Wer das Vergessen stört - Tessa Duncan - E-Book
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Wer das Vergessen stört E-Book

Tessa Duncan

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Beschreibung

Psychologisch brillante Hochspannung von Tessa Duncan, bekannt als SPIEGEL-Bestsellerautorin Marie Lacrosse Die Canterbury-Fälle: Fulminanter Auftakt zu einer Spannungsserie um die Psychologin Lily Brown - Eine unerschrockene junge Therapeutin löst Cold Cases, auf die sie in ihrer Praxis stößt - Verbrechen, die auf wahren Fällen beruhen - Für alle Leser*innen von Charlotte Link und Elizabeth George »Wenn Vera tot ist, war es kein Selbstmord!« Nach einer gescheiterten Beziehung lässt sich Lily Brown, zuvor Polizeipsychologin bei Scotland Yard, in Canterbury als Psychotherapeutin nieder. Zu ihren ersten Patientinnen gehören Samantha Harris, die in einer toxischen Beziehung mit ihrem gewalttätigen Ehemann gefangen ist. Und Vera Osmond, die aufgrund eines schlimmen Kindheitserlebnisses unter Panikattacken leidet. Lily hält Veras Behandlung schon für erfolgreich abgeschlossen, als diese sich wieder bei ihr meldet. Doch Lily ist abgelenkt durch die erneut misshandelte Samantha. Wenig später wird Vera tot aufgefunden – angeblich Selbstmord. Lily glaubt nicht daran und stellt Nachforschungen an. Dabei stößt sie auf ein furchtbares Geheimnis und gerät selbst in Lebensgefahr …

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Über das Buch

Nach einer gescheiterten Beziehung lässt sich Lily Brown, zuvor Polizeipsychologin bei Scotland Yard, in Canterbury als Psychotherapeutin nieder. Zu ihren ersten Patientinnen gehören Samantha Harris, die in einer toxischen Beziehung mit ihrem gewalttätigen Ehemann gefangen ist, und Vera Osmond, die aufgrund eines schlimmen Kindheitserlebnisses unter Panikattacken leidet. Lily hält Veras Behandlung schon für erfolgreich abgeschlossen, als sich diese wieder bei ihr meldet. Doch Lily ist durch die erneut misshandelte Samantha abgelenkt. Wenig später wird Vera tot aufgefunden – angeblich Selbstmord. Lily glaubt nicht daran und stellt Nachforschungen an. Dabei stößt sie auf ein furchtbares Geheimnis und gerät selbst in Lebensgefahr …

Tessa Duncan

Wer das Vergessen stört

Die Canterbury-Fälle

Roman

Meinem Mann Jürgen, der mir mit seiner

großen psychotherapeutischen Expertise

jederzeit zur Verfügung stand,

und unserem Kater Mirko gewidmet,

der Vorlage für Mick

»Generell entsteht ein Trauma immer aus einem Ereignis,

welches ›zu schnell und zu viel‹ ist und dementsprechend

vom Nervensystem nicht verarbeitet werden kann.«

 

Christine Seidel: Wenn die Seele nicht heilen will

Prolog

Gebäudekomplex Arden Estate in Hoxton/Londoner East EndFreitag, 30. November 2018, gegen 20 Uhr abends

Die Blaulichter der beiden Streifen- und des Ambulanzwagens flackerten mit der aufdringlichen Weihnachtsbeleuchtung, mit der viele Balkone des achtstöckigen Hochhauses dekoriert waren, um die Wette.

»Eine schöne Sauerei, so ein Tod auf die Art«, knurrte Police Sergeant David Morgan. Er war mit dem zweiten Streifenwagen eingetroffen und hatte sich gerade die Frauenleiche angesehen, die zerschmettert in einer riesigen Blutlache auf dem Straßenpflaster lag. Jetzt gab er seinen Police Constables ein Zeichen, die Plane wieder darüberzudecken. »Und haltet die Schaulustigen fern!«, schnauzte er seine Untergebenen an.

Die Menschenmenge, die sich, wenn auch in gebührendem Abstand, um die Leiche versammelte, wurde immer größer. »Warum ist der Ort noch nicht abgesperrt?«

Mary Clarke und Jeremy Turner, die beiden Police Constables, die nach dem Notruf zuerst vor Ort gewesen waren, zuckten die Achseln. »Hier gibt es leider nichts, woran wir das Absperrband befestigen könnten. Aber wir haben bereits Pfosten angefordert. Der Chief will sie aus der Polizeistation mitbringen.«

»Den Ambulanzwagen kann man wegschicken. Der wird hier nicht mehr gebraucht. Ist der Leichenwagen schon unterwegs?« David Morgans Tonfall blieb schroff. Im flackernden Licht konnten Clarke und Turner erkennen, dass er käsebleich war. Die Tote bot wirklich keinen schönen Anblick.

Zehn Minuten später näherte sich ein dritter, diesmal ziviler Wagen mit Blaulicht auf dem Dach. Chief Detective Inspector Jonathan Anderson stieg aus. Er wandte sich an Morgan. »Was haben wir hier?«

»Eine Frauenleiche, Alter ungefähr zwischen dreißig und vierzig. Ist aufs Gesicht gefallen. Hat sich wahrscheinlich vom Dach dieses Hochhauses auf die Straße gestürzt.«

»Name?«

»Laut den Ausweispapieren heißt sie Vera Osmond und wohnt in Canterbury.«

»Canterbury? Was hat sie denn hier im East End gewollt?«

Morgan hob die Achseln. »Das wissen wir nicht. Wir brauchen erst ein vergrößertes Foto. Dann können wir morgen herumfragen, ob sie jemand kennt. An ihrem Gesicht ist sie jedenfalls nicht mehr zu identifizieren.«

»Und wie ist sie aufs Dach gekommen?«

»Der Hausmeister sagt, dass die Handwerker, die dort zu tun hatten, die Tür nicht abgeschlossen haben. An sich ist ein Aufenthalt auf dem Dach grundsätzlich verboten.«

»Haben Sie die Aussage des Mannes aufgenommen?«

Morgan nickte. »Außerdem bestellen wir ihn morgen früh aufs Revier in Hackney.«

»Irgendein Anzeichen für Fremdverschulden?«

»Auf Anhieb nicht. Aber wir wollten auf Sie warten, bevor wir die Handtasche genauer untersuchen.«

Anderson streifte sich Latexhandschuhe über. »Geben Sie mir die Tasche!«

An einer Seite war die schicke hellbraune Ledertasche ganz blutig. Einige Tropfen fielen auf Andersons Flanellhose mit der exakten Bügelfalte.

»So ein Mist!«, fluchte er und betrachtete einen Moment lang die Bescherung. Dann zog er den halb offenen Reißverschluss der Handtasche ganz auf. »Leuchte mir mal einer!«

Im Licht einer starken Taschenlampe zog Anderson zuerst einen Briefumschlag heraus und überflog das darin liegende Schreiben. »Von der Werbeagentur McMahon. Fristlose Kündigung zum heutigen Datum. Scheint der Arbeitgeber dieser Osmond gewesen zu sein. Und was haben wir hier?« Eine Medikamentenschachtel kam zum Vorschein. »Diazepam. Das sind Benzos, so viel ich weiß.«

Die weitere Suche förderte ein Portemonnaie, eine Packung Taschentücher und ein Schminkset zutage. »Kein Handy. Das ist merkwürdig«, brummte Anderson.

»Vielleicht ist es beim Sturz aus der Tasche gefallen«, schlug Constable Mary Clarke vor.

»Haben Sie schon danach gesucht?«, blaffte Morgan.

»Wir haben nur den näheren Umkreis flüchtig abgeleuchtet«, gab ihr Kollege Jeremy Turner zu. »In der Dunkelheit ist es schwierig. Außerdem überall parkende Autos und jetzt noch die vielen Gaffer. Wir suchen morgen bei Tageslicht alles ab.«

»Bringt wahrscheinlich ohnehin keine neuen Erkenntnisse. Schaut mal, was ich gefunden habe.« Im Schein der Taschenlampe hielt Anderson eine Visitenkarte hoch. »Lily Brown. Psychologin. Psychotherapeutische Praxis in der Rose Lane in Canterbury«, las er vor. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Weiß aber gerade nicht, woher.«

»Jedenfalls scheint die Osmond, wenn sie es denn ist, eine psychisch labile Frau gewesen zu sein. Hat zudem gerade ihre Stelle verloren. Das weist wirklich alles auf einen Selbstmord hin«, fügte Anderson hinzu.

Canterbury, auf dem Weg zu Lily Browns Wohnung Freitag, 7. Dezember 2018

»Also, etwas liegt dir doch noch auf dem Herzen, Matt! Es gibt irgendwas, das ihr mir alle verschweigt.«

Lily Brown runzelte die Stirn, was eine neue Schmerzwelle in ihrem lädierten Kopf auslöste. Ihr Kollege, mit dem sie die Praxis in Canterbury teilte, hatte sie gerade aus dem Krankenhaus abgeholt. Sie hatte dort einige Tage verbringen müssen, nachdem ein Unbekannter ihr einen Schlag auf den Schädel verpasst hatte.

Matt Rider zögerte, was Lily noch mehr beunruhigte. »Nun rück schon damit heraus!«, drängte sie.

