Wer mit den Wölfen heult - Tessa Duncan - E-Book

Wer mit den Wölfen heult E-Book

Tessa Duncan

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Beschreibung

Therapeutin Lily Brown ermittelt wieder! Sie ist intuitiv, sie ist hartnäckig, sie ist clever. Doch zwei neue Fälle bringen Therapeutin Lily Brown an ihre Grenzen. Die Canterbury-Fälle beruhen auf wahren Verbrechen. Für Leserinnen von Charlotte Link und Elizabeth George Bei einem Einsatz anlässlich eines Banküberfalls schießt Police Sergeant Martin Gordon seinen Kollegen Clark Jarrett an. War das nur ein Versehen? Nicht zum ersten Mal gab es Konflikte zwischen den beiden Polizisten. Deren Vorgesetzter beauftragt Lily Brown, ein psychologisches Gutachten über Gordon zu erstellen. Doch noch bevor sie zu dem verschlossenen Mann durchdringen kann, begeht er Selbstmord. Er hinterlässt einen Brief mit der Botschaft: »Lily Brown wird herausfinden, was wirklich geschehen ist.« Lily kann sich zwar keinen Reim darauf machen, wird aber zu den internen Ermittlungen der Umstände von Gordons Tod hinzugezogen Dabei stößt sie auf ein unglaubliches Komplott innerhalb der Polizei. Stimmen zu Band 1: Wer das Vergessen stört »Unbedingt lesen!« Ruhr Nachrichten »Das Debüt in diesem neuen Genre ist Tessa Duncan geglückt und nicht nur das, sie brilliert darin!« Dennie Ahrweiler, Alltag eines Bestsellers Die Canterbury-Fälle: Wer das Vergessen stört Wer mit den Wölfen heult Jeder Band ist unabhängig zu lesen.

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Seitenzahl: 559

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Über das Buch

Bei einem Einsatz anlässlich eines Banküberfalls schießt Police Sergeant Martin Gordon seinen Kollegen Clark Jarrett an. War das nur ein Versehen? Nicht zum ersten Mal gab es Konflikte zwischen den beiden Polizisten. Deren Vorgesetzter beauftragt Lily Brown, ein psychologisches Gutachten über Gordon zu erstellen. Doch noch bevor sie zu dem verschlossenen Mann durchdringen kann, begeht er Selbstmord. Er hinterlässt einen Brief mit der Botschaft: »Lily Brown wird herausfinden, was wirklich geschehen ist.« Lily kann sich zwar keinen Reim darauf machen, wird aber zu den internen Ermittlungen der Umstände von Gordons Tod hinzugezogen. Dabei stößt sie auf ein unglaubliches Komplott innerhalb der Polizei.

Tessa Duncan

Wer mit den Wölfen heult

Die Canterbury-Fälle

Roman

All den mutigen Frauen und Männern gewidmet,

die es wagen, ihre Meinung auch gegen eine

herrschende Übermacht zu vertreten, wenn sie

es für gerechtfertigt halten.

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

Deutsches Sprichwort

Prolog

Dover Police Station März 2019, gegen Mittag

Ich will gerade den Kaffeebecher aus dem Automaten ziehen, als die Alarmglocke ohrenbetäubend durch die ganze Polizeistation schrillt. Vor Schreck lasse ich den Becher beinahe fallen. Der heiße Kaffee schwappt über und verbrüht meinen Handrücken.

»Shit!«, fluche ich laut.

Ich werfe den Kaffeebecher in den Mülleimer und haste zurück zum Pausenraum, wo meine Uniformjacke hängt. Ich reiße sie vom Haken und streife sie über, während ich losrenne.

Vor der Tür stoße ich fast mit Molly und Jack, zwei meiner Police Constables, zusammen, die heute Innendienst haben.

»Was ist los?«, schreie ich.

