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Nichts ist, wie es scheint Nach zehn Jahren in der Gewalt ihres brutalen Peinigers gelingt der 19-jährigen Madelin McFarland die Flucht. Ihre Mutter Susan ist überglücklich, die totgeglaubte Tochter in die Arme schließen zu können. Doch wenige Stunden später ist Madelin erneut verschwunden, Susans Mann liegt schwer verletzt in der Küche, und ihre jüngere Tochter Harper ist so verstört, dass sie kein Wort mehr spricht. Detective Sergeant Kate Fincher von der Polizei Edinburgh setzt alles daran, Madelin zu finden. ‹Amy›, wie sich die junge Frau nun anscheinend nennt, flieht in die Highlands – doch vor wem?
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Karen Sander
Wenn ich tot bin
Thriller
Nichts ist, wie es scheint
Nach zehn Jahren in der Gewalt ihres brutalen Peinigers gelingt der 19-jährigen Madelin McFarland die Flucht. Ihre Mutter Susan ist überglücklich, die totgeglaubte Tochter in die Arme schließen zu können. Doch wenige Stunden später ist Madelin erneut verschwunden, Susans Mann liegt schwer verletzt in der Küche, und ihre jüngere Tochter Harper ist so verstört, dass sie kein Wort mehr spricht. Detective Sergeant Kate Fincher von der Polizei Edinburgh setzt alles daran, Madelin zu finden. ‹Amy›, wie sich die junge Frau nun anscheinend nennt, flieht in die Highlands – doch vor wem?
Karen Sander arbeitete viele Jahre als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrem Mann im Rheinland und hat über die britische Thriller-Autorin Val McDermid promoviert. Unter ihrem wahren Namen Sabine Klewe hat sie bereits zahlreiche Krimis und Thriller geschrieben, bei rororo erscheint außerdem ihre Reihe um Kommissar Georg Stadler und die Psychologin Liz Montario.
Für meine Mutter.
Danke fürs Immer-da-Sein.
Der Wind ist eisig, feiner Nieselregen peitscht mir ins Gesicht. Meine Finger sind steif vor Kälte. Mein ganzer Körper ist starr vor Angst. Ich bin mir sicher, dass ich sterben werde.
«Na los! Mach schon, rauf da!» Ben steht hinter mir. So dicht, dass ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spüre. «Sei keine Spielverderberin!»
Ich greife nach der Leiter, setze den Fuß auf die erste Sprosse. Das Holz ist modrig. Ben muss das Ding irgendwo hier draußen gefunden haben. Weit und breit ist kein anderes Gebäude zu sehen, nur dieses baufällige Gemäuer, das wohl mal ein Schafstall war. Mit einem Ziehen im Magen denke ich an die rostigen Ketten, die drinnen an der Wand hängen und an denen Wollreste haften.
Langsam klettere ich nach oben. Jeder Schritt ist ein kleiner Sieg. Ich darf bloß nicht nach unten schauen, dann ist es ganz leicht.
Aber der Drang ist unwiderstehlich. Ich bin schon fast oben, als mein Blick wie von allein zu meinen Füßen gleitet. Zu meinen Füßen und dem Nichts darunter. Sofort erfasst mich ein Schwindel. Das alte Steingebäude, das hohe Gras, das zwischen den halb eingefallenen Mauern wuchert, die ganze Landschaft dreht sich.
Mami! Hilf mir!
Schnell kneife ich die Augen zu. «Ich kann nicht», wimmere ich. Meine Stimme klingt weinerlich, und ich weiß, wie sehr Ben das hasst.
«Aufs Dach!», brüllt er so laut, dass ich zusammenzucke.
Ich kralle mich fest, unfähig, mich zu rühren.
Die Leiter ruckt. «Aufs Dach, habe ich gesagt!»
Ich schreie vor Angst, greife hastig nach der nächsten Sprosse.
«Geht doch», ätzt es von unten.
Ohne die Augen zu öffnen, erklimme ich die letzten Sprossen. Jetzt kommt der schlimmste Teil. Ich muss es irgendwie von der Leiter auf den Dachfirst schaffen. Ich lasse die Augen geschlossen, taste nach den kantigen Schieferplatten. Meine Phantasie geht mit mir durch. Ich stelle mir vor, dass Ben die Leiter gar nicht mehr festhält, dass sie nach hinten kippt, wenn ich mich abdrücke, und ich in die Tiefe stürze. Oder, schlimmer noch, dass ich es aufs Dach schaffe, bevor die Leiter umfällt, dass Ben einfach davonschlendert und ich hier oben festsitze. Nichts als endlose graugrüne Hügel um mich herum, deren Kuppen in den tiefhängenden Wolken verschwinden.
Ich beiße die Zähne zusammen und ziehe mich hoch, bis ich bäuchlings auf dem Dachfirst liege, die Augen noch immer fest geschlossen.
Lieber Gott, gib, dass es schnell vorüber ist!
Ich höre, wie Ben die Leiter wegnimmt. Vorsichtig öffne ich die Augen. Solange ich liege, wird mir nicht schwindelig. Ich umarme das Dach wie einen Freund, die Berührung hat etwas Tröstliches. Ben trägt die Leiter an das andere Ende des L-förmigen Gebäudes, lehnt sie an und klettert wie ein Wiesel nach oben. Schon steht er auf dem First, die Arme ausgebreitet, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.
«Na los!», ruft er. «Steh auf! Du kennst die Regeln: Wir balancieren beide auf die Stelle zu, wo die Dachhälften aufeinandertreffen.» Er deutet vor sich. «Wenn du zuerst dort bist, darfst du dir etwas wünschen.»
Gehorsam setze ich mich auf. Es ist nicht gefährlich, sage ich mir, wenn du runterfällst, verstauchst du dir höchstens den Knöchel. Aber kaum sitze ich, setzt der Schwindel wieder ein.
Ich hatte schon als Kind Höhenangst, selbst die Rutsche auf dem Spielplatz habe ich gemieden. Und seit Ben das weiß, ist Balancieren zu einem seiner Lieblingsspiele avanciert.
Ich hasse Bens Spiele. Er behauptet immer, dass sie mich stark machen sollen. Aber das stimmt nicht. Sie sorgen bloß dafür, dass ich mich noch erbärmlicher fühle.
Und genau das will er.
Meine Arme sind wie Gummi, als ich mich auf die Hände stütze, um aufzustehen. Ich stelle mir vor, dass der Ghillie Dhu neben mir auf dem Dach steht und mich festhält.