Matt seufzte. »Ich wollte es dir erst sagen, wenn du wieder gesund bist. Die Ärzte meinen, du musst dich noch schonen.«

»Du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich sonst keine ruhige Minute habe.«

Matt gab nach. »Die Polizei möchte dich auch noch in einer anderen Sache sprechen. Es geht um deine ehemalige Patientin Vera Osmond. Sie hat sich vor einer Woche das Leben genommen.«

Der Schock fuhr Lily in alle Glieder. In ihrem Kopf begann es zu pochen. »Das kann überhaupt nicht sein«, protestierte sie, als sie sich wieder gefasst hatte. »Was ist denn passiert?«

»Sie hat sich von einem Hochhaus in Hoxton im Londoner East End gestürzt.«

Lily schüttelte heftig den Kopf, was sie mit starken Schmerzen büßte. Aber sie achtete gar nicht darauf. »Das kann überhaupt nicht sein«, wiederholte sie. »Wenn Vera tot ist, war es kein Selbstmord.«

TEIL 1

Kapitel 1

Vera Eine Straße in Canterbury April 2018, acht Monate zuvor

Das Hupen des Wagens hinter mir reißt mich aus der Erinnerung an den gerade erzielten Erfolg. Unwillig werfe ich einen Blick in den Rückspiegel. Ein bärtiger Kerl in einem dunkelgrauen SUV fuchtelt mit beiden Armen herum.

Ärgerlich trete ich aufs Gaspedal. Es geht vor der Ampel, die den aufgrund von Bauarbeiten nur einspurigen Verkehr regelt, ohnehin nur im Schneckentempo voran. Idiot, denke ich, als der SUV-Fahrer erneut die Hupe betätigt. Soll ich meinem Vordermann etwa in den Kofferraum fahren?

Tatsächlich können höchstens zehn Fahrzeuge die Engstelle passieren, bevor der Verkehr wieder zum Erliegen kommt. Die Ampel ist von hier aus nicht einmal zu sehen. Es wird also sicher noch eine Weile dauern, bis ich da durch bin.

Erneut lasse ich die Bilder des Meetings, das vor einer halben Stunde geendet hat, an meinem inneren Auge vorbeiziehen. »Ihre Präsentation war sehr überzeugend, Mrs Osmond«, hat mich der Inhaber der Getränkefirma persönlich gelobt. Doch festlegen wollte er sich noch nicht. »Sie verstehen sicher, dass wir uns noch zwei weitere Präsentationen ansehen werden, bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen, wen wir mit der Werbekampagne beauftragen wollen. Aber Ihre Chancen stehen gut«, hat er mir noch zugeraunt, als er mir zum Abschied die Tür des Meetingraums öffnete.

Jetzt horche ich in mich hinein, während sich die Autoschlange vor und hinter mir ein weiteres Mal quälend langsam vorwärtsbewegt. Auch ich habe ein gutes Gefühl. Die vielen Überstunden, zuletzt das ganze Wochenende hindurch, haben sich gelohnt.

Die Ausarbeitung der Werbekampagne für den neuen Energydrink des renommierten Unternehmens ist mein erster Auftrag als leitende Marketingmanagerin in der Werbeagentur, in der ich seit über fünf Jahren beschäftigt bin. Erst vor zwei Monaten bin ich befördert worden. Noch einmal lasse ich die Gesichter meiner fünfköpfigen Zuhörerschaft Revue passieren. Fast bei allen habe ich das verräterische Funkeln in den Augen gesehen, das von schlecht verhohlener Begeisterung herrührt. Dazu passt auch das lang anhaltende Klopfen auf den Konferenztisch nach dem Ende meiner Präsentation.

Nur eine Person, ausgerechnet die einzige Zuhörerin, hat eher sauertöpfisch dreingeblickt und sich nur mühsam ein Lächeln abgerungen. Bei der Erinnerung daran grinse ich. Denn ich weiß, dass sich der Mann, mit dem sie im Augenblick liiert ist, ebenfalls um diesen Auftrag bemüht hat. Er war mit der Präsentation seines Konzepts genau vor mir dran.

Also weiß sie, dass ich besser war. Ich lächle triumphierend in mich hinein, während sich die Autoschlange erneut in Bewegung setzt. Die Straße macht eine Kurve.

Plötzlich stoppt das Fahrzeug vor mir abrupt. Im letzten Moment trete auch ich auf die Bremse und komme mit nur wenigen Zentimetern Abstand zu meinem Vordermann zum Stehen. Verdammt, was ist los? Aus der Ferne erkenne ich endlich die Ampel. Sie steht noch auf Grün.

Erst dann sehe ich die beiden Kinder, die sich mit ihren Fahrrädern zwischen den Autos hindurchgezwängt haben und gerade den Bürgersteig auf der linken Seite erreichen. Die Straße führt mitten durch eine Parkanlage. Auf der rechten Seite liegt ein Spielplatz.

Was für ein Leichtsinn, denke ich ärgerlich, als der unangenehme Zeitgenosse hinter mir schon wieder zu hupen beginnt. Diesmal hebe ich den Mittelfinger, bevor ich Gas gebe. Ein Blick auf den Spielplatz zeigt mir, dass er jetzt zum Glück leer ist. Es sind keine weiteren unvorsichtigen Kinder zu erwarten.

Ich passiere langsam eine silberne Rutsche, mehrere Spielgeräte, zwei große Sandkästen und ein Klettergerüst. Es hat zu nieseln begonnen.

Auf der linken Straßenseite kommt mir eine Frau entgegen, die einen Kinderwagen schiebt. Sie hat den Kopf gesenkt und fast ganz unter der Kapuze ihres Parkas verborgen. Eine durchsichtige Plastikhülle schützt das Kleine im Wagen. Neben ihr trottet ein großer brauner Hund, ebenfalls mit gesenktem Kopf.

Ich betätige gerade den Scheibenwischer, als ich es zum ersten Mal spüre. Mein Herzschlag beschleunigt sich, meine Kehle wird eng. Abwechselnd wird mir heiß und kalt. Oh nein! Nicht schon wieder!, schießt es mir durch den Kopf. Solche Anfälle suchen mich seit einigen Wochen regelmäßig heim. Jedes Mal überfallen sie mich aus heiterem Himmel.

Ganz ruhig! Tief durchatmen, gebe ich mir selbst die Instruktionen meiner Hausärztin für diesen Fall. Doch es nützt nichts. Ich bekomme kaum mehr Luft. Hektisch blicke ich zum Beifahrersitz hinüber. So ein Mist! Meine Handtasche liegt auf dem Rücksitz. Knapp außerhalb meiner Reichweite.

Ich fühle, wie mir das Blut zu Kopf steigt. Gerade will ich mich abschnallen, um an die Benzos in der Tasche zu kommen, als mein Vordermann anfährt. Da ich mich nicht gleich anschließe, beginnt der SUV-Fahrer hinter mir jetzt sogar dauerhaft auf die Hupe zu drücken. Der durchdringende Ton verursacht mir Schwindel und Übelkeit.

Weitere Fahrer fallen in das Hupkonzert ein. Verschwommen nehme ich wahr, dass mein Abstand zum Vordermann schon mindestens fünfzehn Meter beträgt. Ich schalte den Warnblinker ein und bleibe einfach stehen, schließe die Augen und versuche, mich zu beruhigen, um den rasenden Herzschlag in den Griff zu bekommen.

Doch vergebens! Am ganzen Körper bricht mir der Schweiß aus. Mit letzter Kraft mache ich die Tür auf und will aussteigen. Doch meine Beine versagen mir den Dienst. Kraftlos sinke ich in den Sitz zurück. Kehle und Nase scheinen verstopft. Von irgendwoher höre ich Kinderlärm! Das Geräusch dröhnt zum Rhythmus meines rasenden Herzschlags in meinen Ohren.

Rote Sterne tanzen vor meinen geschlossenen Augen. Ich ersticke! Verzweifelt schnappe ich nach Luft.

Tok, tok, tok! Das heftige Pochen an der Scheibe dringt nur langsam in mein Bewusstsein. Mühsam öffne ich die Augen. Da wird die angelehnte Tür auch schon aufgerissen. Wie durch einen Schleier nehme ich das bärtige Gesicht des SUV-Fahrers wahr. Nun wirkt er nicht mehr zornig, sondern besorgt.

»Ist Ihnen schlecht?«

Ich nicke mühsam. Sprechen kann ich nicht.

»Rücken Sie zur Seite!«

Ich weiß nicht, was der Mann von mir will. Da schiebt er mich auch schon auf den Beifahrersitz. Ich bleibe mit dem rechten Bein an der Gangschaltung hängen. Die Naht des engen Rocks meines Business-Kostüms platzt dabei auf, und meine Wolford-Strumpfhose zerreißt. Fast dreißig Pfund hat sie gekostet, und ich trage sie heute zum ersten Mal.

Halb ohnmächtig nehme ich wahr, dass der Mann meinen Mini auf den Bürgersteig steuert. Dann steigt er aus und fährt seinen SUV dahinter. Mittlerweile schaut auch das besorgte Gesicht einer Frau durch das Fenster der Beifahrerseite, auf der ich zusammengekrümmt hocke. »Brauchen Sie Hilfe? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Mit letzter Kraft schüttle ich den Kopf. »Meine Tasche!«, keuche ich mühsam.

Die Frau versteht mich zum Glück. Sie greift hinter mich auf den Rücksitz und zieht den Reißverschluss der Handtasche auf. Die Schachtel mit dem Diazepam findet sie sofort. Sie reicht mir einen der Blister.

Mit zitternden Fingern drücke ich eine Tablette heraus.

