Als habe ich zwei Leben - Brigitte Reimann - Ingeborg Gleichauf - E-Book

Als habe ich zwei Leben - Brigitte Reimann E-Book

Ingeborg Gleichauf

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Beschreibung

Sie ist eine der wichtigsten deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. Doch die Frau Brigitte Reimann ist nicht losgelöst von der Schriftstellerin zu betrachten. Beim Lesen ihrer Werke, Tagebücher und Briefe wird schnell klar, wie facettenreich sie war. Sie kann eine Prosa­architektin genannt werden, und ihr Schreiben entzieht sich jedem einfachen biografischen Erzählen. Vielmehr gilt es, die Unentwirrbarkeit der Beziehung von Leben und Schreiben, die Erzählebenen und Bewusstseinsschichten innerhalb ihres Werks zu beleuchten. Reimann erschließt sich Räume und bevölkert sie mit Menschen, die sie mit Biografien ausstattet, die Brüche aufweisen, Männer und Frauen, die in ausweglose Situationen geraten und um ihr Leben sprechen, wie auch die Schriftstellerin selbst um ihr Leben schreibt, das sie provisorisch nennt, und das viel zu früh endet. Ingeborg Gleichauf erzählt von der Sprachwelt Brigitte Reimanns, die ihr Zuhause nirgendwo hat und doch in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft angesiedelt ist.

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Ingeborg Gleichauf, geb. 1953, veröffentlichte zahlreiche Bücher über Philosophinnen und Schriftstellerinnen, darunter Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Ingeborg Bachmann und zuletzt Gertrud Kolmar. Im Mitteldeutschen Verlag erschienen von ihr Bücher über Martha Nussbaum und Simone Weil.

1. Auflage

© 2024 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werks insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen auch für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen und strafbar.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: Brigitte Reimann in ihrer Wohnung in Hoyerswerda,

1962 (© bpk/Gerhard Kiesling)

ISBN 978-3-96311-974-3

Für Eberhard

Inhalt

Brigitte Reimann lesen

Ich wusch und plättete und las einen ganzen Zola-Roman aus.

Lektüren

Zwei oder drei Jahre, eher bekomme ich doch keinen Wagen.

Brigitte Reimanns frühe Prosa

Du, ich freue mich auf Dich.

Freundschaften

Mein mieses provisorisches Leben

Die Briefe- und Tagebuchschreiberin

Vielleicht treibt mich die Leidenschaft, Geschöpfe zu machen, Menschen zu formen?

Die Menschenbeobachterin und Figurenzeichnerin

Ich glaube beide zu lieben, und vielleicht sind mir beide im Tiefsten gleichgültig.

Die Männersammlerin

Ich bin todkaputt und weiß nicht, wo mir der Kopf steht.

Körperwelten

Das Buch ist noch nicht einmal fertig, und schon hat man das Verdammungsurteil gefällt.

Schreiben in der DDR

Und vielleicht sind in meinem Buch drei schöne Sätze, ein neuer Gedanke, um den es schade wär.

Franziska Linkerhand

Kein Wunder, daß ich mit dem Roman nicht fertig werde; der besteht auch bloß aus Abschweifungen.

Erstaunliche Ausblicke

Anmerkungen

Biografie Brigitte Reimann

Literaturverzeichnis

Brigitte Reimann lesen

Ach, es geht nicht voran mit der Kleinen, sie wird aggressiv aus Hilflosigkeit (weil man von ihr nicht fordert, was ihrem Anspruch an sich selbst und ans Leben nahekäme), und alles, was sie bisher erreicht hat, ist ein Kuß ihres Liebsten, den sie sich erfunden hat, der aber existiert.1

Was für ein Satz. Unausdenkbar, wo er hinführt, wo er herkommt. Er steht in einem der ersten Briefe von Brigitte Reimann an Christa Wolf, geschrieben am 29. Januar 1969. Und führt mitten hinein in die Schreibexistenz Brigitte Reimanns. In die Unentwirrbarkeit der Beziehung von Leben und Schreiben, diese seltsame Art von Doppelt-Sein, von der Reimann immer wieder schreibt, über die sie lebenslang nachdenkt.