«Komm schon, mein kleiner Engel», flüstert er so leise, dass Ben ihn nicht hört. «Ich helfe dir. Zusammen schaffen wir das.»
Der First ist irrsinnig schmal. Meine Füße haben nur hintereinander Platz. Meine Knie schlottern, mein Herz wummert in der Brust, die von feuchtem Dunst eingehüllten Hügel tanzen um mich herum. Ein Rauschen erfüllt die Luft. Ein Sturm? Ein Wespenschwarm?
Ich blicke zu Ben, der mit verschränkten Armen dasteht und siegessicher darauf wartet, dass ich losgehe.
Aber ich kann nicht. Ich sehe den Weg nicht. Das Dach tanzt mit den Hügeln um die Wette, immer wilder dreht sich alles. Mein Magen zieht sich zusammen, sackt in die Knie. Ich wanke, mache einen Schritt ins Leere und kippe.
Heißer Schmerz schießt durch meine rechte Seite, als ich auf dem Dach aufpralle. Ich schreie, versuche, mich festzukrallen, aber die Schieferplatten sind glatt und nass. Unaufhaltsam schlittere ich auf den Abgrund zu. Meine Hände brennen, mein Gesicht scheuert über die scharfen Kanten der Steine.
Dann bin ich für einen Augenblick federleicht.
Den Aufprall spüre ich kaum, ich nehme nur vage die Feuchtigkeit und den Duft des Grases wahr.
Erschöpft bleibe ich liegen. Schmerz pocht in meiner rechten Wange. Auch meine Finger und meine Hüfte tun weh. Und ich weiß, dass es noch nicht vorbei ist. Aber das macht nichts. Ich bin wieder unten, habe festen Boden unter mir. Alles andere stehe ich irgendwie durch.
Plötzlich beugt sich Ben über mich.
«Ich habe gewonnen», sagt er und lächelt. Ohne Eile zieht er den Gürtel aus seiner Hose. «Ich darf mir was wünschen.»
Freitag, 19. Oktober
Brot, Milch, Küchentücher. Die Tücher darf ich nicht vergessen, in letzter Zeit wirft Harper ständig irgendwas um. Den Kakaobecher, das Saftglas, die Ketchupflasche. Sie hat sich verändert, ist nicht mehr so unbefangen und fröhlich wie früher. Die Pubertät kann es noch nicht sein, auch wenn es bei Mädchen heutzutage schon unglaublich früh damit losgeht. Aber Harper ist erst acht.
Ich halte mit dem Abwischen der Arbeitsplatte inne und lausche. Ein leises Summen ertönt von der Treppe. Harper hockt auf den Stufen und spielt mit einer von Madelins alten Puppen. Stuart hat sie ihr gegeben.
Es hat mir einen Stich versetzt, als ich Harper zum ersten Mal damit sah. Schließlich konnte Madelin nicht ihr Einverständnis geben. Vielleicht hätte sie nicht gewollt, dass ihre kleine Schwester damit spielt. Auch wenn sie selbst schon zehn und längst nicht mehr an Puppen interessiert war, kommt es mir wie Verrat vor.
Ich widme mich wieder der Arbeitsplatte. Madelin ist noch nicht in der Pubertät gewesen. Damals. Sie war noch ein Kind, das in seiner eigenen Welt lebte, einem Reich voller Abenteuer, Magie und unbegrenzter Möglichkeiten.
Hastig wische ich die Tränen weg. Eigentlich ist heute ein guter Tag. Wenn nur nicht die Gedanken wären. Ich kann sie nicht abschalten. Sie sind immer da. Meistens vom Alltag überdeckt, aber wenn ich nicht aufpasse, kriechen sie an die Oberfläche, ohne dass ich es merke.
«Mami?»
«Ja, Liebes.»
«Lizzie hat keinen Bauchnabel.»
«Na so was.» Ich hänge den feuchten Lappen über den Wasserhahn.
«Hat Lizzie keine Mami?»
Gute Frage. Eigentlich heißt Lizzie Emma. Madelin hat ihre Puppe Emma genannt, aber das habe ich Harper nicht erzählt. Sie weiß ohnehin kaum etwas von ihrer älteren Schwester, die ja schon fort war, als sie geboren wurde. Der Gedanke macht mir deutlich, wie viel Zeit seit Madelins Verschwinden vergangen ist. Mehr als Harpers ganzes Leben.
Ich stütze mich mit den Händen auf der Arbeitsplatte ab. Kämpfe gegen die Welle aus Schmerz, die mich urplötzlich überrollt. Es gibt Momente, in denen ich mir wünsche, die Polizei würde an der Tür klingeln und mir mitteilen, man hätte ihre Leiche gefunden. Dann könnte ich sie endlich beerdigen. Abschied nehmen, ihr Grab besuchen.
Hinter mir knarren Holzdielen. Ich drehe mich um.
Harper steht in der Tür. «Lizzie hat keine erste Mami, aber sie hat eine zweite Mami.»
O Gott. Ich muss schlucken.
«Und? Ist das gut?», frage ich.
Sie nickt. Dann umwölkt sich ihre kleine Stirn. «Aber sie hat keinen zweiten Papi.» Sie macht auf dem Absatz kehrt und setzt sich wieder auf die Treppenstufen.
Ich schüttle lächelnd den Kopf. Dies ist einer der Augenblicke, in denen ich Stuart dankbar bin, dass er mich zu diesem zweiten Kind überredet hat. Ich habe mich lange gesträubt. Niemand kann Madelin ersetzen, das gilt nach wie vor. Aber Harper hat das Licht zurück in mein Leben gebracht, und dafür liebe ich sie über alles.
Ich blicke auf die Uhr. Gleich halb eins, Zeit, mich um das Essen zu kümmern. Wenn Harper keine Schule hat, so wie jetzt in den Herbstferien, bereite ich mittags eine kleine Mahlzeit für uns beide zu, etwa zur gleichen Zeit, zu der auch in der Schule Mittagspause ist, damit sie nicht völlig aus dem Rhythmus gerät. Abends, wenn Stuart nach Hause kommt, koche ich dann richtig für uns drei.
Früher mit Madelin habe ich auf solche Dinge nicht geachtet. Es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Ich hatte Schichtdienst und Madelin unzählige Babysitter. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, die Tage nur mit meinem Kind zu verbringen. Ich war noch so jung, ich hatte ständig das Gefühl, mein Leben zu verpassen. Jetzt würde ich alles dafür geben, diese kostbare Zeit mit meiner Tochter zurückzubekommen.