»Haben Sie etwas zu trinken?«

Bevor ich den Kopf schütteln kann, reicht mir der SUV-Fahrer schon eine Flasche Wasser durch die geöffnete Fahrertür. Dankbar greife ich danach und würge die Pille herunter. »Jetzt … jetzt geht es gleich wieder!«, krächze ich.

Der Mann und die Frau sind nicht überzeugt. Doch mein Herzschlag beginnt sich schon zu verlangsamen. »Soll ich wirklich keinen Krankenwagen rufen?«, wiederholt die Frau.

»Nein!«, wehre ich ab. »Ist gleich vorbei. Ein Krankenwagen würde den Verkehr hier total zum Erliegen bringen.« Jetzt klingt meine Stimme schon klarer.

Das Argument überzeugt zuerst den SUV-Fahrer. »Da haben Sie recht!«, stimmt er mir zu. Sein Gesichtsausdruck wird wieder grimmig. »Aber wenn Sie solche Anfälle kriegen, sollten Sie nicht Auto fahren.«

Ich nicke mühsam und versuche mich an einem Lächeln. Die Kinderstimmen vom Spielplatz verebben. Ich kann wieder durchatmen.

Der Mann wünscht mir knapp gute Besserung, bevor er sich in seinen Wagen setzt und langsam an mir vorbeifährt. Die Frau, deren VW Golf die Fahrspur ein Stück blockiert hat, wirft mir einen letzten besorgten Blick zu und wendet sich dann ebenfalls ab.

Nach und nach beginnt sich mein Puls zu normalisieren. Ich atme die von Abgasen verseuchte Luft, die durch das offene Beifahrerfenster dringt, ein wie eine köstliche Brise. Das Gefühl kehrt in meine taub gewordenen Hände zurück, als das Diazepam seine Wirkung entfaltet.

Vorsichtshalber bleibe ich noch eine Viertelstunde lang sitzen, bevor ich wieder auf den Fahrersitz rutsche, den Warnblinker ausschalte und anzeige, dass ich mich in die Autoschlange einreihen will. Zwei Wagen fahren an mir vorbei, der dritte lässt mich einfädeln.

Ich habe endlich die Ampel passiert, als mir etwas auffällt.

Woher kam eigentlich der Kinderlärm? Der Spielplatz war doch ganz leer!

Kapitel 2

Lilys Praxis in Canterbury Dienstag, 12. Juni 2018

In Gedanken versunken, stand Lily am Fenster ihres Praxisraums und blickte auf die belebte Rose Lane hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen.

In knapp zehn Minuten würde Samantha Harris eintreffen, sofern sie sich an den von der Sozialarbeiterin vereinbarten Termin hielt. Noch einmal ließ Lily den Telefonanruf von Mabel Ellis, die sie aus ihrem aktiven Dienst bei der Kent Police kannte, Revue passieren.

»Wie gut, dass du wieder im Lande bist«, war Mabel in ihrer forschen Art mit der Tür ins Haus gefallen. »Die Frau braucht unbedingt eine Therapeutin. Und sie braucht dich. Du hast einfach ein Gespür für solche Fälle und wirst das Gespräch – im Gegensatz zu deinen männlichen Kollegen – behutsam führen«, hatte Mabel erklärt. »Sonst wird aus der Sache nämlich nichts. Es war ohnehin ein Drahtseilakt, den Ehemann dazu zu bringen, seine Frau weiterbehandeln zu lassen.«

Lily kannte Mabel, die bei den East Kent Hospitals beschäftigt war, noch gut aus ihrer Zeit als forensische Psychologin in Maidstone, der Hauptstadt von Kent, wo sich die Zentrale der Kent Police befand. Dort hatte Lily in den Krankenhäusern des Klinikverbunds häufig mit Opfern von Gewalttaten zu tun gehabt, erst recht, nachdem sie sich auf Opfertherapie spezialisiert hatte. Überwiegend handelte es sich bei den Fällen um weibliche Opfer häuslicher Gewalt.

Meist weigerten sich Frauen, die oft seit vielen Jahren in solchen »toxischen Beziehungen« lebten, Anzeige gegen ihren gewalttätigen Partner zu erstatten. Und selten sagten sie die Wahrheit über den Ursprung ihrer erheblichen Verletzungen. Mabel behalf sich daher – mit Einverständnis ihrer ärztlichen Vorgesetzten – gerne mit einem Kniff, den sie nun auch im Fall von Samantha Harris angewandt hatte. Sie drohte damit, im Auftrag der Klinik Anzeige wegen schwerer Körperverletzung gegen den Ehemann des Opfers zu erstatten, es sei denn, er erklärte sich mit einer Psychotherapie der Misshandelten einverstanden. Wie viele andere Männer vor ihm hatte auch Thomas Harris aus Sorge, polizeilich aktenkundig zu werden, zugestimmt.

Lily sah dem Termin mit Samantha mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freute sie sich darüber, dass Mabel sich noch an sie erinnerte und wie sehr sie ihr vertraute. Doch nach allem, was sie ihr über den Fall Samantha Harris mitgeteilt hatte, schien der besonders schwierig zu sein.

»Der Ehemann hat lediglich zugestimmt, dass du Samantha wegen der Depressionen behandelst, die zu ihrem Suizidversuch geführt haben. Er hat Samantha sogar verboten, irgendeine Thematik, die ihn betrifft, in die Therapiesitzungen einzubringen.«

»Also hält er sich für völlig unschuldig am Selbstmordversuch seiner Frau?« Lily war fassungslos.

Mabel schnaubte am anderen Ende der Leitung. »Weder er selbst noch Samantha haben zugegeben, dass er sie so brutal zusammengeschlagen hat, dass sie zwei gebrochene Rippen, eine gequetschte Milz und ein verrenktes Handgelenk hat. Im Anschluss daran hat sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Eine plausible Erklärung dafür, warum sie das aufgrund des Treppensturzes getan haben soll, der angeblich Ursache für die Verletzungen ist, blieben beide schuldig. Übrigens auch eine Erklärung für die vielen Hämatome, die Samantha am ganzen Körper aufwies und die unmöglich von einem einzigen Sturz herrühren können.«

»Was ist mit ihrem Gesicht?«

Wieder schnaubte Mabel. »Samantha ist nicht das erste Mal in der Klinik. Es gibt Akten über sie in Margate und Dover. Der erste Vorfall liegt ungefähr sechs Jahre zurück. In den frühen Akten existieren Fotografien, die Samanthas geschundenes Gesicht bei ihrer Einlieferung zeigen. Aber seitdem meine Kollegin den sauberen Ehemann Thomas damit konfrontiert hat, scheint er Samantha nicht mehr ins Gesicht zu schlagen. Er misshandelt sie nur noch an Stellen, die theoretisch auch von Unfällen wie Stürzen von der Leiter oder der Treppe herrühren könnten.«

»Aha«, machte Lily nur, weil ihr andere Worte fehlten. Der Ehemann musste besonders schlau sein, wenn er seine Untaten auf diese Art vertuschte.

»Auf einen Treppensturz geht angeblich auch die Fehlgeburt zurück, die Samantha vor ungefähr zwei Jahren im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft erlitten hat. Damals wäre sie fast daran gestorben.«

Lily, die sich Notizen machte, hörte zu schreiben auf. »Wenn sie ihren Schläger von Mann trotzdem nicht verlassen hat, ist Samantha Harris therapeutisch wahrscheinlich eine harte Nuss. Doch ich tue, was ich kann, wenn sie überhaupt zu mir kommt.«

»Oh, kommen wird sie wahrscheinlich, um ihren Mann vor der Anzeige zu schützen. Die Frage ist eher, was sie dir anvertraut. In Canterbury war Samantha übrigens zum ersten Mal in der Klinik. Das Ehepaar ist erst vor ein paar Monaten von Margate hierhergezogen.«

Plötzlich merkte Lily auf. »Darf ich das alles denn überhaupt wissen?«

»Ich habe mir die inoffizielle Erlaubnis von Samantha eingeholt, dich mündlich über ihren Fall zu informieren.«

Lily seufzte. »Zumindest weiß ich jetzt, was auf mich zukommt.«

Plötzlich erregte ein gut gekleidetes Paar, das sich auf der Rose Lane näherte, Lilys Aufmerksamkeit. Ihr fiel sofort die Attraktivität der beiden ins Auge. Der Mann war groß, mit breiten Schultern und dunkelhaarig, die Frau einen Kopf kleiner, zierlich und blond. In Hollywood wären sie ohne Weiteres als Traumpaar durchgegangen.

Beide hielten vor dem Eingang des Backsteinhauses an, in dem Matthews Praxis im zweiten Stock lag. Und Lily ahnte, dass es sich um das Ehepaar Harris handelte.

Was der Mann zu der Frau sagte, konnte sie zwar nicht verstehen. Aber er hielt sie dabei fest an beiden Oberarmen gepackt und schien erregt auf sie einzusprechen. Die Frau nickte nur resigniert.

Lily trat zurück und wartete ab.

Eine Minute später läutete es.

Vera Dienstag, 12. Juni 2018, kurz vor fünf Uhr

Ich will gerade bei der psychotherapeutischen Praxis klingeln, als ein Paar genau davor stehen bleibt.

Eigentlich sieht die blonde Frau, die jetzt ins Haus tritt, ganz normal aus. Sie ist schick angezogen und attraktiv, ebenso wie ihr Begleiter. Was für einen Grund kann eine solche Frau nur haben, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen?

Aber vielleicht tarnt sie sich ja genauso gut wie ich. Mir würde auch niemand ansehen, dass ich seit Wochen immer diese Anfälle habe. Und jetzt hat mein Chef die Nase voll. Als ich heute Morgen zur Arbeit kam, hat er mich sofort in sein Büro zitiert. Seine Stimme klingt mir noch in den Ohren.

