Wenn ihr wüsstet - David Garrett - E-Book
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Wenn ihr wüsstet E-Book

David Garrett

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Beschreibung

Die einzige Autobiografie des »größten Geigers seiner Generation« (Yehudi Menuhin)

Den Weg auf den Geigenolymp hat sich David Garrett hart erarbeitet. Seine Kindheit war geprägt von Disziplin und täglicher Arbeit gemeinsam mit seinem Vater. Dieser förderte sein Talent, unterstützte ihn und war gleichzeitig ehrgeiziger Motor und Antrieb.

Bereits als Zehnjähriger stand David Garrett mit den größten internationalen Orchestern auf der Bühne und spielte später, als Jugendlicher, alle bedeutenden Werke der klassischen Musik, bis er sich mit Anfang zwanzig aus der Zwangsjacke seiner Wunderkind-Existenz befreite und zum Studium nach New York ging. Dort legt er den Grundstein für ein neues Genre der Klassik, den Crossover, in dem er virtuose Geigenmusik mit aktueller Popmusik verbindet – was ihn bekannter macht als je zuvor.

Damit verkörpert er geradezu exemplarisch die mühsame Suche eines jungen Menschen nach dem eigenen Weg und dem wahren Leben und findet für dieses Problem eine ganz eigene Lösung: völlige Hingabe an das, was ihn als Person genauso gut hätte zerstören können – die Musik.

Wir erleben seine Welt aus der Innenperspektive, das Gute-Wahre-Schöne gepaart mit Schweiß und Tränen. Ein hochdramatisches, inspirierendes und berührendes Buch für alle Fans und Musikbegeisterten.

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Seitenzahl: 417

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Den Weg auf den Geigenolymp hat sich David Garrett hart erarbeitet. Seine Kindheit war geprägt von Disziplin und täglicher Arbeit gemeinsam mit seinem Vater. Dieser förderte sein Talent, unterstützte ihn und war gleichzeitig ehrgeiziger Motor und Antrieb.

Bereits als Zehnjähriger stand David Garrett mit den größten internationalen Orchestern auf der Bühne und spielte später, als Jugendlicher, alle bedeutenden Werke der klassischen Musik, bis er sich mit Anfang zwanzig aus der Zwangsjacke seiner Wunderkind-Existenz befreite und zum Studium nach New York ging. Dort legt er den Grundstein für ein neues Genre der Klassik, das Crossover, in dem er virtuose Geigenmusik mit aktueller Popmusik verbindet – was ihn bekannter macht als je zuvor.

Damit verkörpert er geradezu exemplarisch die mühsame Suche eines jungen Menschen nach dem eigenen Weg und dem wahren Leben und findet für dieses Problem eine ganz eigene Lösung: völlige Hingabe an das, was ihn als Person genauso gut hätte zerstören können – die Musik.

Wir erleben seine Welt aus der Innenperspektive, das Gute-Wahre-Schöne gepaart mit Schweiß und Tränen. Ein hochdramatisches, inspirierendes und berührendes Buch für alle Fans und Musikbegeisterten.

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge und Geschehnisse sind die Erinnerungen von David Garrett. Die Gespräche sind sinngemäß wiedergegeben. Ein Anspruch auf wörtliche Übereinstimmung mit tatsächlich stattgefundenen Dialogen wird nicht erhoben.

Zum Schutz Einzelner, die nicht Personen des öffentlichen Lebens oder Mitglieder der Familie sind, wurden einige Namen anonymisiert.

Originalausgabe 2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Boos-Körner

Beratung: André Selleneit, plan B – konzepte: Jörg Kollenbroich, Weigold & Böhm International Artists & Tours GmbH: Tobias Weigold-Wimmer

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Covermotiv: Christoph Köstlin

Bildredaktion: Sabine Kestler, Heike Jüptner

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28909-6V003

www.heyne.de

Wann dürfen wir von Erfolg sprechen? Wenn es uns gelingt, andere glücklich zu machen. In diesem Sinne widme ich mein Buch allen jungen Musikern. Solange ihr die Musik liebt und euch eure Neugier bewahrt, werdet ihr nicht bereuen, diesen Weg eingeschlagen zu haben.

Inhalt

Vorwort

Ich hätte Nein sagen sollen

Dieses unmögliche Instrument

Kindheit mit Geige

Ausnahmezustand

Auf dem Weg zu Tschaikowski

Aus David Bongartz wird David Garrett

Ida Haendel

Luigi Tarisio und die Messias-Stradivari

Mind Over Matter

Isaac Stern

Yehudi Menuhin

Das Klavier ist zu laut!

Von Liebe und Liebeskummer

Das geheime Tonband

Ich schöpfe aus einem tiefen Brunnen

Londoner Intermezzo

Schneegestöber in Manhattan

Aus David Garrett wird Christian Bongartz

Abendessen mit Itzhak Perlman

The Juilliard Experience

Fünf Arten, in New York Geld zu verdienen

Ein Vorgeschmack auf Crossover

Der Stein kommt ins Rollen

Daniel Kuhn und die schwarze Am-Ex

Wohngemeinschaft mit Alexander

Ein altes Hotel in London

16 Stunden Touristenklasse, Mittelsitz

Als Vorgruppe von Jools Holland durch England

Durchbruch

La Grotta

Love Over Money

Lebensretter Johann Sebastian Bach

New York, New York

Auf Tour durch Europa und die USA

Die Einsamkeit des Sologeigers

Mein Tourneekalender (2009 bis 2018)

Geigencrash in London

Guarneri, Stradivari und Co.

Warum ich davon abrate, eine Stradivari zu klauen

Der Teufelsgeiger

»Wie ist denn der Herr Garrett so?«

Tournee-Wahnsinn

Alle Tage ist kein Sonntag

Nur nicht zu viel klassische Ernsthaftigkeit

Frühling in Hilversum

Anhang

Link zu Zusatzmaterial

Bildnachweis

Werkverzeichnis

Vorwort

Bevor es losgeht – eine kurze Einführung in mein Buch.

Ich habe in meinem Leben immer die asphaltierten Straßen gemieden und nach ungepflasterten Wegen gesucht. Natürlich hat es manchmal Überwindung gekostet, solche Wege dann auch einzuschlagen, aber schließlich – wir sind im Leben auf Entdeckungsreise. Ich zumindest kann nicht genug kriegen von neuen, überraschenden Eindrücken und achte auf die kleinsten Details, aus denen sich das ganze, große Bild am Ende zusammensetzt.

Mit dieser Einstellung, voller Neugier also, habe ich jedes Projekt in meinem Leben angepackt, in der Musik wie im Geschäftsleben. Am Anfang steht für mich immer eine erste, große Idee – die Durchführung ist zunächst nebensächlich, sie ergibt sich später schon, der Tag hat ja 24 Stunden, und ich arbeite gern.

Eine solche Idee steckt nun auch hinter dem Wort »phygital«, das das Konzept meines Buchs beschreibt. Es handelt sich dabei nämlich um eine Synthese von physisch und digital, von Alt und Neu, und seit jeher hat es mir Freude gemacht, beides in Einklang zu bringen.

Das heißt: Alles, was ihr für dieses Buch braucht, ist etwas Neugier und ein Smartphone für die QR-Codes – schon kann die Reise losgehen. Unveröffentlichte Bilder, Videos und Tonaufnahmen werden euch zusätzliche Einblicke in mein Leben geben, über die Worte hinaus. Ich öffne hier nämlich zum ersten Mal meine privaten Archive mit Ton- und Bilddokumenten, die meine Eltern und ich über die Jahrzehnte gesammelt haben – ihr werdet also dabei sein, wenn ich euch von meinen Begegnungen, Erlebnissen, Glücksmomenten und weniger erfreulichen Erfahrungen erzähle.