Ich setze Nudelwasser auf. Als ich aus dem Küchenfenster blicke, bemerke ich zwei Frauen auf dem Bürgersteig vor dem Haus, die etwas zu suchen scheinen. Bestimmt sind sie von den Zeugen Jehovas, oder sie wollen Spenden für irgendein gemeinnütziges Projekt sammeln. Ich schaue genauer hin. Die beiden wirken sehr jung, kaum zwanzig, schätze ich, die eine vielleicht etwas älter. Die Jüngere wankt ein wenig. Ist sie betrunken? Oder hat sie Drogen genommen?
Unwillkürlich drehe ich mich zu Harper um. Sie hockt noch immer auf der Treppe. Lizzie sitzt neben ihr und muss sich einen Vortrag darüber anhören, dass man nicht dazwischenredet, wenn die Lehrerin etwas erklärt.
Als ich wieder zum Fenster schaue, zucke ich erschrocken zurück. Die Frauen haben das Gartentor aufgestoßen und bewegen sich auf das Haus zu. Jetzt bin ich mir sicher, dass die Jüngere betrunken ist. Ihr Gang ist völlig unkoordiniert. Was wollen die beiden von uns? Was immer es ist, ich will damit nichts zu tun haben.
Es klingelt.
Ich zögere. Die Frau könnte verletzt sein. Aber warum hat ihre Freundin dann keinen Krankenwagen gerufen? Heutzutage hat ja wohl jeder ein Mobiltelefon.
«Mami! Es hat geklingelt!»
«Schscht!»
Aber Harper ist schon zur Tür gelaufen und hat die Klinke in der Hand.
«Mami, hier sind zwei Frauen.»
Seufzend trete ich an die Tür.
«Susan McFarland?», fragt die Ältere. Immerhin hat sie keine Alkoholfahne. Ihre blonden Haare sind hochgesteckt, und ihre grünen Augen leuchten wie zwei Bergseen.
Die Jüngere wirkt etwas ungepflegt und trägt das Haar offen. Ihr Blond hat einen rötlichen Stich, feine, kaum sichtbare Sommersprossen sprenkeln die blasse Haut.
«Ja. Wie kann ich helfen?»
Die Ältere räuspert sich. «Ich habe –»
«Mami?» Die Jüngere sieht mich mit großen Augen an.
Ich wanke.
Nein, das ist nicht wahr.
«Mami?», wiederholt sie kaum hörbar.
Nein, nein.
Ich schlage die Hände vor den Mund. Starre ihr ins Gesicht. Suche nach den vertrauten Zügen meiner Tochter. Unvermittelt schießen mir die Tränen in die Augen.
«Mami?»
«Madelin?», flüstere ich heiser.
«Mami!» Es ist eher ein Schluchzer als ein Wort.
O mein Gott!
Ich mache einen Schritt nach vorn, ziehe die dürre Gestalt in meine Arme und halte sie fest. Sie riecht vertraut und doch fremd, irgendwie rauchig und erdig. Und sie ist so erschreckend dünn und groß, eine richtige Frau, die mich um einige Zentimeter überragt. Ich weine und weine, möchte nie wieder loslassen, vor lauter Angst, die Erscheinung könnte verschwinden. «Madelin, meine Madelin!»
«Mami?» Diesmal ist es Harpers Stimme.
Ich spüre, wie sie ängstlich an meinem Kleid zerrt. Behutsam löse ich mich aus der Umarmung, aber ich lasse die magere junge Frau nicht los.
Mit der freien Hand streiche ich meiner Kleinen über den Kopf. «Harper, Liebling, das ist deine große Schwester Madelin.»
Ich schlucke, weil die Worte mir so riesig, so ungeheuer erscheinen. So oft habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn Harper und Madelin sich begegnen. Aber ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass es je wirklich geschehen würde. Nicht nach all den Jahren.
Ich sehe der jungen Frau in die Augen, erkenne in dem schmalen Gesicht den Schatten meines zehnjährigen Mädchens. Es gibt ein Foto von ihr, das im Hafen von St. Andrews gemacht wurde, wenige Wochen, bevor sie verschwand. Sie trägt eine Ballonmütze mit Schirm, die ihr viel zu groß ist, und blickt selbstbewusst in die Kamera. Mir gehört die Welt, scheint sie zu sagen. Es ist mein Lieblingsbild von ihr.
«Madelin», sage ich und streiche ihr sanft über den Oberarm. «Das ist deine kleine Schwester Harper.»
Madelin runzelt kurz die Stirn, beißt sich auf die Lippe. Dann streckt sie die Hand aus, als würde sie eine neue Lehrerin begrüßen. «Hallo, Harper.»
Ernst schüttelt Harper ihr die Hand. «Hallo, Madelin. Ich habe deine Puppe. Ich bin jetzt ihre zweite Mami. Darf ich sie behalten?»
«Fuck!» Ich greife nach dem Becher, doch der Inhalt hat sich schon über die Akte ergossen, bildet eine Landkarte aus Kaffeeflecken.
«Alles in Ordnung?» Tom äugt über seinen Bildschirm.
«In drei Stunden ist Wochenende, dann ist alles in Ordnung.» Ich tupfe die Kleckse mit einem Papiertuch trocken.
«In drei Stunden kann viel passieren.»
Ich blicke Tom mit hochgezogenen Brauen an. Im Gegensatz zu mir freut er sich vermutlich wirklich aufs Wochenende. Bestimmt werkelt er an seinem Haus herum, oder er besucht mit seiner Frau seinen älteren Sohn, der in Glasgow studiert.
Auf mich warten weder ein Haus noch eine Familie, und das ist auch gut so. Ich habe mit Mitte dreißig genug desaströse Dates für ein ganzes Leben hinter mir. Deshalb werde ich keine Beziehung mehr eingehen, die länger als eine Nacht dauert. Es sei denn …
Stopp! Halt! Meine Gedanken machen schon wieder, was sie wollen. Ich schiebe sie weg und konzentriere mich auf den Bericht.
Tom erhebt sich gähnend. «Auch einen Tee?»
Ich blicke in den halbvollen Kaffeebecher, dann auf die gesprenkelte Akte und den Schreibtisch, der auch etwas abgekriegt hat. «Lieber nicht. Ich will nicht noch mehr Polizeieigentum zerstören.»
«Wie du meinst.» Tom greift nach seinem Becher und schlendert durch das Großraumbüro auf die kleine Teeküche zu.
