächst einmal ein Kriegskind, außerdem ein Pastorenkind und nicht zuletzt ein Dorfkind, denn die Familie wohnt nicht in der Stadt, sondern in einem wunderschönen, inmitten einer zauberhaften Landschaft gelegenen Dorf. Interessante Tierarten sind damals hier zu Hause: Ringelnatter, Waldeidechse, Teichmolch, Grasfrosch und Bergmolch sowie elf Libellen- und acht Heuschreckenarten. In den Wäldern um Bartholomä sind seltene Vögel zu beobachten: Uhu, Grauspecht, Tannenhäher, Wespenbussard, Rotmilan, Schwarzmilan, Baumfalke, Kohlrabe, Raufußkauz. Die eine Seite also: das Naturparadies.

Die andere Seite: Nationalsozialismus und Krieg. Auch in dieser Hinsicht lohnt es sich, das Dorf Bartholomä ein wenig genauer zu betrachten. Bei der letzten »freien« Reichstagswahl vor dem Ermächtigungsgesetz, die am 5. März 1933 stattfindet, fallen von 615 abgegebenen gültigen Stimmen 209 an die Nationalsozialisten. Mit 291 Stimmen bleibt das Zentrum stärkste Partei. Obwohl es nach dem Ermächtigungsgesetz lebensgefährlich sein kann, sich politisch kritisch oder auch ironisch zu äußern, zeugt der Mut des Gemeindepflegers Leonhard Zieger davon, dass es trotz der allgemeinen »Gleichschaltung« in Bartholomä Einzelne gibt, die sich ihr eigenes Urteil nicht verbieten lassen. Zieger wird seines Amtes enthoben, weil er »Handel mit Juden« betrieben haben soll. Außerdem ist der Gemeinderat der Meinung, ihm fehle es an den Eigenschaften, »die man heute von einem Gemeindebeamten verlangen muss«.25 Am 18. Juli 1939 verfügt der Gemeinderat Ziegers Entlassung. Im Amtsenthebungsschreiben steht zu lesen: »Während bereits der Fall ›Judenhandel‹ angezeigt war, äußerte er sich in öffentlichen Wirtschaftslokalen hier: seine Judenkuh habe er jetzt ›Sara‹ getauft und das Kalb von ihr bekomme den Namen ›Isaak‹«.26 Immerhin kann dadurch nach dem Krieg in Bartholomä ein Unbescholtener Bürgermeister werden. Ein weiteres Beispiel für eigenständiges Denken und Handeln ist die Familie Sorg. Die Eltern Sorg schicken ihre Kinder weiterhin in den Religionsunterricht von Pfarrer Sohmer, der nicht nur, wie bereits erwähnt, den Amtseid auf Hitler verweigert hat, sondern auch seinen Unterricht nach eigenen Vorstellungen gestalten will. Vater Sorg verliert daraufhin seine Arbeitsstelle bei der Post, was bedeutet, dass eine elfköpfige Familie ohne Einkommen ist. Menschen wie die Familie Sorg, Leonhard Zieger, die Pfarrer Sohmer und Ensslin prägen in der Zeit des Nationalsozialismus das Dorfleben entscheidend mit, weil sie zeigen, dass es immer und selbst unter widrigsten, vielleicht sogar lebensgefährlichen Umständen Menschen gibt, die für ihre Meinung einstehen.

Ab Anfang April 1945 ist Bartholomä plötzlich voller Militär. Außerdem wächst die Zahl der Flüchtlinge mit jedem Tag. Im Juli 1946 kommt es schließlich auch hier zur Einquartierung von Flüchtlingen aus Tschechien, Schlesien, Ost- und Westpreußen.

