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Die vollständig überarbeitete Neuausgabe in der Reihe "Bildungs- und Entwicklungsort Kita" der Expertin für Kleinkindpädagogik Dorothee Gutknecht: Kleine Kinder, die andere Kinder in der Gruppe beißen, sind für pädagogische Fachkräfte in Kitas eine große Herausforderung. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder zwischen einem und drei Jahren beißen. Doch wie kann ein Umgang mit diesen herausfordernden Situationen gelingen? Wie können Kinder unterstützt werden, ein angemessenes Verhalten aufzubauen? Wie können Eltern in angespannten Situationen gestärkt und begleitet werden? Im Buch werden vielfältige Ursachen für das Beßen aufgezeigt und achtsame und responsive Strategien im Umgang damit vorgestellt, die alle Beteiligten in den Blick nehmen: Kinder, Eltern, pädagogische Fachkräfte, Leitung und Träger. Das Buch ist ein Muss für die Arbeit mit Kindern bis drei Jahren!
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Herausgeberin der Reihe Entwicklungs- und Bildungsort Kita.
Achtsame und responsive Frühpädagogik
Prof.in Dr.in Dorothee Gutknecht
In der Reihe Entwicklungs- und Bildungsort Kita: Achtsame und responsive Frühpädagogik wird Wert auf eine geschlechtergerechte und inklusive Sprache gelegt. Im Interesse der besseren Lesbarkeit werden vorzugsweise neutrale Begriffe verwendet und da, wo dies nicht möglich ist, der Gender-Doppelpunkt. Wenn Personen eines bestimmten Geschlechts gemeint sind, wird die entsprechende Form verwendet.
Überarbeitete Neuausgabe „Wenn kleine Kinder beißen“ 2024
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Fotos im Innenteil: Gudrun de Maddalena
Umschlagkonzeption und Gestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf bei Rosenheim
Satz: Gestaltungssaal
Vignetten im Innenteil: © gagap27 - shutterstock, Lana Veshta - shutterstock, Sarunyu_foto - shutterstock, smx12 - shutterstock