Wie ihr seht, komme ich auch bei diesem Projekt nicht um einen Begriff herum, den ich gar nicht besonders mag – »Crossover«. Aber mittlerweile ist ja auch dieser Begriff schon fast ein Klassiker …

Viel Spaß mit meiner Reise wünscht euch

euer

Am Ende jedes Kapitels findet ihr einen QR-Code, hinter dem sich weitere bisher unveröffentlichte Fotos und Videos befinden. Wenn ihr kein Smartphone zur Hand habt, findet ihr den Link zum Zusatzmaterial auch im Anhang.

Ich hätte Nein sagen sollen

Foto vom Albumbooklet Rock Symphonies, 2010

Ich hätte Nein sagen sollen, als Mascha mich bestürmte, an diesem Abend mit ihr auszugehen. Ich wusste natürlich, dass die langen New Yorker Nächte mit ihr noch länger würden, und es hätte mich nicht gestört – es hatte mich nie gestört –, aber genauso wusste ich, dass ich am nächsten Tag um 9 Uhr im Electric Lady Studio in Greenwich Village erwartet wurde. Die Vorarbeiten für Rock Symphonies waren abgeschlossen. Von morgen an wollten wir die Stücke live einspielen, es würden wie üblich noch Korrekturen anfallen, es war nicht einmal ausgeschlossen, dass wir im letzten Moment geplante Nummern verwerfen und neue Ideen ausprobieren würden. Es stand also einiges auf dem Spiel, Crossover-Produktionen bleiben spannend bis zum Schluss, aber genau das gefällt mir, zumal die verrückte Atmosphäre dieses Studios einen weit über den normalen Spaß an der Arbeit hinaus beflügelt. Jimi Hendrix, der diese elektrische Dame ins Leben gerufen hat, geistert wahrscheinlich immer noch durch die grellbunt bemalten Studioräume, wer weiß, in jedem Fall sollte es anderntags um 9 Uhr endlich losgehen. Ich hätte Nein sagen sollen. Aber ich sagte Ja.

Die Nacht wurde sehr lang. Mascha feierte gern, und sie war mal wieder nicht zu halten gewesen – die Lebensfreude in Person; ich fand ihre Ausgelassenheit unwiderstehlich, auch dafür liebte ich sie. Um 6 Uhr morgens fielen wir ins Bett, um 8 Uhr rief ich, immer noch schwer angeschlagen, meinen Produzenten an. Zum ersten Mal im Leben musste ich einen Studiotermin absagen, und ich beschloss, mich von Mascha zu trennen.

War sie schuld? It takes two to tango, ich weiß. Mehr als über sie habe ich mich über mich selbst geärgert. Aber insgeheim hätte ich mir gewünscht, dass Mascha ihre unbändigen Lebensgeister wenigstens dieses eine Mal zur Ordnung gerufen hätte. Dass sie dieses eine Mal die Vernünftigere von uns beiden gewesen wäre. Nur – so war Mascha nicht. Es war nicht ihre Art, mir ins Gewissen zu reden, wenn’s was zu feiern gab. Mir wurde klar: Diese Beziehung tut mir nicht gut. Sie nimmt eine Richtung, in die ich nicht gehen will. Ich würde ihre Lebenslust auch in Zukunft unwiderstehlich finden. Es war einfach zu schön, einfach zu leicht, mit ihr den Kopf zu verlieren und dann die falschen Entscheidungen zu treffen … Ja, es war ein grandioser Abend gewesen, aber ich hatte die Kontrolle verloren. Jetzt brachte mich mein schlechtes Gewissen fast um, und dieses Gewissen hatte recht: Das neue Album geht vor. Die Musik ist wichtiger. Sobald es an die Arbeit geht, fällt Disziplinlosigkeit unter die Todsünden. Ich hätte Nein sagen müssen.

Das hat man nun davon – einmal Wunderkind, immer Wunderkind? Nein, stimmt nicht, so kann man’s nicht sagen. Ich muss 28 gewesen sein, als ich mich von Mascha trennte, und damals hatte ich längst mein zweites Leben begonnen, weit weg von Deutschland, in Manhattan, New York. In diesem neuen Leben konnte ich tun und lassen, was ich wollte, das machte ich auch, nur – es gibt da einen alten Bekannten, der mir seit Kindertagen nachschleicht und nicht abzuschütteln ist: mein schlechtes Gewissen. Wir mögen uns nicht besonders, aber wir kennen uns gut. Es meldet sich vor allem im Traum, dieses Gewissen, das tut es bis heute, und dann bin ich wieder der ernste Junge von neun oder zehn Jahren mit seiner Geige, von dem Wunderdinge erwartet werden. Der von den größten Geigern, den berühmtesten Dirigenten seiner Zeit als Kollege anerkannt werden möchte. Der sich deshalb des Nachts, wenn die anderen schlafen, durchs leere Haus nach unten schleicht, seine Geige wieder auspackt und heimlich weiter übt, weil er Stunden zuvor ein Runzeln auf der Stirn seines Vaters bemerkt hatte – das Tagesziel war offenbar noch nicht erreicht, von Perfektion konnte wohl immer noch keine Rede sein.

Und etwas anderes als Perfektion kam nicht infrage. Das war der Maßstab. Ich hatte Erwartungen zu erfüllen. Und das wollte ich auch. Ich wollte es allen recht machen. Aber was, wenn man es Eltern und Lehrern nie recht machen kann? Wenn man an 365 Tagen im Jahr mit dem Anspruch konfrontiert wird, Leistung zu erbringen, Fortschritte zu machen, etwas besser als gestern und deutlich besser als vorgestern zu sein, also Erwartungen zu erfüllen, die niemals zu erfüllen sind, weil diese Erwartungen mit deinen Fähigkeiten wachsen und weil die Latte immer aufs Neue ein paar Zentimeter höher gelegt wird – und ein Ende nicht abzusehen ist? Was, wenn du an jedem Abend allen Fortschritten zum Trotz mit dem Gefühl zu Bett gehst, wieder einmal nicht gut genug gewesen zu sein? Dann kommen die Träume, und mit ihnen die Angst, zu versagen, die Bewährungsprobe nicht zu bestehen, unvorbereitet zu sein und deshalb alle zu enttäuschen. Mascha zu verlassen war eine Panikreaktion.

War ich immer noch in sie verliebt? Eindeutig ja. Wollte ich die Beziehung zu ihr fortsetzen? Eindeutig nein. Was Mascha nicht wissen konnte: Sie hatte übermächtige Widersacher. Prominente Widersacher, nämlich eben jene weltberühmten Geiger und Dirigenten, die mir prüfende Blicke zuwarfen, wenn ich ihnen als junger Mensch zum ersten Mal mit meiner Geige unter die Augen trat. Sie alle wollten wissen: Wie ernst meint es dieser Knabe mit der Musik? Ist er sich der Größe seiner Aufgabe bewusst? Kennt er seinen Auftrag und seine Verantwortung? Oder gibt es bei ihm Anzeichen von kindlichem Leichtsinn? Wenn ja, dann scheidet er aus. Dann hat er keine Zukunft, dann wird er es nicht schaffen, ganz egal, wie begabt er ist.

Disziplin und Ernsthaftigkeit … Manche Dinge ändern sich nie. Auch später in New York war ich nicht weniger streng mit mir selbst, nicht weniger darauf aus, besser und noch besser und noch besser zu werden. Dieselbe Disziplin, unter der ich als Kind gelitten hatte, habe ich mir auch in meinem zweiten Leben zur Regel gemacht. Niemals die Zügel schleifen lassen, sonst geht alles den Bach runter, und Disziplinlosigkeit wird mit einer Extraschicht bestraft – dass du’s gestern Nacht übertrieben hast, ist eine Ausrede, aber keine Entschuldigung, also pack die Geige aus, mach dir einen Espresso, und los geht’s, die nächsten drei Stunden wird jetzt geübt …

Rückblickend sage ich mir, dass ich ohne diesen Druck niemals das Niveau erreicht hätte, auf dem ich heute Geige spiele. Jeder andere Geiger, jeder Pianist von Weltrang, auch jeder Sportler der Weltspitze wird bestätigen, dass nur der unablässige Erwartungsdruck zum Erfolg führt. Mit anderen Worten: Heute weiß ich, dass alles richtig war, auch wenn vieles falsch war. Aber so spricht die Vernunft. Mein Unterbewusstsein besteht auf einer anderen, ungemütlicheren Version der Geschichte. Und deshalb fällt es mir immer noch nicht leicht, jetzt diese Tür zu öffnen und hinabzusteigen in den großen, dunklen Saal, in dem der kleine David mit seinen Eltern sitzt. Vier Jahre ist er in diesem Moment alt, und gar nicht weit von ihm, oben im goldenen Licht der Bühnenscheinwerfer, steht ein schwarz gekleideter Mann mit einer Geige.