»Ein Banküberfall! Ein Notruf! Von der Santander-Filiale in Whitfield! In der Nähe des Dover Business Park.«

»Wie viele Täter?«

»Unbekannt«, keucht Molly neben mir, während wir in den hinteren Teil des Gebäudes stürmen. »Auch, wie viele Geiseln sie haben. Sie haben nur die Überfalltaste ihrer Alarmanlage gedrückt.«

Ich laufe mit den beiden in den Raum, wo wir unsere Schusswaffen lagern. Wenn wir an normalen Tagen unterwegs sind, verzichten wir meistens auf die Pistolen und begnügen uns mit Schlagstöcken und Pfefferspray.

Doch das hier ist eine andere Sache. Ich greife mir eine Schutzweste und streife sie über. Keine Zeit, meine eigene aus dem Büro zu holen. Zum Glück passt sie.

Molly wirft mir den Pistolengurt aus meinem Fach zu. Ich binde ihn um und unterdrücke ein mulmiges Gefühl. Die letzten beiden Male, als ich die Waffe dabeihatte, ging alles schief. Aber daran war nur dieser Mistkerl schuld.

Ich werfe einen raschen Blick auf die Uhr. Zum Glück ist Clark noch nicht im Dienst. Seine Schicht beginnt erst in ungefähr einer Stunde.

Im Nieselregen laufen wir auf den Parkplatz hinter dem Haus und springen in einen Streifenwagen. Jack lässt den Motor an und will gerade losfahren, als jemand die rechte Hintertür aufreißt und sich neben Molly auf den Rücksitz zwängt. Shit, fluche ich ein weiteres Mal, diesmal lautlos. Was hat Clark schon wieder hier zu suchen?

Ich ignoriere ihn erst mal. »Fahr zu!«, sage ich stattdessen zu Jack. »Mit Martinshorn und Blaulicht nur, solange wir außer Hörweite des Tatorts sind!«

»Versteht sich von selbst«, knurrt Jack. Die Reifen quietschen, als er losfährt.

Im Rückspiegel sehe ich Clark süffisant grinsen. »Was für ein Glück, dass ich heute noch eine Akte durchsehen wollte, die liegen geblieben ist. Deshalb bin ich extra früher gekommen.«

Ich verkneife mir jede Bemerkung. Offensichtlich genießt Clark die Situation.

Per Funk benachrichtige ich die Kollegen, die gerade unterwegs sind, und gebe ihnen dieselbe Anweisung wie Jack. Als Police Sergeant vom Dienst verantworte ich diesen Einsatz, solange keine Spezialkräfte vor Ort eintreffen.

»Nun hör bloß auf, die Leute so zu belehren!«, sagt Clark in meinem Rücken. »Das sind doch alles alte Hasen. Die wissen schon, was zu tun ist.« Dabei klingt der Arsch so arrogant wie eh und je.

So rasch wir im dichten Verkehr vorankommen, rasen wir die High Street und dann die London Road hinunter.

»Kennt sich jemand hier in der Gegend aus?«, frage ich, als Jack rechts auf den Whitfield Hill abbiegt. Ich arbeite zwar schon fünf Jahre in Dover, hatte in diesem Stadtteil aber noch keinen Einsatz.

»Ich kenn mich aus«, ruft Molly. Sie ist in Dover aufgewachsen. »Die Bank liegt am Honeywood Parkway. Kurz davor ist ein Tesco mit einem riesigen Parkplatz. Da sollten wir anhalten und den Rest zu Fuß gehen.«

»Kennst du die Bankfiliale auch von innen?«, fragt Clark, während ich den anderen Streifenwagen den Treffpunkt durchgebe.

