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Nicht mehr als eine Figur auf einem Schachbrett zählt das Leben des Einzelnen in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs.Dessen ist sich der „Halbjude“ Georg Manhart bewusst. In einer Zeit, in der ein falsches Wort, ein unbedachter Schritt, selbst eine Liebesnacht zum Todesurteil werden kann, führt sein Lebensweg durch ein Minenfeld unkalkulierbarer Gefahren. Trotzdem folgt er unbeirrt seiner Überlebensstrategie, zu der an erster Stelle die Beschäftigung als technischer Zeichner im Flugzeugbau gehört.Walter Thans Roman beruht auf historischen Tatsachen, wobei besonderes Augenmerk auf der Verformung der menschlichen Psyche in Kriegs- und Krisensituationen liegt. Eindrücklich wird ein Stück Zeitgeschichte vorgelegt, in dem sich menschliche Verhaltensweisen allen rationalen Maßstäben entziehen.
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Seitenzahl: 432
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Walter Than
Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt
Roman
Cover
Titel
Juni 1944
April 1943
Mai 1943
Juli 1943
August 1943
Oktober 1943
Dezember 1943
Mai 1944
Juli 1944
September 1944
November 1944
Dezember 1944
März 1945
April 1945
Impressum
Es war heiß, ungewöhnlich heiß für einen frühen Vormittag. Georg Manhart überquerte die Straße, um in den Schatten der intakten Häuserzeile einzutauchen. Wobei intakt bloß bedeutete, dass die Häuser zumindest noch teilweise bewohnbar waren. Davon zeugte der anstelle der geborstenen Glasscheiben in die Fensterrahmen eingesetzte Karton. Abgesehen von frischen Löchern im Verputz wiesen die altersgrauen Fassaden keine ernsthaften Schäden auf. Dunkle Fensterhöhlen da und dort erinnerten an Fluglöcher eines verlassenen Taubenschlags. Auf der anderen Straßenseite warfen die Bombenruinen bizarre Schatten der Verwüstung auf ihren eigenen Schutt. Man hatte sich gewöhnt an diesen Anblick, an das von tiefen Wunden entstellte Antlitz Wiens. Ebenso wie an das Dröhnen amerikanischer Bombergeschwader am Himmel und das Beben der gepeinigten Erde unter den Füßen.
Vor einer Bäckerei hatte sich eine Warteschlange gebildet. Vermutlich gab es frisches Brot. Man nahm jede Gelegenheit zur Vorsorge wahr, zur Hortung aller Dinge, die man brauchen oder auch gerade nicht brauchen mochte. Marmelade, Senf, Süßstoff, Seife, Kerzen, Schuhbänder – alles, was man nicht selbst benötigte, eignete sich als Tauschgut. Man musste beizeiten sehen, wo man blieb. Wenn die Sirenen heulten, war es zu spät. Dann begann der Wettlauf um einen Platz in einem sicheren Schutzraum. Viele, die nicht arbeiten mussten, Frauen mit kleinen Kindern und alte Leute, warteten bereits am Morgen in der Nähe der Katakomben des Stephansdoms, vor Schutzstollen und Flaktürmen geduldig auf Einlass. Besonders wenn der Himmel so blau war wie eben nun. Jedermann wusste, dass die amerikanischen Bomberpiloten blauen Himmel schätzten.
In der Fahrbahnmitte zog ein alter Mann einen Leiterwagen hinter sich her. Die eisenbeschlagenen Holzräder ratterten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf dem Wägelchen war ein Bettgestell festgezurrt, dreimal so groß wie das klapprige Gefährt. Der Mann konnte nicht in den Schatten ausweichen. Das Hemd klebte ihm in nassen Flecken am Rücken. Er blieb stehen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Vom Donaukanalkai nahte ein Mannschaftswagen der Wehrmacht. Der Lenker hupte und schrammte mit seinem Fahrzeug knapp an dem Leiterwagen vorbei. Der Alte schüttelte wütend die Faust, seine Verwünschungen gingen im Motorenlärm unter. Die Soldaten auf dem offenen Lkw lachten.
Im Schatten hielt sich die Hitze in Grenzen. Früher, als Kinder, hatten sie strahlendes Wetter Bombenwetter genannt. Heute dachte bei Schönwetter niemand an Sonne und Badefreuden. Die Stadt fürchtete wolkenlosen Himmel. Sein ungetrübtes Blau versetzte ihre Bewohner in ahnungsvolle Anspannung.
Er hatte es nicht eilig. Er hatte jede Menge Zeit. Der Umweg über den Donaukai kostete kaum zehn Minuten. Niemand schrieb ihm den Weg vor, niemand konnte ihn kontrollieren. Sosehr sich die Erfüllungsgehilfen des Überwachungsstaates auch bemühten, sie konnten nicht alles unter Kontrolle halten. Die Abfahrtstermine der Betriebsbusse zum Heidewerk glichen einem Glücksspiel. Was gleich blieb, war das ständige Gerangel um einen Platz an Bord. Es gab zu wenig Transporte zum Flugzeugwerk. Streitbare, die sich für besonders wichtig hielten, stießen finstere Drohungen gegen die Ordner des Werksschutzes aus, wenn sie zurückbleiben mussten. Worte wie „Sabotage“ oder „böswillige Verweigerung“ fielen, zumeist in Dialekten des Altreichs. Die uniformierten Ordner, vorwiegend Wiener, die für den Wehrdienst zu alt waren, ließen sich nicht beeindrucken. Sie mussten nicht aussprechen, was sie dachten. Man konnte es an ihren Mienen ablesen.
Er ließ sich Zeit. Wenngleich es nicht mehr darum ging, die Arbeit im Büro bewusst zu verzögern. Das war vorbei. Es spielte keine Rolle mehr, wann die angeforderten Konstruktionspläne auf den Zeichentischen landeten. Kein Kampfflugzeug der Typen, an deren Entwicklung sie arbeiteten, konnte den Kriegsverlauf beeinflussen. Dessen war er sich sicher. Von dieser Überzeugung lebte er.
Den richtigen Namen der Straße, in der Hans Webers Trafik lag, hatte er sich nie merken können. Für Rainer und ihn hieß sie Rollergasse, weil sie auf der abschüssigen Straße wilde Tretrollerrennen abgehalten hatten. Es war wie der Kulissenwechsel auf einer Drehbühne. Elegante Hausfassaden aus der Gründerzeit. Keine Mauerschäden, keine Spur von Schutt und Trümmern, halb leere Schaufenster, in denen sich der blaue Himmel spiegelte. Als versuchte jemand aufzuzeigen, dass die heile Welt gleich hinter der nächsten Ecke begann. Mit Ausnahme der Erdgeschoße standen die meisten Fenster offen. Das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Scheiben den Druckwellen naher Bombeneinschläge standhielten.
Die Musik, die aus den Fenstern die Gasse beschallte, verdankten die Radiohörer dem Vormittagskonzert des Reichssenders Wien. Operettenklänge, dazwischen Marschmusik und Volkslieder. Der tägliche misstönende Einheitsbrei. Georg bezweifelte, dass es viele Leute gab, die sich das langweilige Konzert aus einem anderen Grund anhörten, als um beim ersten Kuckucksruf im Radio ihre Sachen zusammenzupacken und sich eilig auf den Weg zu einem sicheren Luftschutzraum zu machen. Der Ruf des Kuckucks war von der freundlichen Frühlingsbotschaft zum Warnsignal vor tödlicher Gefahr mutiert.
Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihm entgegen. Das Gefährt war schwarz, mit feinen goldenen Verzierungen. Anstelle eines Kindes lagen zwei Taschen und ein Handkoffer in den Polstern. Fluchtgut, das die Leute mit sich führten, um vor den Bomben zu bewahren, was ihnen wertvoll war. Die Frau hatte einen schleppenden Gang, verhärmte Züge, einen schmalen Mund, dem Lachen fremd zu sein schien. Man begegnete immer mehr Gesichtern, in denen die Hoffnung gestorben war und mit ihr das Lachen.
Alles in Bewegung, dachte Georg. Am Boden, am Wasser, in der Luft. Alles, was sich bewegen konnte, war in Bewegung. Für und gegen den Untergang dieser pervertierten Welt. Für und gegen den freien Atem und das freie Wort. Hatte es wirklich einmal eine Zeit der Sicherheit gegeben, eine Zeit der Berechenbarkeit für die kommende Stunde, für den nächsten Tag? Oder entsprang die Erinnerung den Phantasien der im Sumpf der Trostlosigkeit Versunkenen?