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN (Print) 978-3-451-39652-6
ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-83148-5
ISBN EBook (PDF) 978-3-451-83118-8
Vorwort zur Reihe Entwicklungs- und Bildungsort Kita.Responsive Frühpädagogik
Einleitung
1 Wenn das Haut-Ich eines Kindes verletzt wird
2 Ist „Beißen“ eine Verhaltensstörung?
2.1 Beißverhalten bei Kindern in unterschiedlichem Entwicklungsalter
2.2 Beißen als „Misfit“: wenn Temperament und Umwelt nicht harmonieren
2.3 Beißverhalten bei Kindern mit Beeinträchtigungen
2.4 Auf einen Blick: Ersteinschätzung des Beißverhaltens
3 Bei den Ursachen des Beißverhaltens ansetzen
3.1 Entwicklungsbedingte Ursachen
3.2 Umgebungsbedingte Ursachen
3.3 Emotional bedingte Ursachen
3.4 Verwobenheit der Ursachenbereiche
4 Achtsame und responsive Strategien im Umgang mit Beißen
4.1 Emotionale Regulation und Mundmotorik
4.2 Sinneswahrnehmung und Raumgestaltung
4.3 Tagesstruktur und Gestaltung der Übergänge
4.4 Erfahrungen mit Nähe und Distanz
4.5 Spielen im „Entspannten Feld“
4.6 Sprache und Körpersprache – Konfliktassistenz, aber wie?
4.7 Emotionen als Herausforderung
4.8 Der Wunsch, Kausalität zu erfahren – Ursache und Wirkung
4.9 Schwierigkeiten mit der Situation in der Kindergruppe
5 Erstellung eines Handlungsplans
5.1 Die Akut-Situation: Handeln, wenn das Beißen gerade aufgetreten ist
5.2 Langfristige Strategien für den Umgang mit Beißen
5.3 Ungeeignete Maßnahmen im Umgang mit Beißen
5.4 Ausschluss von Kindern aus der Einrichtung
6 Medizinische Aspekte im Zusammenhang mit Beißen
7 Responsiv beraten: Zusammenarbeit mit Eltern
7.1 Stresspotenziale im geteilten Betreuungsfeld erkennen und abfedern
7.2 Eltern stärken und begleiten, deren Kind gebissen worden ist
7.3 Eltern stärken und begleiten, deren Kind gebissen hat
8 Als Institution professionell mit Beißvorfällen umgehen: Fachkräfte – Leitung – Träger
8.1 Pädagogische Haltung und professioneller Umgang mit Emotionen
8.2 Beobachtung – Kollegiale Beratung – Supervision
Literaturverzeichnis
Anhang
Bericht über besondere Vorfälle in der Kita
Analysefragen zu einem Beißvorfall in der Kita
Muster für einen Elternbrief: Beißen in der Kindergruppe
Entwicklungsgespräch im Kontext Beißen
Ablaufschema zur Kollegialen Beratung im Kita-Team
Spielkontakte in der Gruppe
Dank
In der Fachbuchreihe werden die Qualitätsmerkmale einer achtsamen und responsiven Frühpädagogik auf der Bezugsbasis des Konzepts zur Professionellen Responsivität nach Gutknecht (2010, 2024) thematisiert. Es wird der Frage nachgegangen, was achtsames und responsives Handeln im pädagogischen Alltag bedeuten:
• in den Lebensaktivitäten wie essen und trinken, schlafen und ruhen, ausscheiden, an- und ausziehen.
• bei herausfordernden Emotionen und Verhaltensweisen
• bei der Arbeit in typischen Entwicklungs- und Bildungsbereichen wie Sprache, Mehrsprachigkeit, Emotionen und Bewegung und MINT-Bereich
• in Entwicklungsberatung und Leitung
Die Bücher der Reihe behandeln mit Blick auf das jeweilige Buchthema:
1. das professionelle Antwortverhalten der Fachkraft gegenüber dem Kind, der Kindergruppe, Familien und Team
2. die inklusive Perspektive bezogen auf Kultur und Subkultur, Gender, Beeinträchtigung und Befähigung, Entwicklungsniveau und Alter, Werteorientierungen, Sprachen
3. die partizipative Gestaltung der Drehbuch-Skripts des Alltags
4. die Gestaltung von Mikrotransitionen
5. verbale//nonverbale Wege der Kommunikation, Wahrnehmung und Interaktion
6. Körperausdruck- und Körperkompetenzen (inkl. Handling)
7. Impulse zu einer verstehens-orientierten und stress-reduzierenden Pädagogik.
Achtsamkeit und Mitgefühl werden heute in der Frühpädagogik als globale Kompetenzen für eine inklusive Welt der Zukunft betrachtet (Singh et al. 2021). Die Reihe übersetzt hier Zukunftsthemen insbes. aus den sozialen Neurowissenschaften, der Demokratie-, Achtsamkeits- und Responsivitätsforschung in konkrete pädagogische Praxis. Der Responsivitätsbegriff umfasst auch kulturelle und gruppenbezogene Responsivität (Gutknecht, 2017, Waldenfels 2016).
Kinder, die andere Kinder beißen, stellen für Fachkräfte in Krippen oder Kitas eine große pädagogische Herausforderung dar. Kommt es zu ernsteren Bissverletzungen bei einem oder mehreren in der Gruppe oder tritt das Verhalten wiederholt auf, muss eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen werden,
• um dem Kind, das gebissen hat, alternative Handlungsstrategien zu vermitteln,
• um das Kind, das gebissen wurde, zu trösten und zu versorgen,
• aber auch um den Eltern beider Kinder angemessen zu begegnen, sie zu informieren und zu unterstützen.
Entwicklungspsychologisch betrachtet ist Beißverhalten insbesondere bei jungen Kindern im Altersspektrum von einem bis circa drei Jahren nicht ungewöhnlich. Doch bei kaum einem anderen Verhalten ist der Wunsch so dringend, es so schnell wie möglich „beenden“ zu können.