Zu meiner Erleichterung sehe ich Molly im Rückspiegel nicken. »Es gab schon mal einen Überfall vor ungefähr sieben Jahren. Da drangen die Täter durch die Hintertür ein. Wenn sie jetzt durch den Vordereingang gekommen sind, können wir vielleicht von hinten rein und sie überrumpeln.«

Auf der Hälfte des Whitfield Hill schaltet Jack das Martinshorn aus. Nur mit Blaulicht überholen wir zwei Lastwagen, die sich den Hügel hinaufquälen. Mit der Lichthupe drängt Jack zwei entgegenkommende Fahrzeuge auf den Randstreifen. Im Seitenspiegel mache ich zwei weitere Streifenwagen aus, die uns folgen.

Unauffällig betaste ich die SIG Sauer in meinem Holster. Zu dem wenigen, was ich nach meinem Wechsel von der Londoner MET in die Provinzstadt Dover bedauert habe, gehört, dass ich hier auf die Glock verzichten muss, die ich von der MET her gewohnt bin. Mit der SIG Sauer hab ich mich nie richtig anfreunden können. Irgendwie liegt mir die Waffe nicht.

Schon sehen wir die Werbeschilder von Tesco vor uns auftauchen. Knapp zehn Minuten nach dem Alarm biegt Jack auf den Parkplatz ein, gefolgt von den beiden Streifenwagen. Die anderen sind schon da, insgesamt sind wir zwanzig Männer und Frauen. Sie tragen zwar alle Schutzwesten, doch meine Befürchtung bestätigt sich. »Wer von euch hat die Pistole dabei?« Keiner hebt die Hand außer uns vier. Obwohl ich selbst selten eine Waffe mitführe, verfluche ich heute im Stillen die Abneigung vieler Kollegen gegen Schusswaffen. Nur etwa ein Fünftel ist bereit, sie im regulären Dienst mit sich zu führen. Das rächt sich heute.

Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich versuche, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Schon gar nicht vor Clark!

Der pfuscht mir trotzdem schon wieder ins Handwerk und ergreift an mir vorbei das Wort. Obwohl es nicht seine Mannschaft ist!

»Molly Gibson hier weiß, wo der Hintereingang der Filiale ist. Wir vier versuchen, da reinzu…«

»Halt die Schnauze!«, fahre ich Clark an. »Du bist offiziell ja nicht mal im Dienst!«

Wieder setzt er dieses unerträglich arrogante Grinsen auf. »Hast du eine bessere Idee? Nur wir vier sind bewaffnet.«

Widerwillig stimme ich Clark zu. »Molly, Jack und wir zwei versuchen, durch die Hintertür reinzukommen. Molly führt uns.«

Bevor wir loslaufen, gebe ich den anderen noch ein paar Anweisungen. »George und Ben«, ich zeige auf zwei ältere Beamte, »ihr sperrt mit euren Wagen den Parkway von zwei Seiten ab. Nehmt je einen Kollegen mit und achtet darauf, dass die Räuber nicht durch eine Seitenstraße entkommen.«

»Das sind zum Glück alles Sackgassen, wo’s nicht weitergeht«, wirft Molly ein.

Obwohl ich das ja gar nicht wissen kann, wird mein Gesicht heiß, und ich glaube erneut, das spöttische Grinsen auf Clarks Gesicht zu sehen. Für den macht das keinen Unterschied. Ich spüre, wie mir bittere Galle die Kehle hinaufsteigt, und schlucke hart. »Umso besser«, sage ich mit fester Stimme. »Ihr anderen bezieht Stellung vor der Filiale.«

»Wenn du noch lange hier palaverst, sind die Schweine längst über alle Berge«, wirft Clark ein.

»Das glaube ich nicht«, widerspricht Molly ihm im Laufen über die Schulter hinweg. »Die Filiale hat einen großen Tresor im Untergeschoss. Da wird das Bargeld aufbewahrt. Die Überfalltaste ist im Büro des Filialleiters hinter dem Kassenraum. Wenn er den Alarm ausgelöst hat, wird er die Täter hinzuhalten versuchen. Da unten gibt es außerdem Schließfächer mit Wertsachen von Kunden. Beim letzten Mal haben die Räuber versucht, die größten davon aufzuhebeln.«

Sie schnappt nach Luft und wirft einen Blick auf die Uhr. »Der Alarm ist kurz vor der Mittagspause ausgelöst worden. Wenn wir Glück haben, sind keine Kunden mehr in der Bank.« Jetzt biegt Molly in eine schmale Gasse ein.