Hier findet ihr Videos und Bilder zu diesem Kapitel.

Dieses unmögliche Instrument

Einer meiner ersten Geigenversuche gemeinsam mit meinem Vater

Erinnere ich mich wirklich? Oder erinnere ich mich bloß an die Erinnerung anderer? Ich meine, mich zu erinnern …

1985 sollte Szeryng in Aachen auftreten. Henryk Szeryng, in Polen geboren, einer der größten, der wunderbarsten Geiger seiner Zeit – dieser gefeierte Mann würde also demnächst in meiner Heimatstadt zu sehen und zu hören sein. Sensationell! Mit meinen vier Jahren hatte ich natürlich keine Ahnung von unserem Glück, aber meinem Vater war sofort klar: Da müssen wir hin! Also Eintrittskarten bestellt, ziemlich weit vorn, diesem Henryk Szeryng so nah wie möglich. Vorher musste allerdings eine Frage geklärt werden: Nehmen wir unseren Jüngsten mit? Kann er so lange still sitzen? Wird er quengeln? Mein Vater entschied: »David kommt mit. Das muss er sich anhören.« Schlimmstenfalls würde meine Mutter mit mir den Saal verlassen müssen.

An diesem Abend saß ich zwischen meinen Eltern in der vierten Reihe, im Konzertsaal des Eurogress, und während Szeryng spielte, fing ich an, den Geiger da oben nachzuahmen, sozusagen Luftgeige zu spielen. Es muss merkwürdig ausgesehen haben. Szeryng jedenfalls fiel es auf: Dort unten sitzt ein Kind, das geigt mit … Und in den Pausen zwischen den Stücken sah er mich an und wartete tatsächlich, bis ich mich wieder beruhigt hatte und still saß – dann nickte er dem Pianisten zu und spielte weiter.

Nach dem Ende des Konzerts kam er noch einmal auf die Bühne zurück, um eine Zugabe zu spielen. Klar, das ist so üblich, aber was dann folgte, war zweifellos sehr ungewöhnlich. Als der Applaus verebbte, trat er nach vorn, zeigte mit dem Bogen auf mich und sagte: »Als ich so jung war wie dieser Kleine in der vierten Reihe hier, habe ich Fritz Kreisler in einem Konzert gehört« – ein Geiger der 20er-, 30er-Jahre vom selben Format wie Szeryng. »Kreisler«, fuhr er fort, »hat mich damals im Publikum entdeckt und mir am Ende seine Zugabe gewidmet, nämlich Tempo di Minuetto, von ihm selbst komponiert. Und heute Abend« – damit sah er wieder mich an – »spiele ich Tempo di Minuetto von Fritz Kreisler für dich.« Und dieses Tempo di Minuetto ist ein herzergreifend romantisches Stück, eine kleine Gute-Nacht-Musik für einen kleinen Prinzen, und er spielte es für mich, und vielleicht war dieses Erlebnis die Initialzündung. Ich musste jedenfalls nicht lange warten, bis mir mein Vater meine erste Geige in die Hand drückte, eine winzig kleine Kindergeige.

Nun ist die Geige ein seltsames Instrument. Ich könnte damit noch ein bisschen warten und erst später darauf zu sprechen kommen, aber es muss jetzt sein, unbedingt, denn … Was wäre ich ohne meine Geige? Ich habe mir diese Frage mehr als ein Mal in meinem Leben gestellt, habe versucht, mir ein Leben ohne Geige vorzustellen, und habe es nicht gekonnt, denn ich bin geigenbesessen. Ich liebe Geigen, sie üben auf mich eine unwiderstehliche Faszination aus, und nicht allein wegen der Musik – es ist die Geige selbst, von der ich nicht loskomme, weil ich zu viel mit ihr erlebt habe, Schreckliches und Schönes, und wer mich verstehen will, der muss dieses Instrument verstehen, bevor er sich mit mir auf meine Lebensreise begibt. Für alle, die sich nie an einer Geige versucht haben, will ich deshalb kurz erklären, was die Geige von anderen Musikinstrumenten unterscheidet.

Wenn man Musik machen will, gibt es grundsätzlich vier verschiedene Arten, Töne zu erzeugen (die menschliche Stimme einmal beiseitegelassen). Man kann Luft durch Löcher pressen. In diesem Fall wird der Ton dadurch bestimmt, dass man einige Löcher verschließt und andere freigibt – bei Flöte, Trompete, Klarinette und Orgel funktioniert es so. Dies ist die erste Methode. Oder man klopft, hämmert, trommelt, schlägt auf einen Gegenstand, sei es mit den Fingern, sei es mit Stöcken oder Hämmerchen – das trifft auf Klavier, Trommel, Triangel und Xylofon zu. Dies ist die zweite Methode. Dann gibt es die Möglichkeit, Saiten durch Zupfen oder Anreißen zum Schwingen zu bringen wie bei Gitarre oder Harfe – dies ist die dritte Methode.

Streichinstrumente wie Geige und Cello erweitern diese Palette der Möglichkeiten nun um eine vierte, die man als reiben, schaben oder kratzen bezeichnen kann, und diese Vorgehensweise klingt nun wirklich nicht nach einem erfolgversprechenden Rezept, wohlklingende Laute zu produzieren. Wie das Wort »kratzen« schon nahelegt, können auf diese Art zwar Töne erzeugt werden, aber in den seltensten Fällen schöne, und damit fängt die Qual des jungen Geigenschülers an.

Es gibt wohl kaum ein schlimmeres Instrument für einen Anfänger und alle, die sich in seiner Nähe aufhalten. Geige spielen zu lernen erfordert von allen Beteiligten Nerven aus Stahl. Auch das Nervenkostüm meines Vaters muss nach einer Weile in Mitleidenschaft gezogen worden, buchstäblich angekratzt gewesen sein. Dabei haben wir über das eigentliche Problem noch gar nicht gesprochen, nämlich die Intonation, also das Verfahren, überhaupt den richtigen Ton auf seiner Geige zu finden.

Nehmen wir zum Vergleich das Klavier. Vorausgesetzt, das Instrument ist ordentlich gestimmt, brauche ich nur eine Taste niederzudrücken und erhalte prompt den gewünschten Ton, rein und unverzerrt – jedem Kleinkind kann man auf einem Klavier innerhalb von Sekunden einen sauberen C-Dur-Akkord beibringen. Das Gleiche dauert auf einer Geige Monate. Warum? Weil du auf einem Klavier jeden Ton wie auf einem Silbertablett serviert bekommst; da hast du eine Tastatur von etwa zwei Metern Länge und obendrein Tasten, die so breit sind, dass man selbst bei einem Allegro furioso kaum danebenhauen kann – aber auf einer Geige sind die Töne nicht festgelegt. Sie lassen sich mit dem Auge nicht mal erkennen, man muss sie blind treffen, und jetzt geht es um Millimeter, um Mikromillimeter, und das nicht selten in Millisekunden! Statt etwa zwei Metern Tastatur steht dir lediglich ein kurzes Griffbrett zur Verfügung, auf dem sich die ganze Bandbreite der Töne auf Zentimetern zusammendrängt, wo die einzelnen Töne mithin auf allerengstem Raum beieinanderliegen. Es ist ein Mysterium, wie man unter solchen Bedingungen, womöglich in rasender Geschwindigkeit, überhaupt einen Ton trifft, der klar und deutlich und sauber klingt.