Viele Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Kinder im Autismus-Spektrum, mit ADHS oder mit spezifischen Syndromen (z. B. West-Syndrom, Fragiles-X-Syndrom) zeigen bis ins mittlere und spätere Kindesalter noch häufiger Beißverhalten. Sehr oft handelt es sich dabei um selbstverletzendes Beißverhalten wie zum Beispiel Handbeißen. Hier stellt das Beißen meist eine Art emotionale Regulationshilfe zum Spannungsabbau dar. Häufig hängt dies zudem mit Wahrnehmungseinschränkungen oder -besonderheiten zusammen.
Beißverhalten von Kindern wird von den Eltern der Kinder in einer Krippen- oder Kita-Gruppe nicht einfach hingenommen. Sehr schnell wird von ihnen der Ausschluss des Kindes verlangt, das anderen Bissverletzungen zugefügt hat. Andere Eltern nehmen ihr Kind, wenn es gebissen wurde, sofort aus der Einrichtung, weil sie der Meinung sind, dass dessen Sicherheit dort ganz offensichtlich nicht gewährleistet werden kann. Fortgesetztes Beißen von Kindern in einem Gruppenkontext wird schnell auch zum Thema im Umfeld einer Einrichtung: Bei Leitung und Träger kommt es nicht selten zu Nachfragen, zum Beispiel von Kinderärztinnen und -ärzten, von Frühförderstellen und Fachdiensten.
Da Beißen bei Kindern gerade zwischen einem und drei Jahren häufiger vorkommt, sollten insbesondere die pädagogischen Fachkräfte, die in Einrichtungen mit dieser Altersgruppe arbeiten, gut auf den „Ernstfall“ vorbereitet sein. Auch im inklusiv-pädagogischen Kontext ist eine Wissensbasis in diesem Bereich unabdingbar, um angemessen handeln zu können. Gerade bei Kindern mit Beeinträchtigungen tritt selbstverletzendes, autoaggressives Beißverhalten nicht selten auf. Im vorliegenden Buch werden darum vielfältige Ursachen für Beißverhalten aufgezeigt und achtsame und responsive Strategien im Umgang damit vorgestellt. Mit Responsivität ist das Antwortverhalten der Fachkräfte gemeint, was bedeutet, dass sich die Fachkräfte in optimaler Weise auf das Kind, auf die Familien, aber auch untereinander im Team abstimmen müssen:
• Wie kann das professionelle Antwortverhalten der Fachkräfte gegenüber einem Kind, das gebissen worden ist ist, aussehen?
• Wie kann das Kind, das gebissen hat, darin unterstützt werden, ein angemesseneres Verhalten aufzubauen?
• Wie können Fachkräfte sich abstimmen – sowohl auf die meist aufgebrachten Eltern des Kindes, das gebissen worden ist, als auch auf die oft sehr erschrockenen, verunsicherten Eltern des Kindes, das gebissen hat?
• Wie können die anderen Kinder in der Gruppe und ihre besorgten Eltern vorausschauend in den Blick genommen werden?
• Was sollten Fachkräfte dabei beachten, wenn sie die Bedürfnisse eines älteren oder jüngeren Kindes beantworten?
• Wie kann ein beeinträchtigtes Kind angemessen beantwortet werden?
Wenn das „Haut-Ich“ eines Kindes verletzt wird
Die Haut ist weit mehr als eine Hülle
Die Haut ist weit mehr als eine simple Hülle. Gerade bei einer Bissverletzung zeigt sich die enge Zusammengehörigkeit von Identität, Selbstbewusstsein und Haut. Der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu (2022) spricht darum auch vom „Haut-Ich“. Das findet in der Sprache einen deutlichen und lebhaften Ausdruck: Unser Ich wohnt in unserer Haut. Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien (2001) zeigt anhand unterschiedlicher Redewendungen auf, wie Haut und Identität zusammenhängen: „Ich fühle mich (nicht) wohl in meiner Haut“ zeigt die Haut als die Hülle unserer Seele. Das Ich, das diese Haut bewohnt, scheint direkt unter dieser Oberfläche zu liegen. Wir sind dünnhäutig oder dickhäutig in der Begegnung mit der Welt. Die Haut ist unser ältestes Kontakt- und Verständigungsorgan (Montagu 2019).