Er beobachtete durch die Sonnenbrille die Passanten, Frauen und Männer in Zivil oder Uniform. Die dunklen Gläser dienten nicht nur als Schutz gegen das Sonnenlicht. Sie erlaubten unauffällige Blickfreiheit. Niemand konnte erkennen, wohin genau er schaute. Schon als Jüngling hatte er begonnen, in Gesichtern zu lesen. Nicht bloß im Gymnasium, um sich auf die Laune der Professoren einzustellen. Eher aus allgemeinem Interesse an der Vielfalt der Physiognomien. Beruf, Bildung, Gemütszustand – er hatte ein Ratespiel daraus gemacht, dessen Lösungen er nie erfuhr. Inzwischen war das Spiel Teil einer Sicherheitsstrategie geworden. Misstrauen als Leitmotiv. Man tat gut daran, im Bilde zu sein, wem man da eben begegnete. Insbesondere in einer Zeit, welche die Täuschung als Instrument der Macht nützte. Früher, vor dem Krieg, hatten die Menschen anders ausgesehen. Jede Periode prägte ihre Gesichter. Zurzeit war alles Barocke aus den Mienen verschwunden, verdrängt von den herben Linien der Gotik.
Er ließ sich von der trügerischen Ruhe des sonnigen Vormittags nicht täuschen. Das konnte sich von einer Minute auf die andere ändern. Der unabwendbar bevorstehende nächste Schlag mochte in einer Stunde erfolgen oder am folgenden Tag oder am Tag danach. Ihn kümmerten weder die vibrierende Unrast der Stadt noch die Furcht ihrer Bewohner, noch die Ungewissheit der Stunde. Alles, was ihn kümmerte, war die Gewissheit, dass der nächste Schlag folgen würde und damit ein weiterer Schritt zum Ende des Schreckens.
Er verlangsamte unwillkürlich den Schritt, als das Schild der Tabaktrafik in sein Blickfeld geriet. Nachdem Rainer Weber in Russland gefallen war, hatte er seine Besuche bei dessen Eltern eingeschränkt. Er stand, angesichts der eigenen Trauer über den Verlust des Freundes, dem Elend von dessen Familie auch nach einem Jahr noch hilflos gegenüber. Tante Herma, die ihn schluchzend umarmte, Onkel Hans, der ihn mit einer Maske erstarrten Leids begrüßte. Die Zeiten der Unbeschwertheit lagen versunken hinter den dunklen Wolken der Gegenwart.
Onkel Hans mit seinem fröhlichen Lachen und seinen einfallsreichen Späßen gehörte zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen. Zwischen den Webers und seinen Eltern bestand eine Familienfreundschaft, die noch enger wurde, als er selbst und Weber-Sohn Rainer am gleichen Tag das Licht der Welt erblickten. Es ergab sich von selbst, dass ihn mit Rainer eine brüderliche Freundschaft verband. Sie besuchten gemeinsam das Gymnasium, spielten in der gleichen Fußballmannschaft, gingen in die gleiche Tanzschule und verliebten sich in die gleichen Mädchen. Es gehörte zu den ungeschriebenen Spielregeln, dass ein Mädchen, sobald es sich für einen von ihnen entschied, für den anderen tabu war.
So jung er damals war, er empfand Freundschaft nicht als Wort, sondern als Wert. Er kannte die Willkür des Schicksals noch nicht. Er ahnte noch nicht, was eine Frau im Leben eines Mannes bedeuten konnte. Er hatte die Macht des Gewissens noch nicht kennengelernt.
Die Vergangenheit ließ sich nicht in Scheiben schneiden wie ein Baumstamm. Manchmal schien es Georg, als stolperte er an der immer gleichen Stelle über den immer gleichen Stein. Gedanken an verflossene Jahre führten unvermeidlich zu jenem Tag im März 1938, an dem Österreich zur Ostmark wurde. Er hatte sich bis dahin nicht allzu viel mit Politik befasst. Desto überraschender kam für ihn, trotz der düsteren Prophezeiungen seines Vaters, der Umsturz. Abends, auf dem Heimweg von einem Kinobesuch, herrschte hektisches Treiben in den Straßen der Inneren Stadt. Überall hatten sich Gruppen von diskutierenden Frauen und Männern angesammelt. Jugendliche zogen mit Fackeln und Trommeln über den Graben. Männer in braunen Hemden sangen Marschlieder, die er nicht kannte, und plärrten Parolen, die er nicht verstand. Scharen von Polizisten, die nicht recht zu wissen schienen, was sie tun sollten, patrouillierten ziellos zwischen den Ansammlungen.
Am folgenden Tag boten die Straßen ein neues Bild. Jubelnde Menschenmassen, braune Marschkolonnen, ein Meer roter Hakenkreuzfahnen – die Stadt war über Nacht in einen Taumel sich selbst berauschender Begeisterung verfallen. Man hätte meinen können, Wien feierte die Befreiung von der Pest. Nur wenige – er mit eingeschlossen – begriffen, dass die Pest eben Einzug hielt. Kaum zu fassen, wie sich die Welt seit diesen Tagen gewandelt hatte! Zunächst änderte sich an seinem Leben nicht allzu viel. Als der Schulunterricht nach zwei Wochen Unterbrechung wieder aufgenommen wurde, hießen das Gymnasium Oberschule, die Professoren Studienräte und die Matura Abitur. Deutsch- und Turnprofessor Grieger, der von den Schülern außerhalb des Turnsaals wegen seines tölpelhaften Auftretens heimlich verlacht wurde, amtierte als neuer Direktor, andere ihrer Klassenlehrer waren von der Bildfläche verschwunden. Wie alle seine Mitschüler erschien er, ungeachtet des kühlen Wetters, in kurzen Hosen und mit weißen Stutzen in der Klasse. Mutter hatte ihn behutsam vor Anfeindungen gewarnt. Schließlich wüssten alle, dass sein Vater Jude sei. Er hatte ihr entrüstet widersprochen und recht behalten. Keiner seiner Klassenkollegen schien sich an seiner Abstammung zu stoßen. Er war einer von ihnen, nachdem wie vordem.
Die Ernüchterung folgte schnell. Er musste mit ansehen, wie auf offener Straße Juden beschimpft, gedemütigt oder ohne Anlass unter dem Gegröle schadenfroher Zuschauer zusammengeschlagen wurden. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert. An den Parkeingängen standen Tafeln: „Für Hunde und Juden verboten.“
Sie lebten damals bereits am Rosenhügel in einem Einfamilienhaus, das Mutter von Großmutter geerbt hatte. Eines Abends im Mai 1938 erschienen zwei SA-Männer und erklärten in barschem Ton, dass Juden hierorts unerwünscht wären und Vater schleunigst zu verschwinden hätte. Zwei Tage später übersiedelte er in ein Untermietzimmer im 1.Bezirk.
An einer Plakatwand auf der anderen Straßenseite hatte jemand über die Kriegsparolen des Reichspropagandaministeriums in großen schwarzen Buchstaben „Tod den Nazis“ gemalt. Zwei ältere Männer in grauen Kitteln waren unter Polizeiaufsicht dabei, die staatsfeindlichen Parolen mit amtlichen Anschlägen zu überkleben. Übergroßen Arbeitseifer legten die beiden nicht an den Tag. „Der größte Schuft im ganzen Land ist der Gerüchtefabrikant.“ – „Achtung, Feind hört mit!“ Darunter die üblichen warnenden Hinweise des Justizterrors des Regimes. Drei Konterfeis, zwei Männer und eine Frau. Hans Heinz Grober, hingerichtet am 4.Juni 1944 wegen Landesverrats. Katharina Belmann, hingerichtet am 4.Juni 1944 wegen Wehrkraftzersetzung. Rudolf Emminger, hingerichtet am 4.Juni 1944… Die Henker waren viel beschäftigte Leute im Tausendjährigen Reich. Um das vom Luftkrieg beeinträchtigte Reisen von einer Hinrichtungsstätte zur nächsten in Grenzen zu halten, legte man die Exekutionstermine zusammen. Alles musste seine Ordnung haben. Auch amtlich verordneter Mord und Totschlag. Der Schupo, der das Überkleben der staatsfeindlichen Parolen überwachte, forderte Neugierige barsch zum Weitergehen auf.
Georg richtete den Blick geradeaus. Man musste sich vorsehen, immer und überall. Egal, ob man mit Fremden sprach oder mit Bekannten. Man drehte besser jedes Wort dreimal im Mund um. Als Gerücht galt alles, was nicht den offiziellen Meldungen in Zeitung und Rundfunk entsprach. Auch die Wahrheit über die schlimme Lage an allen Fronten, von der man nur durch das verbotene Abhören ausländischer Radiosender erfuhr. Gerüchte zu verbreiten fiel unter den Paragrafen „Wehrkraftzersetzung“ und gehörte zu den vielen mit der Todesstrafe bedrohten Delikten.