Nicht genug damit: Wenn du den Ton getroffen hast, hast du ihn noch nicht erzeugt. Es klingt noch nichts, es fehlt die Reibung. Erst der Bogen erweckt die Geige zum Leben, und jetzt hast du das nächste Problem, nämlich mit der rechten Hand völlig andere Bewegungen ausführen zu müssen als mit der linken. Deine Linke tastet sich mehr oder weniger behände über die Saiten, die Rechte hingegen vollführt – in einem ganz anderen Tempo – Auf- und Abwärtsbewegungen mit einem Bogen, und jetzt koordiniere mal diese beiden Bewegungen! Ganz abgesehen davon, dass du mit diesem Bogen den idealen Punkt zwischen Steg und Griffbrett anpeilen musst, jenen Abschnitt der Saite also, an dem du einen weichen und runden Klang hinbekommst. Für jede einzelne Note musst du genau diesen Idealpunkt finden, doch wenn du ihn auf der oberen Saite an der gleichen Stelle suchst wie auf der unteren, hast du dich getäuscht – oben sitzt er woanders.

Zu allem Überfluss aber, und damit will ich es für den Augenblick auch gut sein lassen: Kein Physiotherapeut hätte ein solches Instrument erfunden. Als Pianist muss man ein bisschen auf seinen Rücken achten, das ist wahr, aber ein Geiger muss damit rechnen, dass es ihn nach zwei Stunden in Beinen und Rücken zwickt, weil er zu einer regelrechten körperlichen Verschachtelung gezwungen ist. Irgendwie muss die Geige ja festgehalten werden, und jetzt stehst du da, den Kopf nach links gewendet, die linke Schulter leicht angehoben und das Instrument zwischen Schulter und Kinn eingeklemmt. Die linke Hand unterstützt zwar leicht, wird aber gleichzeitig für akrobatische Fingerbewegungen gebraucht und muss sich daher frei bewegen können; an Festhalten ist von dieser Seite her folglich nicht zu denken. Das heißt: Nicht genug mit den technischen Herausforderungen des Geigenspiels – obendrein müssen auch Körper und Geige optimal zusammenwirken.

Mit anderen Worten: ein unmögliches Instrument. Der Schwierigkeitsfaktor ist brutal, und die Aussicht, es auf der Geige ganz nach oben zu schaffen, so wahrscheinlich, wie den Mount Everest allein und ohne Sauerstoffgerät zu besteigen. Und jetzt höre ich die vollkommen berechtigte Frage: Wie kann man dann wehrlosen Kindern zumuten, sich im Alter von vier oder fünf Jahren mit diesem Instrument herumzuquälen?

Die Antwortet lautet: Weil die Erfahrung zeigt, dass Kopf und Hände in einem späteren Alter den enormen Anforderungen der Geige nicht mehr gewachsen sind. Wer erst mit zehn oder zwölf Jahren anfängt, muss nicht zwangsläufig ein schlechter Geiger werden, aber den Gipfel des Mount Everest wird er nie erklimmen. Eine Saite mit einem Finger der linken Hand im Millimeterbereich optimal zu treffen – dieses feinmotorische Kunststück erlernt man nur in sehr jungen Jahren, und Ähnliches trifft aufs Gehör zu. Es ist nämlich so, dass nicht einmal der beste Geiger der Welt jede Note hundertprozentig genau trifft, auch nicht im Konzert. Er wird immer wieder im Bruchteil einer Sekunde nachkorrigieren müssen, und diese winzigsten Korrekturen erfordern ein extrem präzises, ein von Kindheit an geschultes Gehör. Also besser anfangen, solange das Gehirn noch alles aufsaugt wie ein Schwamm, solange sich noch jeder Griff ins Unterbewusstsein einprägt; damit hatte mein Vater schon recht. Kein hervorragender Geiger, kein weltbekannter Pianist hat erst mit acht oder neun Jahren zu seinem Instrument gefunden, und so etwas wie eine Weltkarriere schwebte meinem Vater wohl recht bald vor …

Einstweilen aber steht er im Wohnzimmer seines Elternhauses in Aachen, der kleine David, und kratzt sich auf seiner Suzuki-Pressspan-Geige etwas zurecht, was auch für ihn selbst schauerlich klingt. Fürs Erste muss er mit etwas leben lernen, was auch für seine Ohren eine Tortur ist. Gott sei Dank kann ich mich nicht an meine allererste Anfangszeit erinnern. Ich erahne die Nervenbelastung aller Beteiligten, wenn ich junge Leute höre, die noch nicht lange dabei sind. Wie viel größer ist das Vergnügen, wenn jemand Klavier spielen lernt! Der Spaßfaktor der Geige liegt bei plus/minus null, monate-, womöglich jahrelang produziert man nur Müll, trotzdem musst du dich täglich aufs Neue zum Weitermachen überreden. Woher, aus welcher Ecke des Universums, bezieht ein Kind unter diesen Umständen seine Motivation?

Hier findet ihr Videos und Bilder zu diesem Kapitel.

Kindheit mit Geige

Im Alter von 5 Jahren

Bezeichnenderweise taucht die Geige schon in meinen allerfrühsten Erinnerungen auf. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals keine Geige in der Hand gehabt zu haben. Es ist so, als hätte mich erst die Musik ins Leben gerufen, als wäre sie der Urknall, aus dem ich als denkendes Wesen entstanden bin.

Ich bin allerdings nicht der Einzige, der mit seiner Geige hier im Wohnzimmer steht und sich bemüht, die Anleitungen meines Vaters so gut es geht in Töne umzusetzen. Neben mir steht mein älterer Bruder Alexander. Ich bin fünf, er ist schon sieben und auf der Geige natürlich weiter als ich, aber vermutlich bin ich trotzdem der Glücklichere von uns beiden. Ganz sicher sogar. Als mein Bruder ein Jahr zuvor seine erste Geige geschenkt bekam, habe ich ihn um sein neues Spielzeug beneidet – so ein Ding, so eine Geige wollte ich auch haben! Jetzt habe ich endlich eine, jetzt kann ich meinem großen Vorbild Alexander nacheifern und bin am Ziel meiner Wünsche. Es ist eben ein Unterschied, ob es heißt: Du sollst – wie bei Alexander – oder: Du darfst – wie bei mir. Er musste, ich wollte Geige spielen lernen – natürlich nicht ahnend, was auf mich zukommen würde –, und vielleicht war die Ausgangslage für mich daher ideal. In jedem Fall war ich motiviert.

Jetzt stehen wir beide also mit unseren Miniaturgeigen im Wohnzimmer und werden von unserem Vater nach der hochaktuellen Suzuki-Gruppenunterrichtsmethode unterrichtet. Wer mich damals hört, wird später sagen, ich habe schnellere Fortschritte als mein Bruder gemacht. Dass er das Geigespielen mit acht Jahren aufgibt, daran dürfte ich aber genauso unschuldig sein wie seine Geige. Alexanders Entschluss hängt mit den Begleitumständen zusammen. Damit, dass das Geigen bei uns nicht zum Vergnügen und nicht nebenbei betrieben wird, sondern das Familienleben weitgehend beherrscht. Für die nächsten 14 Jahre wird sich nicht nur mein Leben, es wird sich mehr oder weniger der ganze Alltag im Hause Bongartz ums Geigespielen drehen.