»Ich hatte Sie doch gebeten, sich für mindestens vierzehn Tage krankschreiben zu lassen«, hat er gesagt. »Damit ich sicher sein kann, dass Ihnen so was wie in Maidstone nicht noch mal passiert.«

Alle meine Beteuerungen, dass es mir wieder gut geht, waren vergebens. Dick MacMahon traut mir einfach nicht mehr.

Wie auch? Ich hätte fast das größte Prestigeprojekt der Agentur vermasselt: das Touristikprojekt für die Grafschaft Kent, mit dem man Besucher aus aller Welt anlocken möchte. Kurz vor der Präsentation des Werbefilms bin ich einfach zusammengeklappt. Ausgerechnet im Büro des Hotelmanagers.

Ja, ich war vorher nervös, aber eher aufgeregt, weil es um so viel ging. Nicht in Panik wie dann in seinem Büro, wo ich den gleichen Anfall erlitt wie schon so viele Male in den letzten Wochen. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist eine Fotografie von zwei kleinen Mädchen auf dem Schreibtisch des Managers. Wahrscheinlich seine Töchter. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Die Präsentation des Werbefilms hat dann Earl, mein Assistent, übernommen. Und wir haben tatsächlich gewonnen. Das ist größtenteils der Erfolg meiner Arbeit. Dennoch wird Dick keine Sekunde zögern, mich zu feuern, wenn mir so etwas wie in Maidstone noch mal passiert. Denn warum soll es mir besser gehen als meiner Vorgängerin? Die hat er auch entlassen, als es Komplikationen mit ihrer Schwangerschaft gab.

Der kalte Schweiß bricht mir aus, ich balle die Hände so fest zu Fäusten, dass es wehtut. Das kommt aber von der Angst um meinen Job und ist keine dieser elenden Panikattacken.

Meine Hausärztin Dr. Walter war mir auch keine Hilfe, ganz im Gegenteil. Sie hat mir unmissverständlich klargemacht, dass sie meine tägliche Dosis Diazepam nicht noch einmal erhöhen wird. »Davon können Sie süchtig werden«, hat sie ihre Entscheidung begründet. »Und hätten dann noch ein zweites behandlungsbedürftiges psychisches Problem.«

Psychisches Problem. Alles in mir sträubt sich gegen diesen Begriff. Ich bin doch nicht verrückt!

»Versuchen Sie es einmal mit einer Psychotherapie!« Dann hat Dr. Walter mir den Zettel mit der Praxisadresse in die Hand gedrückt.

Doch jetzt ist diese Lily Brown offenbar beschäftigt.

Kapitel 3

Lilys Praxis Dienstag, 12. Juni 2018

Nur fünf Minuten später saß Samantha Harris Lily in ihrem Praxisraum gegenüber. Während sich Lily in ihrem bequemen Ledersessel zurücklehnte, kauerte Samantha zusammengekrümmt auf der äußersten Kante des gleichen Modells.

Die angebotene Tasse Tee hatte sie abgelehnt. Auch aus dem Glas Wasser, das sie stattdessen erbeten hatte, hatte sie noch keinen Schluck genommen, sondern umklammerte es mit beiden Händen, als wollte sie sich daran festhalten.

Lily betrachtete die Frau, die ihr gegenübersaß. Tatsächlich wies Samantha Harris’ apartes Gesicht keine Spuren von Misshandlungen auf. Um das verrenkte linke Handgelenk trug sie eine Orthese. Aufgrund des modischen dunkelblauen Hosenanzugs, der ihre schlanke Gestalt betonte, waren keine weiteren Spuren von Verletzungen zu erkennen.

Dennoch wirkte Samantha erschöpft und vor allem verängstigt. Dunkle Ringe lagen um ihre braunen Augen. Die Augenfarbe bildete einen reizvollen Kontrast zu Samanthas honigblonden Haaren, die ihr offen bis auf den Rücken fielen.

Seit Langem war Lily bekannt, dass häusliche Gewalt viel häufiger vorkam, als man es in der heutigen modernen Zeit erwarten würde. Das Phänomen gab es in allen Gesellschaftsschichten, keineswegs nur im asozialen Milieu, wie man landläufig annahm. Dennoch war Samantha die erste Akademikerfrau, die aufgrund dieser Problematik in ihre Praxis kam.

Lily wählte die Worte sorgfältig, mit denen sie das Gespräch eröffnete. »Liebe Mrs Harris«, setzte sie an, »bevor wir unser Gespräch beginnen, möchte ich Ihnen sagen, dass dies hier ein sicherer Ort für Sie ist. Ich verspreche Ihnen außerdem, dass alles, was hier gesprochen wird, unter uns bleibt.«

Nun blickte Samantha zum ersten Mal auf. »Also werden Sie nichts davon gegen meinen Mann verwenden?« Ihre Stimme klang piepsig wie die eines kleinen Mädchens.

Lily schüttelte den Kopf. »Wie jeder Therapeut stehe ich unter absoluter Schweigepflicht.«

Samantha war noch nicht völlig überzeugt. »Und was ist mit der Sozialarbeiterin, Mrs Ellis?«

»Mrs Ellis ist bislang über Ihren Fall vollständiger informiert als ich. Ich würde mich gern weiterhin mit ihr austauschen, es sei denn, Sie untersagen es mir ausdrücklich.«

Erleichtert registrierte Lily, dass Samantha abwehrend die Hand hob. »Nein, nein, das muss nicht sein. Nur die Polizei darf nichts von unseren Gesprächen erfahren. Und niemand bei Barclays, wo mein Mann arbeitet.«

»Selbstverständlich nicht«, versicherte ihr Lily.

Samantha nickte und nahm endlich einen Schluck Wasser.

»Dann würde ich Ihnen jetzt gern einige Fragen stellen und mir Notizen über Ihre Antworten machen.« Lily griff nach dem Klemmbrett, das sie auf dem gläsernen Beistelltisch bereitgelegt hatte. »Natürlich nur für mich als Gedächtnisstütze«, fügte sie hinzu, als Samantha zurückzuckte. »Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden?«

Samantha zögerte kurz und krampfte ihre Hände wieder um das Glas. Dann nickte sie. »Aber nennen Sie mich nicht Mrs Harris«, bat sie. »Sagen Sie einfach Sammy zu mir!«

»In Ordnung! Aber dann müssen Sie mich Lily nennen!«

 

Eine knappe halbe Stunde später war Lily zumindest über Sammys wichtigste Lebensdaten informiert.

Ihre neue Patientin war ein Einzelkind, Tochter eines Lehrerehepaars, und stammte aus Bournemouth. Sie war einunddreißig Jahre alt und seit knapp zwölf Jahren mit ihrem heutigen Ehemann Thomas liiert. Sie hatten sich in Sammys zweitem Studienjahr an der University of Kent in Canterbury kennengelernt, wo beide Wirtschaftswissenschaften studierten.

Sammy hatte ihr Studium ein Jahr später als Thomas begonnen, beendete es jedoch schon nach drei Jahren mit dem Bachelor, um Geld zu verdienen. Mit ihrem Gehalt als Personalsachbearbeiterin finanzierte sie Thomas während seines gesamten Master-Studiums. Ihre Eltern seien damit nicht einverstanden gewesen. Daher habe sie Tommy zuliebe den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

Während sich Lily Notizen machte, hoffte sie inständig, dass ihr Sammy ihre innere Empörung nicht ansah. Samantha Harris hatte sich nahezu von Anfang an ausnutzen lassen, um ihrem Mann ein bequemes Leben zu ermöglichen. Trotzdem hatte sie sich völlig abhängig von ihm gemacht. Mit möglichst unbewegter Miene lauschte sie Sammys weiteren Schilderungen vom Verlauf ihrer Beziehung.

»Thomas hat schnell Karriere gemacht«, erklärte sie ihr nun mit einem Anflug von Stolz. »Sein Master-Abschluss war so gut, dass er sofort eine Stelle bei Barclays fand.«

Das schien Lily zwar nichts Besonderes zu sein, doch sie enthielt sich jeglichen Kommentars.

»Schon mit dreißig wurde er stellvertretender Filialleiter in Margate«, schwärmte Sammy weiter. »Und seit Anfang April ist er Leiter der Filiale in Sandwich. Deshalb sind wir auch nach Canterbury zurückgekehrt. Aber vorläufig ist Thomas noch in der Probezeit.« Plötzlich klang Sammys Stimme wieder ängstlich. »Deshalb darf auch niemand wissen, dass ich mir etwas antun wollte. Es könnte ihm schaden.«

Diesmal entschloss sich Lily zu einer energischen Reaktion. »Ihm könnte es schaden? Das klingt ja, als würden Sie sich die alleinige Schuld an der jetzigen Situation geben.«

Sammy wich Lilys Blick aus. »Wenn ich mir nicht die Pulsadern aufgeschnitten hätte, wäre das alles ja gar nicht passiert.«

»Was wäre nicht passiert?«

»Nun, dieser Krankenhausaufenthalt und dass Mabel Ellis gedroht hat, ihn anzuzeigen.« Sammys Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich ganz erstarb.

Lily wurde allmählich zornig und bemühte sich angestrengt um einen ruhigen Tonfall. »Allerdings wäre das Ganze erst gar nicht passiert, wenn Thomas Sie nicht zusammengeschlagen hätte.«

Sammy antwortete nicht und richtete ihren Blick auf den dunkelblauen Orientteppich zu ihren Füßen. Sie biss sich auf die Lippen und fing heftig zu schluchzen an.