Die „Kleine“, das ist Franziska, die Protagonistin von Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“. Reimann hat zu dieser Zeit den Eindruck, überhaupt nicht voranzukommen mit dem Buch, sie zweifelt an sich, ist unsicher. Eine Situation, die sich in ihrem Schriftstellerinnendasein immer wieder einstellt, in ihren letzten Lebensjahren auch bedingt durch ihre schwere Krebserkrankung. Brigitte Reimann zu lesen, heißt auch, die Pausen, die Blockaden, die Momente von Leere mitzulesen. Reimanns Schreibprozess ist nicht kontinuierlich, er hat mit Brüchen, sogar Abbrüchen zu kämpfen. Dennoch stellt sich beim Lesen eine atemlose Spannung ein und der Wunsch, den Antrieben dieses Schreibens näher zu kommen.

Meine ersten Leseerlebnisse Brigitte Reimanns waren der Briefwechsel mit Christa Wolf und der unvollendete Roman „Franziska Linkerhand“. Bei beiden Büchern hatte ich sofort die Ahnung, dass mit dieser Lektüre eine unendliche Lese-Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Eine Art Reimann-Lesehunger stellte sich ein. Seite für Seite, Buch für Buch, ja Satz für Satz wurde ich hineingezogen in eine Welt, die ich einerseits kenne und die mir andererseits nun wieder wie ein unbekanntes Land vorkam: die Welt bedeutender moderner Prosa. Ich konnte nicht mehr aufhören und musste einfach alles lesen, was es von Brigitte Reimann an Veröffentlichungen gibt. Zum Glück sind im Lauf der Zeit weitere Veröffentlichungen hinzugekommen sowie auch Neuauflagen ihrer Romane, Briefe und Tagebücher.

In den oben genannten Briefen an Christa Wolf spricht Reimann davon, dass sie das dauerhafte Gefühl habe, provisorisch zu leben. In diesem Januar 1969 wohnt und arbeitet Reimann inzwischen in Neubrandenburg, ist aber noch immer nicht angekommen an einem Ort, den sie Heimat nennen könnte. Das meint für sie, provisorisch zu leben. Es gibt keine Sicherheit, keinen Grund, auf dem man stehen könnte. Wer provisorisch lebt, ist unterwegs zu unbekannten Orten, schlägt nicht irgendwann Wurzeln für immer.

Im gleichen Brief schreibt Reimann: Tagsüber ist – nun eben Tag, man schreibt, interessiert sich mehr für die Kümmernisse seiner Romangeschöpfe als für die eigenen, …2 Man schreibt, nicht: Ich schreibe. Eine Schriftstellerin schreibt an eine andere Schriftstellerin. Sie kann nicht wissen, ob sie verstanden wird, aber es ist immerhin wahrscheinlich, dass die beiden sich über ihr Tun erkennen, das ein Spiel ist aus Wirklichkeit und Erfindung, erfundener Wirklichkeit, wirklicher Erfindung und das tägliche Ringen um die richtigen Worte. Reimann vertraut Christa Wolf, sieht in ihr wie viele andere, Kolleginnen, Kollegen, Leserinnen, Leser, eine große Schriftstellerin. Anfang 1969 ist Reimann bereits schwerkrank, der Krebs erobert sich ein Organ nach dem anderen, sie hat unerträgliche Schmerzen, Todesangst. Die Krankheit ist keine Erfindung, lässt sich nicht literarisieren. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Briefwechsel mit Christa Wolf: Schreiben und Krankheit, Literatur und Krebserei.

Auf den Einbänden der Tagebücher Brigitte Reimanns wird geworben mit Zitaten, von Kritikern, aus Zeitungen, die vor allem von der leidenschaftlichen Frau, der Sehnsucht nach Liebe, von einem gelebten Liebesroman, einem Lebensroman, von Sinnlichkeit sprechen. All das lässt sich finden in den Tagebüchern, aber sie sind viel mehr, sonst wären es schließlich nicht die Tagebücher einer Schriftstellerin. Ich lese über die verdammte Arbeit, darüber, dass Brigitte Reimann sich krank und hysterisch fühlt, wenn sie nicht arbeitet, dass die Arbeit ihr letztlich mehr bedeute als jeder Mann. Sie beschreibt ihr Leiden an der Zensur, die permanent eingreift in den Schreibprozess und es der Schriftstellerin unendlich schwer macht, sich in ihrer Arbeit nicht der Propagierung und Lobsingung einer bestehenden Ordnung zu unterwerfen. Reimann schreibt auch über ihre vielfältigen Lektüren und über die Angst, nie eine gute Schriftstellerin werden zu können. Sie denkt darüber nach, was genau unter dem neuen Helden verstanden werden kann, den die DDR hervorbringen soll, auch unter Mithilfe ihrer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sie protestiert gegen die Vorstellung, dass ein Roman eine Fabel haben müsse. Diese erscheint ihr künstlich, zu klar in einer unklaren Gesellschaft. Es geht um Wirklichkeit und Erfindung, die Begegnungen mit echten Menschen und den Wunsch, Menschen zu formen, Figuren zu erfinden, zu entwickeln.