Direkt neben der Küche liegt das Büro von DCI McMillan. Die Tür ist geschlossen. Vielleicht hat der Chef bereits Feierabend gemacht. Nein, unwahrscheinlich, das hätte ich mitbekommen. Schließlich ist jede Faser meines Körpers auf diese verdammte Tür fixiert.
Ich spüre, dass mich jemand beobachtet, und drehe den Kopf. Aidan Campbell sitzt an Lucy Highgates Schreibtisch und fixt etwas an ihrem Computer. Lucy hat ständig Probleme mit irgendeiner Software. Allerdings habe ich den Verdacht, dass sie gar nicht so ungeschickt ist, wie sie tut. Sie will nur, dass Aidan vorbeikommt. Ich kann sie verstehen. Unser IT-Experte sieht wirklich süß aus mit seinem Fünftagebart, den kinnlangen braunen Locken und dem kantigen Gesicht. Gegen den DCI macht er allerdings keinen Stich.
Aidan zwinkert mir zu. Er flirtet immer mit mir, wenn er in unserem Büro ist, und ich muss gestehen, dass mir das schmeichelt. Ich zwinkere zurück, und er grinst.
Das Telefon auf Toms Schreibtisch schrillt. Ich zögere, blicke in Richtung Küche. Keine Spur von meinem Partner. Also beuge ich mich vor.
«Police Scotland, Anschluss von Detective Inspector Pine, Detective Sergeant Kate Fincher am Apparat. Wie kann ich helfen?»
«Ist Tom, ich meine DI Pine nicht da?» Eine Frauenstimme.
«Ich kann ihn holen. Wer spricht denn da?»
«Susan McFarland. Er weiß, wer ich bin.»
Der Name sagt mir nichts. «Einen Moment, bitte.» Ich sehe Tom mit dem Becher aus der Küche kommen und winke ihm, deute auf das Telefon.
Er schneidet eine Grimasse, eilt herbei und stellt den Becher ab.
«Eine Susan McFarland», erkläre ich.
«Oh.» Tom greift nach dem Hörer. «Susan, wie geht es Ihnen?»
Ich höre einen gedämpften Wortschwall, dann klingt es so, als würde die Frau weinen. Diskret wende ich mich ab. Falls Tom eine Affäre hat, will ich nichts davon wissen. Wir sind seit drei Jahren Partner, aber privat haben wir nicht viel miteinander zu tun. Seine Frau Doris habe ich nur ein Mal gesehen. Keinesfalls will ich in irgendwas reingezogen werden. Ich blicke mich im Büro um, doch niemand beachtet Tom. Selbst Aidan scheint voll und ganz mit Lucys Computerproblem beschäftigt zu sein.
Ich höre, wie Tom das Telefon in die Halterung knallt, und drehe mich wieder zu ihm um.
«Komm mit, Kate!» Er greift nach seiner Jacke.
«Was ist los?»
«Erkläre ich dir unterwegs.»
Ich speichere rasch den angefangenen Bericht. Die Aussicht, noch mal rauszukommen, statt weitere drei Stunden Formulare auszufüllen, wirkt besser als Koffein. Auch wenn es bedeutet, dass ich wohl nicht mitkriegen werde, wie sich DCI McMillans Tür öffnet.
Tom hastet die Treppe so schnell hinunter, dass ich kaum Schritt halten kann. «Ich fahre», sagt er, als wir auf dem Parkplatz ankommen. «Ich kenne den Weg.»
An der ersten Ampel hake ich nach. «Also, worum geht es?»
«Erinnerst du dich an den Fall Madelin McFarland?»
Eine dunkle Erinnerung steigt in mir auf. «Ist das nicht das Mädchen, das vor zehn Jahren spurlos verschwand?» Damals bin ich noch in Peterhead Streife gelaufen.
«Neuneinhalb Jahre, um genau zu sein. Sie ist wiederaufgetaucht.»
Wie gut, dass Tom am Steuer sitzt. Ich schlage die flachen Hände auf die Oberschenkel und starre ihn an. «Lebend?»
«Ja.»
«Wo?»
«Zu Hause. Das am Telefon war ihre Mutter. Und bevor du fragst: Ich habe damals die Suche nach dem Mädchen geleitet. Ich war sehr oft bei der Familie. Ich besuche sie noch immer regelmäßig.»
«Der Fall hat dich nicht losgelassen.» Ich starre aus dem Fenster. Wir stecken im Feierabendverkehr von Edinburgh fest.
«Mein Jack ist ungefähr genauso alt wie Madelin McFarland. Ich dachte immer, es hätte auch mein Kind sein können. Ich wollte, dass die Eltern wissen, dass die Polizei nicht aufhört, nach Madelin zu suchen.»
Neugierig sehe ich Tom an. Bisher habe ich ihn eher für einen nüchternen, rationalen Kollegen gehalten. Der Typ anständiger, fleißiger Polizist, der einen guten Job macht, sich aber nicht dafür aufreibt. Diese Seite ist mir neu. «Und? Hast du weitergesucht?»
Er seufzt. «Wenn ich Zeit hatte. Ich kenne die alten Akten auswendig.»
Es geht endlich weiter. Tom biegt rechts ab. Wir sind in Newington. Noch ein Stück weiter kommt The Grange, eine schicke Gegend mit viel Grün und großen Einfamilienhäusern aus Sandstein.
«Gab es damals keine Hinweise?», frage ich.
«Absolut nichts. Madelin verschwand auf dem Heimweg von einer Freundin. Die wohnte nur wenige hundert Meter entfernt. Keine Zeugen, keine Spuren.»
Wir sind jetzt auf der Grange Road. Bäume, Vorgärten, dahinter imposante graue Villen mit Sprossenfenstern und Erkern. Tom biegt rechts ab in die Lauder Road und hält am Straßenrand.
Wir steigen aus. Ich betrachte das Haus. Es sieht aus wie die meisten hier in der Gegend. Gediegen. Achtbar. Anständig. Ein schwarzer SUV steht in der Einfahrt. Im Erdgeschoss sind die Fenster hell erleuchtet, trotzen dem düsteren schottischen Oktobernachmittag.
Tom will auf das Haus zu marschieren, ich erwische ihn am Ärmel.
«Was, wenn sie es nicht ist?»
Er sieht mich an.
«Wir müssen sie untersuchen lassen, ihre DNA überprüfen, das ist dir doch klar.»
«Jetzt lass uns erst mal reingehen und sehen, was wir haben, okay?»