Wenn ihm der längst fällige Besuch bei Onkel Hans heute noch schwerer fiel als sonst, kam das nicht von ungefähr. Er hatte noch keinen Weg gefunden, sich mit seinem Gewissen zu versöhnen. Und wie es aussah, würde er den auch nicht so bald finden. Verschweigen war bloß eine bequemere Form der Lüge. Aber wenn die Wahrheit keinen Sinn machte, behielt man sie besser für sich. Was galt eine Beichte ohne Reue? Was außer Enttäuschung und Verbitterung konnte sie bewirken? Dass Dagmar wieder Kontakt zu ihm suchte, ging ihn und niemanden sonst etwas an. Außer ihrer Mutter hatte niemand von ihrer Beziehung gewusst.
Dagmar stand mit Rainers Eltern nach wie vor in loser Verbindung. Immerhin war sie mit Rainer offiziell verlobt gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, auch nur ihren Namen zu erwähnen, ohne sich in einem Netz von Unwahrheiten zu verheddern. Er fragte sich, wie Dagmar es zuwege brachte, nach allem, was zwischen ihnen beiden geschehen war, unbefangen Rainers Eltern zu begegnen. Er hatte sie von Anbeginn für ihre kühle Besonnenheit im Umgang mit einer Situation bewundert, die ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung brachte.
Die Tür zur Trafik stand offen. Aus einem Radio auf einem Wandregal zwischen Zeitungsstößen kamen leise Operettenklänge. Völkischer Beobachter, Das Reich, Der Stürmer – es drehte ihm jedes Mal den Magen um, wenn er die Machwerke der Nazipropaganda sah. Onkel Hans saß über ein Buch gebeugt hinter dem Ladentisch. Neben dem Buch lag ein Steckschach mit roten und schwarzen Figuren. Er blickte auf, als Georg eintrat, und klappte das Buch zu. Er war merklich gealtert im vergangenen Jahr. Die Lachfalten um seinen Mund hatten sich zu tiefen Furchen des Leids gewandelt. An seine einstmals ansteckende Heiterkeit erinnerte nur mehr der Anflug eines Lächelns, als er hinter dem Ladentisch hervortrat.
„Servus, Bub!“, sagte er und streckte die Hand aus.
Georg fasste sie mit einer Aufwallung von Wärme. Bub! So würde ihn Hans wohl noch nennen, wenn er bereits am Stock ging.
„Löst du Schachprobleme?“
„Kennst du in dieser beschissenen Welt noch andere Probleme, die sich ohne Gewalt lösen lassen? Sag mir, wie es daheim geht.“ Georg hob die Schultern.
„So, so. Mutter müht sich in der Zahnradfabrik ab. Vater sehen wir nach wie vor nur selten. Wenn die Wehrmacht Reifen zur Reparatur schickt, muss er auch am Wochenende in die Werkstatt. Zu uns auf den Rosenhügel zu kommen, traut er sich nicht. Da hätte auch Mutter zu viel Angst. Gaststätten oder Cafés darf er bekanntlich nicht betreten. Gelegentlich treffen Mutter und ich mit ihm zu einem Spaziergang im Grünen zusammen. Ein-, zweimal in der Woche ruft er an. Du weißt ja, auch die Benützung von Telefonzellen ist Juden verboten. Zum Glück ist seine Zimmerwirtin eine Seele von Mensch. Manchmal kocht sie für ihn abends sogar aus eigenen Beständen.“
Onkel Hans holte ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche seines grauen Arbeitsmantels und hielt es ihm hin. Dann klemmte er sich selbst einen Stängel zwischen die Lippen.
„Er wird nicht mehr allzu lang durchhalten müssen. Der Tag, an dem die letzte Stunde für die braune Brut schlägt, ist nicht mehr weit.“
„Wenn das für Vater nicht zu spät kommt. Seit Großmutter und seine Geschwister deportiert wurden, steht in seinem Zimmer ein gepackter Koffer. Für den Fall der Fälle, wie er sagt. Wer weiß, was den Nazis noch einfällt. Wenn es ihnen passt, kümmern sie sich nicht einmal um ihre eigenen Bestimmungen.“
„Ich habe deinen Vater immer als starken Mann geschätzt.“
Georg zog schweigend an seiner Zigarette. Was sollte er sagen? Dass ihm dies nie in den Sinn gekommen wäre? Sie drückten fast zur gleichen Zeit ihre Zigaretten aus. Obwohl sie sich schon zuvor in gedämpftem Ton unterhalten hatten, senkte Hans seine Stimme weiter ab.
„Ich hab heute um vier Uhr früh London gehört…“
Er brach jäh ab, als ein Schatten durch die Türöffnung fiel.
„Heil Hitler!“, sagte der Mann im Eintreten. Es war ein Zivilist um die vierzig. Er trug keinen Schnurrbart, aber eine streng gescheitelte Frisur wie Hitler. Im Revers seiner Jacke steckte das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP.
„Guten Tag“, grüßte Onkel Hans.
Der Mann warf ihm unter gerunzelten Brauen einen scharfen Blick zu. „Den Völkischen Beobachter, bitte.“
Onkel Hans langte hinter sich und legte ein Exemplar der Zeitung auf den Ladentisch. Die Überschrift stach in dicken Balkenlettern hervor: „LONDON IM RAKETENHAGEL DER V1.“
„Jetzt kriegen sie, was sie verdienen“, bemerkte der Mann grinsend.
„Jeder bekommt früher oder später, was er verdient“, sagte Hans Weber kryptisch.
Der Mann hob mit einem Ruck den Kopf. „Wie meinen Sie das?“
„So, wie Sie es eben ausgedrückt haben.“
Der Mann musterte ihn feindselig, während er aus einer Jackentasche Bezugsmarken für Tabakwaren zum Vorschein brachte.
„Zehn Stück“, verlangte er.
Onkel Hans zählte aus einer Großpackung zehn Zigaretten auf den Ladentisch.
„Andere gibt’s nicht?“ Der Mann hob schnuppernd die Nase.
„Die besseren Zigaretten rauchen Sie wohl selber?“
Hans schüttelte den Kopf. „Wenn Sie um fünf in der Früh kommen, kriegen Sie auch die Besseren.“
Der Mann nahm Zigaretten und Zeitung und verließ grußlos den Laden. Hans Weber folgte ihm zur Tür und schob mit dem Fuß einen Holzkeil beiseite. Die Tür fiel mit einem Klingellaut ins Schloss.
„Arschloch!“, murmelte er.
Georg lachte. „Was hältst du von diesen Raketenangriffen?“
„Mach dir keine Sorgen. Die Briten haben 1940 monatelang die Luftangriffe der deutschen Bomber überstanden, die werden auch die Raketen überleben. Von denen ist ohnedies die Hälfte Blindgänger oder fällt ins Meer.“ Er deutete auf eine offene Tür im Hintergrund des Geschäfts. „Komm nach hinten.“
In der fensterlosen Kammer, die kaum mehr als drei mal drei Meter maß, brannte Licht. Eine Ecke nahm ein Tisch mit zwei Stühlen ein, eine andere ein abgewohntes grünes Sofa. Die linke Wand, die vom Laden aus nicht zu sehen war, wurde zur Hälfte von einer generalstabsmäßigen Europakarte von Spanien bis zum Ural bedeckt. Im Osten markierten schwarze Stecknadeln den Verlauf der Frontlinie 1941/42, von Leningrad über den Stadtrand von Moskau bis nahe Stalingrad und zum Kaukasus. Rote Stecknadeln kennzeichneten den gegenwärtigen Frontverlauf. Dazwischen erstreckte sich der riesige Teil Russlands, den die Wehrmacht erobert und wieder an die Rote Armee verloren hatte.
Onkel Hans wies mit dem Zeigefinger auf Ostpreußen.
„Ich hab frühmorgens die Nachrichten aus London gehört. Die Sowjets stehen schon an der ostpreußischen Grenze. Markieren tu ich das erst, wenn sie es bei uns in den Nachrichten zugeben.“ Sein Zeigefinger übersprang den halben Kontinent und deutete auf die Normandie, wo, über einen kleinen Küstenabschnitt verteilt, ein gutes Dutzend gelber Nadeln steckte. „Aber das Wichtigste: Die Engländer und Amerikaner haben in der Normandie endgültig Fuß gefasst und sind weit ins Landesinnere vorgestoßen. Weißt du, was das heißt? Sie haben es geschafft! Die zweite Front steht!“
Onkel Hans war plötzlich wie ausgewechselt. Er füllte aus einer Flasche Schnaps in zwei Wassergläser.