Berührungen der Haut sind gerade in der frühen Kindheit eine zentrale Voraussetzung für das Wachstum und Gedeihen von Kindern (Grunwald 2017). Dies betrifft eine ganze Reihe an positiven Immunreaktionen durch Körperberührungen, aber auch Entspannung und der Regulation im Sinne von Angstabbau und Beruhigung. Stressentlastung in der Kita vollzieht sich besonders bei jungen Kindern in sensiblen und freudvollen verbalen Bewegungs- und Berührungsdialogen mit zugewandten pädagogischen Fachkräften: Bei diesen Begegnungen im Körperkontakt werden Anti-Stress-Hormone wie beispielsweise Oxytocin ausgeschüttet (Uvnäs-Moberg 2016). Kinder erlernen in der frühen Entwicklung einen kulturspezifischen Code, was soziale Distanzen, aber auch die Berührungen angeht. Anders und Weddemar (2002) beschreiben in ihrem Grundlagenwerk „Häute scho(e)n berührt?“ qualitative und quantitative Merkmale, die eine gute Berührung auszeichnen:
nach Anders & Weddemar (2002, S. 160, geringfügig modifiziert)
1. Freiwilligkeit (Autonomie-Wahrung)
2. Angemessenheit von Druck und Dauer der Berührung
3. Stimmigkeit der Situation (sozialer Kontext, Hierarchie)
4. berührte Körperstelle (lokale Akzeptanz)
5. Vertrauen und Ehrlichkeit (soziale Akzeptanz, Sympathie)
6. Transparenz und Intention (Erkennbarkeit des Motivs)
Grenzen zwischen unterschiedlichen Typen von Berührungen werden jungen Kindern auch im Spiel deutlich, insbesondere in Rauf- und Rangel-Spielen (Beudels & Anders 2014), die von sanften Berührungsstilen bis hin zur regelgeleiteten kraftvollen Auseinandersetzung reichen.
In der Auseinandersetzung mit Beißverhalten ist vor diesem Hintergrund zu sehen, dass es auch hier klare Abstufungen gibt. In vielen Familien sind in der Begegnung mit dem jungen Kind zärtliche Beißspiele, zum Beispiel auf dem Wickeltisch oder beim Baden, eine durchaus verbreitete Praxis. Dieses Verhalten findet dort seine Grenze, wo Schmerz zugefügt wird, wo die Hautgrenze verletzt wird.
Das Beißen mit Verletzung der Hautgrenze wird daher als Verhaltensweise vollkommen anders bewertet als zum Beispiel schubsen, an den Haaren ziehen oder schlagen, denn hier wird die körperliche Grenze deutlich überschritten. Beißen hat für die meisten Menschen etwas Grausames. Bisswunden verheilen zudem nur sehr langsam. Die Spuren sind lange sichtbar, tief in die Haut eingeschrieben. Beißen wird daher als eine erheblich schlimmere und verstörendere Bedrohung wahrgenommen als andere Formen von Grenzverletzungen im Alltag einer Kindertageseinrichtung. Häufig kommen Bissverletzungen an prominenten, gut sichtbaren Stellen im Gesicht, an den Händen, im Schulter- und Armbereich oder am Rücken vor. Pädagogische Fachkräfte und Eltern, aber auch die Kinder in der Gruppe erinnern sich bei jedem Blick auf die Wunde des Kindes an den Vorfall. Die aufwühlenden Emotionen werden dadurch über einen längeren Zeitraum immer wieder neu aktualisiert.
Das Beißen kann beängstigende Bilder aufsteigen lassen: Beißen wird dann als etwas „Animalisches“ wahrgenommen, als eine massive Aggression. Die Eltern des Kindes, das gebissen worden ist, sehen die Kita dann nicht mehr als einen sicheren Ort für ihr Kind an. Auch andere Eltern in der Gruppe, die von den Beißvorfällen hören oder das Kind mit seiner Bisswunde sehen, können grundlegend in ihrer Entscheidung für eine Einrichtung oder generell für die frühe institutionelle Bildung und Betreuung verunsichert werden.