Die Tür wird aufgerissen, noch bevor wir klingeln. Eine Frau steht dort, nur wenige Jahre älter als ich, sieht aber aus, als stamme sie aus einer anderen Generation. Bieder. Vorzeitig gealtert. Auch wenn ihre grauen Augen strahlen. Sie hat das halblange brünette Haar hinter die Ohren geschoben und umarmt Tom zur Begrüßung.
Verlegen macht er sich los. «Das ist meine Kollegin DS Kate Fincher.»
«Hallo, Mrs. McFarland», sage ich. «Freut mich, Sie kennenzulernen.»
Wir betreten das Haus. Tom scheint sich auszukennen. Als Susan ihm sagt, dass ihre Töchter im Wohnzimmer sind, marschiert er zielstrebig auf eine Tür zu.
Töchter? Ich drehe mich zu Susan um. «Sie haben noch eine Tochter?» Ich bin mir sicher, dass in der Berichterstattung nie eine Schwester erwähnt wurde.
«Harper ist acht», erklärt Susan. «Sie wurde geboren, als Madelin schon verschwunden war.»
Ich nicke, folge Tom ins Wohnzimmer.
Der Raum ist riesig. Parkettboden. Sprossenfenster. Flügeltüren zum Garten. Eine cremefarbene Sitzgruppe. Die beiden Mädchen verschwinden fast in den Polstern. Beide starren wie gebannt auf einen Fernseher, in dem eine Zeichentrickserie läuft. Die Ältere, Madelin, hält ein großes Kissen umschlungen und kaut auf ihrem Daumen. Die kleine Harper hat eine Puppe auf dem Schoß und knabbert an einem Keks.
Eine zweite junge Frau sitzt weiter hinten im Raum auf der vorderen Kante eines Sessels und fühlt sich sichtlich unwohl.
Als sie uns sieht, springt sie auf. «Ich muss jetzt wirklich los, ich bin spät dran.»
«Das ist Rachel, sie hat meine Tochter nach Hause gebracht», erklärt Susan.
Ich werfe Tom einen kurzen Blick zu. Er nickt, und ich gehe zu der Frau hinüber, während er sich Madelin zuwendet.
«DS Fincher», sage ich. «Und Ihr Name ist?»
«Rachel Knight.»
«Können Sie mir kurz schildern, was geschehen ist?»
«Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war spazieren, ich wohne in der Nähe. Ich sah sie an der Kreuzung stehen, bei der Reid Memorial Church. Sie weinte, also fragte ich, was los sei. Sie sagte, dass sie nach Hause müsse, aber die Lauder Road nicht finde. Ich war verwundert, weil sie doch kein kleines Kind mehr ist, aber ich dachte, sie wäre vielleicht krank, denn sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Also half ich ihr.»
«Hat sie irgendwas erzählt? Woher sie kam? Wie sie zu der Kirche gelangt ist?»
«Nein. Wir haben kaum gesprochen. Ich habe erst hier begriffen, wer sie ist.» Rachel blickt in Richtung Tür. «Ich sollte mich jetzt auf den Weg machen.»
«Wir brauchen Ihre Anschrift, falls wir noch Fragen haben.» Ich zücke meinen Notizblock.
Sie diktiert mir eine Adresse und eine Telefonnummer.
Ich reiche ihr meine Karte. «Wenn Ihnen noch etwas einfällt …»
«Dann rufe ich an, ich weiß.» Ein schwaches Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Mein Verlobter ist ein Kollege von Ihnen. Vielleicht kennen Sie ihn. DCI McMillan.»
Eine Faust mitten ins Gesicht hätte nicht härter treffen können. Ich schnappe nach Luft. Zum ersten Mal sehe ich die Frau richtig an. Sie ist mindestens zehn Jahre jünger als ich. Und hübsch, sehr hübsch. Schimmernde blonde Haare, lässig hochgesteckt, große grüne Augen, eine schlanke Figur in einem engen Strickkleid. Mit meiner verwaschenen Jeans und dem praktischen Pferdeschwanz komme ich mir unsagbar hässlich vor.
«Kann ich jetzt gehen?», fragt sie.
«Ja.» Ich stammle eine Verabschiedung, und Rachel Knight hastet aus dem Zimmer.
Idiotin. Dämliche Kuh.
Tom tritt zu mir. «Alles in Ordnung?»
Dumme Pute. Blöde Gans.
Ich schlucke. «Klar doch.»
«Du bist ganz blass.»
«Mir ist etwas flau im Magen. Hab wahrscheinlich nicht genug gegessen heute.»
Er sieht mich scharf an. Er glaubt mir nicht. Aber er insistiert nicht. «Irgendwas Interessantes von der Zeugin?»
«Sie hat Madelin auf der Straße aufgelesen. Sonst weiß sie nichts. Und bei dir?»
«Madelin spricht nicht viel. Sie sagt, dass sie in einer Art Stall gefangen gehalten wurde. Irgendwo zwischen grünen Hügeln. Kein anderes Haus in der Nähe, auch keine Straße. Über ihren Entführer wollte sie nicht sprechen. Wir brauchen eine Psychologin.»
«Und die Kriminaltechnik.» Allmählich habe ich mich wieder im Griff. «Wir müssen ihre Kleidung eintüten und ins Labor schicken. Und eine Speichelprobe nehmen.»
«Ist schon in die Wege geleitet. Die Kollegen müssten gleich da sein.»
Ich schaue zu Susan, die gerade mit einem Teetablett ins Zimmer kommt, dann zu den beiden Mädchen auf dem Sofa. Madelin hat dünnes blondes Haar und blaue Augen, Harper braune Zöpfe und ebenso braune Augen. Sonderlich ähnlich sehen sie sich nicht.
«Was ist dein Eindruck?», frage ich Tom leise. «Ist sie es?»
Tom folgt meinem Blick. «Ich hoffe es.»
Habe ich an alles gedacht? Cadbury-Schokolade, Fischstäbchen und Cheese-and-Onion-Chips. Alles, was Madelin gern mag. Was sie früher gern mochte, verbessere ich mich in Gedanken. Ich kann nur hoffen, dass sich ihre Vorlieben nicht allzu sehr geändert haben. Denn ich möchte, dass es ihr gutgeht und sie sich wohlfühlt. Zu Hause. Geborgen. Und sicher.
Hastig verstaue ich die Tüten im Kofferraum. Es ist mir nicht leichtgefallen, die Mädchen mit der Polizeipsychologin allein zu lassen. Obwohl Madelin tief und fest auf dem Sofa schlief, als ich ging, und Harper so sehr auf das Fernsehprogramm konzentriert war, dass sie mich nicht einmal angesehen hat, als ich ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn drückte.