Bongartz? Gut, ich sehe, ich sollte meine Familie kurz vorstellen. Also: Mein Vater ist Georg Bongartz, gelernter Jurist, aber von Beruf Geigenauktionator und folglich Geigenexperte. Meine Mutter ist Dove Garrett, gebürtige Amerikanerin, Primaballerina und seit meiner Geburt für die Organisation dieses nicht ganz unkomplizierten Haushalts zuständig. Ich heiße bis auf Weiteres David Christian Bongartz. An Geschwistern wird etliche Jahre später noch meine Schwester Elena dazukommen. Und die Leidenschaft meines Vaters ist neben der Geige die Musik, insbesondere die klassische. Er hat auch praktische Erfahrung damit, hat im Unterhaltungsorchester der Luftwaffe gespielt, hat gelegentlich bei militärischen Begräbnissen für den Trommelwirbel gesorgt und wäre am liebsten Geiger geworden. Das war sein Traum, aber für eine Karriere als Solist reichte es nicht ganz, und so hat er sich stattdessen dem Handel mit Streichinstrumenten zugewandt. Außerdem sind Alexander und ich nicht seine ersten Geigenschüler. Er hat vorher schon andere Kinder unterrichtet, wir können also tatsächlich viel von ihm lernen.

Das tun wir auch – aber zu welchem Preis! Sagen wir es so: Als Kind bist du ohnehin an der Leine deiner Eltern, aber es gibt lange Leinen und kurze, sehr, sehr kurze Leinen. Mein Vater macht also die Entdeckung, dass von seinen Söhnen beide ein beachtliches Talent zum Geigespielen besitzen – ich womöglich noch etwas mehr als mein älterer Bruder. Wie reagierst du nun? Welche Maßnahmen ergreifst du, nachdem dir bewusst geworden ist, dass dir das Schicksal zwei goldene Eier ins Nest gelegt hat? Eine beneidenswerte Situation ist das nicht, denn plötzlich hast du die Verantwortung dafür, dass aus den goldenen Eiern auch wirklich Paradiesvögel schlüpfen und keine Wachteln. Willst du also tatenlos mitansehen, wie diese Talente verkümmern? Oder wirst du nichts unversucht lassen, diesen Schatz zu heben? Das ist die Frage, und sie verlangt nach einer raschen Antwort.

Mein Vater beschließt, nichts unversucht zu lassen.

Die Umstände kommen ihm dabei entgegen, denn er arbeitet von zu Hause aus. Er ist fast immer da, er hat zwischendurch viel Zeit, er erteilt uns Unterricht, er überprüft unsere Fortschritte, übt Kritik und lässt nicht locker, erwartet mehr, noch bessere Leistungen, noch größere Fortschritte. Immer seltener am Tag ist er Vater, immer häufiger Lehrer, und zwar einer, der Disziplin verlangt und regelmäßiges, stundenlanges Üben und greifbare Erfolge. Bleiben wir hinter seinen Erwartungen zurück, herrscht zu Hause dicke Luft. Klar, er ist der Vater, folglich geht alles nach seinem Willen, und er hat sehr genaue Vorstellungen – hier ist der Fingersatz, so muss das gemacht werden, hier ist der Bogenstrich, so musst du das jetzt spielen, und so und nicht anders muss es sich anhören. Der Druck lässt praktisch nie nach, und ein Jahr, nachdem ich dazugestoßen bin, gibt Alexander auf.

Weil er schlecht ist? Überhaupt nicht. Er ist unglücklich, kreuzunglücklich. Er hat keine Lust mehr. Wie oft habe ich mitbekommen, dass er beim Üben weint. Er bringt es auch kaum über sich, vor Leuten zu spielen, auf den Hauskonzerten, wenn auch andere Eltern anwesend sind; vorher quälen ihn Bauchschmerzen, und zu seinen Auftritten erscheint er kreidebleich. Irgendwann überwindet er sich und geht zu meinem Vater: »Ich möchte zwar ein Instrument spielen«, sagt er, »aber nicht mehr Geige. Lieber Klavier.« Das Klavier ist nun nicht die große Leidenschaft meines Vaters, aber Alexander bekommt seinen Willen und hat damit seine Freiheit zurück. Für mich wäre jetzt der Moment gekommen, ebenfalls abzuspringen. Warum lasse ich mir die Liebe zur Geige aber nicht austreiben, warum mache ich trotzdem weiter?

Weil ich sturer bin als er? Weil ich ein dickeres Fell habe? Oder müsste man es ganz anders formulieren, müsste man sagen: Weil der kleine David schon den unbedingten Wunsch hat zu gefallen? Wahrscheinlich ist es eher so. Ich möchte ja tatsächlich Beifall finden, ich möchte es meinem Vater und meinem Publikum recht machen, ich will ihre Erwartungen auf keinen Fall enttäuschen. Mein Bedürfnis nach Harmonie ist stärker als aller Frust, es nimmt jede Quälerei in Kauf. Dieses Bedürfnis ist Segen und Fluch zugleich, vor allem aber wird es ein Grund dafür sein, dass ich in den kommenden Jahren nicht zerbreche.

Denn viele zerbrechen. Es hängt nämlich nicht allein von deiner Begabung ab, ob es zu einer großen Karriere reicht; genauso entscheidend ist deine Persönlichkeit, deine Motivation, deine Widerstandskraft. Was du als vielversprechender Musiker in jungen Jahren erlebst, widerspricht ja allen Vorstellungen von einer unbeschwerten Kindheit. In einem sehr frühen Alter bist du quasi schon Profi und wirst auch von allen so behandelt: wie jemand, der eine Arbeit verrichtet, die höchsten Ansprüchen genügen muss. Das heißt: Kaum bist du ein paar Jahre auf der Welt, übst du auch schon einen Beruf aus und musst Qualitätsarbeit abliefern. Mein Bruder war klug genug, rechtzeitig den Stecker zu ziehen; mich rettet mein Harmoniebedürfnis. Aber viele andere zerbrechen daran.

Ab jetzt konzentriert sich mein Vater auf mich. Bis zu meinem 18. Lebensjahr wird er mein Hauptlehrer bleiben, und in den kommenden Jahren wird sich das Geigespielen für mich zu einem 24-Stunden-Job ausweiten, was natürlich bedeutet, dass sich Vater und Sohn sieben Tage die Woche rund um die Uhr miteinander beschäftigen. Zeit genug, sich in die Wolle zu kriegen, denn Familienleben und Arbeit sind jetzt gar nicht mehr voneinander zu trennen. Immer wieder kommt es vor, dass ich abends allein auf meinem Zimmer sitze und denke: Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr – schmeiß die Geige doch in die Ecke, und scheiß auf die Musik … Nur, das geht nicht, weil das Glück meiner Familie, die Stimmung im Haus und nicht zuletzt mein eigenes Wohlbefinden, mein eigener Seelenfrieden davon abhängt, wie gut ich auf der Geige bin. Wenn ich fleißig übe, wenn ich das Etappenziel erreiche, wird es ein harmonischer Tag; wenn ich aber in meinen Anstrengungen nachlasse, kommt es zu Spannungen, dann ist mein Vater verstimmt und reizbar, und alle leiden darunter. Mit anderen Worten: Es liegt an mir, ob meine Familie einen schönen Tag hat, oder ob der Haussegen schief hängt und alle bedrückt umeinanderlaufen. Ich bin also nicht nur für meine Fortschritte auf der Geige verantwortlich, ich bin auch für die Unbeschwertheit im Alltag meiner Familie zuständig.

Das belastet mich. An Tagen, an denen sich keiner im Haus wohlfühlt und ich selbst todunglücklich bin, ist kein Gedanke an Schlaf, bevor ich nicht meinen Frieden mit der Geige gemacht habe. Dann sage ich mir: Das kann doch nicht so schwer sein, das kriegst du doch hin – und schleiche mich, während schon alle anderen schlafen, wieder aus meinem Zimmer hinaus die Treppe hinunter, packe die Geige aus, mache nicht einmal Licht an und übe im Dunkeln weiter. Ich muss spielen, um mit meinen Gefühlen ins Reine zu kommen. Zumindest für mich soll der fast vergangene Tag ein harmonisches Ende finden.