Die Person, die Frau Brigitte Reimann ist nicht losgelöst von der Schriftstellerin Brigitte Reimann zu betrachten. Beim Lesen der Werke, Tagebücher und Briefe Brigitte Reimanns wird sehr schnell klar, mit welch komplexer, spannender, facettenreicher Schriftstellerin wir es zu tun haben. Über Brigitte Reimann zu schreiben, heißt schreiben über die Erfahrungen mit ihren Texten. Ihr Leben entzieht sich jedem einfachen biografischen Erzählen. Vielmehr muss es um ein Beleuchten von Erzählebenen, von Bewusstseinsschichten gehen. Brigitte Reimann kann eine Prosaarchitektin genannt werden. Sie erschließt sich Räume und füllt sie, bevölkert sie mit Menschen, die sie mit Biografien ausstattet, die allesamt Brüche aufweisen, in denen es katastrophische Momente gibt, auch ausweglose Situationen, die um ihr Leben sprechen, wie die Schriftstellerin um ihr Leben schreibt, bis es viel zu früh endet.

So geht dies Buch davon aus, dass eine Biografie Brigitte Reimanns nicht zu schreiben ist und schon gar nicht Die Biografie. Was bleibt, sind Erkundungsversuche, Spuren in eine spannende, rätselhafte Sprachwelt, die ihr Zuhause nirgendwo hat und doch in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft angesiedelt ist.

„In Pariswäre Juliens Verhältnis Frau de Renal gegenüber sehr rasch einfacher geworden. Aber in Paris ist die Liebe eine Frucht der Romanlektüre. Der junge Hauslehrer und seine schüchterne Herrin hätten in drei, vier Romanen und sogar in den Couplets der Operetten die nötige Aufklärung über ihr Verhältnis gefunden. Die Romane hätten ihnen ihre Rollen zugewiesen, sie hätten ihnen ein Vorbild gezeigt, dem sie nachleben konnten. Und früher oder später hätten Geltungsbedürfnis und Eigenliebe Julien gezwungen, diesem Vorbild nachzuleben, wenn auch ohne große Lust und vielleicht sogar widerwillig.

(Stendhal: Rot und Schwarz)

Ich wusch und plättete und las einen ganzen Zola-Roman aus.

Lektüren

Am Anfang war das Lesen und es blieb. Irgendwann kam das Schreiben hinzu.

Es beginnt in der Kindheit. Mit acht oder neun Jahren soll Brigitte Reimann bereits Shakespeare gelesen haben, berichtet die Reimann-Biografin Dorothea von Törne. Sie zitiert Reimanns Bruder Ludwig.

Anfang Dezember 1962 schreibt Brigitte Reimann in ihr Tagebuch, sie lese begeistert Rousseaus „Bekenntnisse“. Die ersten Tage lief ich wie verrückt und verzaubert herum, und bis heute kann ich mir nicht die Wirkung des Buches auf mich erklären, nicht durch seine beklemmende Ehrlichkeit, die Größe und Kleinheit des Mannes R. gleichermaßen spiegelt, nicht allein durch seine Leidenschaft und Herzenseinfalt, seine tiefe Beziehung zur Natur (habe ich jemals Schilderungen einer Landschaft mit soviel Spannung gelesen?), ich weiß nicht, ich weiß nur meine tiefe Anteilnahme und die Begier auf seine Werke …3 Reimann liest nicht mit dem analysierenden Blick. Sie lässt sich hinreißen, verzaubern, gibt sich der Rätselhaftigkeit eines Textes hin. Es bleibt nicht bei Rousseau. Reimann ist der Meinung, nun könne sie auch erstmals Flauberts „Erziehung der Gefühle“ würdigen. Und endlich lese sie auch Tolstoi und Stendhal und Turgenjew. Warum lerne ich dies alles erst mit 29 Jahren kennen? Gott, was habe ich mir entgehen lassen.4

