Das vollkommene Band der Liebe - Andreas Kleinschmidt - E-Book

Das vollkommene Band der Liebe E-Book

Andreas Kleinschmidt

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Beschreibung

Das vollkommene Band der Liebe - Roman Die Geschichte zweier junger Menschen, die ihr Leben durch ihre Liebe fanden und verloren.

Das E-Book Das vollkommene Band der Liebe wird angeboten von TWENTYSIX LOVE und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Wie wird ein Mensch zum Menschen? - Indem ein Mensch in Liebe zum anderen findet, Zwei frühreife junge Menschen finden in ihrer Liebe zueinander Hilfe und Geborgenheit, Das mangelnde Einfühlungsvermögen "normaler" Menschen für das außergewöhnliche und sensiblere Menschen, Freuds Psychoanalyse als hilfreiche Auseinandersetzung mit frühen traumatisierenden Lebenserfahrungen, In der Seele ist nichts vergangen, sondern es bleibt alles gegenwärtig

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Seitenzahl: 168

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Über alles aber zieht an die Liebe,

die da ist das Band der Vollkommenheit.

Kol. 3,14

Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn. Hohelied Salomos 8,6

Wenn jemand dem Herrn ein Speisopfer darbringen will, so soll es von feinstem Mehl sein … und der Priester soll es als Gedenkopfer in Rauch aufgehen lassen auf dem Altar als ein Feueropfer zum lieblichen Geruch für den Herrn. Das übrige aber vom Speisopfer soll Aaron und seinen Söhnen gehören als ein Hochheiliges von den Feueropfern des Herrn. Aus 3. Mose 2, 1-3

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

1.

Es war in der Anfangszeit meiner Tätigkeit als Psychologe in einer Großstadt, in der ich noch jeden Morgen einige Augenblicke vor dem Betreten der Praxisräume ein wenig ungläubig vor dem Schild am Hauseingang verweilte: „Dr. Simeon Herz, Facharzt für Psychotherapie, Psychosomatik und Psychoanalyse“.

Ich war mächtig stolz, nach scheinbar schier endlosen Jahren eines hauptsächlich aus statistischen Untersuchungen und deren Interpretation bestehenden Studiums nun endlich in der Praxis arbeiten zu können; die Mutmaßungen einiger Freunde und Bekannter, ich könne in meinem relativ jugendlichen Alter doch noch mit manchem überfordert sein, das da auf mich einstürmen werde, es fehle mir noch an der nötigen Lebenserfahrung und deshalb auch an der inneren, emotionalen Nähe zu den Menschen, die meine Hilfe suchten, wies ich damit zurück, dass es ja wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse gab, die mir zu Gebote stünden, die beruflichen Erfahrungen recht einzuordnen, eine innere Distanz sei für einen Psychologen im Umgang mit seinen Patienten sogar notwendig.

Zudem war ich gerade auf die vielfältigen und unterschiedlichsten Erscheinungen menschlichen Lebens neugierig, war doch auch die Psychologie für mich nie nur eine Wissenschaft gewesen, mit deren Hilfe ich einen Erwerbsberuf ausüben wollte, sondern Hilfsmittel zum Verständnis menschlichen Verhaltens und dessen tieferen Ursachen, einschließlich der in meiner eigenen Seele.

Wenn – wie ich an der Universität erfuhr – für einige Psychologen die „Psyche“ keine Rolle mehr spielte, sondern der Mensch nur mehr aus seinem Verhalten verstanden und mit einer Verhaltensänderung therapiert wurde, so sah ich darin die Gefahr, dass sich durch die Art der Wissenschaft deren Gegenstand auflöste, das normale wie das anormale, das unauffällige wie das neurotische Verhalten wurde nicht weiter hinterfragt, sondern nur mehr „oberflächlich“ in seiner Funktion gesehen, und für den Patienten als therapeutisches Ziel die Anpassung an die mehrheitlichen Normen der Gesellschaft und die Erträglichkeit seines individuellen Leidens gesetzt.

Trotz mancher Kritik an dem „Ur“- Psychologen Sigmund Freud, trotz der gewiss sinnvollen und notwendigen Ergänzungen seiner psychoanalytischen Erkenntnisse und Therapien durch verhaltenspsychologische, soziologische

und statistische Methoden schien mir dieser Bahnbrecher in das Innerste der Seele mit seinen Erkenntnissen immer noch von unverzichtbarer Wahrheit und Gültigkeit.