Fakten, die eine Zeit heraufbeschwören, in der das Heranwachsen von Kindern nicht zu vergleichen ist mit dem Alltag heutiger Kinder. Und doch gehen auch sie auf ihre Weise mit all den Erfahrungen um, die sie täglich machen. So auch Gudrun Ensslin, die nach dem Krieg in Bartholomä eingeschult wird und ihre ersten zwei Schuljahre in der örtlichen Volksschule verbringt. Ihre Lehrerin, ein Fräulein Schweizer, sei streng gewesen, aber im zeitüblichen Rahmen. Ein Mitschüler berichtet, Gudrun Ensslin sei ihm als freundliches Mädchen mit blonden Haaren in Erinnerung. Näheres über die Familie wisse er jedoch nicht zu berichten, sie seien schließlich evangelisch gewesen, er sei aber katholisch.27 Und als Kind katholischer Eltern hat man zu jener Zeit mit Kindern aus evangelischen Familien nicht viel zu tun. Umgekehrt gilt das auch. Man bleibt lieber unter sich.

Bis auf diese wenigen Details gibt es über Gudrun Ensslins erste Kindheitsjahre also tatsächlich wenig Konkretes zu sagen. Viel von der Atmosphäre ihrer frühen Kindheit ist zu erahnen. In den ersten acht Jahren wächst sie umgeben von viel Natur auf, in einem Pfarrhaus mit großem Garten, neben einer eindrucksvollen Kirche. Die friedvolle Ruhe ist allerdings trügerisch, auch ein Dorf auf der Schwäbischen Alb kann sich einem Weltkrieg nicht entziehen. Für eine lange Zeit ist zudem der Vater abwesend. Und auch wenn die Mutter sicherlich tut, was sie kann, um ein Stück Normalität aufrechtzuerhalten, kann sie die Kinder nicht völlig von den Geschehnissen, von bedrängenden Erfahrungen und Nöten abschirmen. Und trotzdem: Alle, die sich an die Gudrun Ensslin aus dieser frühen Zeit erinnern, betonen immer wieder ihre freundliche Ausstrahlung, ihre Fröhlichkeit, ihre Zugewandtheit. Sie scheint gut zurechtzukommen mit den Anforderungen, die an ein Kind in diesen Zeiten gestellt werden.

Kapitel 2 »Das gemeinsame gegenseitige Leibchen zuknöpfen«

Tuttlingen und Bad Cannstatt 1948–1960

Die Kindheit Gudrun Ensslins in Bartholomä endet 1948, weil die Familie nach Tuttlingen umzieht. Tuttlingen liegt etwa zweihundert Kilometer Autostrecke von Bartholomä entfernt. Für Kinder jener Zeit eine ziemlich weite Reise und zudem das Tor zu einer neuen Welt, denn das Leben in einer Kleinstadt unterscheidet sich deutlich vom dörflichen Alltag. Der Grund für den Umzug: Am 5. Februar 1948 bekommt Helmut Ensslin die dritte Pfarrstelle an der Stadtkirche in Tuttlingen zugeteilt. Der Aufzug erfolgt am 17. März, seine Antrittspredigt hält Pfarrer Ensslin bereits am 21. März. Der Wechsel erfolgt also schnell, kein langsames Sich-Herantasten, kein gemütliches Einleben ist möglich. Als Pfarrersfamilie findet man sich auf der Stelle im Blick einer breiten Öffentlichkeit. Die Stadt schaut von Anfang an auf die Familie aus der Dekanatswohnung in der Freiburgstraße 44, einem stattlichen Haus hoch oben über der Stadt. Evangelisch zu sein heißt in Tuttlingen, zu denjenigen Menschen zu gehören, die die Atmosphäre maßgeblich mitbestimmen.