„Darauf müssen wir anstoßen, Bub“, sagte er lebhaft. „Das ist der Anfang vom Ende.“
Georg fühlte sich leicht beschwingt, als er die Trafik verließ. Es war ein Glück, dass Hitler und sein Gefolge von Rassenhass und Vernichtungswut mit Blindheit geschlagen waren. Hätten sie Menschen und Material, die sie für die Judentransporte benötigten, an der Invasionsfront eingesetzt, wären die Alliierten vermutlich in Bedrängnis geraten. Wenn sich die Lage weiterhin so entwickelte, wie es gegenwärtig aussah, konnte das Ende tatsächlich nicht mehr allzu fern sein. Ein unvorstellbarer Gedanke. Das Ende all der Unerträglichkeiten, die das Leben im Würgegriff hielten. Eine Welt ohne Furcht vor der Allmacht der Willkür, ohne das Gefühl der Wehrlosigkeit, ohne den zermürbenden Druck auf Geist und Verstand, ohne das heisere Gebrüll nach Rache und Blut und Boden und Judenhass und Sieg oder Heldentod – gab es die überhaupt noch?
Ein Landser kam ihm mit den unsicheren Schritten eines Angeheiterten entgegen. Seine Uniform sah aus, als hätte er darin geschlafen. Die Zeiten der Galamonturen und Bügelfalten waren ebenso dahin wie das forsche Gehabe der Unbesiegbarkeit.
„Haste ’ne Zigarette für mich, Kamerad?“, redete ihn der Soldat an.
Georg konnte leichten Alkoholdunst riechen. Armes Schwein, dachte er. Er griff in die Tasche und nahm drei Zigaretten aus einem der Päckchen, die Onkel Hans ihm zugesteckt hatte. Der Soldat betrachtete sie, als hätte er Ähnliches nie zuvor gesehen.
„Mensch, det sind ja drei!“ Er salutierte. „Vergess ick dir nie, Kamerad, niemals“, sagte er und trollte sich.
Die ermutigenden Nachrichten hatten Georg fast vergessen lassen, was ihn vor dem Besuch bei Onkel Hans bedrückt hatte. Das Kriegsgeschehen, und damit sein Schicksal, näherte sich der entscheidenden Phase. Das drängte alle anderen Probleme in den Hintergrund. Es war ihm erspart geblieben, einem unliebsamen Thema auszuweichen. Aber das war nur ein Aufschub. Irgendwann würde die Geschichte mit Dagmar ans Tageslicht kommen. Irgendwann würde er sie, seinem inneren Zwang zur Aufrichtigkeit gehorchend, selbst preisgeben. Doch irgendwann lag in der Ferne, weit jenseits der Zukunft. Und die Zukunft war bis zur Wahrnehmungsgrenze geschrumpft. Sie reichte bis zum nächsten Tag, bestenfalls.
Die Musikklänge aus den offenen Fenstern wurden abrupt von Kuckucksrufen abgelöst. Wenn der Kuckuck ruft, sind die Bomben nicht mehr weit, hieß es unter den Leuten. Georg warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war zehn Uhr zehn. Die wohlbekannte Stimme eines Rundfunksprechers meldete sich mit einer Luftwarnung: „Starke feindliche Kampfverbände über Kärnten und Steiermark im Anflug auf Oberdonau und Niederdonau. Der Reichssender Wien schaltet nunmehr auf Drahtfunk um.“
Das Straßenbild veränderte sich schlagartig. Eine unsichtbare Macht schien das Kommando über alle Bewegungsabläufe übernommen zu haben. Einige Passanten blieben unschlüssig stehen. Leute, die bislang dahingeschlendert waren, beschleunigten ihre Schritte. Ein älteres Paar, das Georg entgegenkam, machte auf den Absätzen kehrt, als wäre ihm eben eingefallen, etwas daheim vergessen zu haben. Eine vor einem Lebensmittelladen versammelte Menschentraube löste sich in Einzelindividuen auf, die nach allen Seiten auseinanderstoben wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Ein Teil der Leute formierte sich zu Gruppen, um in verschiedene Richtungen zu Schutzräumen zu eilen, die als besonders sicher galten.
Georg hatte das obere Ende der „Rollergasse“ erreicht, als die Sirenen einsetzten. Sekundenlang hing ein einzelner durchdringender Ton über den Dächern, ehe sich das zeitversetzte auf- und abschwellende Heulen der über die Stadt verteilten Warnanlagen zu einer ohrenbetäubenden Schallwolke vereinigte.
Georg dachte nicht daran, einen Schutzraum aufzusuchen. Er bog nach links ab und arbeitete sich durch einen entgegenkommenden Menschenstrom, der sich hastig in Richtung der bombensicheren Katakomben von St.Stephan bewegte. Er achtete nicht auf die Flüche und Rempeleien. Nichts und niemand konnte ihn davon abhalten, den Luftangriff im Freien zu verbringen. Er peilte eine Bombenruine im Hinterhof eines alten Gebäudekomplexes an, die er kürzlich entdeckt hatte. Sichere Zufluchtsstätten waren Bombenruinen nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine zweite Fliegerbombe an der gleichen Stelle einschlug, war eher gering.
Die Gehsteige hatten sich fast geleert, als er sich seinem Ziel näherte. Nur vereinzelte Nachzügler hasteten die leicht abfallende Straße hinab. Aus einer offenen Haustür auf der anderen Straßenseite forderte ihn ein Luftschutzwart auf, den Schutzraum aufzusuchen. Er tat, als hätte er nicht gehört.
An der Ruine in dem zerstörten Gebäudeteil des Innenhofs hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Ein Bild wie gehabt. Eine Bombe hatte die Außenmauer des viergeschoßigen Hoftraktes weggerissen, ohne die Wohnräume dahinter nachhaltig zu beschädigen. Der Mauerschutt reichte bis zum Fußboden des Untergeschoßes. Darüber öffnete sich der Blick auf die Spuren der einstigen Bewohner. In einer Küche hing ein weißes, mit Blumenmustern besticktes Tuch von einem Esstisch. Auf dem Tisch standen Teller und eine Schüssel. Ein Schlafzimmer mit zerwühltem Doppelbett und einem Hitlerbild über dem Kopfende. Ein Wohnzimmer mit einem ovalen Tisch in der Mitte und einer gepolsterten Sitzgarnitur im Hintergrund. Es sah aus, als hätten die Darsteller eines Kammerspiels fluchtartig die Bühne verlassen.
Im Augenblick herrschte Stille. Keine Stimmen, kein Verkehrslärm. Die Stadt hielt den Atem an. Um der glühenden Sonne zu entgehen, setzte er sich im Schatten eines Mauerpfeilers auf eine weiße Kohlenkiste, die den Absturz von oben einigermaßen heil überstanden hatte, und atmete tief den Rauch seiner Zigarette ein. Wenn es nach ihm ging, konnte die Vorstellung beginnen. Obgleich niemand wusste, was auf dem Programm stand. Wie jedes Mal, wenn die Stunde der Bewährung gekommen war, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Wie seinerzeit als Kind, wenn er zu Weihnachten ungeduldig auf das Läuten des Glöckchens gewartet hatte, das die Tür zum lichterglitzernden Christbaum öffnete.
Er war sich bewusst, dass sich sein irrationales Verhalten nicht einmal mit krausester Logik erklären ließ. Wem half es, dass er den Verzicht auf Schutz vor den Bomben als seinen persönlichen Beitrag zur Beendigung des Nazi-Schreckens betrachtete? Er war krank, psychisch deformiert, wie alle in diesem Krieg. Kein normaler Mensch konnte die Stunde herbeiwünschen, in der er vielleicht in Stücke gerissen wurde. Aber man hatte längst keine Wahl mehr zwischen Normalität und Irrsinn. Er fühlte sich wie vor einer Operation, von der nicht abzusehen war, ob er sie überleben würde, deren Unterbleiben jedoch den sicheren Tod bedeutete.
Im Südosten und im Westen setzte das dumpfe Stakkato schwerer Flakbatterien ein. Der Auftakt zu einem infernalischen Konzert für tausend Pauken und Orgeln, veranstaltet von einem todbringenden Orchester. Man duckte sich unwillkürlich unter dem Donnern und Tosen. Für manch einen würde das schrille Pfeifen fallender Bomben, das kurz vor dem Einschlag abriss, das Letzte sein, was er im Leben hörte.
Der langsam näher kommende Geschützdonner erinnerte ihn widersinnigerweise an Feriennächte auf dem Land, da er am Hundegebell den Weg eines späten Wanderers verfolgen konnte. Aus einem offenen Fenster plärrte eine Radiostimme: „Starke feindliche Kampfverbände über Steinamanger und dem westlichen Wienerwald im Anflug auf den Großraum Wien.“
Mit einem Schlag begann das berstende Krachen der Batterien von den Flaktürmen allen anderen Lärm zu übertönen. Im gleichen Moment wurde dumpfes Brummen hörbar, als näherte sich ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen. Innerhalb kurzer Zeit schwoll es zu einem sonoren Dröhnen an, ähnlich dem tiefen Bass einer Kirchenorgel. Georg konnte das Vibrieren der Kiste unter seinen Hinterbacken spüren. Es war, als hockte er auf einem schweren Motor, der langsam auf Touren kam.