Und gerade ihm und seinen ersten „Entdeckungen“ im Sinne des Auf-deckens verborgener seelischer Traumata verdankte ich schließlich die Hilfe, die ich und mein damaliger Patient nötig, d.h. „not-wendig“ hatten, weil sie seine seelische „Not wenden“ halfen; denn nur dadurch, dass wir gemeinsam seine frühesten, seelischen, in Kindheit und früher Jugendzeit entstandenen Traumata aufdeckten, konnten wir versuchen, die lähmende Kraft der Verdrängung in ihm zu überwinden. Allerdings konnte dies nur durch die weit über Freud hinausgehende Erkenntnis einer nicht mehr irdischen, sondern „himmlischen Kraft“ geschehen, die Kraft einer frühen und dennoch vollkommenen Liebe.

Was mir gleich bei unserer ersten Begegnung an ihm auffiel, war sein sarkastischer Humor, mit dem er sich selbst ironisierte, es war der Versuch, Abstand von der eigenen Tragik zu finden, verbunden allerdings auch mit einer Zerrissenheit in seinem Charakter: Einerseits bezeichnete er sich selbstverachtend immer wieder als zu weich, er habe sich oft gewünscht, härter zu sei, um besser mit dem Leben fertig zu werden; andererseits habe ihn seine Empfindsamkeit aber auch besonders empfänglich für das Schöne und Reine gemacht, sei also auch ein Reichtum, für den er dankbar sein müsse.

Martin Weiss war etwa doppelt so alt wie ich, und er war mir sogleich sympathisch, als er da vor mir in meinem Praxiszimmer saß, etwas verlegen, äußerst introvertiert, der Besuch bei mir kostete ihn sichtlich große Überwindung, er schien mir zunächst sehr vorsichtig, ja ängstlich zu sein – später sagte er mir einmal, dass er immer schon mit Ängsten zu kämpfen gehabt habe, die sich seiner Phantasie bemächtigt und ihn gefangen gehalten hätten. Aber das Auffälligste an ihm waren seine übergroße Verletzlichkeit und Traurigkeit, die sich in seinen feinen, sensiblen Gesichtszügen ausdrückten. Letztere umgab ihn wie ein schützender Kokon, er hatte sich in sie eingehüllt, sie war ein Teil seiner Person geworden, ohne den er nicht mehr leben konnte.

Es sollte sich im Zuge der Therapie erweisen, dass eine seiner wichtigsten Aufgaben die war, nicht gegen seine Traurigkeit anzukämpfen, sondern sich ihr zu ergeben, sie willig zu erleiden in dem Wissen, dass sie auf einem Trauma, einer seelischen Verletzung beruhte, die ihn sein Leben lang bisher begleitet hatte und weiter begleiten würde, die zu seinem Wesen gehörte.

„Ich verstehe das nicht “, begann er, nachdem ich ihn aufgefordert hatte, mir seine Problematik, die ihn zu mir geführt hatte, zu schildern. „Es sind jetzt Jahrzehnte seit jener Zeit vergangen, die ich noch immer nicht verarbeitet habe, ist so etwas noch normal?“

Er berichtete, dass er Germanistik, Geschichte und Theologie studiert habe und an einem Gymnasium unterrichte; für das Lehramt habe er sich entschieden, weil er gerade das, was er in seiner Kindheit und frühen Jugendzeit erlebt habe, der Grund für seine psychische Erkrankung sei, und es ihn gereizt habe, jungen Menschen in ihrer Entwicklung zu helfen, damit ihnen Ähnliches möglichst erspart bliebe.

Theologie habe er gewählt, um sich mit seiner eigenen familiären christlichen Tradition auseinanderzusetzen, die sehr konservativ gewesen sei, von Geboten und Verboten geprägt, dennoch aber habe er die Suche nach Gott oder nach einem letzten Sinn in allem gerade durch seine frühe leidvolle Liebe nie aufgegeben, und das Bild des Gekreuzigten habe sich tief in seiner Seele festgesetzt. Damals habe er ein Mädchen geliebt, das ihm der Tod genommen habe, und er sei seitdem nie darüber hinweggekommen, er träume oft noch von ihr, und wenn er aufwache sei es, als habe sich das alles erst gestern ereignet.