Die Stadt steht seit dem 21. April 1945 unter französischer Besatzung. Auf dem Gelände des heutigen Schulzentrums befindet sich von 1942 bis 1955 das Lager Mühlau. Im Krieg diente es der Unterbringung russischer Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen, nach dem Krieg richtet die französische Besatzungsmacht hier ein zentrales Lager ein. Als die Ensslins nach Tuttlingen ziehen, werden die Lagerbaracken vor allem für Heimatvertriebene und Flüchtlinge benutzt, aber auch für die sogenannten »Displaced Persons«, die sich in Mühlau zusammensetzen aus Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die während des Krieges in deutschen Betrieben gearbeitet hatten, ehemaligen KZ-Häftlingen und ehemaligen Kriegsgefangenen, vor allem aus Osteuropa, die 1944/1945 vor der sowjetischen Armee geflüchtet waren. Außerdem sind zwischen 1945 und 1950 insgesamt etwa zweihunderttausend bis dreihunderttausend frühere Wehrmachtssoldaten hier untergebracht. Mühlau dient für diese Menschen als Durchgangs- und Entlassungslager. Die Kinder der Displaced Persons erhalten in örtlichen Schulen Unterricht. Tuttlingen ist also im Jahr 1948 alles andere als eine friedliche, kuschlige Kleinstadt. Die Kriegsjahre sind nach wie vor präsent, denn das Lager gehört zum Leben untrennbar dazu. Niemand kann behaupten, nichts davon mitzubekommen. Die Versorgungslage ist ziemlich kümmerlich. Immer wieder beklagen sich die Insassen darüber, dass sie Hunger leiden müssen. Auch die Kinder und Jugendlichen hören, was man sich über die Menschen dort erzählt. Und natürlich sind sie neugierig und treiben sich in der Nähe des Lagers herum.

In der Zeit des Umzugs nach Tuttlingen ist Gudrun Ensslin fast acht Jahre alt. In diesem Alter können Kinder gerade lesen und schreiben, registrieren immer wacher, was um sie herum geschieht, tollen aber natürlich auch immer noch begeistert im Freien herum. Gudrun arbeitet gern mit dem Kopf, das zeigt sich schon früh. Sie ist von Anfang an eine gute Schülerin. Und sie gibt offensichtlich den Ton an, unter den Geschwistern ebenso wie im Kreis ihrer Freundinnen. Ihre Mutter nennt sie in einem Radio-Feature von Margot Overath einen »totalitären Charakter gegenüber den andern Geschwistern«.28 Die Wahl eines derart harten Ausdrucks zur Charakterisierung einer Tochter durch ihre Mutter befremdet und wirft vor allem ein Licht auf Ilse Ensslin selbst. Das Forsche, andere Menschen Herausfordernde, was sie vielleicht bei dem einen oder anderen ihrer Kinder, zum Beispiel eben bei Gudrun, feststellt, scheint ihr eher fremd zu sein. Und tatsächlich beschreiben sie Menschen aus der direkten Umgebung der Ensslins als sehr zurückhaltend. Sie habe sich vor allem um einen reibungslosen Ablauf des Familienalltags gekümmert. Außerdem wird betont, sie habe ihre Kinder und deren Freundinnen und Freunde immer wieder zu sanften, »schönen Spielen« aufgefordert. Aber das ist durchaus normal für diese Zeit und entspricht voll und ganz dem herrschenden Erziehungsideal. Kinder sollen sich gesittet benehmen, sauber und ordentlich aussehen, wenn sie Pfarrerskinder sind allemal. Der Blick freundlich, die Hände gehören aus den Taschen, gegrüßt wird gut hörbar. Nichts ist in diesen ersten Nachkriegsjahren mehr gefragt, als dem Alltagsleben den Anschein von harmonischer Normalität zu geben.

Ilse Ensslins Äußerungen in diesem Interview zeigen, wie sehr sie geprägt ist von den Erfahrungen, die sie mit Gudrun in den späteren Jahren gemacht hat. Sie argumentiert aus einer großen Verbitterung heraus und sucht nach Gründen, wieso diese Tochter eine Terroristin wurde. Offenbar ist sie der Meinung oder hält sich schlicht fest an der These, wonach gewisse Charaktereigenschaften für eine solch fatale Entwicklung verantwortlich gewesen sein müssen, die sie bereits in der Kindheit bemerkt haben will. Dennoch: Das Wort »totalitär« als Charakterisierung eines Kindes scheint doch eine heftige begriffliche Entgleisung zu sein. Als wüsste Ilse Ensslin nicht wirklich, was sie damit ausdrückt. Überraschend ist dies vor allem auch, weil Gudrun Ensslins Freundinnen und Freunde aus der Tuttlinger Schulzeit allesamt ein ganz anderes Bild von ihr zeichnen: Heiter sei sie gewesen, offen, vital und überhaupt das fröhlichste der Ensslin-Kinder. Niemand habe sich von ihr drangsaliert oder bevormundet gefühlt.