Während Hausdächer den Blick nach Süden und Osten einschränkten, hatte er nach Norden und Westen freie Sicht. Er blickte angespannt in den strahlenden Sommerhimmel. Noch war kein Flugzeug zu sehen, noch fehlten im ungetrübten Blau die tödlichen Puderwölkchen explodierender Flakgranaten.
Er hielt den Atem an, als die ersten Kampfgeschwader über dem Dachhorizont in sein Blickfeld gerieten. Es war ein erhebender Anblick. Sie flogen in Keilformation, Welle um Welle, eine gigantische Phalanx, die danach griff, den Himmel zu erobern. Jede Maschine ein winziger dunkler Punkt mit vier Kondensstreifen im Schlepp, duftigen weißen Gespinsten, die zu einer durchsichtigen, den Himmel bedeckenden Wolkenbank verschmolzen, hinter der die Sonne verblasste. Es war unmöglich, sie zu zählen. Es waren Aberhunderte, die tief gestaffelt unbeirrt durch die dicht an dicht sprießenden Wolkenpilze der Luftabwehr ihre Spuren in das Himmelsblau pflügten.
Obwohl die Pulks um einiges westlich an seinem Standort vorbeiflogen, trat er vorsichtshalber in den Schutz der Toreinfahrt. Die Splitter der Flakgranaten hatten ausgezackte, rasiermesserscharfe Bruchkanten. Ein daumengroßes Stück konnte nach dem Sturz aus achttausend Metern Höhe einem Menschen das halbe Gesicht wegreißen. Unvermittelt merkte er, dass ihn Durst plagte. Seine Lippen waren trocken und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er hätte jetzt etwas gegeben für einen Schluck Wasser. Aber daran war in dem fremden Haus nicht zu denken.
Noch ehe sich der Anflug der Luftarmada aus dem Westen erschöpft hatte, tauchten am östlichen Himmel neue Geschwader auf. Im Norden setzte das dumpfe, rollende Grollen der Bombeneinschläge ein. Er wusste, was dort geschah. Wo flächendeckende Bombenteppiche niedergingen, blieb kein Stein auf dem anderen. Eine Rauchwolke löste sich vom Boden und wuchs rasch zu einer wallenden dunklen Wand an. Es sah aus, als bäumte sich die Erde auf, um ihren Peinigern entgegenzutreten.
Am Himmel scherte ein Flugzeug aus dem Verband aus, eine schwarze Rauchschleppe hinter sich herziehend. Er beobachtete mit schmalen Lippen eine zweite Maschine, die in einer Spirale brennend der Erde entgegenraste. Was auf dem Boden während des Bombardements vorging, konnte man aus der Ferne nicht erkennen. Das Entsetzliche beim Anblick eines abgeschossenen Flugzeugs war das Bewusstsein, den Tod von Menschen direkt vor Augen zu haben. Den Tod von Männern, die gekommen waren, um das Ende des Naziterrors einen Schritt näher zu bringen.
Etwas Furchterregendes und zugleich Majestätisches ging von der Szenerie aus. Als schickte ein zürnender Gott Boten seiner Allmacht, um seine Feinde mit einem Schlag zu vernichten. Georg sah auf seine Hände hinab. Während der ersten Luftangriffe, die er im Freien erlebte, hatten sie zu zittern begonnen, seine Handteller waren feucht geworden. Jetzt konnte er mit ruhigen Fingern nach einer Zigarette greifen. Das war weder Kaltblütigkeit noch Triumph seines Mutes. Das war eine wachsende Abstumpfung gegen das Unabänderliche. Das Wissen um Tod und Vernichtung in Blickweite hatte längst die Schranken des Unvorstellbaren durchbrochen.
Die Entwarnung erfolgte um dreizehn Uhr achtundfünfzig. Das anhaltende Heulen der Sirenen hing über der gelähmten Stadt wie das Jammern eines verendenden Tieres. Als er daranging, die Hauseinfahrt zu verlassen, entdeckte er in einem fensterlosen Seitengang eine Wasserstelle. Er beugte sich unter den Messinghahn und ließ das kalte Nass über die Hand in den Mund laufen. Ein dünnes Gerinne floss ihm über Kinn und Hals bis zur Brust. Er wischte es nicht fort, sondern genoss die kühlende Erfrischung.
Draußen füllte sich die Straße langsam mit aus den Schutzräumen quellenden Menschen. Nach dem Kellerdunkel blinzelten sie wie verspätete Nachtschwärmer unter schmalen Lidern zum Himmel, als wollten sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es tatsächlich vorbei war. Fast konnte man ihr befreites Aufatmen hören. Der Wind hatte die Kondenswolken verweht. Die Sonne lachte aus einem ungetrübten Himmel, als wäre es nie anders gewesen.
Es war zwei Uhr vorbei. Während des Luftangriffs hatte er sich auf das Geschehen konzentriert. Nun war es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Er konnte in einer Viertelstunde bei der Abfahrtsstelle der Werksbusse sein. Wenn er bald mit einem Transport mitkam, mochte es sich eben ausgehen, noch vor Ende der Arbeitszeit die nicht mehr benötigten Zeichnungen im Heidewerk abzugeben und die neu übernommenen im Büro abzuliefern. Insofern ein eher zweifelhafter Versuch, weil der Zeitbedarf schon unter normalen Bedingungen, ohne vorhergegangenen Luftangriff, schwer einzuschätzen war. Auf jeden Fall wollte er eine Verspätung vermeiden, die ihn zwingen würde, die Pläne nach Hause mitzunehmen. Zwar unterlagen die Konstruktionspläne, um die es ging, nicht der höchsten Geheimhaltungsstufe. Aber die Frage der Geheimhaltung war, angesichts der herrschenden Spionagehysterie, ein viel zu heikles Thema, um das geringste Risiko einzugehen. Insbesondere in seinem Fall. Das Nächstliegende war, nach den Gegebenheiten an der Busstation zu entscheiden.
Während er durch die wieder zum Leben erwachte Innere Stadt schritt, fiel ihm der Tag ein, an dem er sich zum ersten Mal auf den Weg zum Heidewerk gemacht hatte. Der Entschluss war ihm nicht leichtgefallen. Seine Schulkollegen wurden unmittelbar nach der Matura zum Arbeitsdienst und anschließend zur Wehrmacht eingezogen. Er selbst wurde als „wehrunwürdig“ weder zum Arbeitsdienst noch zur Wehrmacht einberufen. In seinem Wehrpass stand der Vermerk „n. z. V.“, die Abkürzung für „nicht zur Verwendung“.
Vor der Matura hatte er sich nicht den Kopf zerbrochen über die Zeit danach. Das konnte warten, bis er das Maturazeugnis in Händen hielt. Dass er als jüdischer Mischling nicht zu einem Universitätsstudium zugelassen wurde, wusste er ohnehin. Das stand zwar in keinem Gesetz, wie man ausländischen Journalisten treuherzig versicherte, aber germanische List hatte eine Lösung gefunden. Um inskribieren zu dürfen, musste man dem NS-Studentenbund beitreten – und der nahm keine Halbjuden auf.
Dass man ihm nicht gestatten würde, seine Zeit mit Spaziergängen totzuschlagen, war ihm gleichfalls von Anbeginn klar. Es gab eine Arbeitsverpflichtung für alle arbeitsfähigen „Volksgenossen“. Irgendwann würde man ihn zu einem Einsatz einberufen, ohne nach seinen Wünschen zu fragen. Wenn er einer Zwangsverpflichtung entgehen wollte, musste er selbst etwas unternehmen. Ratsam erschien ihm vor allem eine Tätigkeit in einem Bereich, der aufgrund der kriegswichtigen Bedeutung seinen Mitarbeitern Schutz vor willkürlichen Zwangseinsätzen an anderer Stelle bot. Bloß hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Zufällig fiel ihm in diesen Tagen eine Zeitung in die Hände, in deren Anzeigenteil ein Flugzeugwerk technische Zeichner suchte. Das entsprach zwar genau seinen Vorstellungen, hatte aber gleich zwei Haken. Einerseits war da das Problem seiner Abstammung, andrerseits hatte er als Absolvent eines humanistischen Gymnasiums keinen blassen Schimmer von technischem Zeichnen. Wenn er sich dennoch nach einigem Zögern entschloss, dem Angebot nachzugehen, dann vor allem deshalb, weil er keine sinnvolle Alternative sah.
Damals hatte er es noch als Demütigung empfunden, an den Anfang eines Gespräches eine Erklärung über seine Abstammung stellen zu müssen. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Wann immer es sich als unvermeidlich erwies, seine Abkunft offenzulegen, tat er dies mit jenem Gleichmut, mit dem man vor Behörden Namen, Geburtsdatum und Wohnort zu nennen pflegt. Im Gegensatz zu früher duckte er sich nicht, sondern verspürte etwas wie herausfordernden Trotz, der ihm den Rücken stärkte.