Jetzt tat sie Lily leid. Sie unterdrückte den Impuls, Sammy in die Arme zu schließen. Stattdessen griff sie nach der Schachtel mit den Kleenex-Tüchern und reichte sie Sammy.

Fünf nahezu endlose Minuten vergingen, bevor Sammy zu weinen aufhörte. Dann griff sie hektisch nach ihrer Handtasche, kramte einen Taschenspiegel hervor und musterte darin ihr Gesicht. »Tommy holt mich gleich wieder ab. Er darf auf keinen Fall merken, dass ich geweint habe. Sonst wird er misstrauisch, und ich darf nicht mehr wiederkommen.«

In Lilys Brust schlugen zwei Herzen. Einerseits freute sie sich darüber, dass Sammy weitere Sitzungen in Anspruch nehmen wollte. Andererseits fühlte sie sich angesichts Sammys totaler Abhängigkeit von ihrem gewalttätigen Ehemann auch abgestoßen. Sie unterdrückte den letzten Impuls und sah auf die Uhr. »Eigentlich hätten wir noch fast eine Viertelstunde Zeit. Aber vielleicht gehen Sie stattdessen lieber ins Badezimmer, um Ihr Gesicht zu kühlen. Dann merkt Ihr Mann hoffentlich nicht, dass Sie geweint haben.«

Sammy lächelte gequält. »Und was soll ich ihm sagen, worüber wir heute gesprochen haben? Er wird natürlich alles wissen wollen.«

Einen Augenblick lang überlegte Lily. »Erzählen Sie Ihrem Mann doch einfach, wir hätten die ganze Zeit über Ihre unglückliche Kindheit gesprochen.«

Die Erleichterung, die sich nun auf Sammys Gesicht abzeichnete, war für Lily nur schwer zu ertragen. »Ausgezeichnet! Das wird er mir glauben! Meine Eltern konnte er von Anfang an nicht leiden.«

Auch Lily verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Dann erwarte ich Sie in einer Woche um die gleiche Zeit.«

Zu Lilys Überraschung antwortete Sammy: »Thomas wäre es lieber, ich käme am Vormittag oder am frühen Nachmittag zu Ihnen. Dann stünde das Abendessen schon auf dem Tisch, wenn er nach Hause kommt.«

»Er hat also nichts dagegen, wenn Sie allein in die Praxis kommen?«

Der verschmitzte Ausdruck, der nun auf Sammys Gesicht erschien, war für Lily das Highlight der Sitzung und machte ihr Hoffnung, doch noch fruchtbar mit Samantha arbeiten zu können. »Das tut er. Sofern er nicht glaubt, ich würde ihn hier verraten.« Jetzt zwinkerte Sammy sogar. »Denn was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«

Kapitel 4

Lilys Wohnung Dienstagabend, 12. Juni 2018

Als Lily, beladen mit zwei schweren Einkaufstüten, nach Hause kam, hob sich ihre Laune. Wie immer, wenn sie das Backsteinhaus mit den weißen Fensterläden sah, in dem sie eine Erdgeschosswohnung gemietet hatte. Mit einer Wohnung in diesem Viertel hatte sie sich einen alten Traum erfüllt.

St. Stephens lag nicht weit entfernt vom Campus der University of Kent, wo Lily sich während ihres Studiums ein spartanisches Zimmer mit einer Kommilitonin geteilt hatte. Die beschaulichen Straßen von St. Stephens mit dem vielen Grün hatten ihr schon damals gefallen. Doch in dieser gutbürgerlichen Wohngegend vermietete man nur ungern an Studenten, und wenn überhaupt, dann zu so horrenden Preisen, dass Lily sich die Wohnung keinesfalls hätte leisten können.

Dass der Vermieter außerdem damit einverstanden gewesen war, dass Lily eine Katzenklappe für ihren kleinen Kater Mick in die Tür, die zur Terrasse und in den weitläufigen Garten führte, einbauen ließ, war das Tüpfelchen auf dem i. Nie wieder sollte Mick, wie zuletzt in ihrer Londoner Wohnung, die an einer viel befahrenen Straße lag, ohne Freigang leben müssen.

Als Lily jetzt die Wohnungstür aufschloss, kam Mick ihr bereits laut miauend entgegen. Allerdings war er nicht zum Schmusen aufgelegt, sondern erwartete mit dem in solchen Situationen charakteristischen vorwurfsvollen Blick endlich sein Abendessen.

»Na, dann kannst du dich ja jetzt freuen, mein Schatz«, kündigte ihm Lily fröhlich an. »Ich habe nämlich im Tesco eine ganz neue Futtersorte für dich gekauft.« Das Futter war teuer genug gewesen, doch das war Mick Lily wert. Denn sie verdankte es vor allem dem kleinen Kater, dass sie in den vielen schweren Stunden nach der Trennung von Dan nicht völlig verzweifelt war. Immer wieder brachte der kleine Bursche sie mit seinen Kapriolen zum Lachen. Zudem glich er mit ausgedehnten Kuschel- und Schmuseeinheiten zumindest einen Teil des Mangels an Zärtlichkeit aus, die Lily so schmerzlich vermisste.

Mick war im Alter von zwei Monaten verwahrlost und halb verhungert von Lilys alter Freundin Mandy, die einen Pferdehof in Cornwall betrieb, von einem benachbarten Bauernhof gerettet worden. Mandy hatte ein großes Herz für Tiere und keine Mühe gescheut, Mick aufzupäppeln. Doch sobald es ihm besser ging, hatte sich herausgestellt, dass der kleine, rot-weiß gefleckte Kater sich nicht mit den anderen Katzen des Pferdehofs vertrug. Also hatte Mandy ein neues Zuhause für ihn gesucht.

Anfangs zögerte Lily, Mick aufzunehmen. Doch sie schmolz regelrecht dahin, als ihr Mandy Fotografien des winzigen Katers gemailt hatte. Doch mit zunehmendem Alter erwies sich der kleine Kerl immer mal wieder als richtiger Flegel. Heute schien genau ein solcher Tag zu sein.

Als Lily ihm erwartungsvoll seine Futterschale gefüllt hatte, roch Mick nur kurz daran, wandte sich mit sichtlichem Grausen ab und miaute empört auf, um wenig später vor Wut an Lilys Lieblingssessel zu kratzen.

»Was ist denn gegen die Mischung aus Rind und Huhn einzuwenden?«, fragte ihn Lily enttäuscht. »Ich dachte, ich würde dir damit eine besondere Freude machen.«

Kaum hatte Lily es sich mit ihrer Fertig-Lasagne auf der überdachten Gartenterrasse bequem gemacht, stellte sich heraus, dass Mick ihr eigenes Essen viel attraktiver fand als seines. Anfangs saß er, wieder mit anklagendem Blick, auf dem zweiten Gartenstuhl, bis er auf den Tisch sprang und sich Lilys Teller näherte.

»Jetzt reicht es aber!«, schimpfte sie, packte Mick beim Kragen und setzte ihn unsanft zu Boden. »Du scheinst wieder einmal zu glauben, ich wäre von uns beiden der Besser-Fresser. Dabei schmeckt diese blöde Lasagne nicht einmal.«

Lustlos nahm Lily einen weiteren Bissen des faden Nudelgerichts und kaute darauf herum. Die abendliche Schmuseeinheit mit Mick hatte sich jedenfalls erledigt. Seufzend stand sie auf, trug ihr Geschirr in die Küche und warf den Rest der Lasagne in den Mülleimer. Dann lockte sie Mick mit einem Knabberstäbchen, perfiderweise in der Geschmacksrichtung Rind und Huhn, herein und verschloss Terrassentür und Katzenklappe. Mick, der auf Knabberstäbchen versessen war, verspeiste den Snack mit großem Behagen – und hatte plötzlich überhaupt nichts mehr gegen die zuvor verschmähte Mischung einzuwenden.

»Versteh Katzen, wer will«, murmelte Lily mit einer Mischung aus Entrüstung und Amüsement.

Dann zappte sie durch diverse Fernsehprogramme, ohne eine Sendung zu finden, die sie interessierte. Mick, der schließlich verstand, dass es außer dem Knabberstäbchen nichts mehr zu fressen gab, das seinem Geschmack entsprach, verzog sich beleidigt in eine Ecke hinter der Couch.

»Wäre ich doch nur in der Stadt geblieben und ins Red Dragon gegangen«, sagte Lily vorwurfsvoll in Richtung des völlig verschwundenen Mick. »Wenn ich gewusst hätte, dass du sowieso lieber hungerst, hätte ich mir das Ganze auch sparen können.«

Als sie frustriert überlegte, ob sie jemanden anrufen sollte, um nicht vollends ihrem Blues zu verfallen, bemerkte sie, dass es an ihrem Festnetzanschluss blinkte. Offenbar hatte jemand auf die Sprachbox gesprochen. Neugierig hörte Lily die Nachricht ab, nur um wenig später noch frustrierter zu sein. Es war ihre Mutter Abigail, die sich wie üblich darüber beklagte, dass es ihr nicht gutging, und Lily um Rückruf bat.

Nein, ihre Mum war so ziemlich der letzte Mensch, mit dem sie heute Abend noch zu tun haben wollte. Abigail war verwitwet, Lilys Dad schon vor fünf Jahren nach einem Herzinfarkt verstorben. Obwohl die Ehe ihrer Eltern spannungsgeladen gewesen war, seit Lily denken konnte, beklagte sich Abigail Brown seither nahezu ununterbrochen über ihr Schicksal. Auch jetzt klang ihr Tonfall weinerlich.