Seit 1946 hat das Freibad in Tuttlingen wieder geöffnet, Mitte des Jahres 1948 kommt zum ersten Mal nach dem Krieg ein Zirkus in die Stadt und im Lokalteil der Zeitung ist das Kinoprogramm nachzulesen. So etwas wie ein normales soziales Miteinander, ein kulturelles Leben, scheint also zunehmend möglich. Ebenfalls Mitte 1948 tritt die Währungsreform in Kraft, es gibt keine Lebensmittelkarten mehr. Zwar ist ungewiss, was kommen wird, aber ein kleines Fenster in eine unbeschwerte Zukunft scheint sich geöffnet zu haben. Dennoch: Tuttlingen hat 675 Gefallene zu beklagen. Außerdem werden 273 Menschen vermisst und etwa 67 wurden Opfer von Bombenangriffen. Und so kann es geschehen wie in Gerlind Reinshagens Gedicht Nachkrieg: »Das noch immer / Helle Fenster gegenüber / Bezeugt – unverborgen – / Die Ruhe der Nacht / Nur der verschollene Freund / Heute plötzlich an der Straßenecke / War eine Sinnestäuschung / Im Gegenlicht.«29 So muss man sich die Gefühlslage der meisten Leute vorstellen. Fast jeder hat einen oder mehrere Freunde oder Verwandte verloren oder wartet auf einen Vermissten. Trotzdem oder gerade deswegen wollen die Menschen leben, sich erfreuen können an den einfachen Dingen. In dieser widersprüchlichen Phase also – nicht mehr Krieg, aber auch noch nicht ganz Frieden, weniger von Vergessen bestimmt als von Verdrängung – kommt Gudrun Ensslin nach Tuttlingen und besucht dort zunächst altersentsprechend die Grundschule.

Die Klassen sind sehr groß, etwa sechzig bis siebzig Kinder. Es gibt strenge Lehrer und Lehrerinnen, die auch Tatzen, also Schläge auf die Handfläche, verteilen. Aber in Gudrun Ensslins Klasse unterrichtet eine sehr freundliche Lehrerin, für die Gudrun und ihre beste Freundin Elisabeth geradezu schwärmen. Elisabeth ist das jüngste Kind der Familie Lachenmann. Ihr Vater, Ernst Lachenmann, hat die Stelle des Dekans in Tuttlingen inne, sie wohnen im selben Haus wie die Ensslins, ein Stockwerk höher. Beide Mädchen sind also Pfarrerstöchter, das schafft eine natürliche Nähe. So kann die Freiburgstraße 44 ein »frommes Haus« genannt werden, zumal meistens auch noch ein Vikar hier untergebracht wird. Es handelt sich zudem um ein äußerst musikalisches Haus, was durchaus nicht untypisch ist für ein protestantisches Pfarrhaus. Sowohl die Ensslins als auch die Lachenmanns musizieren intensiv. Gudrun und ihr Bruder Ulrich spielen Geige, die Mutter Klavier. In der Wohnung steht ein Pianino. Elisabeth Lachenmann hat ebenfalls Geigenunterricht. Und ihr Bruder Helmut ist ein gern gesehener Gast, denn er bedient virtuos das Pianino. Hausmusik findet also auf hohem Niveau statt. Darüber hinaus singen die beiden Mädchen begeistert in der Jugendkantorei. Dazu passt, dass Helmut Lachenmann, wie er im Radio-Feature von Margot Overath von 2005 äußert, Gudrun überhaupt nicht als »verdruckst« in Erinnerung hat, wie viele andere Kinder damals in der schwäbischen Provinz. »Verdruckst« – das ist umgangssprachlich und meint gehemmt, übermäßig schüchtern, mit einem leichten Hang zur Verschlagenheit.