Ich spürte, dass ich ihm nicht nur bei der emotionalen, sondern auch bei der geistigen Bewältigung seiner Traumata helfen musste, ja, dass seine „Psychoanalyse“ am besten damit begann, seine psychische Erkrankung als „normale“ Reaktion seiner Seele auf Erlebtes zu verstehen und anzunehmen, und ich gab ihm deshalb einige Zitate aus Sigmund Freuds Traumdeutung zu lesen.

Ich schlug die entsprechenden Seiten auf, reichte ihm das Buch und forderte ihn auf: „Lesen Sie in Ruhe, ich werde uns in dieser Zeit einen Kaffee machen.“

Ich ging in die Küche, die sich neben meinem Behandlungszimmer befand, als ich nach einigen Minuten mit den Tassen zurückkam, sah er von dem Buch auf und sagte: „So ist es, genauso.“

Ich spürte, er fühlte sich von den Worten Freuds zutiefst verstanden und ich wiederholte sie laut:

„Was wir unseren Charakter nennen, beruht ja auf den Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke,

die am stärksten auf uns gewirkt hatten, die unserer ersten Jugend, solche, die fast nie bewusstwerden.

Es ist sogar eine hervorragende Besonderheit unbewusster Vorgänge,

dass sie unzerstörbar bleiben. Im Unbewussten ist nichts zu Ende zu bringen,

ist nichts vergangen oder vergessen. –

Die Kränkung, die vor dreißig Jahren vorgefallen ist, wirkt, nachdem sie sich den Zugang zu den unbewussten Affektquellen verschafft hat, alle die dreißig Jahre wie eine frische."

Er nickte und wiederholte: „Genauso ist es“.

Er berichtete, dass er sich nach dreißig Jahren Ehe von seiner Frau habe scheiden lassen, dass ihn aber weder die Ehe noch die Scheidung in Wahrheit tiefer berührt habe, sein erwachsener Sohn besuche ihn hin und wieder, aber auch zu ihm habe er keine solch tiefe Beziehung wie zu dem Menschen, der ihm in seiner Kindheit und Jugendzeit so nahegekommen sei wie kein anderer.

Dann schwieg er lange, und auch ich unterbrach dieses Schweigen nicht.

Was er mir dann in dieser und in den folgenden Sitzungen erzählte, schien beim ersten Zuhören wie eine tragische Liebesgeschichte; hätte sie nur in einem Buch gestanden und wäre sie nur erdacht gewesen, hätte man sie hören und dann zum „normalen“ Leben und Fühlen zurückkehren können, aber der Mensch, in dem sie „anormale“ Gefühle ausgelöst hatte, saß ja vor mir und in ihm waren diese Gefühle so lebendig, dass sie ihn noch Jahre später dem Tode so nahe brachten wie dem Leben, seine Seele also in einen Zustand versetzten, für den das Anormale zur Normalität geworden war.

Es ging um die Liebe zweier junger Menschen, in der diese in frühem Jugendalter bereits höchstes Glück und Seligkeit, aber auch tiefste Abgründe von Leid und Traurigkeit erfahren hatten. Durch die Liebe eines frühreifen Mädchens hatte er mit ihr gemeinsam schon in einem Alter eine Reife und Tiefe des Gefühls ausgebildet, die die Entwicklung seines ohnehin sensiblen Wesens eigentlich vollkommen überforderte, oder anders gesagt: Sein Wesen bildete sich daran auf eine Weise, die ihn einerseits dem, was man gemeinhin Realität nennt, entfremdete, ja ihn von jedem normalen gesellschaftlichen Leben ausschloss, ihn für den Lebensalltag unfähig machte. Anderseits wurde ihm diese Liebe zu einem paranoiden „Ersatz“ für das reale Leben, indem sie ihn in seinem Gefühlsleben eine übergroße Traurigkeit und den Verlust seiner Umwelt und dem, was sie ihm zu bieten hatte, einbrachte, aber ihn auch mit einem übergroßen Reichtum erfüllte, den er um jeden Preis festhalten wollte. An dem Unverständnis der Erwachsenen, die an ihnen schuldig wurden, und an der zerstörerischen Gewalt von Krankheit und Tod zerbrachen beide, aber ihre frühreife, tiefe Liebe blieb bei ihm eine ständige lebendige, machtvolle Erinnerung, ein leidenschaftlicher Protest der Hoffnung gegen alles erstorbene Leben. Diese Liebe offenbarte die psychologische Wahrheit mit äußerster Intensität, dass alle ersten Erfahrungen der frühen Jugendzeit wegen der Stärke ihres Erlebens endgültige Eindrücke sind, in denen das Menschsein, das Ich gebildet und zerstört wird zugleich. – Bei Martin Weiss kam – so stellte ich in den Therapiestunden immer wieder fest – eine angeborene Hypersensibilität hinzu, die ihn alle diese, für meisten Menschen „normalen“ Erfahrungen aus der Außenwelt stärker, tiefer und nachhaltiger erleben ließ, ja ihn zu überwältigen drohte.