Sie fühle sich bestärkt in ihren Gedanken über die Erzählkunst der vergangenen Jahrhunderte. Reimann ist der Meinung, sie sei, was Literatur betrifft, eher konservativ. Sie schwärmt von der Prosa der Russen und Franzosen. Gegen neuere Tendenzen in der erzählenden Literatur wehrt sich Reimann zu dieser Zeit noch. Bezüglich Günther Grass schreibt sie von Auflösung und Zerfall. Die Sprache in der Neuen Literatur findet sie hektisch oder primitiv. Interessant ist, dass sie ein paar Zeilen weiter von einem Termin im Zentralkomitee mit Walter Ulbricht schreibt, wo weitere DDR-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller anwesend sind, um über Kultur zu beraten. Es geht also um Kunst im weiteren und näheren Sinn und Reimann kritisiert im Anschluss an eine Rede von Ulbricht, dass der Roman offenbar ein Lehrbuch der Ökonomie ersetzen solle, statt weltoffen zu sein. Ihr Fazit des Tages: Man sollte nicht mehr reden oder Reden hören, sondern unbeirrt schreiben.5

Brigitte Reimann ist von Jugend an eine leidenschaftliche Leserin, sie liest Bücher mit Kopf und Körper. Im März 1966 schreibt sie in ihr Tagebuch, sie habe wochenlang Thomas Mann gelesen, zuerst den „Dr. Faustus“, der sie zu Tränen gerührt habe und im Anschluss noch zwei Briefbände. Sie könne über nichts anderes mehr sprechen. Reimann schreibt sogar von einer Manie. Dass einer seine Genialität erkauft mit einer unheilbaren Seuche: Adrian Leverkühn, genialer, mit dem Syphilis-Virus und der Sucht nach Musik infizierter Künstler. Der unauflösbare Zusammenhang von Krankheit und Kunst ängstigt und fasziniert die junge Schriftstellerin.

An ihren Freund Hermann Henselmann schreibt sie am 17. Dezember 1964: Wenn ich in den Himmel komme, wünsche ich mir nur eine Wolke, auf der ich in Ruhe schmökern kann, und hunderttausend Bücher ringsum.6 Ebenfalls an Henselmann schreibt sie über ihre Verehrung Nabokovs. Er sei ein Sprachmagier, „Lolita“ sei ein Skandal, aber bezaubernd. Die Mischung aus russisch und parieserisch fasziniert sie. Reimann findet in ihrem Sprechen und Schreiben über Literatur eigene Worte, um auszudrücken, was einzelne Bücher oder Autoren und Autorinnen für sie bedeuten. Sie liest und übersetzt die Leseerfahrungen in ihre eigene Sprache.

Von Thomas Mann kennt sie auch „Der Zauberberg“ und „Lotte in Weimar“. Sie berichtet Henselmann, sie habe „Roman eines Romans“ zu „Dr. Faustus“ gelesen, worin Mann über das Erfinden von Figuren reflektiere. Aber kann man eigentlich von „Erfundenem“ sprechen, da doch nichts in uns ist, was wir nicht von außen aufgenommen haben? Mir fällt auf, daß der phantasievollste Utopiker nicht imstande ist, wirklich verblüffende Sternenbewohner zu erfinden; sie mögen noch so abstrus aussehen, mit fünf Füßen und Antennen-Ohren, – sie sind immer „bekannt“, zusammengestückelt aus Dingen, die es bei uns auf der Erde gibt.7 Reimann liest immer auch mit Blick auf das Schreiben, ihr eigenes Schreiben hin. Die Problematik des Erfindens von Figuren beschäftigt sie nachhaltig, vom Beginn ihres Schreibens an. Ob es überhaupt möglich ist, sich unabhängig zu machen von Erfahrungen in der äußeren Wirklichkeit? Ganz offensichtlich nicht.

Zu Reimanns Lieblingsautoren gehört Emile Zola. Mit Zola könne sie einen ganzen Tag auf der Couch liegend verbringen. Brigitte Reimann bekommt in den Romanen Zolas Szenen, gesellschaftliche Umstände, persönliche Erfahrungen der Figuren geschildert, die sie kennt oder, wie sie schreibt, lesend vorwegnimmt. Auch Sartre, Leduc, Vailland und de Beauvoir finden sich in Reimanns Lesekanon. Und von Sartre liest sie zum Beispiel „Was ist Literatur“ und zitiert ihn in ihrem Tagebuch am 26. Juli 1963 aus der Stelle, in der es um Stoff und Stil geht, wo er versucht zu verdeutlichen, dass der literarische Stoff sich seine Form sucht. Reimann kann bei Sartre lernen, dass es ganz normal ist, wenn jede Zeit mit ihren stets neuen Ansprüchen des Sozialen und des Metaphysischen neue sprachliche Formen erfordert.