Noch verhasster als die ewigen Klagen war Lily jedoch Abigails beständige Sorge darüber, dass ihre einzige Tochter mit jetzt fast einunddreißig Jahren immer noch unverheiratet und vor allem kinderlos war. »Das liegt natürlich an dem völlig unweiblichen Beruf, den du ergriffen hast«, pflegte sie Lily vorzuhalten. »Eine Frau hat bei der Polizei nichts zu suchen, Lilian.« Lilian! Nur ihre Mutter nannte Lily so.

Abigail war – außer Matt Rider – der einzige Mensch gewesen, der sich darüber gefreut hatte, dass Lilys ehemalige Position bei der Kent Police nach ihrem Ausscheiden aus der MET längst wieder besetzt worden war.

Obwohl sie nichts anderes erwartet hatte, war Lily doch weidlich enttäuscht gewesen. Zur MET war sie vor zwei Jahren nur gewechselt, um bei derselben Dienststelle wie Dan zu arbeiten und ihm dadurch möglichst nahe zu sein. Doch die Arbeit als forensische Psychologin bei der MET reizte sie viel weniger als die Arbeit in Kent.

Bei Scotland Yard, wie die MET im Volksmund genannt wurde, ging es weniger um die Opfer, sondern vor allem um Täterpsychologie. Zudem hatte man Lily überwiegend im Cold-Case-Management eingesetzt, wo es um die Wiederaufnahme alter, ungelöster Fälle ging.

Das Wälzen von Papieren aus staubigen Archiven und die Sichtung von Informationen auf Mikrofiche hatte einen Großteil ihrer Arbeit ausgemacht. Dabei arbeitete sie viel lieber mit Menschen, und dass sie ein Talent dafür besaß, war ihr bereits mehrfach bescheinigt worden.

Lily glaubte schon, nach ihrer Kündigung bei der MET beruflich in einer Sackgasse gelandet zu sein, als sie der Anruf von Matthew Rider erreichte. Matt war gut mit dem Chief Superintendent der Kent Police bekannt, der aufrichtig bedauerte, dass er Lily nicht wieder hatte einstellen können. Matt hatte ihr daraufhin den sofortigen Einstieg in seine Praxis angeboten. Das war eine einmalige Chance für Lily gewesen, und sie hatte prompt zugesagt.

»Wie schön, dass es klappt, Lily.« Matt war fast ebenso erfreut gewesen wie sie selbst. »Denn ich bin sogar darauf angewiesen, einen Partner in meine Praxis aufzunehmen.«

»Warum denn das?«

»Ich habe Multiple Sklerose. Das weiß ich seit Anfang letzten Jahres. Anfangs habe ich das nicht so ernst genommen oder habe es, ehrlich gesagt, sogar verdrängt.« Dann hatte ihr Matt erklärt, dass er zunehmend an Schwäche und Konzentrationsstörungen leide und dies vor allem auf seine hohe Arbeitsbelastung zurückführe. »So kann es jedenfalls nicht mehr weitergehen. Schließlich bin ich noch keine fünfzig und will noch etwas vom Leben haben. Du weißt, wie sehr ich meine Arbeit liebe. Aber wenn ich so weitermache, sitze ich bald im Rollstuhl, sagen die Ärzte.«

Matt hatte schon vor zehn Jahren seine Tätigkeit als forensischer Psychologe bei der Polizei aufgegeben und eine eigene Praxis in Canterbury eröffnet.

Lily hatte Matt während ihrer Ausbildung schätzen gelernt, die er genauso sensibel durchführte wie seine Psychotherapien. Auch als sie später nebenberuflich in seiner Praxis mitarbeitete, hatte er ihr in schwierigen Phasen einer Behandlung oft mit Rat und Tat zur Seite gestanden.

Doch auch ihre jetzige Tätigkeit fand keineswegs die Zustimmung ihrer Mutter. »Anstatt mit Verbrechern hast du es jetzt also mit Irren zu tun«, konstatierte Abigail. »Es wird wahrlich Zeit, dass du endlich eine Familie gründest.«

Für Abigail, die selbst nie einen Beruf ausgeübt hatte, da sie schon während ihres Studiums schwanger geworden war und geheiratet hatte, war es selbstverständlich, dass Lily nur noch Hausfrau und Mutter sein würde, sobald sich die ersehnten Enkel einstellten. Die letzten Jahrzehnte schienen bezüglich Frauenemanzipation spurlos an ihr vorbeigegangen zu sein.

»Nein! Ein Gespräch mit Mum fehlt mir gerade noch«, murmelte Lily vor sich hin, während sie sich ein Glas Rosé eingoss und erschöpft auf die Couch sank, hinter der Mick noch immer beleidigt kauerte. Dann griff sie nach der Fernbedienung und schaltete das Radio ein. Nur um es sofort wieder auszumachen, als sie den Song erkannte, der gerade gespielt wurde.

Es war White Flag von Dido, die Ballade von einer Frau, die den Mann, den sie noch immer liebt, verlassen hat, weil sie weiß, dass ihre Beziehung keine Zukunft mehr hat. Sie ist zu stolz, die »weiße Flagge« zu hissen und sich dieser Liebe zu ergeben, da sie spürt, dass es vergeblich wäre.

Unwillkürlich füllten sich Lilys Augen mit Tränen, wie immer, wenn sie dieses Lied zufällig hörte.

Wieder einmal fragte sie sich, ob sie jemals über Dan hinwegkommen würde.

Kapitel 5

Lilys Praxis Mittwoch, 13. Juni 2018

Am nächsten Morgen bereitete sich Lily anhand ihrer Notizen gerade auf ihre Vormittagstermine vor, als es klingelte. Überrascht sah sie auf. Es war kurz nach neun Uhr. Ihre erste Patientin erwartete Lily heute erst um zehn.

In der Tat hatte sie die Frau, die jetzt vor der Tür stand, noch nie gesehen. »Guten Morgen. Möchten Sie zu uns?«

»Ja, ich möchte zu Ihnen. Sie sind doch Lily Brown?« Lily nickte überrascht, woraufhin die Frau fortfuhr: »Ich wollte Sie um ein Gespräch bitten. Meine Hausärztin hat Ihre Praxis empfohlen. Genauer gesagt, Sie.«

»Nun, dann kommen Sie kurz herein. Ein Therapiegespräch kann ich Ihnen heute nicht anbieten. Aber Sie können mir erzählen, was Sie herführt.«

Zum Glück fühlte Lily sich mittlerweile nicht mehr ganz so zerschlagen wie heute Morgen nach dem Aufstehen. Gestern Nacht hatte sie sich stundenlang schlaflos oder dösend in ihrem Bett gewälzt. Erst als sie Mick gespürt hatte, der seinen gewohnten Schlafplatz am Fußende ihres Bettes aufsuchte, war sie noch ein paar Stunden eingeschlafen. Zu ihrer Überraschung hatte sie heute Morgen festgestellt, dass Mick seine Futterschale in der Nacht bis zum letzten Bröckchen geleert hatte.

Lily registrierte, dass ihr die Frau nur zögernd folgte. Unauffällig betrachtete Lily sie, als sie in ihren Praxisraum trat. Die Dame war etwas kleiner als Lily, hatte aber ungefähr die gleiche Figur. Sie trug teure Designerjeans und trotz des sommerlichen Wetters dazu Halbstiefel. Ihr anthrazitgraues Halbarmshirt betonte ihre grauen Augen und passte hervorragend zu ihrem zweifellos attraktivsten und auffälligsten äußeren Merkmal: den kupferroten Haaren, die sie zu einer losen Nackenrolle geschlungen hatte. Einige lange Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr in Wellen bis auf die Brust.

»Nehmen Sie Platz! Was kann ich denn für Sie tun?«

Die Frau hob den Kopf. »Ich bin Vera Osmond, wohne hier in Canterbury und bin in einer Werbeagentur als leitende Marketingmanagerin beschäftigt. Im Augenblick bin ich krankgeschrieben und brauche dringend Hilfe.«

Lily krauste die Stirn. »Wie gesagt, ich kann Ihnen frühestens in der nächsten Woche ein ausführliches Gespräch anbieten. Wenn Sie möchten, können Sie bis dahin meinen Anamnesebogen ausfüllen. Aber heute möchte ich zumindest wissen, ob Sie bei mir überhaupt richtig sind. Wenn Sie nämlich eher ein medizinisches Problem haben …«

Die Frau hob die Hand und unterbrach Lily. »Medizinisch ist mir leider nicht zu helfen außer mit Diazepam. Deshalb hat meine Hausärztin mich ja an Sie verwiesen.«

Lily verkniff sich ein Lächeln. Ihr kleiner Flyer an alle Hausärzte in Canterbury zeigte allmählich Wirkung. »Warum nehmen Sie denn Diazepam?«, forschte sie nach.

Die Frau wich ihrem Blick aus und sah zu Boden. »Ich … Ich leide seit einiger Zeit an merkwürdigen Angstanfällen, die ich mir nicht erklären kann und die quasi aus heiterem Himmel kommen. Könnten Sie mir dabei helfen, sie loszuwerden?