2.

Martin Weiss sagte mir: Als er das Kind gesehen habe, sei es für ihn Entsetzen und Erlösung in einem gewesen, denn er habe erkannt:

Das Kind dort, das keine Arme und Beine hatte, es war das Abbild seiner selbst.

Ich kannte das Kind und seine Eltern bereits, ich war damals in das Krankenhaus gerufen worden, um ihnen als Psychologe Hilfestellung zu geben, sie waren als Asylsuchende in dem Wohnheim untergebracht worden, das ich mit betreute, zu meinem Erstaunen jedoch waren sie von der Behinderung ihres Kindes weniger betroffen als ich erwartet hatte, möglicherweise waren sie ja auch schon durch die Ultraschallbilder darauf vorbereitet worden.

Später schilderte Martin Weiss mir seine Empfindungen in einer unserer Sitzungen genau: In diesem verstümmelten Kind sah er sich selbst, es war wie eine schreckliche, aber zugleich heilsame Offenbarung, es schien ihm, als habe seine eigene Lebensunfähigkeit eben in diesem Torso Gestalt angenommen, unübersehbar wurde ihm so vor Augen geführt, dass er ohne die Liebe, die ihm einmal geschenkt worden war, so amputiert, so lebensunfähig war wie dieses Kind.

Abgestorben schienen ihm alle Empfindungen, deren er je fähig gewesen war, vernichtet seit jenem Verlust, der ihm nicht nur einen Menschen und dessen Liebe, sondern auch sein eigenes Leben genommen hatte, obwohl er weitergelebt hatte, aber Leben – das erkannte er nun ganz deutlich angesichts des behinderten Kindes vor ihm – war dies nicht mehr zu nennen, was ihn da von einem Tag zum anderen trieb, nein, er war selbst zu einem Torso geworden, bei den Anfängen war es bei ihm geblieben, unvollendet, verstümmelt war seine Seele und sein Leben, so wie es der Körper dieses Kindes war, da zählten auch nicht die Jahrzehnte, die seit damals vergangen waren, Quantität war keine Qualität.

Ja, so war es gewesen, mit brutaler, schonungsloser Gewalt war ihm seelisch damals das angetan worden, was dieses Kind nun an seinem Körper erfahren würde, verstümmelt hatte man ihn, alle seine Hoffnungen und Träume, alles Weiche und Empfindsame war ganz einfach weggehobelt worden, sodass er nicht einmal mehr Schmerz empfand – ohne Sinn, ohne Ziel reihten sich ihm die Tage aneinander seit jenem Tag, der endgültig alles beendete, was Leben und Lieben für ihn bedeutet hatte.

Das alles war ihm als unausweichliche Wahrheit klar geworden, als er dieses Kind sah – es hatte weder Hände noch Beine, es war schon so geboren worden, würde nie greifen, nie laufen können, ein Hobel hatte bei ihm angesetzt, bevor es überhaupt zu leben begonnen hatte.

Und er hatte die Augen der Eltern gesehen, die Liebe, die aus ihren Gesichtern strahlte, das stille Glück, mit dem sie sich geduldig und zärtlich um ihr Kind kümmerten wie um einen ganz großen, wertvollen Schatz – und so war es ja auch bei ihm, wenn der Wunsch aufbrach, all dies noch einmal zu erleben, auch auf die Gefahr hin, dass der Schmerz mit den Erinnerungen und Empfindungen wiederkehren und ihn möglicherweise vernichten würde.