Die Psychologin, Hanna Mills, hat mir versichert, dass sie gut auf beide aufpasst, dass sie für solche Situationen ausgebildet ist und weiß, was sie tut. Aber mit wie vielen Entführungsopfern, die nach mehr als neun Jahren aus heiterem Himmel nach Hause zurückgekehrt sind, hatte sie es wohl schon zu tun?
Inzwischen ist Stuart bestimmt längst heimgekommen. Ich habe ihn angerufen, noch vor Tom Pine. Er hat es nicht glauben wollen.
«Nein, das kann nicht sein», hat er fassungslos gestammelt. «Unmöglich.»
Erst da ist mir klargeworden, dass er all die Jahre nicht mehr daran geglaubt hat, dass Madelin lebend zurückkehren würde. Auch wenn er nie widersprochen hat, wenn ich davon redete. Ich habe es ja selbst nicht für möglich gehalten. Nicht ernsthaft.
Stuart hat mir versichert, sich sofort auf den Weg zu machen. Allerdings war er in Dundee mit einem Kunden verabredet. Er würde eine Weile brauchen. Ich sagte ihm, dass er sich nicht beeilen müsse, dass die Polizei uns bestimmt eine Weile auf Trab halten würde.
Erst auf der Fahrt zum Supermarkt kam mir der Gedanke, dass Madelin in Panik geraten könnte, wenn überraschend ein Mann im Haus auftaucht, der ihr völlig fremd ist. Sie hat zwar in den vergangenen zwei Stunden jede Menge unbekannte Personen in unserem Haus ein und aus gehen sehen, aber da war ich dabei und habe ihr erklärt, dass es Polizisten sind, die nach ihrem Entführer suchen. Stoisch hat sie alles über sich ergehen lassen, hat den Mund für die Speichelprobe geöffnet, ihren Rock und ihr Sweatshirt ausgezogen, zugeschaut, wie die Kleidungsstücke in Beweisbeutel gepackt wurden, und ein Jerseykleid von mir übergestreift, weil wir sonst nichts im Haus hatten, das ihr passt. Morgen müssen wir erst mal ein paar Sachen für sie kaufen.
Na ja, mit ein wenig Glück schläft Madelin noch eine Weile. Ich habe ihr was gegeben. Xanax. Nur eine geringe Dosis, sie wiegt ja kaum etwas und war auch so schon sehr erschöpft. Wie gut, dass ich einen kleinen Vorrat im Badezimmerschrank habe.
Ich knalle die Kofferraumklappe zu und steige auf der Fahrerseite ein. Seltsamerweise bin ich nicht trunken vor Glück, wie ich es mir immer vorgestellt habe, sondern nur erfüllt von einem inneren Flirren, als wäre ich wieder dreizehn und stünde kurz vor einer Schulaufführung. Ich denke, das ist der Schock.
Ich biege vom Parkplatz auf die Straße und reihe mich in den Verkehr ein. Meine Gedanken sind unaufhörlich bei Madelin. Sie hat erstaunlich ruhig reagiert, als ich ihr Harper vorgestellt habe. Kein Schreck, keine Trauer, keine Wut, weil ein anderes Mädchen ihren Platz eingenommen hat. Sie ist überhaupt sehr still. Das muss die Erschöpfung sein.
Und dann sind da die Erinnerungen, die sie mit sich herumschleppt. Fast zehn Jahre war sie fort. Was wurde ihr wohl in dieser Zeit alles angetan? Was hat sie Schreckliches durchgemacht? Ich presse die Lippen zusammen. Daran möchte ich nicht denken. Und Madelin soll es auch nicht. Sie soll möglichst schnell vergessen und einfach wieder mein kleines Mädchen sein. Mein großes kleines Mädchen.
Madelin empfindet wohl genauso. Die Fragen, die Tom und seine Kollegin ihr gestellt haben, hat sie nur einsilbig und stockend beantwortet. Oft hat sie nur mit den Schultern gezuckt. Ich weiß, dass die Polizei das alles wissen muss, um den Verbrecher zu fassen, der meinem Mädchen das angetan hat. Aber es tut mir weh, sie so leiden zu sehen.
Als ich in die Einfahrt biege, steht Stuarts Wagen dort. Ich bin zugleich erleichtert und nervös. Warum habe ich nicht gewartet, bis er da war, bevor ich einkaufen gefahren bin? Andererseits hätte es nichts gebracht, herumzusitzen und zu warten, während Madelin schläft. Vielleicht tut sie das noch. Ich war schließlich nicht lange fort. Außerdem ist Hanna Mills dabei. Sie wird schon das Richtige tun.
Trotzdem hätte ich Stuart bitten können, die Sachen zu besorgen. Dann hätte ich bei Madelin bleiben können. Aber er weiß nicht, welche Sorte Schokolade sie am liebsten mag. Ich wollte, dass alles perfekt ist für sie.
Als ich die Haustür öffne, fällt mir als Erstes auf, dass der Fernseher noch läuft. Ich hätte gedacht, dass Stuart ihn abstellt. Er sieht es nicht gern, wenn Harper zu viel guckt.
Ohne die Tüten abzusetzen, gehe ich durch die Diele ins Wohnzimmer. Niemand sitzt vor dem Fernseher. Auf dem Sofa liegt die zerknüllte Wolldecke, mit der die Polizistin Madelin vorhin zugedeckt hat.
Ich drehe mich um und laufe in die Küche. Vielleicht sind sie dort. Mit der Schulter stoße ich die Tür auf. Als Erstes nehme ich den Geruch wahr, süßlich und schwer. Dann sehe ich das Blut auf der Arbeitsplatte und an den Türen der Unterschränke, und dann Stuarts zusammengesunkene Gestalt auf dem Boden.
Mein Magen krampft sich zusammen. Die Tüten gleiten mir aus den Händen. Ein Schrei kämpft sich meine Kehle hinauf, aber nur ein entsetztes Glucksen entweicht meinem Mund.
Ich falle auf die Knie. Drehe meinen Mann auf den Rücken. Alles ist voller Blut, das Gesicht, das Hemd, die Hose. Etwas Kaltes umschlingt meine Brust. Mit zitternder Hand taste ich nach seinem Puls. Ich spüre einen flachen, schnellen Rhythmus in den Fingerkuppen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es nicht mein eigenes Herz ist, das so heftig schlägt, dass ich es sogar auf der Zunge fühle.