Am liebsten ist es Brigitte Reimann, wenn sie ihre Leseeindrücke mit Freunden teilen kann. Es sei dann, als würde man im Kino sitzen und die Hand seines Nachbarn drücken, schreibt sie an Henselmann. Manchmal dienen Romane oder Erzählungen dazu, sich und anderen eigene Erlebnisse oder Empfindungen plastisch zu schildern und damit nahezubringen. Auf ihrer Sibirienreise kommt es zu einem Herzanfall und Reimann fühlt sich von einer Welle der Fürsorge umgeben und vergleicht in ihrem Tagebuch die Szene, in der Kurt Turba ihr die Hand unter den Kopf legt, mit einer Stelle aus einer Geschichte von Tschechow.

Aber damit nicht genug, vertieft sie sich in die Bibel, in Siegmund Freud, Max Frisch, James Baldwin, Thomas Wolfe, Franziska von Reventlow, André Gide und Franz Kafka. Zu ihren Lieblings-romanfiguren gehören Julien Sorel und Rodion Raskolnikow. Am 20. November 1964 ist im Tagebuch zu lesen: Stendhal widmet 300 Seiten der Eroberung, eine Zeile dem Gelingen.8 Reimann lässt sich inspirieren von männlichen und weiblichen literarischen Gestalten. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 20. Januar 1970, wo sie Zitate sammelt zum Thema Liebe, nennt sie drei Autoren: Alfred Andersch, Platon und Albert Camus. Andersch schreibt, die Liebe in den Büchern sei die Trauer über ihre Abwesenheit. Bei Platon geht es um den Eros, der die Liebe ist zu etwas, das fehlt. Und das Zitat von Camus lautet: Liebe nennen wir das, was uns an bestimmte Personen bindet, nur in Bezug auf eine kollektive Sichtweise, für die die Bücher und Märchen verantwortlich sind. Im Zentrum stehen die Bücher. In ihnen liest man über Liebe als Sehnsucht nach etwas Abwesendem und die Geschichten über Liebe in den Büchern bilden sozusagen das Fundament für die Vorstellungen, die sich Menschen über Liebe machen. Hier ist wieder das von Reimann konstatierte Vorwegnehmen.

Am 20. Januar 1970 schreibt Reimann ins Tagebuch: Ich habe jetzt wieder die Beauvoir gelesen, ‚Lauf der Dinge‘, der dritte Band ihrer Memoiren. Welche politische Engagiertheit! Und wieviel stärker sind Arbeit, Beschäftigung mit Politik, Vaterland, Literatur als die Intimsphäre, wieviel teilnehmender geschrieben! Allerdings, wer für die Öffentlichkeit schreibt, wählt aus und drängt zurück, was für die Öffentlichkeit weniger interessant ist (in so einem Memoirenbuch; im Roman ist das eine ganz eigene Sache). Und gegen Schluß des Buches übermannt sie doch das Persönliche der Tatsache, daß sie altert. Dieser halberstickte Schrei, das Entsetzen über ihr Alter, noch mehr die sanfte, widerstrebende Resignation, hat mich aber genauso erschüttert wie ihr Leiden an Frankreich zur Zeit des Algerienkrieges.9 Bei Simone de Beauvoir erlebt Reimann eine Literatur, die sowohl politische und gesellschaftliche Prozesse als auch persönliche Erfahrungen schildert. Damit kommt etwas zur Sprache, was auch ihre lebenslange Schreibproblematik ausmacht. Brigitte Reimann liest, wie bereits angemerkt, immer auch auf ihr eigenes Schreiben hin, mit dem Blick der Schriftstellerin, intensiv beschäftigt vor allem mit ihrem Roman „Franziska Linkerhand“. Lesen und Schreiben werden eng geführt. Mit dem französischen Realismus setzt sie sich besonders stark auseinander, weil er so gar keine Ähnlichkeit hat mit der Vorstellung realistischen Schreibens in der DDR, wo ihrer Meinung nach das Parteistatut herrscht und die Seele schauen kann, wo sie bleibt. Sie lebt mit den Figuren in den Romanen, die sie liest, wie mit Bekannten oder Freunden und genauso lebt sie mit ihren eigenen Figuren.