Bis zu seinem ersten Besuch im Hauptwerk hatte er von dessen Existenz nicht gewusst. Den allgemein gebräuchlichen Namen Heidewerk verdankte das nach der Annexion Österreichs errichtete ausgedehnte Werksareal mit anschließendem Flugplatz der Lage inmitten eines vordem ungenützten Heidegebiets, wenige Kilometer vom östlichen Wiener Stadtrand entfernt. Auf den ersten Blick hätte man die niedrigen weißen Häuser mit den roten Giebeldächern für eine freundliche Reihenhaussiedlung im Grünen halten können. Wären da nicht der hohe, stacheldrahtbewehrte Zaun und die bewaffneten Wachen am Schlagbaum gewesen.
Die ersten Eindrücke waren nicht gerade ermutigend. Er musste sich im Wachgebäude an der Einfahrt bei einem unfreundlichen Werkschutzmann ausweisen, den Grund seines Besuches angeben und seine Aktentasche öffnen, in der sich nichts befand außer einer Mappe mit seinen Personaldokumenten und einem grünen Apfel. Dann erhielt er einen Laufzettel, auf dem Eintreffen und Aufenthaltsdauer in der Personalabteilung bestätigt werden mussten.
Die Personalabteilung lag im ersten Gebäudekomplex neben der Einfahrt. Auf dem Marsch durch einen endlos langen, schlecht beleuchteten Korridor mit Türen zu beiden Seiten begleitete ihn ein mehr als flaues Gefühl im Magen. Als ginge er eben daran, einen unwiderruflichen Schritt von fragwürdiger Bedeutung zu tun. Das gab sich erst, als er dem Personalchef gegenübersaß. Herr Högmann war ein Mann in mittleren Jahren mit fliehendem Haaransatz und freundlichen blauen Augen. Nach einigen einleitenden Fragen warf er einen flüchtigen Blick auf den Ariernachweis, den Georg zuoberst auf seine Dokumente gelegt hatte. Seine Worte hatten trotz der harten Aussprache des Norddeutschen einen verbindlichen Klang.
„Ihre Abstammung interessiert mich nicht“, sagte er und schob die Dokumente über den Schreibtisch. „Wenn Sie bei uns arbeiten wollen, sind Sie willkommen.“
Högmanns Bemerkung hatte ihn dermaßen verblüfft, dass er darüber fast den zweiten Haken vergessen hätte: das Fehlen jeglicher Vorkenntnisse für einen Einsatz als technischer Zeichner. Zu seiner Erleichterung erwies sich auch diese Hürde nicht als unüberwindlich. Er wurde von Högmann telefonisch zu einer betriebseigenen Einschulung angemeldet und verließ zwei Stunden später das Gelände in entspannter Stimmung, versehen mit einem Werksausweis und einer Benützerbewilligung für die Pendelbusse.
Damals hatte kühles Spätfrühlingswetter geherrscht. Keine Spur von der Hitze, die ihn heute veranlasste, sich im Schatten der Häuser zu halten. Die erste Rückfahrt zur Stadt in einem Werksbus hatte er noch gut in Erinnerung. Während draußen Wiesen und Felder vorbeiflogen, überließ er sich einem Gefühl wohltuender Entspanntheit. Er wusste nicht, wohin der kühne Schritt, den er unternommen hatte, führen würde. Vorerst stützte er seine Hoffnung, den Bedrohungen der Naziwillkür nicht länger gänzlich schutzlos ausgeliefert zu sein. Mit einigem Optimismus konnte er sogar davon ausgehen, eine Entscheidung getroffen zu haben, die seine Chancen, den Krieg heil zu überstehen, nicht unwesentlich verbesserte.
Am Rand des Beethovenparks blieb er im Schatten des Akademischen Gymnasiums stehen. Durch das Blätterwerk der Bäume und Sträucher konnte er vor dem Verwaltungsgebäude auf der anderen Seite des kleinen Parks zwei leere Autobusse sehen. Er durchquerte die Grünanlage und stieß auf einen Werkschutzmann, dessen Aussagen ihn aller weiteren Überlegungen enthoben. Da die Zufahrten zum Heidewerk bis auf Weiteres wegen Bombeneinschlägen unpassierbar waren, blieb ihm als Alternative nur die Rückkehr in das Konstruktionsbüro.
In der Mittagshitze schien es niemand eilig zu haben. Die Menschen bewegten sich so bedächtig, als fürchteten sie, ihrem kurzen Schatten zu enteilen. Auf halbem Weg zur Stadtbahnstation fiel ihm auf, dass mehrere Leute das Stationsgebäude betraten, um es umgehend wieder zu verlassen. Er erkundigte sich bei einem entgegenkommenden Passanten und erfuhr, dass der Fahrbetrieb der Stadtbahn noch eingestellt war. Auch die Straßenbahnzüge der Zweierlinie verkehrten nicht.
Verkehrsstillstand nach Luftangriffen gehörte zur Norm. Zwar hatte sich diesmal der Angriff auf die Erdölraffinerie in Floridsdorf und die nördlichen Industriegebiete konzentriert, was jedoch Bombenschäden abseits des Zielgebietes nicht ausschloss. Wurde ein Kampfflugzeug durch Flakfeuer beschädigt, warf die Mannschaft die Bomben schleunigst ab, um mit der um Tonnen erleichterten Maschine den Rückflug in größerer Höhe und mit höherer Geschwindigkeit antreten zu können.
Obwohl Schlenderschritt nicht seinen Gepflogenheiten entsprach, enthielt er sich, wie die meisten Passanten, schweißtreibender Eile. Zur Hitze hatte sich drückende Schwüle gesellt. Am westlichen Horizont wuchsen graue Wolkentürme aus den Dächern. Ein vorbeifahrendes Beiwagenmotorrad wirbelte Bündel glitzernder Stanniolstreifen auf, die von den amerikanischen Flugzeugen in flächendeckenden Wolken abgesetzt wurden, um die Zielgeräte der Flakbatterien zu stören.
Vor dem Künstlerhaus hingen Einladungen zu einer Ausstellung zeitgenössischer italienischer Kunst, die längst vorüber war. Er hatte die Schau an einem Sonntagvormittag besucht und sich, inmitten einer bescheidenen Anzahl Gleichgesinnter, an der ausufernden südlichen Farbenpracht abstrakter Malerei geweidet. Der freie Umgang der italienischen Maler mit Farbe und Form stand in krassem Gegensatz zu der von Goebbels verordneten Staatskunst. Wer sich dem Wunsch des Reichspropagandaministers nach realistischer Blut-und-Boden-Malerei nicht fügte, fand in öffentlichen Ausstellungen keinen Platz. Abstrakte Gemälde deutscher Herkunft waren in den Abstellkammern für Werke der „entarteten Kunst“ verschwunden.
Jedes Mal, wenn er am Künstlerhaus vorbeikam, musste er an seine erste Begegnung mit Marisa denken. Es geschah während seines Besuchs einer Ausstellung kroatischer Gegenwartskunst. Vor einer Skulptur von Meštrović stießen sie fast zusammen. Sie war eine auffallende Erscheinung. Groß, schlank, mit einer kupferfarbenen Mähne und etwas zu nahe zusammenstehenden dunklen Augen. Die konzentrierte Ernsthaftigkeit, mit der sie Meštrovićs Statuette betrachtete, weckte den Verdacht, sie wäre eben dabei, deren Proportionen kritisch zu prüfen.
Er hatte sich abrupt abgewandt und seinen Blick auf das Gemälde einer farbverfremdeten Karstlandschaft geheftet, ohne deren eigentümlichen Reiz wirklich wahrzunehmen. Sich abzuwenden, wenn ihm eine Frau gefiel, blieb ihm als einziger Schutzmechanismus gegen gefährliche Versuchungen. Wer die Nürnberger Rassengesetze missachtete, landet im Zuchthaus, wenn nicht auf dem Schafott. Die Nazis kannten keine Gnade mit jüdischen Mischlingen, die sich der „Rassenschande“, des „Verbrechens gegen die Reinheit des deutschen Blutes“ schuldig machten. Und das tat ein Halbjude, ging er mit einer „Deutschblütigen“ ins Bett.
Von allen Einschränkungen, die seine Abstammung mit sich brachte, gehörte die Abschottung vom Umgang mit der Weiblichkeit zu den demütigendsten. 1938, zur Zeit des Umbruchs, war er noch zu jung gewesen, um eine ständige Freundin zu haben. Das volle Ausmaß seiner Isolation wurde ihm bewusst, als er sich von Mädchen fernhalten musste, um die er zuvor in freundschaftlichem Wettstreit mit Rainer geworben hätte. Er hatte sich ausgestoßen gefühlt, abgeschnitten von einem Gefühlsleben, von dem er damals mehr träumte als wusste.