Die grenzenlose, unendlich tiefe Liebe dieser Eltern zu ihrem Kind erinnerte ihn an jene Liebe damals, mit der er geliebt worden war, er begriff, dass allein diese Liebe schon Lebensgrund genug war, diese Liebe der Eltern zu ihrem Kind, das nicht laufen, greifen, nicht sehen oder hören konnte – diese Liebe bedeutete sein Leben.

In dieser Liebe wurden Freude und Leid gleich „gültig“, sie flossen ineinander, schlossen sich nicht mehr aus, daran erinnerte ihn dieses Kind und die Liebe seiner Eltern, und an die Liebe, die er selber einmal erfahren hatte.

Und wenn er das Kind schreien hörte, so war es auch seine Seele, die schrie – und es war ihr Klagen, das er hörte, wenn die Vögel jetzt im Frühling sangen, nie hatte ihr Gesang für ihn eine solche fast schmerzliche Schwermut gehabt. Seine Seele drohte zu ersticken, es war eine Qual, in der Äußerlichkeit eines Daseins dahinzuvegetieren, ohne einen Grund zu leben, dieser Frühling würde die Entscheidung bringen; ob es mit ihm endgültig zu Ende war, oder ob sein Leben noch einmal einen Sinn bekommen würde – und die Entscheidung musste fallen im Erinnern an das Geschehene damals.

Würde es für ihn ein Leben geben, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges nicht mehr getrennt – das eine nicht mehr verdrängt und das andere nicht mehr wirklich wahrgenommen – sondern beides gleichzeitig nebeneinander, ja ineinander verwoben waren, Freude und Leid bildeten in ihm eine Einheit wie im klagenden Gesang der Vögel, der ihn schmerzte und beglückte zugleich.

Seine Kindheit und frühe Jugendzeit – sie hatten bereits über sein ganzes weiteres Leben entschieden, sie waren ja gar nicht vergangen, sie waren unmittelbar gegenwärtig wie ein Abgrund, der auf seinem Weg ständig neben ihm drohte, von dem er wusste, den er aber nie unmittelbar ins Auge fasste, und der deshalb umso größere Macht über ihn hatte, der ihn, je länger er ihn ignorierte, verdrängte, umso mehr zu einem seelenlosen, rein mechanischen Weiterleben in der Zeit verurteilte, das kein wirkliches Leben und Fortschreiten, sondern nur noch äußerliche Gewohnheit und Routine war.

Das Ersticken in äußerlichen Zwängen, die ihm gleichsam die Luft zum Atmen nahmen – damals in seiner Kindheit hatte es begonnen, das Verbiegen seiner natürlichen Empfindungen, das Verstümmeln seiner Seele, das Bis-zum-Tode-traurig machen, das Zerbrochen-werden durch eine unbarmherzigen Welt.

Die Tränen ohnmächtiger Wut, des Trotzes, des gebrochenen Stolzes, der Demütigung fielen ihm ein, er saß wieder in der Dunkelheit auf einer Stufe der Treppe, die zum Speicher hinaufführte, die Eltern hatten ihn aus der Wohnung ausgesperrt, er war wegen seines „Ungehorsams" bestraft worden, hatte die eigene Schwäche und Wehrlosigkeit angesichts der Stärke körperlicher Gewalt zutiefst demütigend erfahren und hatte zu ahnen begonnen, dass dieses Leben ihm nicht die erträumte Erfüllung bringen werde, dass es eher kein Leben, sondern ein Sterben sein werde, eher Angst und Enge statt Freude und Freiheit,

eher ein Sich-ducken vor dem Stärkeren als ein Aufrichtig-sein und Aufrechtgehen.

Er musste, um wieder lebendig zu werden, um nicht in der Angst vor dem Abgrund seiner Vergangenheit in Leblosigkeit zu erstarren ein neues Verständnis gewinnen für alle „Lebensdinge", vor allem für die Zeit.

Hatte er sie bisher immer als Zeitstrecke empfunden und sich so in immer größerer Entfernung von den ersten Erfahrungen seines Lebens geglaubt, so musste er nun ein neues Zeitgefühl daraus entwickeln, damit er den ihn beständig gleichzeitig begleitenden Abgrund bewusst wahrnahm.