Die beiden Freundinnen gehen auch gemeinsam in die Jungschar, die offen ist für Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren. »Mit Jesus Christus mutig voran!« lautet ihr Leitspruch. Wie viele andere Kinder sammeln die beiden Mädchen für das Müttergenesungswerk, das 1950 von Elly Heuss-Knapp gegründet wird. Es besteht eine Art Wettkampf, wer am Ende die schwerste Büchse hat. Es macht Spaß, durch die Straßen zu ziehen, Leute anzusprechen, zu erleben, wie sie reagieren. Wer geht einfach weiter, wer bleibt stehen? Wer versucht, sich vorbeizumogeln? Als apart und liebenswert wird Gudrun Ensslin von einer Tuttlingerin beschrieben, die gemeinsam mit ihr in der Jungschar war.

Für Elisabeth Lachenmann ist Gudrun Ensslin eine ganz normale Freundin, wie man sie sich in diesem Alter wünscht. Auch in der Wohnung der Ensslins bewegt sich Elisabeth Lachenmann gern, empfindet die familiäre Atmosphäre als warm, offen und gastfreundlich. An den Wänden hängen Zeichnungen der Kinder. Ein Erlebnis prägt sich ihr besonders ein: Eines Tages, als die beiden Mädchen sich in der Wohnung der Ensslins aufhalten, verbrennt sich Ilse Ensslin sehr heftig beim Bügeln. Sie muss weinen, da eilt ihr Mann ins Zimmer, nimmt seine Frau in den Arm und tröstet sie. Eine solche Geste der Zärtlichkeit, noch dazu vor einer »Fremden«, ist eigentlich sehr untypisch für damalige Verhältnisse. Es ist nicht üblich, dass Eltern vor ihren Kindern oder gar vor Gästen Zärtlichkeiten austauschen. Um Pfarrer Ensslin von dieser warmen Seite zu erleben, muss man die Familie gut kennen. Denn in der Öffentlichkeit wirkt er eher abweisend. Allein schon sein asketisches Äußeres hinterlässt den Eindruck von Kühle und Angespanntheit. Manch ein Gemeindemitglied schätzt zwar seine intelligenten, anregenden Predigten, Helmut Ensslins seelsorgerisches Engagement aber wird als mittelmäßig eingestuft. Auch als Religionslehrer macht er keine wirklich gute Figur. Und im Konfirmandenunterricht soll er ziemlich unnachgiebig sein, sobald ein Kind ihm allzu »aufmüpfig« erscheint. Helmut Ensslins künstlerische Ambitionen werden von seiner Frau recht kritisch betrachtet, ist sie doch der Meinung, er solle sich intensiver um seine Gemeinde kümmern. Stattdessen werden im Tuttlinger Pfarrhaus Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann und Martin Niemöller empfangen. Heinemann tritt 1950 aus der CDU aus und gründet die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Sowohl Heinemann als auch Niemöller wehren sich gegen die Wiederbewaffnung der BRD. Dieser Meinung ist auch Gudruns Vater, diesen Menschen fühlt er sich weltanschaulich und politisch verwandt. Das einseitige Bild des strengen evangelischen Pfarrers passt also nicht zu Helmut Ensslin. Vielmehr ist er ein vielschichtiger Charakter, nicht einzuordnen, ein wenig verrückt, verwegen sogar, wie er mit dem Motorrad durch Tuttlingen fährt. Charismatisch wird er genannt, inspirierend, die Familie dominierend. Er hat den Wunsch, Begabungen auszuleben, die er in seinem Beruf nicht unbedingt braucht. Manche Leute befremdet das, es passt nicht zu dem Bild, das sie von einem Pastor haben. Andere finden gerade diesen Charakterzug beeindruckend.