Lily richtete sich in ihrem Lehnsessel auf. »Wahrscheinlich schon, Mrs Osmond, wenn Sie genügend Zeit und Geduld mitbringen. Die Bewältigung von Angststörungen ist ein klassisches Einsatzgebiet der Kognitiven Verhaltenstherapie, mit deren Methoden ich arbeite.«

»Was sind das für Methoden?«

»Vor allem solche, die meinen Patienten helfen, besser mit ihren Symptomen umzugehen und sie schließlich sogar zu bewältigen. Dazu gehört auch eine ausführliche Erforschung der möglichen Ursachen der psychischen Störung.« Sie stockte, als Vera zusammenzuckte.

»Ich bin aber doch nicht verrückt?« Ihre Stimme klang unsicher.

Lily schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.« Vera machte nicht den Eindruck auf sie, an Halluzinationen oder Wahnvorstellungen zu leiden.

»Das beruhigt mich. Manchmal träume ich schlecht, aber das erzähle ich Ihnen dann bei unserem ersten regulären Termin.« Ihre Miene verdüsterte sich wieder. »Aber den brauche ich schnell, sonst drohen mir gewaltige berufliche Nachteile.«

Lily krauste die Stirn. »Leider erst in der nächsten Woche«, wiederholte sie.

Vera biss sich auf die Lippen, die passend zu ihren Haaren geschminkt waren, und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht bis nächste Woche warten.« Ihr Tonfall bekam etwas Flehendes.

»Sind Ihre Symptome denn so gravierend?«

»Für den Beruf, den ich ausübe, schon«, antwortete Vera. »In der Werbeagentur, in der ich beschäftigt bin, bin ich erst im Februar befördert worden. Und habe durch meine ›psychische Störung‹, wie Sie das nennen, fast ein absolutes Prestigeprojekt vermasselt.« Jetzt sah sie Lily gerade in die Augen. »Bitte, ich muss so schnell wie möglich mit der Behandlung beginnen.«

Lily überlegte einen Moment lang. Dann fiel ihr ein, dass eine Patientin für übermorgen abgesagt hatte. Vera Osmond war ihr sympathisch und schien sehr motiviert zu sein. »Nun gut«, gab sie nach. »Freitag um zwölf. Passt das?«

Vera strahlte über das ganze Gesicht. »Selbstverständlich passt das. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.«

Vera unmittelbar danach

Zurück auf der Straße fühle ich mich gleichzeitig erleichtert und ängstlich. Was wird bei dieser Lily Brown wohl auf mich zukommen, frage ich mich. Kann sie mir wirklich helfen?

Ich gehe ein paar Schritte die Rose Lane hinunter. Eine andere Wahl habe ich gar nicht. Ich muss unbedingt zurück zur Arbeit. Mein Ruf ist schon ramponiert genug.

Der Schweiß läuft mir über die Schläfen. Ich fische ein Kosmetiktuch aus meiner Handtasche und bemerke dabei, dass meine Fingernägel rote Halbmonde in meinen Handflächen hinterlassen haben.

Aber für diese Art Angst kenne ich den Grund. Ich bin Single, habe keine Familie mehr und kaum Freunde. Mein Leben ist die Arbeit. Ohne sie wäre alles sinnlos. Außerdem verdiene ich gut, besonders nach der Beförderung. Ich kann mir teure Kleider und Reisen leisten. Über diese Angst habe ich außerdem die Kontrolle. Die Panikattacken sind kein Vergleich dazu.

Also muss ich es mit dieser Lily Brown versuchen.

Sie ist nett. Und sie hat mir versichert, dass ich nicht verrückt bin.

Kapitel 6

Im Pub Red Dragon Mittwochabend, 13. Juni 2018

»Wie schön, dass es heute Abend mit unserem Treffen klappt,« sagte Lily herzlich, nachdem sie Matt Rider an einem kleinen Tisch in einer Nische des Pubs entdeckt hatte.

Matt erwiderte ihr Lächeln. »Du hast einfach einen ausgesprochen guten Einfluss auf mich, Lily«, neckte er sie. »Zumindest, was meine Gesundheit betrifft. Ob das Ale, das ich heute Abend trinken werde, mir guttut, werde ich später ja sehen.«

Ein Pint der Hausmarke, die im Pub ausgeschenkt wurde, stand bereits vor ihm. Lily bevorzugte Weißwein und besorgte sich ein Glas an der Bar.

»Was möchtest du essen, Lily?«, fragte Matt nach ihrer Rückkehr. »Ich lade dich ein.« Er hob die Hand, um ihren Protest abzuwehren. »Keine Widerrede.«

Lily fügte sich lächelnd und las eine Tafel, auf der die aktuellen Gerichte aufgelistet waren. Eine reguläre Speisekarte gab es im Red Dragon nicht. Das hätte zu der über sechshundertjährigen Tradition des Pubs nicht gepasst. »Mmh! Es gibt Apple Crumble mit Vanillesoße, meinen Lieblingsnachtisch«, schwärmte sie. »Dann nehme ich als Hauptgericht eben nur Erbsensuppe. Sonst bringe ich morgen zu viel auf die Waage.«

Matt runzelte missbilligend die Stirn. »Meiner Ansicht nach bist du schlank genug, Lily, um dir ein ordentliches Abendessen zu gönnen. Schau doch nur, heute gibt es auch Steak-and-Kidney-Pie.«

Lily schüttelte bedauernd den Kopf. »Nimm du die Pastete, Matt! Wenn ich die riesige Portion, die man hier bekommt, überhaupt schaffen würde, bekomme ich keinen Bissen des Crumbles mehr herunter.«

Matt seufzte. »Für mich heute leider auch kein Pie, ich nehme stattdessen den Ploughman’s Lunch.«

Während Matt es sich nicht nehmen ließ, selbst zur Theke zu gehen, um das Essen zu bestellen, blieb Lily mit schlechtem Gewissen wegen ihrer Taktlosigkeit am Tisch zurück. Natürlich musste Matt aufgrund seiner Krankheit auch darauf achten, was er aß. Ehemals war der Steak-and-Kidney-Pie eins seiner Lieblingsgerichte gewesen. Heute musste er sich diesen Genuss offenbar versagen.

Denn die Multiple Sklerose, jene tückische Krankheit, hatte Matt bereits gezeichnet. Erst neunundvierzig Jahre alt, waren seine ehemals fast schwarzen Haare und sein Vollbart inzwischen vollständig ergraut. Er hatte mindestens zehn Kilogramm abgenommen, seine Gestalt war hager, seine Wangen eingefallen. Insgesamt wirkte Matt deutlich gealtert im Vergleich zu der Zeit, in der sie mit ihm vor ihrem Job bei der MET zusammengearbeitet hatte.

Um das Gespräch nicht wieder auf seine Krankheit zu lenken, schwenkte Lily sofort nach Matts Rückkehr auf ein anderes Thema um. »Weißt du eigentlich, dass dieses Haus schon vor Jahrhunderten ein Gasthaus für Pilger gewesen sein soll?«

Matt nickte. »Ja, zuerst für die Pilger, die Thomas Beckets Grab besuchen wollten. Er wurde ja unmittelbar nach seiner Ermordung heiliggesprochen und soll angeblich viele Wunder bewirkt haben. Und dann beherbergt die nahe gelegene Kirche St. Dunstan bis heute auch noch den Kopf von Sir Thomas More.«

»War das nicht der Lordkanzler Heinrichs des VIII., der seine Scheidung von Katharina von Aragon missbilligte?« Lily erinnerte sich vage.

»So ist es. Dafür ließ Heinrich ihn schließlich als Hochverräter enthaupten und seinen Kopf auf der London Bridge aufspießen. Angeblich hat Mores Tochter Margaret Roper den Kopf durch Bestechung an sich gebracht und nach Canterbury geschmuggelt, wo er schließlich in St. Dunstan in der Familiengruft der Ropers bestattet wurde. Auch Thomas More wurde als Märtyrer heiliggesprochen, weil er nicht vom katholischen Glauben ablassen wollte, und zog daher zahlreiche Pilger an.«

»Das wusste ich noch nicht«, räumte Lily ein.

»Wie bist du denn auf diesen Pub aufmerksam geworden?«, fragte Matt.

»Ich habe ihn eines Tages entdeckt, als ich vom Bahnhof Canterbury West aus nach London fahren wollte. Der Pub liegt ja auf dem Weg dahin. Die Atmosphäre hier gefällt mir sehr, und der Pub ist nicht so touristisch wie die in der Altstadt. Also ist er mein Stamm-Pub geworden.«

Matt sah Lily mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an, einer Mischung aus Unsicherheit und Interesse. »Warum bist du eigentlich nicht bei der MET geblieben?«

»Es hat mir dort einfach nicht gefallen.«

»Der Chief Superintendent hat mir gesagt, du hättest dort bereits gekündigt, noch bevor du dich wieder bei der Kent Police nach einem Job erkundigt hast.«

Lilys Kehle verengte sich.

Matt bemerkte ihr Unbehagen sofort. »Aber ich möchte dir nicht zu nahe treten, Lily. Wenn du nicht darüber reden willst, ist das auch in Ordnung.«

Lily registrierte zu ihrer Verwunderung, dass das Gegenteil der Fall war. Seit ihrer Trennung von Dan hatte sie mit niemandem über die Angelegenheit gesprochen. Es würde sie erleichtern, sich einmal einiges von der Seele zu reden.

»Ich habe aus dem gleichen Grund gekündigt, aus dem ich mich dort überhaupt beworben habe. Es war wegen eines Mannes«, gab sie zu. »Ich habe ihn in Quantico kennengelernt.«

»In Quantico?«

»Dan, so heißt er, ist auch forensischer Psychologe, so wie du und ich. Er arbeitet bei der MET.«

»Meinst du Dan Baker?«, fragte Matt erstaunt nach.

