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Wenn der Himmel plötzlich auf die Erde kommt
Geschichten und Gedichte zum Freuen und Staunen
Das E-Book Wenn der Himmel plötzlich auf die Erde kommt wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Wenn plötzlich im Alltag Außergewöhnliches geschieht, Mitten im menschlichen Alltag bricht eine neue Dimension der Hoffnung auf, Spannungs- und einfühlsame Geschichten über besondere Augenblicke im Leben, Diese Gedichte und Geschichten eignen sich auch gut zum Vorlesen in Gruppen und Kreisen, Das Buch will sensibilisieren für die alles verwandelnde Macht Liebe
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Seitenzahl: 90
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Wenn sich Menschen einander in Liebe zuwenden, ereignet sich Erstaunliches, wie es die Menschen, von denen hier erzählt wird, erleben:
Sei es auf dem Riesenrad hoch über einem Weihnachtsmarkt, sei es bei dem Versuch zweier Jungen, miteinander Freundschaft zu schließen, sei es bei der Wiederbegegnung mit der Jugendliebe nach halben Leben oder bei dem Einsatz der Heilsarmee am Heiligen Abend und bei vielen anderen Gelegenheiten.
Im freien Fall geborgen
Wintersonnenstrahlen
Ganz plötzlich war sie da
Traumdeutung
Der Siegesheld
Der Weihnachtsmarkt
Beinahe eine Freundschaft
Advent heißt Ankunft
Sie hatten keinen Raum in der Herberge
In einem Augenblick verwandelt
Das „zweite“ Weihnachten
Ein Wort gibt das andere
Was für ein Weihnachten wird es werden?
Die wunderbare, himmlische Weihnachts-Cloud
Leben nach Gottes Weise
Die letzte Posaune
Der Heimweg
Das neue Lied
Eine Geschichte zum Freuen und Staunen: Die Weihnachtsgeschichte
In diesem Jahr ließ es der Herbst langsam angehen, die Bäume und Sträucher verloren ihre Blätter nur unwillig, der Sommer war feuchter und kühler gewesen als in den Jahren zuvor, sie hatten noch genug Saft und Kraft in sich und wollten den Kampf noch nicht aufgeben.
Das ist doch ein Zeichen, dachte Manuel, der an seinem Schreibtisch saß und durch das Fenster seines Arbeitszimmers hinaus in das grün-gelbe Blattwerk der Birken und Haselnusssträucher in seinem Garten sah.
Es ging auf den ersten Adventssonntag zu, er konnte sich nicht erinnern, dass sich die Natur in einem Jahr schon einmal so verspätet hatte.
Es gibt eben keinen ein für alle Mal und für alle gültigen Plan des Alterns, stellte er fest. Auch ich fühle mich nicht wie in den Siebzigern, es war genauso, wie er es früher selber bereits vielen älteren Menschen gesagt hatte: man ist so alt, wie man sich fühlt, und es kommt nicht darauf an, wie alt man ist, sondern wie man alt ist.
Aber wie fühlte er sich, wie sollte er sich fühlen? im Augenblick schien ihm sein Leben seltsam unwirklich, wie im freien Fall, immer mehr wurde ihm klar: Sein Halt war sein Beruf als Psychologe und Psychotherapeut gewesen.
Nun war er bereits seit einigen Jahren in Rente, aber noch immer litt er unter einem Gefühl der Leere, die er in der Zeit seiner Berufstätigkeit durch eben diese gefüllt hatte – wie sehr er durch diese auch in seine eigene Seele und nicht nur in die seiner Patienten hineingewirkt hatte, wurde ihm nun immer klarer.
Wie sollte er diese Leere füllen? Und war sie der Anfang vom Ende nicht nur seines Berufslebens, sondern seines Lebens überhaupt?
Manchmal, wenn er eine Weile in sich hinein hörte und sah, dass es das Leben gab in einem Reichtum, wie er ihn bisher nicht geahnt, geschweige denn erfahren hatte. Es ging dabei weniger um das Gegenständliche, das er sah, um das Geschehen, das er erlebte, als um die Weise, wie er alles erlebte, ein wenig war es wie im Traum, aber doch wiederum ganz anders, alles, was er sah und empfand, war noch viel leichter und schöner als im Traum.
Es schien ihn selbst zu verwandeln, ja aufzulösen in eine andere Existenzform hinein, die seltsam fließend und durchscheinend war, ein Fühlen, das nicht mehr auf äußerliche Eindrücke angewiesen war, sondern sich aus Innenwelten speiste, die keine Festigkeit und Gegenständlichkeit mehr kannte, sondern nur noch ein einziges Sehnen in das Unwirklich-Übersinnliche war.