Ein weiterer französischer Schriftsteller, der zum reimannschen Kanon gehört, ist André Gide: Ich lese André Gide, die ‚Falschmünzer‘. Begegnung mit Literatur – das hat etwas ungeheuer Erschütterndes, ich kann nur spüren, nicht sprechen, es ist ein Blick in eine Welt, in der sich die Kultur des Westens sammelt, der wir noch nichts entgegenzusetzen haben, ich habe den Eindruck von einem wunderbar verfeinerten Organismus, Psyche wird begreifbar, körperhaft, sie kann seziert werden, und ich sehe die Verästelungen ihrer Fibern.10 Das schreibt Brigitte Reimann am 4. Januar 1962 in ihr Tagebuch und liefert damit einen Beweis für die Bedeutung, die das Körperhafte ihrer eigenen Figuren bereits relativ früh für sie spielt. Dass Psyche sichtbar und fühlbar wird. Die Meisterin der bis ins letzte Detail ausgestalteten Oberfläche findet literarische Vorbilder vor allem in der Literatur des französischen Realismus.

An Irmgard Weinhofen schreibt Brigitte Reimann im Juni 1967, wie schön es wäre, wenn sie ihr „Das Einhorn“ von Martin Walser schicken könne. Sie habe begeistert „Halbzeit“ gelesen und halte Walser für den bedeutendsten Schriftsteller in Westdeutschland. Er habe zwar aus seinem neuen Roman im Rundfunk vorgelesen, aber sie wolle das Buch nun unbedingt auch selbst lesen können. Im August bedankt sie sich bei Irmgard Weinhofen: Natürlich habe ich ihn schon gelesen und finde ihn großartig, aber manchmal bedrückend: er wuchert gar zu sehr mit seinem Pfund, d. h. mit seiner Sprachgewalt, die hier schon stellenweis zur Geschwätzigkeit wird, und er erschwert einem das Verständnis noch dadurch, daß er ganze Seiten in Englisch, Holländisch, Schwyzerdytsch und Mittelhochdeutsch schreibt; auch scheint mir, er war im ersten Band, der ‚Halbzeit‘, politisch engagierter – trotzdem: für mich ist er Nummer Eins unter den deutschen Schriftstellern.11 Brigitte Reimann reagiert also extrem wach auf literarische Neuerscheinungen aus Westdeutschland. Sie schirmt sich nie ab oder konzentriert sich allein auf die Literatur, die in der DDR erscheint, sondern zeigt sich im Gegenteil enttäuscht über die Flaute innerhalb der DDR-Literatur. Dabei ist sie eine sehr genaue, kritische Leserin, was das Beispiel Martin Walser wunderbar aufzeigt.

Aber natürlich liest Reimann auch die Bücher, die in ihrem Land geschrieben werden, auch wenn sie konstatiert: Unsere Literaturdiskussionen strotzen vor den abscheulichsten, schlimmsten Mißverständnissen. Die Autoren denken nichts zuende. Ich möchte lernen unabhängig zu sein, und mich auszudrücken, den verdammten inneren Zensor, den man uns so geschickt eingebaut hat (Rücksichten um der SACHE willen) auszurotten.12 Hermann Kant hält Reimann für einen glänzenden Kopf, und seinen Roman „Die Aula“ nennt sie einen großen Männerspaß. Bei einer der ersten Begegnungen mit Günter de Bruyn hat Reimann das Gefühl, auf derselben Welle zu senden. Über Anna Seghers, die sie im Frühjahr 1961 herrlich nannte, und im Februar 1962 groß und angebetet, schreibt sie am 27. Mai 1965, ihre Geschichten der letzten Jahre habe sie kalt und klassisch gefunden. In Hoyerswerda lernt Reimann den ganz jungen Volker Braun kennen und schreibt über ihn, er scheine begabt zu sein. Mit Reiner Kunze verbindet sie eine innige Freundschaft. Und wie sensibel Reimann in der Beurteilung literarischer Werke ist, zeigt ihre Meinung zum Schreiben Johannes Bobrowskis, der leider stirbt, kurz bevor eine Begegnung mit ihm stattfinden soll. Im April 1964 schreibt sie an Henselmann und fragt, ob er Bobrowskis Buch gelesen habe. Es sei wahrscheinlich eins der wenigen Bücher, die die nächsten fünfzig Jahre überdauern würden. Sie nennt ihn einen großen Dichter und notiert nach seinem frühen Tod im September 1965: Johannes Bobrowski ist gestorben. Ein schrecklicher Verlust.13