»Kennst du ihn etwa?«

Matt nickte. »Ich habe ihn ein paarmal auf Kongressen getroffen, wo ich Workshops gehalten habe. Er fiel mir durch seine klugen Fragen auf, schien aber auch ein rechter Frauenheld zu sein.«

Lily spürte ihre Augen feucht werden. »Dafür habe ich ihn anfangs in Quantico auch gehalten. Bis er mich angemacht hat und ich auf ihn hereingefallen bin.«

Matt schwieg und schien abzuwarten, ob Lily ihm mehr erzählen wollte.

Doch, das wollte sie. »Du weißt, wie stolz ich damals darauf gewesen bin, zu diesem Fortbildungskurs beim FBI entsandt zu werden.«

»Natürlich, daran erinnere ich mich gut. Schließlich ist es die für die Verhaltensanalyse von Verbrechern bekannteste Institution der Welt und die bislang erfolgreichste bei der Identifizierung von Serienmördern. Ich weiß noch, wie du mir vorgeschwärmt hast, dort alles über Profiling zu lernen. Und wie stolz du darauf warst, eine von nur fünf ausgewählten Teilnehmern aus Großbritannien zu sein. Dazu noch die einzige Frau.«

»Ja, ganz genau. Und trotzdem stand alles, was es dort zu lernen gab, im Hintergrund, als ich mich in Dan verliebt habe.«

Matt musterte sie prüfend mit seinen blassblauen Augen. »Du warst für mich immer eine rational denkende Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. Was hat sich denn in Quantico daran geändert?«

Zögernd begann Lily zu erzählen, bis die Worte schließlich nur so aus ihr heraussprudelten. Sie war mit Dan zusammengekommen, nachdem er sie dazu aufgefordert hatte, mit ihm gemeinsam eine schwierige Hausaufgabe zu erledigen.

Schon bei ihrem dritten Arbeitstreffen war Lily Dans Charme erlegen. Vor einer Kulisse, wie sie romantischer nicht hätte sein können. Sie saßen an einem der ersten Frühlingstage bei strahlendem Sonnenschein im Park der FBI-Akademie vor einem Beet mit bunten Krokussen und Primeln. Unvermittelt hatte Dan Lily auf die Wange geküsst. Als sie überrascht aufblickte, hatte er sie in die Arme genommen und war mit ihr in ihren ersten leidenschaftlichen Kuss versunken.

»Von da an war ich rettungslos in ihn verknallt«, gestand Lily Matt und schob ihre mittlerweile kalt gewordene Suppe zur Seite. »Zumal er auch ein überaus zärtlicher Liebhaber war. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich begehrenswert.«

»Zum ersten Mal?«

»Ja, zum ersten Mal. Dan schwor mir, dass ich eine der schönsten Frauen sei, die ihm je begegnet sind.« Nun wurde Lily sarkastisch. »Er habe sich schon am ersten Tag in meine grünen Augen verliebt. Besonders in die hellbraunen Einsprengsel, die ich noch nie leiden konnte. Sie brächten meinen Blick zum Strahlen. Deshalb habe er sehnsüchtig auf eine Gelegenheit gewartet, mir näherzukommen.«

»Das klassische Love Bombing«, antwortete Matt zu Lilys Verblüffung.

»Was ist Love Bombing?«

Matt schnaubte. »Die Masche, mit der solche Männer Frauen für sich gewinnen. Sie überschütten sie mit Komplimenten über ihr Aussehen und mit jeder Art von Aufmerksamkeit und vermeintlicher Hingabe. Viele Frauen verwechseln dieses Verhalten mit wahrer Liebe. Manche werden solchen Männern sogar hörig. Zum Glück gehörst du nicht zu dieser Sorte.«

Lily verspürte einen heftigen Stich. »Ja, zum Glück«, wiederholte sie. »Ich muss ja nur in den Spiegel sehen, um festzustellen, dass ich nicht die nächste Miss Universum sein werde.«

»So habe ich das nicht gemeint«, stellte Matt klar. »Du bist eine sehr attraktive Frau.«

Lily strich sich eine Locke ihrer schulterlangen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht und blickte ihn verwundert an. »Nimmst du mich jetzt auf den Arm?«

Matt schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ernsthaft.«

Plötzlich fühlte sich Lily befangen. In Matts Blick hatte sich etwas eingeschlichen, das sie irritierte. Bislang war er ihr ein guter Freund und Kollege sowie ein professioneller Berater gewesen. Und das sollte auch so bleiben. Sie atmete durch und verdrängte den Gedanken, dass Matt womöglich mehr in ihr sah.

Sie nahm einen Löffel Suppe und legte ihn gleich darauf wieder ab. »Die Erbsensuppe ist ganz kalt. Aber bestimmt können sie sie wieder warm machen.«

Der Rest des Abends verlief mit unbeschwertem, freundschaftlichem Geplauder. Als Lily nach Hause fuhr, war sie bereits sicher, dass sie sich Matts tiefere Gefühle für sie nur eingebildet hatte.

Kapitel 7

Lilys Praxis Freitag, 15. Juni 2018

Konzentriert überflog Lily Vera Osmonds Anamnesebogen. Sie war vierunddreißig Jahre alt und wohnte in Canterbury auf dem St. Martins Hill. Seit nunmehr fünf Jahren war sie in jener Werbeagentur beschäftigt, in die sie unbedingt so rasch wie möglich zurückkehren wollte. Damit endete jedoch bereits die »Normalität« in Vera Osmonds Lebenslauf.

Denn wie es aussah, stand sie völlig allein in der Welt. Und das bereits seit vielen Jahren. Sowohl ihre Eltern als auch eine eineinhalb Jahre jüngere Schwester namens Chrissy waren bei Unfällen ums Leben gekommen, die im Fragebogen nicht näher beschrieben wurden. Lily beschloss, ihre Exploration gleich mit diesen ungewöhnlichen Punkten zu beginnen.

»Ich sehe, dass Sie bereits seit Jahren Vollwaise sind«, eröffnete sie das Gespräch, nachdem Vera Platz genommen hatte. Interessanterweise hockte sie genauso verkrampft auf der Sesselkante wie vor einigen Tagen Samantha Harris.

Vera Osmond nickte. »Meine Eltern sind 1996 bei einem Bootsunfall in Neuseeland ums Leben gekommen, als ich noch keine dreizehn Jahre alt war. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Meine jüngere Schwester ist bei einem Autounfall gestorben. Da war sie zwei Jahre alt. An sie kann ich mich kaum mehr erinnern, denn bei dem Unfall wurde ich selbst schwer verletzt. Ich lag mehrere Wochen lang im Koma und hatte nach Aussage meiner Eltern beim Aufwachen große Teile meines Gedächtnisses verloren. Ich musste wieder mühsam in mein Leben zurückfinden.«

»Wie alt waren Sie damals?«

»Beim Unfall war ich vier. Aus der Kinderklinik entlassen wurde ich erst nach meinem fünften Geburtstag.«

Lily warf einen Blick auf Veras Geburtsdatum. Sie war im Mai 1984 zur Welt gekommen. Der Unfall musste sich also ab Mai 1988 abgespielt haben, wenn ihre Erinnerung stimmte. »Was geschah denn mit Ihnen nach dem Tod Ihrer Eltern?«

»Ich bin in dem Internat geblieben, in das ich schon mit acht Jahren gekommen bin«, antwortete Vera. »Die Reddam School in Wokingham in Berkshire.«

»Warum haben Ihre Eltern Sie denn schon so früh ins Internat gegeben? Noch dazu in eins, das so weit von Canterbury entfernt liegt?« Veras Eltern hatten bis zu ihrem Tod in Canterbury gelebt.

Über Veras Gesicht huschte ein Schatten. Sie zuckte die Achseln. »Ich nehme an, aus beruflichen Gründen. Mein Vater hatte eine Firma, er war selbstständiger Unternehmensberater. Soweit ich mich erinnern kann, wollte auch meine Mutter dort wieder ganztags mitarbeiten. Deshalb kam ich ins Internat.«

»Aber die Wochenenden und die Ferien haben Sie zu Hause verbracht?«

»Die Wochenenden so gut wie nie. Die Ferien schon, aber nicht immer. Während jener Neuseelandreise, bei der meine Eltern ums Leben kamen, musste ich im Internat bleiben.«

»Das muss Ihnen doch sicher sehr schwergefallen sein«, vermutete Lily.

Veras Gesicht erstarrte zur Maske. »Es war nicht das erste Mal. Und besucht haben meine Eltern mich in Reddam ebenfalls kaum.«

Jetzt war Lilys Aufmerksamkeit vollends geweckt. Näherten sie sich möglicherweise so schnell einer der Ursachen für Veras heutige Probleme? »Ich merke, dass Sie nicht so gern über Ihre Eltern reden. Trotzdem möchte ich mehr darüber wissen. Es könnte wichtig sein.«

Vera zögerte kurz, dann nickte sie wortlos.

»Wie haben Sie sich selbst erklärt, dass Ihre Eltern so wenig Kontakt zu Ihnen hielten? Sie waren doch noch ein Kind.«

Wieder zuckte Vera die Achseln. Während sie antwortete, sah sie Lily nicht an. »Wahrscheinlich haben sie mich nicht besonders gemocht«, sagte sie tonlos. »Möglicherweise liebten sie ihren Beruf mehr als mich.«

Lily schwieg und wartete ab.