An den Häusern entlang der Lothringerstraße wiesen frisch aufgemalte weiße Pfeile den Weg zum nächsten Luftschutzraum. Von den Lichtmasten am Schwarzenbergplatz plärrte eine blecherne Lautsprecherstimme eine Sondermeldung des Oberkommandos der Wehrmacht. Nahe der Mariahilfer Straße holte ihn bimmelnd eine Straßenbahn der Zweierlinie ein. Er schwang sich, ohne das Anhalten des überfüllten Zuges abzuwarten, auf das vordere Trittbrett des Beiwagens, das er mit einem Unteroffizier der Luftwaffe teilen musste, und hielt sein Gesicht in den erfrischenden Fahrtwind. Die hintere Frontscheibe des Triebwagens fehlte. Zwei Halbwüchsige saßen auf dem Motorkasten und ließen die Beine über den Fensterrahmen ins Freie baumeln. Sie redeten lachend mit einem Mann, der, an eine Leiste geklammert, auf der Kupplung zwischen Triebwagen und Anhänger balancierte.
Bei der Votivkirche war Endstation. Er stieg ab und hielt nach einer Straßenbahn für die Weiterfahrt Ausschau. Die Haltestellenbereiche waren verlassen. Fußgängerströme entlang der Schienen ließen es ratsamer erscheinen, sich ihnen anzuschließen, als an der Haltestelle auf einen Zug zu warten, von dem niemand wusste, wann er kommen würde. Die Wolken im Westen hatten sich so schnell aufgelöst, wie sie sich gebildet hatten. Falls irgendwo ein Gewitter niedergegangen war, hatte es die Schwüle in den Häuserschluchten der Stadt nicht mindern können.
Unwillkürlich fielen ihm die strahlenden Ferientage ein, die er einst zusammen mit Rainer an einem Ziegelteich bei Vösendorf verbracht hatte. Für eine Sekunde erschienen vor seinen Augen wie Schnappschüsse Bilder aus einer glücklichen, versunkenen Welt. Sie waren jeden Tag mit den Fahrrädern zu dem Teich gefahren, um die Zeit mit Schwimmen und Fischen und allem möglichen Unfug totzuschlagen, unbeschwert und ohne Ahnung davon, wie vergänglich das Glück war, das sie genossen.
Das Konstruktionsbüro war ursprünglich in der Produktionshalle einer stillgelegten Süßwarenfabrik untergebracht. Nachdem im Frühjahr die Halle durch einen Bombentreffer in der benachbarten Lackfabrik schwer beschädigt worden war, übersiedelte das Büro in ein ehemaliges Kaffeehaus in der Nußdorfer Straße. Unglücklich war darüber niemand. In der Weitläufigkeit der Fabrikshalle mit ihren Drahtglasfenstern war man an den weit über den Raum verstreuten Arbeitsplätzen wie in einer Auslage der ständigen Beobachtung von allen Seiten ausgesetzt gewesen. Im Gegensatz dazu entstand in dem Eckkaffeehaus durch die Anordnung der Zeichenbretter in zwei parallel verlaufende, durch einen Mittelgang getrennte Reihen fast ein Hauch von Privatsphäre. Da die Reißbretter während der Arbeit zumeist vertikal gestellt wurden, formten sich einigermaßen geschlossene Nischen, die nur vom Mittelgang aus einzusehen waren. Den einzigen Wermutstropfen bildete die beständig schlechte Luft im Lokal. Weil die Fenster sich nicht öffnen ließen, hing über den Köpfen stets eine Geruchsmischung von Zigarettenrauch, Grafit, feuchtem Papier und verbrauchter Atemluft.
Als Georg das Chefzimmer, ehemals Küche des Kaffeehauses, betrat, kaute Ingenieur Türk an einer seiner unvermeidlichen Virginias, von denen er täglich mehr rauchte, als der Zuteilung an Tabakwaren entsprach. Türk leitete das Zeichenbüro mit leichter Hand. Er war etwa einsneunzig groß und schlank, um nicht zu sagen dünn. Auf seinem langen Körper saß ein kleiner runder Kopf. Rot geäderte Apfelbäckchen, eine dichte Bürstenfrisur und hinter dicken Brillengläsern vergnügt funkelnde Äuglein verliehen ihm das Aussehen eines schelmischen Kobolds. Wer ihn näher kannte, wusste, dass es besser war, sich nicht bedingungslos auf die launige Seite seines Wesens zu verlassen. An schlechten Tagen konnte er bissig sein wie eine gereizte Bulldogge.
„Ah, der Manhart“, sagte er, als Georg sich zurückmeldete. „Das war heut wohl nix?“
Georg nickte bestätigend.
Türk paffte eine Rauchwolke aus. „Kann man nix machen. Versuchen Sie’s morgen wieder. Besser, Sie kommen gar nicht erst her. Vielleicht schaffen Sie’s, wenn Sie gleich in der Früh einen Werksbus erwischen. Obzwar eh schon alles wurscht is“, fügte er wie zu sich selbst hinzu.
Wenngleich Georg überzeugt war, dass er von Türk nichts zu befürchten hatte, zuckte er mit keiner Wimper. Defätistische Bemerkungen geflissentlich zu überhören, gehörte zu den Überlebensstrategien. Man musste sich hüten. Ein falsches Wort zur falschen Person und man landete im KZ. Oder im Zuchthaus. Das „Heimtückegesetz“ bot dafür den juridischen Rahmen. Es erlaubte den Richtern, jeden Zweifel am deutschen Endsieg, jede Kritik am Regime, jede Unmutsäußerung als Wehrkraftzersetzung mit Strafen vom Zuchthaus bis zur Enthauptung zu ahnden.
An seinem Arbeitsplatz angelangt, holte er den Aschenbecher aus der Schreibtischlade und stellte ihn neben die Stückliste, die jeder Konstruktion beilag. Die großen Fensterscheiben, die den Kaffeehausgästen einst Ausblick auf das Treiben draußen erlaubt hatten, trugen zum Schutz gegen neugierige Blicke einen bis in halbe Höhe reichenden Milchglasanstrich. Während die oberen Stockwerke der gegenüberliegenden Häuser im letzten Sonnenschein leuchteten, herrschte im Büro mildes Dämmerlicht. Er rückte das Reißbrett zurecht und knipste das Arbeitslicht an.
Poindl, sein Nachbar zur Rechten, trat mit einem Gruß an ihn heran. Wegen einer markanten Schielstellung des linken Auges vom Wehrdienst freigestellt, war er mit seinem Alter von knapp achtzehn Jahren der jüngste Mitarbeiter im Büro. Manchmal, wenn er aufgeregt war oder es eilig hatte, geriet er beim Sprechen ins Stottern.
„Für dich war ein Anruf“, sagte er. „Ich hab zufällig abgehoben.“ Er grinste verschmitzt.
Georg war sich nie sicher, mit welchem von Poindls Augen er Blickkontakt aufnehmen sollte. „Mach’s nicht so spannend. Wer war es?“
„Weiß ich nicht. Sie hat ihren Namen nicht genannt.“
Georg konnte sich keinen Reim darauf machen. Seine Mutter hätte sich am Telefon gemeldet. Dagmar hatte er gebeten, ihn nicht im Büro anzurufen. Wer sonst kam in Betracht?
Poindl beugte sich näher. „Hast du schon gehört?“ Er sprach so leise, dass ihn außer Georg niemand verstehen konnte. „Es kracht an allen Ecken und Enden. Die Russen stehen in Ostpreußen. In der Normandie haben die Alliierten die deutsche Abwehrfront an mehreren Stellen durchbrochen…“
Georg registrierte aus den Augenwinkeln, dass ihn Ingenieur Trauneis von der anderen Seite des Mittelgangs über den Rand seiner Brille hinweg misstrauisch musterte. Trauneis war ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Er hatte die Altersgrenze der Arbeitspflicht längst überschritten. Er sah schlecht, hörte schlecht und hinkte. Wie er jedem, der es wissen oder nicht wissen wollte, mitteilte, saß er vor dem Zeichenbrett, weil er dem Führer und dem Vaterland bis zum letzten Atemzug dienen wollte.
„Ist der Film wirklich so gut, wie die Leute behaupten?“, erkundigte sich Georg vernehmlich.