Notarzt. Polizei. Telefon. Ich greife in meine Handtasche, die noch über der Schulter hängt, und ziehe mein Handy hervor. Blut bleibt auf dem Bildschirm kleben, als ich dreimal die Neun eintippe.
Erst als ich dem Rufzeichen lausche, fallen mir die Mädchen ein. Herr im Himmel! Wo sind sie?
Ich springe auf. «Madelin! Harper!»
Keine Antwort.
«Polizeinotruf, was kann ich für Sie tun?»
«Mein Mann ist angegriffen worden! Er ist verletzt. Jemand ist in unser Haus eingedrungen.» Ich renne die Treppe hoch, vielleicht haben die Mädchen es geschafft, sich zu verstecken.
«Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihre Anschrift.»
«Susan McFarland. Hillview House, Lauder Road. Bitte beeilen Sie sich, er verblutet!»
«Ein Wagen ist bereits unterwegs. Können Sie sagen, was genau passiert ist? Gibt es weitere Verletzte? Ist der Angreifer noch im Haus?»
Wenn ich das nur wüsste!
Ich stoße die Tür zu Harpers Zimmer auf. Sie ist nicht da. «Ich habe keine Ahnung», rufe ich ins Telefon. «Ich bin vom Einkaufen zurückgekommen, da lag er auf dem Küchenboden. Alles ist voller Blut, bitte beeilen Sie sich!» Ich renne ins Schlafzimmer. Nichts. Ins Bad. Auch nichts.
Gütiger Himmel, wo sind meine Mädchen? Und wo ist die Psychologin?
«Bleiben Sie ruhig, Mrs. McFarland, Hilfe ist unterwegs.»
Ich stürze die Treppe wieder hinunter, das Telefon fest ans Ohr gepresst. Die fremde Stimme gibt mir Sicherheit, hält mich davon ab, völlig durchzudrehen.
«Madelin! Harper!»
«Halten sich noch andere Personen im Haus auf?»
«Meine Töchter, ich weiß nicht, wo sie sind. Und eine Psychologin. Sie sollte auf die beiden aufpassen.»
O Gott, o Gott, gib, dass meinen Mädchen nichts passiert ist!
In der Ferne höre ich eine Sirene. Endlich.
«Wie alt sind Ihre Töchter, Mrs. McFarland?», fragt die stoische Stimme am Telefon.
Was spielt das für eine Rolle? «Acht und neunzehn.» Ich suche noch einmal das Wohnzimmer ab. Diesmal schaue ich genauer nach. Unter dem Couchtisch, in der Nische zwischen Kamin und Bücherregal.
«Und Sie wissen nicht, wo die beiden sind?»
«Nein!»
Erst jetzt sehe ich, dass die Terrassentür einen Spalt offen steht. Ich stürze hin. Hanna Mills läuft am hinteren Ende des Grundstücks auf und ab, das Handy am Ohr, und gestikuliert aufgeregt. Von Madelin und Harper keine Spur.
Die Sirene ist jetzt ganz laut. Abrupt verstummt sie. Ich muss aufmachen, den Notarzt reinlassen. Ich renne zur Haustür, reiße sie auf. Zwei Männer stürzen auf mich zu, der eine trägt einen schwarzen Notfallkoffer.
Stumm deute ich in Richtung Küche. Ich müsste mit ihnen gehen, meinem Mann beistehen, aber wie kann ich das tun, solange ich nicht weiß, was mit meinen Kindern ist?
Ich höre Klappern und Murmeln aus der Küche. Dann noch ein Geräusch. Es kommt aus dem Einbauschrank unter der Treppe.
Ich lasse das Handy fallen. Mit hämmerndem Herzen stürze ich zur Tür und reiße sie auf.
Harper hockt in der Dunkelheit, die Augen weit aufgerissen, ihre Puppe an sich gepresst. Sie scheint unverletzt. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bücke mich, nehme sie in den Arm.
«Wo ist Madelin?», frage ich. «Wo ist deine Schwester?»
Zum zweiten Mal an diesem Tag parkt Tom vor dem Haus in der Lauder Road. Seit die Meldung kam, hat er kein Wort gesagt. Mir war auch nicht nach Reden zumute. Wir wissen beide, dass wir Mist gebaut haben. Wir hätten die Familie nicht mit der Psychologin allein lassen dürfen. Wir hätten darauf bestehen müssen, dass wenigstens ein weiterer Kollege im Haus bleibt. Eigentlich hätten wir Madelin sofort mitnehmen, offiziell befragen und einer ärztlichen Untersuchung unterziehen lassen müssen. Aber Susan McFarland hat sich mit Händen und Füßen gesträubt, hat um etwas Zeit für ihre Tochter gebeten, damit sie nicht weiter traumatisiert wird, und Tom ist eingeknickt.
Wir steigen aus. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort. Stuart McFarland ist ins Krankenhaus gebracht worden, sein Zustand ist kritisch.
Hanna Mills steht vor dem Haus und raucht. Sie ist weiß wie eine Wand. Ihr hübsches, von kurzgeschnittenen, rotbraunen Haaren gerahmtes Gesicht sieht gespenstisch hohl aus.
«Was ist passiert?», fährt Tom sie an.
«Ich bin nur kurz raus in den Garten», sagt sie und zieht an ihrer Zigarette. Ihre Finger zittern. «Nicht mehr als fünf Minuten, ich schwöre es.»
«Und was, verdammt noch mal, wollten Sie dort?» Tom starrt auf die Zigarette. «Eine rauchen?»
«Mein Freund hat angerufen. Ich … wir … wir haben in letzter Zeit etwas Stress. Die Mädchen sollten nichts von dem Gespräch mitbekommen. Als ich rausgegangen bin, hat Madelin geschlafen, und Harper saß friedlich vor dem Fernseher.»
«Und Stuart?»
«Der war noch nicht da.»
«Und dann ist er innerhalb von fünf Minuten nach Hause gekommen, von einem Unbekannten angegriffen worden, der danach mit der älteren Tochter ungesehen verschwinden konnte?» Tom kneift die Augen zusammen.
«Aber so war es!»
«Und Sie haben rein gar nichts gehört?», frage ich.
«Nur den Fernseher.»
«Sie wissen, dass Sie es so richtig verbockt haben, ja?», schnauzt Tom sie an. «Ein Mann ist lebensgefährlich verletzt, ein junges Mädchen verschwunden. Und Sie sind dafür verantwortlich!» Er tippt ihr mit dem Finger auf die Brust.