Kurz danach erreichen wir die Rückseite eines gesichtslosen einstöckigen Gebäudes in Form eines Würfels mit Flachdach. Eine der scheußlichen Bausünden aus den Siebzigerjahren.

Auch ich blicke kurz auf die Uhr. Knapp eine Viertelstunde, seit wir losgefahren sind.

Jetzt stehen wir vor einer Metalltür. Jack rüttelt daran. Sie ist fest verschlossen.

»Und nun?«, feixt Clark. »Sollen wir etwa klingeln und klopfen?« Er fixiert mich. »Sag nur, du hast nix dabei, um die Tür aufzubrechen!«

Natürlich nicht!, will ich ihm entgegenschreien. Woher hätte ich denn bei der Abfahrt von der Hintertür wissen sollen? Zudem noch einer aus Metall! Trotzdem trifft mich seine Kritik wie ein Schlag in den Magen.

Genau in diesem Moment geht die Tür auf. Überrascht weichen wir zwei Schritte zurück, während zwei maskierte Männer, in jeder Hand eine Tasche, verblüfft verharren. Dann drehen sie sich um und rennen zurück ins Gebäude.

Noch im Laufen zücke ich meine SIG Sauer.

Durch einen engen Flur gelangen wir in den hinteren Teil der Filiale. Flüchtig erblicke ich zwei mit Kabelbindern gefesselte und mit Klebebändern geknebelte Angestellte. Sie wimmern. Einer der beiden blutet heftig aus einer Platzwunde über dem Auge.

Jetzt erreichen wir den Hauptraum. Die Täter – es scheinen nur die zwei zu sein – versuchen, durch eine seitliche Pforte in den Kassenbereich einzudringen.

»Hände hoch!«, brülle ich mit erhobener Waffe. »Ergeben Sie sich!«

Als einzige Antwort knallt ein Schuss. Die Kugel schlägt ungefähr einen Meter neben mir in einen Kontoauszugsdrucker ein. Ich gehe dahinter in Deckung. Von meinem Platz aus sehe ich, wie sich die Räuber im Kassenraum hinter die Theke ducken. Derweil schleichen sich Clark und Jack gebückt und eng an der Wand entlang zurück zum hinteren Bereich des Hauptraums.

»Dort hat der Filialleiter sein Büro mit der Überfalltaste.«

Erst jetzt bemerke ich, dass Molly neben mir hockt. »Man kommt von dort auch in den Kassenbereich. Jack kennt sich aus.«

Im hinteren Teil des Kassenraums öffnet sich jetzt tatsächlich eine Tür. Mit erhobener Waffe betritt Clark den Raum, auf dem Fuße gefolgt von Jack.

»Hände hoch!«, schreit Clark. »Dreht euch ganz langsam um und lasst eure Waffen fallen!«

Als die Täter nicht gleich reagieren, schießt er an ihnen vorbei auf die Glasscheibe neben der Theke. Sie zerspringt zwar nicht, aber die unzähligen Risse im Glas versperren mir jetzt die Sicht.

Ein weiterer Schuss fällt. Diesmal splittert die andere Seite der Scheibe. »Das nächste Mal schieß ich auf euch!«, brüllt Clark.

Offensichtlich zeigt seine Drohung Wirkung. Ich höre etwas Metallisches auf den Fliesen aufschlagen.

Molly und ich laufen jetzt ebenfalls nach hinten. Clark und Jack stehen vor den Räubern an der Theke. Beide haben die Hände erhoben.

»Umdrehen!«, schreit Clark.