Dieser konnte ihn wohlmöglich verschlingen, überwältigen –

aber auch unendlich reich machen,

ihn in die Tiefe ziehen und unter sich begraben aber auch in den Himmel führen – oder auch beides zugleich.

Wer war er eigentlich? – dieser Frage musste er sich stellen, um sich entweder zu finden oder endgültig zu verlieren, war er doch in seinem Wesen nichts anderes als seine Vergangenheit –

musste sich ihr also stellen, wollte er die Frage seines Ichs, seiner Identität mit sich selber zur Entscheidung bringen.

Dazu musste er sich dieser Vergangenheit ganz bewusst noch einmal stellen – das wusste er nun, statt sie zu verdrängen, musste er sich ihr noch einmal ausliefern.

Dafür musste zurück zu den Stätten seiner Kindheit, seiner ersten Erfahrungen von Glück und Leid – es war Entscheidung angesagt, dazu gab es keine Alternative, es würde sonst nichts mehr kommen auf seinem Weg in der Zeit, keine Zukunft gäbe es für ihn, die lebenswert hätte genannt werden können, wenn er die Vergangenheit nicht zur bewussten Gegenwart machte.

Die Zeitstrecke fasste sich gleichsam für ihn zusammen in einen Kreis, einen lebendigen, sich beständig um einen Mittelpunkt drehenden Wirbel voller Vitalität, diesem Stürmen, Drängen, Bedrängen und Überwältigt-werden musste er sich ausliefern, erneut ausliefern, hier gab es keine Distanz mehr, hier war alles gleich nah, hier gab es keine Flucht mehr, keine Erstarrung,

hier gab es nur Leben oder Tod –

aber endlich würde aus dieser Lösung eine Erlösung so oder so werden, endlich würde es zu dieser Entscheidung kommen, ob Leben überhaupt Leben war oder nur eine andere Art von Tod, ob das Leben im Sterben stärker war als das Sterben im Leben.

Wie wertvoll ein Menschenleben war, so ahnte er, das entscheiden oft nicht zwanzig, dreißig Jahre des Erwachsenenlebens, das entscheiden einige Jahre intensivsten Fühlens, schmerzlichsten Leidens, seligster unsagbarer Freude, wie man beides nur in Kindheit und früher Jugendzeit empfinden kann. Es sind dies oft Situationen und Augenblicke, die die Zeit eher als Ewigkeit denn als Vergänglichkeit erfahren lassen, weil sich alles erste Erleben zutiefst einprägt, als ewiges Glück und ewiger Tod, weil dieses intensive erste Erleben gerade wegen seiner Unwiederbringlichkeit als etwas Ewiges erfahren wird und sich unauslöschlich in der Seele einbrennt.

Plötzlich erinnerte er alle Gerüche seiner Kindheit, sie waren alle gleichzeitig da, brachen über ihn herein und assoziierten weitere frühere Erlebnisse als seien diese eben erst geschehen:

Der Brandgeruch abgeflämmten Grases auf der Wiese oberhalb des Steinbruches, auf dem sie als Kinder gespielt hatten, der modrige Geruch im Treppenhaus seiner Eltern, der Duft ihrer warmen Haut, der sich vermischte mit dem Geruch der Blumen und Sträucher des Gartens, in dem sie einander getroffen hatten, dicht nebeneinander gelegen hatten sie unter dem Kirschbaum in den Sommertag hineingeträumt.

Vergangenes überwältigte ihn, war ihm so unmittelbar nahe, als sei es gegenwärtige Wirklichkeit, er wurde wie von einem gewaltigen Strom fortgetragen, alles andere um ihn her verschwand, mächtig über ihn war allein nur noch die Erinnerung.

Die seitdem dahingegangenen Jahre waren so überflüssig, so nichtig, die seitdem vergangene Zeit war nur eine Ansammlung von Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Zeit ohne Inhalt, ohne jede Bedeutung – Nichts.

Er erkannte: Die Augenblicke, in denen seine Seele berührt worden war von der Kraft einer großen Liebe, in ihnen hatte sich damals bereits sein ganzes Leben gleichsam zusammengefasst, war geboren worden, hatte sich erfüllt und war gestorben – nur diese Augenblicke machten den Wert und den Sinn seines Lebens aus.