Dass ich schnell lerne und erstaunliche Fortschritte mache, liegt also auch daran: Solange sich die Harmonie nicht um mich herum ausbreitet wie Sonnenlicht in einem Zimmer, das eben noch im Schatten lag, so lange arbeite ich weiter. Ich arbeite, bis alle wieder glücklich sind. Allerdings hinterlässt diese Zeit bei mir Spuren, denn als Kind sehnst du dich nach deutlich anderen Verhältnissen: Du möchtest in deiner Familie Schutz finden, du willst dich sicher und geliebt und umsorgt fühlen. Wenn aber diese Erfahrung hinter eine ganz andere zurücktritt, nämlich die, permanent gefordert zu werden, unablässig Druck und Strapazen ausgesetzt zu sein und pausenlos zu außergewöhnlichen Leistungen angetrieben zu werden, dann setzt sich ein Schmerz in dir fest. Dann leidet dein Selbstwertgefühl. Dann hängt das Damoklesschwert der Unzulänglichkeit und des Versagens ständig über dir. Dann war eben vieles falsch, auch wenn am Ende alles richtig war.

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Ausnahmezustand

Es gibt nichts Schöneres als einen entspannten Tag im Schnee (mit meinem Bruder Alexander)

Habe ich gelitten? Ja, natürlich. Ziemlich oft. Hat mein Vater mich zum Sklaven der Geige gemacht? Nein, ganz und gar nicht. Ich war ja nicht zur Kinderarbeit im Bergwerk verurteilt – ich habe klassische Musik gemacht! Die herrlichste Musik auf Erden. Diese Musik ist etwas Großes und Überwältigendes, gleichzeitig aber auch etwas Schwieriges und Ungreifbares, ein in der Ferne leuchtendes Glück, solange du nur Mittelmäßigkeit anstrebst, aber ein Feuerwerk glückseliger Gefühle in dir selbst, wenn du dich an die Perfektion herantastest.

Nein, ich habe nicht aus Angst vor meinem Vater das Äußerste von mir verlangt. Natürlich – kein Kind mag es, wenn beim Abendessen alle betreten vor sich hin schweigen, es fühlt sich doppelt unwohl, wenn es selbst der Grund für dieses Schweigen ist. Aber den Ausschlag für meine Beharrlichkeit damals hat meine Liebe zur Musik gegeben. Schon als Kind hatte ich keinen Zweifel: Musik ist der großartige Sinn und Zweck des Lebens. Also egal, wie niedergeschlagen, wie verzweifelt oder erschöpft ich war – die Musik hat mich jedes Mal in ihre Arme genommen, getröstet und wieder aufgerichtet.

Und ich ahnte auch jedes Mal, dass ich es schaffen könnte, so, wie ich es von mir selbst erwartete – und wie ich es mir im Übrigen zutraute. Ich wusste ja, was auf der Geige möglich ist. Schon als Kind habe ich mir alles an Klassikaufnahmen angehört, was mir in die Hände fiel. Den Media Markt zu durchstöbern und mit fünf neuen CDs der ganz großen Geiger herauszukommen, das ging bei mir nie ohne innere Freudensprünge ab. Ich habe Musik verschlungen, wie frühreife Kinder anderer Eltern vielleicht die Werke ihrer Lieblingsschriftsteller verschlingen, ich war kein Bücherwurm, ich war ein Platten- und CD-Wurm. Daheim habe ich diese Platten rauf- und runtergehört und eine Gänsehaut bekommen – nicht zu beschreiben, was solche Stunden reiner Freude mit mir gemacht haben.

Und deshalb waren meine Verbündeten keine Gestalten der Literatur, keine Romanhelden, auch keine Kinohelden. Meine Verbündeten waren die großen Komponisten aller Zeiten, es waren Brahms, Tschaikowski, Rachmaninow und Beethoven, natürlich auch Bach. Die aber, und das ist das Entscheidende, durch großartige Interpreten zu mir sprachen, durch Leute wie Heifetz, Oistrach, Menuhin, Zukerman, Perlman und selbstverständlich auch Szeryng und Kreisler, denen wir schon an einem denkwürdigen Abend des Jahres 1985 kurz begegnet sind. Sie, die fabelhaftesten Geiger der Gegenwart und der Vergangenheit, waren meine über alles verehrten, heißgeliebten Helden. An ihnen habe ich mich vor unserer Hi-Fi-Anlage in Aachen sitzend berauscht, an sie wollte ich eines Tages heranreichen und mein Publikum dann mit meinem Spiel genauso ins Herz treffen, wie sie es gerade mit mir taten. Kurz gesagt, ich wollte ein Zauberer werden. Ein Verzauberer.

Davon abgesehen gibt es banalere Gründe, weshalb dieses Leben, mein Leben, doch auszuhalten war. Einer davon ist, dass dir alles normal vorkommt, was du als Kind daheim erlebst. Selbst wenn du in einem Verschlag im Keller aufwachsen würdest und nie rauskämst, würdest du dir keine Gedanken über deinen Zustand machen, weil du ganz einfach kein anderes Leben kennst. Für mich war eben mein Leben das Normale, und fairerweise muss ich sagen: Es hätte deutlich schlimmer kommen können.

Es gab Stunden, in denen ich die Geige beinahe vergaß, bei gemeinsamen Fahrradtouren mit meinem Vater in die Umgebung von Aachen zum Beispiel, oder beim Federballspielen mit meinem Bruder in unserem Garten. Man darf sich den jungen David Bongartz also nicht allzu introvertiert vorstellen; als Kind war ich ein Energiebündel, und wenn ich gerade keine Geige in der Hand hatte, musste ich raus, wollte ich weg, bin ich wie ein Wirbelwind durch den Garten getobt und war unternehmungslustig bis dorthinaus. Mein Bruder war der Stillere, der Besonnenere, aber ich war extrovertiert und voller Lebensfreude – so lange zumindest, bis es ins Haus zurückging, weil wieder Üben angesagt war.

Dann gab es noch die Schule. Und selbst die Schulzeit kam mir halbwegs normal vor, obwohl ich als Schüler eigentlich ständig im Ausnahmezustand war.

Schon in der Grundschule hatte meine Mutter für mich eine Sondergenehmigung erwirkt. Sie war in solchen Dingen sehr geschickt, und fortan galt für mich die Viertagewoche; Donnerstagmittag war Schluss. Natürlich hatte ich dann nicht frei. Das verlängerte Wochenende gehörte dem Unterricht bei meinem jeweiligen Geigenlehrer, und etliche von ihnen wohnten Hunderte von Kilometern entfernt. Später am Gymnasium habe ich überhaupt nur noch die erste Klasse einigermaßen kontinuierlich besucht, dann wedelte meine Mutter mit der nächsten Sondergenehmigung, und bis zum Abitur erfolgte der restliche Unterricht in unseren eigenen vier Wänden, durch Privatlehrer. Wie muss man sich das vorstellen? Als eine relativ lockere Veranstaltung: Mal waren es fünf Stunden am Tag, mal auch nur drei, und bisweilen keine einzige, weil ich zum Beispiel kurz zu einer bekannten Geigerin nach Miami fliegen musste. Kurz, das hieß: für zehn Tage.

Glück gehabt? Ich weiß nicht, meine Bildung wies lange Zeit Lücken auf. Aber Tatsache ist: Geige war erheblich wichtiger als Schule. Mein Vater legte nicht mal Wert auf Hausaufgaben. Normalerweise gehen Eltern abends her und fragen nach: Na, Hausaufgaben alle gemacht? Bei uns nicht. In meinem Fall waren Hausaufgaben sekundär. Wenn ich ordentlich geübt hatte, krähte im Hause Bongartz kein Hahn danach.

Wie man sich denken kann, brachte mich die Nonchalance meines Vater wiederholt in Verlegenheit. Wie oft war ich gezwungen, kurz vor Beginn der Schulstunde schnell noch was ins Heft zu kritzeln, was sehr selten der Weisheit letzter Schluss war, woraufhin sich meine Grundschullehrerin gelegentlich den Spaß machte, mein Geschreibsel vor der Klasse laut zum Besten zu geben – oder meine wirren Sätze samt Rechtschreibfehlern und missratener Satzstellung sogar originalgetreu an die große Wandtafel zu schreiben … Gut, das ist nur ein einziges Mal vorgekommen, aber trotzdem, oft genug habe ich mich in Grund und Boden geschämt. Und während ich mich in diesem Stil mit Müh und Not durch die Klassen hangelte, war mein Bruder als strahlender Einser-Schüler bekannt. Was die Sache nicht besser machte.