Ich packe ihn am Arm. «Lass uns reingehen.»
Tom murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und folgt mir ins Haus.
Susan sitzt zusammengesunken auf dem cremefarbenen Sofa und knetet ein Taschentuch. Harper liegt neben ihr, ihre Puppe im Arm, den Daumen im Mund wie ein Kleinkind.
Ein uniformierter Kollege tritt durch die geöffnete Verandatür ins Zimmer. «Wir haben den ganzen Garten abgesucht, keine Spur von dem Mädchen.»
Tom tritt zu Susan, kniet sich vor sie und ergreift ihre Hände.
Ich ziehe den Kollegen zur Seite. «Irgendwelche Hinweise? Blut? Fußabdrücke?»
«Dadraußen? Nein, nichts. Es gibt aber auch kein Gartentor oder so. Nur diese Tür und einen Zugang zur Garage, der abgeschlossen ist.»
«Verstehe. Und im Haus?»
«Da fragen Sie am besten die Kollegen, Sergeant.»
Ich bedanke mich und gehe zur Küche. Auf der Türschwelle bleibe ich stehen und atme tief ein und aus. Ich habe schon viele Tatorte gesehen, auch einige äußerst grausige, aber noch nie war ich an einem, den ich kurz zuvor noch völlig unversehrt gesehen habe. Vor kaum mehr als einer Stunde habe ich in dieser Küche mit Hanna Mills Tee gekocht. Die Arbeitsplatte aus Marmor, die weißen Schränke, der geflieste Boden, alles ist blitzsauber gewesen. Jetzt sieht der Raum aus wie nach einer Schlachtung.
Dylan, der Leiter der Spurensicherung, zieht sich die Schutzmaske vom Gesicht.
«Und?», frage ich.
«Stuart McFarland wurde niedergestochen, höchstwahrscheinlich dort, wo er gefunden wurde. Da vorn vor der Spüle.» Er deutet auf die Stelle, wo das Blut sich konzentriert. «Er muss sofort zu Boden gegangen sein, denn es gibt keine Kampfspuren. Vermutlich kam der Angriff überraschend. Eins der Messer im Messerblock fehlt.»
«Also keine geplante Tat», sage ich nachdenklich.
Bis zu diesem Augenblick bin ich davon ausgegangen, dass der Entführer Madelin gewaltsam zurückgeholt hat und dass ihr Stiefvater ihm dabei in die Quere kam. Aber wäre der Mann ohne Waffe ins Haus eingedrungen? Er musste doch damit rechnen, dass das das Mädchen nicht allein ist.
«Die Tatwaffe wurde mitgenommen?», frage ich.
«Wir haben sie jedenfalls noch nicht gefunden.»
«Und das Mädchen ist auch weg.» Ich reibe mir die Stirn. Immerhin hat der Täter sie nicht sofort getötet. Das könnte bedeuten, dass es ihm nicht darum ging, sie als Zeugin auszuschalten, sondern sie zurückzuholen. Das gibt uns eine Chance, sie lebend zu finden.
Zu blöd, dass wir Madelin nicht mehr Informationen über ihren Entführer und ihr Gefängnis entlockt haben, als wir die Gelegenheit dazu hatten. Aber da dachten wir noch, wir hätten alle Zeit der Welt. Ein fataler Fehler.
«Es gibt Blutspuren an der Haustür», sagt Dylan in mein Schweigen hinein.
«Was ist mit Fingerabdrücken?»
«Ein paar unvollständige. Wird eine Weile dauern, sie zu überprüfen. Es könnten auch nur die seiner Frau sein. Sie hat ihn umgedreht. Ihre Hände waren ebenfalls voller Blut, als wir ankamen.»
«Shit.»
Draußen fährt ein silberner Audi vor. Mein Herz schlägt höher, als DCI McMillan aussteigt.
Ich gehe ihm entgegen. «Chef.»
«DS Fincher. Was haben wir?»
«Madelin McFarland. Das Mädchen, das vor neun Jahren spurlos verschwand. Sie ist heute Nachmittag wie aus heiterem Himmel nach Hause zurückgekehrt. DI Pine und ich waren hier und haben mit ihr gesprochen. Sie konnte uns nicht viel sagen, nur, dass sie irgendwann in der Nacht gemerkt hat, dass die Tür zu ihrem Gefängnis nicht verschlossen ist, eine Art Schuppen oder Stall, irgendwo draußen auf dem Land, wo weit und breit kein anderes Haus steht. Sie ist einfach losgerannt, kam vormittags in Edinburgh an, hat sich bis zur Reid Memorial Church durchgeschlagen. Dann wusste sie nicht mehr weiter. Eine junge Frau gabelte sie auf und brachte sie her. Rachel Knight.» Ich räuspere mich.
«Das weiß ich alles schon», sagt er ungeduldig. «Und dann?»
Ich zupfe nervös an meinem Pferdeschwanz. «Wir haben die Familie gegen siebzehn Uhr in der Obhut von Hanna Mills zurückgelassen. Die Mutter wollte keine weiteren Polizisten im Haus haben. Und das Mädchen war so erschöpft, dass die Befragung sich im Kreis drehte. Wir wollten ihr eine kleine Pause gönnen und später weitermachen. Die Mutter ging einkaufen. Als sie zurückkam, fand sie ihren Mann schwer verletzt in der Küche, die jüngere Tochter im Schrank unter der Treppe und Hanna Mills hinten im Garten. Sie hat telefoniert und nicht mitbekommen, was passiert ist. Von Madelin McFarland keine Spur.»
«Haben Sie heute Nachmittag auch mit dem Vater gesprochen, Fincher?»
«Stiefvater», verbessere ich. «Mrs. McFarland hat ihn erst nach Madelins Verschwinden kennengelernt. Er hat ihren Namen angenommen, als sie geheiratet haben.»
«Verstehe.»
«Wir haben Stuart McFarland heute Nachmittag nicht angetroffen. Er war geschäftlich unterwegs, seine Frau wusste nicht, wann er zurückkehrt. Wir hatten vor, am frühen Abend wiederzukommen, um Madelin abzuholen, damit sie gründlich befragt und ärztlich untersucht werden kann. Offensichtliche Verletzungen hatte sie keine.» Ich beiße mir auf die Lippe. «Wir hätten sie natürlich sofort mitnehmen müssen. Aber sie war so erschöpft, dass wir dachten, es wäre besser, wenn sie erst ein paar Stunden schläft.»