X
„Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause komme“, sagte er und sah Manuel, seinen Therapeuten, dabei ratlos an wie ein Kind seine Mutter.
„Wie haben Sie denn den Weg zu mir gefunden“, fragte Manuel ihn. Er kannte Reisinger etwa seit drei Jahren, damals war er ihm als Alzheimerpatient von einem Kollegen überwiesen worden. Nun stand er vor seiner Haustür und wollte eigentlich gar nicht zu ihm, sondern nach Hause, aber er wusste nicht mehr, wo es war.
„Ich weiß nicht“, antwortete er und sah Manuel hilflos an. „Wissen Sie es? Ich stand einfach plötzlich hier vor Ihrem Haus“. Sein Unterbewusstsein musste Reisinger zu ihm geleitet haben, es funktionierte offensichtlich noch besser als sein Bewusstsein.
„Ich werde ihre Frau anrufen“, sagte Manuel. „Sie wird sie abholen“.
Reisinger, ehemals ein rüstiger Mann in den Fünfzigern, der mitten im Leben stand, hatte nicht nur sein Gedächtnis verloren, nein, mit ihm sich selbst. Und darunter litt nicht er, sondern seine Frau am meisten.
Während seiner psychotherapeutischen Behandlung hatte sich Manuel immer wieder auch grundsätzliche, philosophische Fragen gestellt wie die nach dem „Ich“ eines Menschen, was es denn überhaupt sei, was es ausmache, was zu ihm notwendig gehörte und was hinreichend war, auf jeden Fall gehörten die Erfahrungen eines Menschen, seine Lebensgeschichte und deren Erinnerung dazu. War ein Mensch von diesen Erfahrungen, von seiner Vergangenheit abgeschnitten, gab es keine Zukunft für ihn und auch die Gegenwart verlor sich für ihn in einen immer wieder entschwindenden Punkt, der sich in nichts auflöste.
„Meine Frau?“, fragte Reisinger. Es war offensichtlich, dass er sich im Augenblick an seine Frau, mit der er dreißig Jahre verheiratet war, nicht mehr erinnerte.
„Ich habe ihm gerade die Wäsche zum dritten Mal zusammenlegen lassen, um ihn zu beschäftigen“, klagte Frau Reisinger am Telefon, als Manuel sie jetzt anrief. „Aber plötzlich war er dann weg“.
„Er ist bei mir“, sagte Manuel. „Sie können ihn abholen“.
Er bewunderte Frau Reisinger, sie ertrug die Krankheit ihres Mannes mit erstaunlicher Geduld und Leidensbereitschaft, allerdings kam auch sie ab und zu an ihre Grenze. Einmal hatte er die Herdplatten angestellt und diese Tatsache vergessen, der Brandgeruch war bis ins Treppenhaus gezogen ehe sie selbst es bemerkt hatte, die anderen Hausbewohner hatten sich beschwert, sie fürchteten um ihre Sicherheit, „eines Tages wird er noch das ganze Haus in Brandt stecken“, wurde ihr vorgehalten und sie solle ihren Mann in ein Heim zu geben, aber dies kam für Frau Reisinger nicht in Frage: „Ich habe ihm ewige Treue geschworen, ihn in Freud und Leid nicht zu verlassen, das kann keiner von mit verlangen, ihn wegzugeben, das verstehen Sie doch“, hatte sie Manuel erklärt und dieser hatte genickt, ihren Mann „wegzugeben“ hätte für sie bedeutet, nicht nur ihn, sondern auch sich selber aufzugeben.
So war sie mehr und mehr zum zweiten, nein zum ersten Ich ihres Mannes geworden, sie nahm diese Rolle Tag für Tag neu in großer Leidensbereitschaft und Selbstaufgabe an, und so hatten im Grunde durch die Krankheit zwei Menschen ihr Ich verloren;
Herr Reisinger, weil er sich selbst nicht mehr helfen konnte, Frau Reisinger, weil ihr Leben nur noch in der Hilfe für einen anderen Menschen bestand.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hieß es. Aber in dieser Ehe war die Selbstliebe von beiden Partnern ganz aufgegeben worden, von dem einen, weil er sein Selbst, sein Ich wegen einer Erkrankung nicht mehr hatte, und von dem anderen, weil er sich selbst für den anderen aufgeopfert hatte.
„Ich kann Ihren Mann nicht weiter behandeln“, hatte Manuel Frau Reisinger erklärt. „Nicht nur, weil ich in Rente gehe, sondern auch, weil psychotherapeutisch ihrem Mann nicht mehr zu helfen ist, es sind organische Prozesse in seinem Gehirn, die den Krankheitsverlauf bestimmen, und dabei ist er medikamentös so optimal eingestellt, wie es geht.“ Darüber hatte er mit seinem Kollegen, einem Internisten, gesprochen.