Dazu kam, wie man sich ebenfalls denken kann: Meine Klassenkameraden konnten wenig mit mir anfangen. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mein Repertoire an Gesprächsthemen wies nun mal keine Schnittmenge mit dem anderer Kinder meines Alters auf. Ich konnte schlicht und ergreifend bei altersgerechten Themen nicht mitreden und war in den Pausen derjenige, der beim Fußballspielen auf dem Schulhof erst anderthalb Minuten vor dem Gong eingewechselt wurde. Das lag nicht an meiner sportlichen Unfähigkeit, es war einfach so: Keiner wollte diesen Geiger dabeihaben. Diesen Sonderling, der vom wirklichen Leben nichts verstand, der außerdem in den abgelegten Pullovern und Cordhosen seines Bruders rumlief und obendrein aus Angst um seine kostbaren Finger von jeglichem Sportunterricht befreit war.

Was gar nicht stimmte. Nie habe ich mir Sorgen um meine Finger gemacht. Mein Vater schon. Deshalb waren mir Spiele, bei denen mit einem Medizinball nach Menschen geworfen wird, untersagt. Aber auch Schulausflüge und Jugendherbergen kannte ich nur aus den Erzählungen meines Bruders. Jedes Mal, wenn meine Klasse in die Welt hinausfuhr, hatte ich das Nachsehen. Und Skiurlaube waren sowieso strikt verboten, weil regelmäßig mindestens ein Teilnehmer mit einem Gipsarm davon zurückkam. Gerauft habe ich trotzdem. Erstens, weil ich nach Strich und Faden mit meiner Geige aufgezogen wurde, und zweitens, um Unschuldige zu verteidigen, in erster Linie Mädchen, die geschubst und gehänselt und an den Haaren gezogen worden waren. Gehässigkeit ging mir gegen den Strich, und da ich schon früh sehr groß war, habe ich zurückgeschubst. Wenn sich die Gemüter aber nicht beruhigen wollten, war es mir durchaus ein Anliegen, auf dem Schulhof für Gerechtigkeit zu sorgen, ohne Rücksicht auf meine Finger. Als Außenseiter muss man ja irgendwie einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten.

Mit anderen Worten: Grundschule und Geigespielen ist sowieso eine heikle Kombination. Wenn du dann obendrein nicht den coolsten Eindruck hinterlässt, wenn auch noch dein Auftreten und deine Art, dich auszudrücken, in einer Grundschule durch und durch fehl am Platz sind, dann … Ich will’s mal so sagen: Außenseiter ist ein Begriff, der meine Rolle im Aachener Schulwesen nur annäherungsweise beschreibt. Hätte jemand das Wort »uncool« illustrieren müssen, wäre er mit einem Foto von David Christian Bongartz bestens bedient gewesen …

Im Nachhinein klingt das ganz lustig. Aber offen gesagt: Schon damals hat mir mein unfreiwilliger Sonderstatus nicht wirklich zu schaffen gemacht. Ich hatte ja meinen eigenen Kreis aus ähnlich komischen Vögeln wie ich, nämlich Geigenschüler meines Alters, mit denen ich bei meinen Lehrern zusammentraf.

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Auf dem Weg zu Tschaikowski

Zusammen mit meinem Lehrer Zakhar Bron

Ich hatte später die fantastischsten Geiger als Lehrer, lebende Legenden. Aber auch bei einem »Wunderkind« kommt eins nach dem anderen, und deshalb beginnt die Liste meiner Lehrer mit einer Dame namens Coosje Wijzenbeek. Sie ist Holländerin, und ausgesprochen klingt ihr Name so, dass ich ihn auch als Kind leicht über die Lippen bringe, nämlich »Kosche Weizenbek«.

Nach etwa einem Jahr nämlich hat mein Vater wohl das Gefühl, Unterstützung zu brauchen, und schaut sich nach einem richtigen Geigenlehrer um: Wer hat als Lehrer eine gute Reputation? Bei wem haben namhafte Geiger angefangen? Coosje Wijzenbeek in Hilversum ist bekannt dafür, kleine Kinder erfolgreich zu unterrichten, und die Wahl fällt auf sie. Einstweilen wird sie meine Lehrerin sein, vom fünften bis zum siebten Lebensjahr.

Woran erinnere ich mich? Hauptsächlich an die Autofahrten an den Wochenenden nach Hilversum. Mein Bruder ist anfangs noch dabei, also wird die Rückenlehne hinten im Auto entfernt, damit wir Platz zum Schlafen haben; meinem Vater ist das lieber, als wenn wir uns auf der Rückbank zanken, was die zweite Möglichkeit wäre, sich die Fahrtzeit zu verkürzen. Mit Coosje werden dann die Grundlagen erarbeitet: Tonleiter üben, einfache Etüden spielen, erste kleine Schülerkonzerte geben. So simpel können die Stücke allerdings damals schon nicht mehr gewesen sein, denn mit fünf Jahren belege ich mit der Beethoven-Romanze in F-Dur bereits den ersten Platz bei »Jugend musiziert«. Diese Romanze, kein völlig anspruchsloses Stück, muss sich bei mir also einigermaßen erträglich angehört haben.

Möglich, dass mein Vater schon bei Coosje darauf dringt, der Junge möge seine Zeit nicht allein zu Etüden und Fingerübungen nutzen, sondern auch ernsthafte Kompositionen spielen. Schließlich haben seine großen Vorbilder – Menuhin, Oistrach und Heifetz, alles ebenfalls Wunderkinder – schon mit sechs, sieben Jahren große Werke aufgeführt. Ein Menuhin stand als Zehnjähriger bereits mit dem Beethoven-Violinkonzert auf der Bühne, ein Heifetz hat als Achtjähriger das Tschaikowski-Violinkonzert mit Orchester gespielt – mit anderen Worten: Die Latte liegt für mich hoch.

Ich erinnere mich, bei Coosje auch Janine Jansen begegnet zu sein, die später eine große Karriere gemacht hat. Im Übrigen aber sind meine Erinnerungen an diese Zeit spärlich, denn sehr lange dauerte meine Unterrichtszeit in Hilversum nicht an. Nach anderthalb Jahren findet mein Vater, dass ich meiner ersten Lehrerin entwachsen bin, und macht sich erneut auf die Suche.

Man muss dazu wissen: Mein Vater sitzt in dieser Zeit immer dabei, in jeder Unterrichtsstunde, bei Coosje wie bei allen Lehrern, die noch kommen werden. Anfangs schreibt er alles mit, später zeichnet er jede Unterrichtsstunde mit einer kleinen Videokamera auf, um sie zu Hause nachzuerleben und auszuwerten, sie sehr akribisch, äußerst akribisch zu analysieren. Mein Vater bildet sich bei meinen Lehrern also genauso weiter, befindet sich dann selbst in der Rolle des Schülers, versteht sich unter der Woche aber als verlängerter Arm meines Lehrers und übt auf diese Weise eine lückenlose Kontrolle über mich und meine musikalische Entwicklung aus. Da gibt es für mich keine Auszeit, keine Möglichkeit, vorübergehend abzuschalten, zumal er mich ja hin- und zurückfahren muss – eine weitere willkommene Gelegenheit, alles noch einmal Punkt für Punkt durchzugehen.