Die Männer befolgen den Befehl. Jack zückt ein Paar Handschellen, reißt dem Räuber vor ihm die Hände auf den Rücken, fesselt ihn und stößt ihn zu Boden.

Gleichzeitig nestelt Clark mit der freien Hand in seinem Gürtel. »Heilige Scheiße!«, höre ich ihn fluchen. »Ich hab meine Handschellen liegen lassen.«

»Molly, komm her!«, befiehlt er meiner Police Constable, als wäre er der Einsatzleiter. »Ich halte den Kerl so lange in Schach.« Er drückt ihm die Pistole in den Nacken.

In rasantem Tempo zieht ein innerer Film an mir vorbei. Clark wird den Triumph für die Überwältigung der Räuber einheimsen. Ich werde wieder mal dastehen wie der letzte Trottel, während er sich vor allen zum Helden stilisiert. Ungeachtet der Schweinereien, die er sich seit Jahren leistet. Ich bin sicher, dass er auch diese Frau auf dem Gewissen hat. Aber ich kann’s wieder nicht beweisen. Deshalb wird man ihn feiern und mich einmal mehr verspotten. Der Hass überrollt mich wie eine Woge.

Jetzt ist Molly mit den Handschellen da. Clark macht ihr Platz und tritt einen Schritt zur Seite. »Hände hinter den Rücken!«, schnauzt er den Maskierten an. Der rührt sich nicht. Er ist groß, viel größer als Molly. Wahrscheinlich auch stärker. Clark nimmt die Pistole in die linke Hand, dreht sich um und stößt den Mann mit der rechten Hand zurück. Der taumelt und lässt instinktiv die Arme sinken. Clark zielt weiter auf ihn, jetzt wieder mit rechts und von vorn.

Ich mache zwei Schritte auf ihn zu. Clark steht direkt in meinem Schussfeld. Plötzlich überkommt es mich. Diese Chance kommt nie wieder, schießt es mir durch den Kopf.

Wie in Trance drücke ich ab. Im letzten Moment, als hätte er es gespürt, zuckt Clark zur Seite. Meine Kugel trifft ihn nur in den linken Oberarm, nicht ins Herz.

Shit, fluche ich stumm ein weiteres Mal. Aber ich hätte es wissen sollen. Dem Kerl ist einfach nicht beizukommen.

TEIL 1

Kapitel 1

Lilys Praxis in Canterbury Dienstag, 9. April 2019

Lily seufzte schwer, während sie die Notizen überflog, die sie sich während ihres Gesprächs mit Mabel Ellis gemacht hatte. Die Sozialarbeiterin, mit der Lily mittlerweile befreundet war, hatte ihr schon wieder eine Patientin ans Herz gelegt, mit der Lily sich schwertat.

Vor einem Dreivierteljahr war es Samantha Harris gewesen, die in einer toxischen Beziehung zu ihrem gewalttätigen Ehemann gefangen war. Letztlich hatte Lily ihr gar nicht helfen können. Die Situation war schließlich eskaliert: Samantha hatte ihren Ehemann erstochen.

Die erst zweiundzwanzigjährige Jerry Hoover litt allerdings unter einer ganz anderen Problematik: Sie war im sechsten Monat schwanger und hatte vor ungefähr eineinhalb Jahren ihr erstes Kind durch den plötzlichen Kindstod verloren.

Mabel hatte sie in einem der Krankenhäuser kennengelernt, in denen sie arbeitete. Jerry selbst war dort gar nicht behandelt worden, sondern hatte ihren Lebensgefährten besucht, der sich einen komplizierten Unterschenkelbruch zugezogen hatte. Dabei waren die Frauen ins Gespräch gekommen, und Jerry hatte Mabel anvertraut, sie habe panische Angst, dass auch ihr zweites Kind sterben könne.