Poindl schluckte verwirrt. „Sicher“, brachte er nach einer Schrecksekunde hervor. „Du k-kannst froh sein, wenn du eine Eintrittskarte ergatterst.“
Nachdem Poindl in seiner Nische verschwunden war, wandte sich Georg dem Zeichenbrett zu. Bei der Einschulung hatte er als Erstes gelernt, dass die Konstruktionspläne für die Fertigung eines Flugzeugs in getrennten Baugruppen auflagen. Türk hatte ihn der Gruppe Rumpfbau zugeteilt. In den Anfängen seiner Tätigkeit übertrug man ihm einfache Aufgaben, wie etwa den Entwurf von Stützwinkeln mit vielfacher Verwendbarkeit in der gesamten Maschine. Nach und nach wurden die Anforderungen spezifischer und höher.
Als zentraler Teil eines Flugzeugs erforderte die Konstruktion des Rumpfs die Zusammenarbeit mit allen anderen Baugruppen, abgesehen von den als streng geheim eingestuften Einheiten Armaturen und Bewaffnung. Zurzeit arbeitete er an einer besonders anspruchsvollen Aufgabe: an Elementen der Verbindung zwischen Rumpf und Tragwerk.
Es hatte einige Zeit gebraucht, ehe er mit seinem inneren Zwist zurechtkam. Einerseits war er sich bei jedem Bleistiftstrich bewusst, mit seiner Arbeit ein Ziel zu verfolgen, das seinen vitalen Interessen diametral entgegenstand. Andrerseits erlag er zunehmend der Faszination einer Tätigkeit, deren Reiz ihm vordem verschlossen gewesen war. Er musste exakte Gedanken fassen, die sich materialisieren ließen. Er musste komplizierte Konstrukte entwerfen, die in feste Formen gegossen wurden. Die Linien auf dem Zeichenpapier verwandelten sich aus einem Produkt des Gehirns in ein Produkt der Hände. Er baute Brücken zwischen der Zweidimensionalität und der Dreidimensionalität. Völlig abgestreift hatte er sein inneres Widerstreben erst, seit er überzeugt war, dass nichts mehr das Ende der Naziherrschaft aufhalten konnte.
Er betrachtete abwesend die eingespannte Zeichnung. Konnte es sein, dass Dagmar angerufen hatte? Er hatte Monate benötigt, um die Gedanken an sie wenigstens zeitweilig zu verdrängen. Wie er diese Periode düsterer Verzweiflung ohne Marisas Hilfe überwunden hätte, wollte er sich gar nicht erst ausmalen. Wenn die Zeit alle Wunden heilte, brannte dennoch die Erinnerung in den Narben weiter. Bis jetzt hatte er Überlegungen, wie es weitergehen sollte, beharrlich vor sich hergeschoben. Nicht zuletzt, weil es nichts zu überlegen gab. Nicht zuletzt, weil er seine Entscheidung längst getroffen hatte. Er wünschte, allen damit verbundenen Gefahren zum Trotz, nichts sehnlicher, als Dagmar wieder in den Armen zu halten. Wenngleich er nichts mehr fürchtete als das Leid einer neuerlichen Trennung.
Eine laute Stimme hinter der Ecke des Raumes riss ihn aus seinen Gedanken: „Herr Manhart, Sie werden am Telefon verlangt.“
Er stand mit steifen Knien auf und schritt ohne Hast den Gang zwischen den Zeichenbrettern entlang. Das Telefon stand auf einer Ablage neben dem Lichtpausegerät. Ein halb blinder Wandspiegel aus der Kaffeehausvergangenheit täuschte großzügige Raumtiefe vor. Georg sah sich dem löcherigen Bild eines jungen Mannes gegenüber, der zögernd nach dem Telefonhörer griff.
Er erkannte die Stimme am anderen Ende der Leitung nach den ersten Worten.
„Marisa!“, stieß er erleichtert hervor. „Ich dachte, du bleibst noch eine Weile am See?“
„Ich fahre auch wieder hin. Meiner Urgroßmutter ging es nicht gut. Mutter bat mich zurückzukommen.“
„Das tut mir leid“, sagte er.
„Mummi geht es ohnedies schon viel besser. Wenn sie dich sieht, fängt sie garantiert wieder mit dir zu flirten an. Hast du heute Abend Zeit? Ich könnte eine Paella mit Zutaten machen, die du bestimmt seit langer Zeit nicht geschmeckt hast.“
„Das klingt verlockend.“
Einen Augenblick blieb es still.
„Wenn du magst, kannst du über Nacht bleiben“, kam es dann aus dem Hörer.
„Das klingt noch verlockender“, sagte er, den Blick auf den Wandspiegel geheftet.
Er hatte noch ihr leises Lachen im Ohr, während er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte. Er schätzte Marisa, wie sie war. Einmal freizügig, geistreich, scharfzüngig, ein andres Mal liebevoll und anschmiegsam. Er mochte und er schätzte sie, aber er liebte sie nicht. Oder wenn doch, dann auf die ungezwungene Weise einer Liebelei ohne Verpflichtungen. Er hätte bei ihr nie gesucht, was er bei Dagmar gefunden hatte. Das wusste er besser denn je, seit Dagmar wieder Verbindung mit ihm suchte.
Anfang des Monats traf Rainer überraschend zu einem Heimaturlaub ein. Seine Einheit, ein neu aufgestelltes Pionierbataillon, stand vor dem Abmarsch nach Russland. Dass Georg mit ihm erst nach drei Tagen zusammentraf, lag an einem besonderen Umstand. Verbesserungen am Rumpf der Me 209, an deren Entwurf er mitgearbeitet hatte, waren bei der Produktion auf Schwierigkeiten gestoßen. Es kam immer wieder einmal vor, dass Konstruktion und Fertigungsprozess miteinander in Konflikt gerieten. Wie in solchen Fällen üblich, war ein Werkmeister unangemeldet im Büro erschienen und hatte, nicht ohne einige Seitenhiebe auf die „Herren im weißen Mantel“, seine Einwände vorgebracht. Die erforderliche Überarbeitung erwies sich als kniffelige Angelegenheit mit beträchtlichem Zeitaufwand, was sich in Überstunden für die Konstruktionsgruppe Rumpfbau niederschlug.
Um Zeit zu gewinnen, hatten sie sich in einem Café unweit des Büros verabredet. Von einem Plakat gegenüber schaute ein lebensgroßer Hitlerjunge dämlich grinsend in die Wolken. Darunter stand: „Ein deutscher Junge raucht nicht.“ Jemand hatte „Warum?“ darübergekritzelt. Jeder wusste, dass Hitler Rauchen in seiner Nähe nicht duldete. Unter Achtzehnjährigen war eine Zigarette in der Öffentlichkeit verboten. Sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden und das Leben in Hitlers Krieg zu opfern, war hingegen schon Siebzehnjährigen erlaubt.
Neben einem abstoßend bleichen, gegen Lebensmittelmarken erhältlichen Gugelhupf, graubraunem Ersatzkaffee und diversen Kräutertees hatte das Lokal nicht viel anzubieten. Dennoch war es, mangels anderer geeigneter Treffpunkte, gut besucht.
Rainer saß allein an einem kleinen Tisch, ein halb leeres Glas vor sich. Er war nicht in Uniform, sondern steckte in einem braunen Anzug, der den Eindruck erweckte, als wäre ihm sein Besitzer entwachsen.
„Servus, Alter“, grüßte er mit einem breiten Lächeln.
Georg fühlte Schwielen an der Hand, die er drückte. Früher hatten ihre Zusammenkünfte zum normalen Tagesablauf gehört. Die Umstände brachten es mit sich, dass sie einander länger als ein halbes Jahr nicht gesehen hatten. Er hatte diesem Abend mit Vorfreude entgegengesehen. Nun empfand er unerklärlicherweise eine gewisse Befangenheit.
„Was trinkst du da?“ Er deutete auf Rainers Glas.
„Irgendwas mit Ersatzzucker und Ersatzzitrone. Nennt sich Limonade.“
Georg schob ein angebrochenes Zigarettenpäckchen über den Tisch. „Vielleicht hilft das.“
Rainer nahm eine Zigarette. „Gegen Ersatz hilft gar nichts“, sagte er. „Außer du findest Ersatz für den Ersatz.“
Georg beobachtete ihn, während sie die Zigaretten anzündeten. Anders als früher trug er das Haar kurz geschnitten. Gesicht und Hände waren von der Sonne gebräunt. Vielleicht war er im Gesicht schmäler geworden. Wirklich verändert hatte er sich nicht. Bloß der herbe Zug um seinen Mund wirkte fremd.
Rainer blies eine Rauchwolke aus. „Was schaust du mich so an? Du bist auch nicht schöner geworden seit dem letzten Mal.“ Sie lachten. Georg bestellte bei einer mürrischen Kellnerin eine Limonade. Er dachte unwillkürlich an früher, als ihnen Worte und Scherze unbeschwert von den Lippen geflossen waren. Irgendwie wollte das Gespräch nicht recht in Gang kommen.
„Was machst du bei den Pionieren? Ich dachte, du wärst bei den Offiziersanwärtern in Znaim.“