Sie hatte zuerst nicht aufgesehen, und wie er auf ihr gesenktes Gesicht hinuntersah und ihr stummes Leiden und Flehen spürte, war es ihm so nahe gegangen, dass ihm fast die Tränen kamen, wie konnte ihm das passieren nach Jahrzehnten beruflicher Tätigkeit war er noch immer nicht professionell genug, oder, gerade durch diese vielen Jahre und sein vorgerücktes Alter war er weniger professionell, sondern immer dünnhäutiger geworden.
Sie sprach kein Wort, eine schmale, unscheinbare Frau in den Fünfzigern, gebeugte Schultern, abgemagert, leicht ergrautes Haar, blasses Gesicht, traurige Augen, sensible Hände, sie hatte keine großen Ansprüche ans Leben, Kinder hatten sie keine bekommen, aber ihre Ehe war bis zur Erkrankung ihres Mannes einigermaßen glücklich gewesen, das hatte man ihr jetzt genommen – er fühlte sich immer wieder mitschuldig an ihrem Schicksal, weil er es nicht ändern konnte, obwohl sie so große Hoffnungen in ihn setze, und mit dem, was er ihr sagen musste, kam er sich brutal und herzlos vor.
Sie schwiegen einige Minuten, was half da reden, er blieb ihre einzige Hoffnung, sie hatte alle ihre Erwartungen auf ihn übertragen, gegen diese Übertragung war er machtlos, so sachlich er auch immer wieder mit der Situation umzugehen versuchte, nach außen gelang ihm dieses einigermaßen, innerlich nicht, und er spürte, dass sie spürte, dass sie am rauen Klang seiner Stimme, an der Art, wie er sie ansah und nicht ansah, dass er nicht so hart war, wie er erscheinen wollte.
Gut erinnerte er sich noch an ihre erste Begegnung, in der sie ihm schilderte, wie peinlich es sie berührt hatte, als ihr Mann Freunde, die jedes Jahr in der Weihnachtszeit von weit her angereist kamen, um einige Tage bei ihnen zu bleiben, nach einer halben Stunde fragte, wann sie denn wieder gehen wollte, diese Unfreundlichkeit und Aggressivität verletzte sie tief, und immer wieder war es für sie schwer, sein Verhalten als krankhaft einzuordnen.
„Gut“, hatte er schließlich gesagt.- „Ihr Mann kann weiter einmal die Woche zu mir kommen, ich behandle ihn kostenlos weiter“, und dann ergänzte er, als er ihre Dankbarkeit bemerkte, die schon an Verehrung, als habe er das Schicksal ihres Mannes und das ihre in der Hand:
„Sie wissen ja, dass wir die Krankheit ihres Mannes nicht heilen, nur begleiten- können. Aber dabei will ich Sie gerne weiterhin unterstützen.“ Sie nickte stumm, wieder bewunderte Manuel ihre Leidensbereitschaft und Leidensfähigkeit, die an Selbstaufgabe grenzte. -
Etwa zehn Minuten, nachdem er Frau Reisinger angerufen hatte, schellte sie an seiner Haustür, um ihren Mann abzuholen.
„Seltsam“, sagte sie. „Dass er den Weg zu Ihnen gefunden hat, aber den Heimweg nicht mehr weiß“. -
Manuel nickte.
„Es ist unberechenbar und unvorhersehbar, was bei ihm an Erinnerung und Orientierung noch vorhanden ist“, sagte er.
„Er vermag seine Gedanken bewusst zu steuern, sondern wird durch sein Unbewusstes bestimmt.“
„Was aus einem Menschen werden kann“, seufzte Frau Reisinger. „Sie hätten ihn früher mal erleben müssen, er war so ein fröhlicher, tatkräftiger Mensch.“
Ja, überlegte Manuel, was war der Mensch? War er sein Bewusstsein, sein Verstand, sein Gehirn, oder waren diese nur die äußeren Grundlagen für sein Menschsein, war dieses von jenem abhängig oder blieb es auch unabhängig von ihm vorhanden, wenn es sich zurückbildete.
Reisingers Menschsein, sein menschenwürdiges Leben wurde jetzt durch seine Frau und ihre aufopferungsvolle Liebe mehr als durch ihn selbst festgehalten, er hatte sich selbst, sein Ich verloren, die Liebe seiner Frau hielt ihn noch fest – ihn? Was von ihm? Seine äußere Gestalt. Wo war jetzt seien Seele, sein Charakter, sein besonderes Wesen, war er mit seinen verloren gegangenen Erinnerungen mit verloren gegangen?