Von nun an jedenfalls geht es zweimal die Woche zu Saschko Gawriloff, ohne meinen Bruder, der die Geige inzwischen ad acta gelegt hat. Gawriloff unterrichtet an der Kölner Musikhochschule, ist selbst ein ausgezeichneter Geiger, Konzertmeister und Solist und von daher prädestiniert, mein Repertoire an Musikstücken zu erweitern. Was ich als Siebenjähriger aber besonders an Gawriloff mag: dass dieser liebenswürdige, warmherzige und überaus kompetente Mann einem kleinen Bengel wie mir sein Haus öffnet. Es geht sogar vergleichsweise gemütlich bei ihm zu. Am frühen Mittag komme ich an, dann arbeiten wir eine Stunde zusammen, und anschließend lässt er mich Mittagsschlaf halten, bevor es weitergeht.

Natürlich schon längst nicht mehr auf meiner Suzuki-Kindergeige. In diesen Jahren wachsen Kinder aus ihren Geigen genauso schnell heraus wie aus ihren Kleidern. Mit einer Sechzehntel-Geige habe ich angefangen, nicht größer als eine Erwachsenenhand. Bei Coosje war mein Instrument bereits eine Achtel-Geige, eine Hornsteiner, durchaus ein feines Instrument. Meine Geige in der Gawriloff-Zeit ist dann bereits eine Jombar, das Erzeugnis eines französischen Geigenbauers vom Ende des 19. Jahrhunderts mit einem wunderschönen, roten Lack. Und jetzt zu der völlig berechtigten Frage: Was treibe ich eigentlich in den Stunden, die ich mit einem Lehrer zubringe?

Vorweg gesagt: Es wird nicht getrödelt. Erfolge meinerseits sind nicht nur erwünscht, sie werden erwartet und müssen greifbar, nachweisbar sein. Gawriloff zum Beispiel achtet zwar schon auf den Klang, feilt mit mir aber hauptsächlich an der Beherrschung des Instruments, an meiner Tongebung, meinem Vibrato, meiner Bogenhaltung. Dafür sind die Etüden da, Geigenschulen, die aus einer Furcht einflößenden Menge unangenehmer, diffiziler, kniffliger Übungen für beide Hände bestehen.

Etüden spielen ist nichts anderes als Feinmotorik-Tuning. Langweiliges Wiederholen, um Finger und Gehirn in Form zu bringen. Auch bei Gawriloff gibt es diese freudlose Pflichtveranstaltung, aber er weiß, dass der Spaß beim Üben nicht zu kurz kommen darf, deshalb vergisst er nie, mir etwas vorzusetzen, was Vergnügen bereitet: ein kleines Stück von Händel, eine frühe Sonate von Mozart, eine Dvořák-Sonatine. Erst die härtesten Nüsse knacken, dann beschwingt was Schönes spielen, diese Balance ist ideal. So geht ein guter Lehrer vor, und der freundliche Gawriloff ist ein sehr guter Lehrer. Wie alle anderen in meinem Leben übrigens. Keiner ist jemals laut oder handgreiflich geworden. Einige waren streng, aber verletzend oder aufbrausend war keiner; bei allen habe ich mich pudelwohl gefühlt, auf jeden habe ich mich gefreut. Allerdings, wenn ich das sagen darf …

Ich mache es meinen Lehrern auch leicht. Ich bin nämlich ein kleiner Streber. Ich warte gar nicht ab, bis sie mit ihrer Kritik zum Zuge kommen, ich falle ihnen gleich ins Wort – »Ich weiß, was Sie meinen« –, und schon spiele ich dieselbe Passage noch einmal, nur besser. Soll kein Lehrer glauben, ich hätte nicht selbst gemerkt, woran’s gehapert hat … Tatsache ist: Ich sehne mich nach Zuspruch. Für einen drittklassigen Schulaufsatz mit zahllosen Rechtschreibfehlern, eine halbe Stunde vorher zusammengeschmiert, kann ich kein Lob erwarten, aber im Geigespielen bin ich gut, da darf ich auf Begeisterung hoffen und helfe gern ein bisschen nach.

Gut, nach diesem Geständnis weiter zu meinem dritten Lehrer. Mit acht Jahren habe ich ein gutes technisches Niveau erreicht, und jetzt kommt meinem Vater zu Ohren, dass ein russischer Musikpädagoge aus Nowosibirsk in Deutschland eingetroffen ist. Er heißt Zakhar Bron, und in der kleinen Welt der ambitionierten Eltern spricht es sich wie ein Lauffeuer herum: Dieser Bron steht im Ruf eines ganz ausgezeichneten Lehrers … Und woran erkennt man einen solchen? An seinen großartigen Schülern.

Bron ist nämlich nicht allein aus Sibirien gekommen. Er hat seine Visitenkarten mitgebracht, nämlich glänzende Schüler wie Vadim Repin, Maxim Vengerov, Natalia Prishepenko sowie zwei, drei andere, sämtlich zwischen 10 und 14 Jahren alt. Wie Bron von den sowjetischen Behörden für alle Visa bekommen hat, weiß nur er allein; jetzt sind sie jedenfalls im Westen, wo es nun heißt: Da gibt es jemanden, der hat Schüler, so was hast du noch nicht gesehen …

Kurz und gut, die Nachricht von Zakhar Brons aufsehenerregender Talentschmiede lässt auch meinen Vater nicht ruhen, und er beschließt: Dieser Bron soll Gawriloff als Lehrer ablösen. So kommt es auch. Mein Vater erreicht, dass ich Bron vorspielen darf, und seither bin ich fester Bestandteil seiner Schülerschaft. Mit acht Jahren. Und für die nächsten drei.

Es beginnt eine ungemein spannende, ereignisreiche Zeit, prall gefüllt mit richtiger, großer Musik. Oft schon am Donnerstagabend machen wir uns auf den Weg nach Lübeck, mein Vater und ich, er am Steuer, ich am (damals hochmodernen!) CD-Player, das heißt: Aus einem Stapel Klassik-CDs, der für eine Reise nach Portugal und zurück reichen würde, lade ich nach, sobald der letzte Ton der letzten CD verklungen ist, sodass wir quasi alle zwei Wochen auf einer Woge der wunderbarsten Musik, gespielt von den großartigsten Interpreten der Welt, nach Lübeck surfen.

Und wie eine Wundertüte enthält unser Vorrat alles: nicht nur Violinkonzerte, auch Opern, Kammermusik, Klavierkonzerte und alle erdenklichen Symphonien – ab und zu allerdings dauert es keine fünf Minuten, und wir sind uns beide einig: Das brauchen wir uns nicht anzuhören, das sagt uns überhaupt nicht zu. Auf dieser Autobahn erlebe ich mit meinem Vater jedenfalls die angenehmsten Stunden – die Musik verbindet uns, sie macht uns zu Gleichgesinnten, Gleichgestimmten, zu Vater und Sohn.

Genauso schön, wenn auch ganz anders, ist es, diese Tour mit meiner Mutter zu machen. Ist mein Vater verhindert, setzt sie sich nämlich ans Steuer, und dann geht es zu zweit, wenn Alexander dabei ist zu dritt und später sogar zu viert nach Lübeck, denn inzwischen ist meine Schwester Elena dazugekommen. Wir haben ein Appartement gemietet, abends wird gekocht, und so stellt sich im fernen Lübeck für kurze Zeit ein bisschen heimatliche Atmosphäre, ein ungewohnt entspanntes Familienleben ein. Drei Tage bleiben mir dann, um mit Bron zu arbeiten, und so schnell wie nie mache ich Fortschritte.

Ganz, wie es der Vorstellung meines Vaters entspricht, hat Bron nämlich den Anspruch, seine Schüler so bald wie möglich an die großen Werke der großen Komponisten heranzuführen, und noch im selben Jahr heißt es: »Probieren wir doch mal den zweiten und dritten Satz des Tschaikowski-Violinkonzerts.« Den ersten Satz dieses Konzerts lassen wir vorläufig beiseite, der hat es in sich, der galt im 19. Jahrhundert sogar lange Zeit als unspielbar, aber den zweiten und dritten traut er mir zu, auch deshalb, weil er meine Fingerfertigkeit kennt.