Ein besonderes Leseerlebnis für Brigitte Reimann ist das Buch „Nachdenken über Christa T.“, das ihr Christa Wolf im März 1969 zuschickt. Ich lese und lese, schrecklich aufgeregt, was Du vielleicht verwunderlich und übertrieben findest, weil es für Dich nicht mehr so unmittelbar Gegenwart und Neuigkeit ist. Jetzt, bei Seite 102, habe ich erst mal aufhören müssen, weil da eine Szene auf mich zukommt, die ich kenne, vielmehr kennen könnte, wäre ich ihr nicht – wegen Selbstschutz – ausgewichen. Wie stark einen das angeht.14 Auch an Irmgard Weinhofen schreibt Reimann über dies Buch von Christa Wolf und dass sie das Gefühl habe, es gehe sie persönlich besonders stark an. Außerdem bedauert sie, dass der Verlag nur eine Auflage von 3000 Exemplaren gedruckt habe. Bevor sie im Mai 1969 auf den Schriftstellerkongress gehen wird, schildert sie der Freundin ihre Bedenken darüber, dass ganz oben auf der Liste der kritisierten Bücher Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ stehe, und zwar wegen Pessimismus, Skeptizismus, Resignation – kurzum: eine falsche, wenn nicht feindliche Ideologie.15 Es sei eine traurige Geschichte, weil es eben traurig sei, wenn jemand so jung sterbe, aber sie selbst könne keine pessimistische Lebenshaltung herauslesen. Aus dieser bedrückenden Tatsache einer letztlich lebensfeindlichen Ideologie heraus ergibt sich für Brigitte Reimann die Frage, ob denn in der herrschenden Gesellschaftsordnung der Tod nicht mehr gültig sei. Überhaupt ist Christa Wolf für Brigitte Reimann nicht nur eine treue Freundin, sondern auch eine sehr bewunderte Schriftstellerin! Am 18. März 1972 schreibt Reimann an Wolf, dass sie nun endlich ihren Aufsatz „Lesen und Schreiben“ erhalten habe. Das Manuskript kenne sie ja und was sich alles unverlierbar eingeprägt habe. Besonders gefällt ihr der Text mit der Überschrift „Medaillons“. Es geht darin um verhärtete Erinnerung und wie diese wieder flüssig gemacht werden kann für das Spiel mit den Möglichkeiten. Jeder Mensch trägt eingekapselte Lebensflecken mit sich herum. An ihnen arbeitet die Sprache sich ab. Auf der Suche nach ihnen taucht sie ab in Regionen, die zunächst unergründlich schienen. Sich-Erinnern ist gegen den Strom schwimmen, wie schreiben – gegen den scheinbar natürlichen Strom des Vergessens, anstrengende Bewegung.16 Und später heißt es über den Erzähler: Er entschließt sich, zu erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.17 Literatur also als eine Art wahrheitsgetreues Erfinden. Auch Christa Wolfs Auslassungen zu Dostojewskis „Raskolnikow“ machen großen Eindruck auf Brigitte Reimann. Wolf erzählt, wie sie selbst sich in Leningrad an den Orten bewegt hat, an denen der Roman spielt. Dieser Weg führt schließlich in die Kammer des Mörders, die auch die Kammer seines Erschaffers ist. Tiefer, unheimlicher kann die Verquickung von „Stoff“ und „Autor“ nicht sein. Erst aus dieser Verquickung geht ein Drittes hervor, die neue Realität des Buches, die „wirkliche“ Häuser, Straßen, Wohnungen und Treppen mühelos mit sich führt, aber natürlich des Beweises, daß eben diese Häuser und Kämmerchen genau so vorhanden sind, wie sie beschrieben wurden, keineswegs bedarf.18 Es geht um Literatur und Wirklichkeit, die, so will es Christa Wolf uns sagen, im Bewusstsein des Autors verschmolzen sind. In genau diesem Punkt begegnen sich die beiden Schriftstellerinnen.

Wie vielschichtig der Lesegeschmack Brigitte Reimanns ist, zeigt auch ihre Vorliebe für Ernest Hemingway und hier besonders für dessen Roman „Der alte Mann und das Meer“.