»Da Jerry in Canterbury wohnt, habe ich gleich an dich gedacht«, hatte Mabel erklärt. »Sie vergeht vor Angst um das Baby. Ich wüsste niemand Besseren, um diese Ängste zu lindern. Ressourcenarbeit ist doch eine deiner Stärken, oder nicht?«

Das musste Lily widerwillig bestätigen. Da sie in der Tat noch einige freie Therapieplätze hatte, stimmte sie schließlich trotz ihrer unguten Gefühle zu. Denn ihre Pause durch die Aufklärung des Todes ihrer Patientin Vera Osmond hatte zu Beginn des Jahres ein großes Loch in ihre Kasse gerissen.

Ihre Bedenken wollte Lily Mabel trotz ihrer Freundschaft nicht anvertrauen. Mabel glaubte sie nach einer längeren On-off-Phase endlich glücklich in einer stabilen Beziehung zu Dan Baker.

Tatsächlich hatte sich Dan endlich von seiner Ehefrau Jocelyn getrennt. Doch ihr gemeinsames Wolkenkuckucksheim hatte nur wenige Wochen gedauert.

»Es muss beim allerletzten Mal passiert sein, bei dem ich mit ihr geschlafen habe«, gestand Dan Lily, nachdem Jocelyns Schwangerschaft zweifelsfrei feststand.

Anders als in den ersten Jahren ihrer Beziehung war er zwar nicht zu seiner Frau zurückgekehrt. Aber er hatte Lily auch zweifelsfrei klargemacht, dass er seine Vaterschaft wahrnehmen und deshalb auch den Kontakt zu Jocelyn dauerhaft aufrechterhalten wolle.

Seither fühlte Lily sich innerlich hin und her gerissen. Eine solche Geradlinigkeit war ein Zug an Dan, den sie noch nicht kannte. Nachdem sie sich vor drei Jahren während eines Aufenthalts in Quantico kennengelernt hatten, hatte Dan sich lange Zeit um eine klare Entscheidung für Lily herumgedrückt.

Zunächst verschwieg er ihr, dass er verheiratet war. Erst nachdem Lily, die bis dahin als forensische Psychologin bei der Kent Police gearbeitet hatte, zur Londoner METgewechselt war, fand sie es zufällig heraus. Dan arbeitete dort als Profiler, Jocelyn im Archiv.

Nachdem er ihr auch Jocelyns Schwangerschaft verheimlicht hatte, trennte sich Lily von Dan und kündigte auch ihre Stelle bei der MET. Seit Mitte des vergangenen Jahres arbeitete sie als psychologische Psychotherapeutin in der Praxis von Matthew Rider, ihrem ehemaligen Ausbilder, in Canterbury.

Nachdem Jocelyn eine Fehlgeburt erlitten und Dan Lily das Leben gerettet hatte, hatten die beiden doch wieder zueinander gefunden. Dan ließ zwar keinen Zweifel daran, dass er seine Ehe nicht wiederaufnehmen wolle. Doch eine Scheidung kam für ihn wegen des Sorgerechts für sein ungeborenes Kind vorerst nicht infrage.

Einerseits bewunderte Lily Dan für diese Haltung. Er wollte seinem Kind ein guter Vater werden. Andererseits ertappte sie sich in ihren dunklen Momenten bei dem Wunsch, dass Dans Nochehefrau eine weitere Fehlgeburt erleiden möge. Bislang sah es allerdings nicht danach aus. Lily musste sich wohl oder übel damit abfinden, ihre gemeinsamen Pläne mit Dan erneut auf Eis zu legen.

Nach wie vor verbrachte er nur die Wochenenden bei ihr. Ihre Absicht, in einen Ort zwischen Canterbury und London zu ziehen, damit sie es beide ungefähr gleich weit zu ihren Arbeitsplätzen hatten, hatten sie aufgegeben. Immerhin war er nicht wieder bei Jocelyn eingezogen. Dan bewohnte unter der Woche ein eigenes kleines Apartment in London.

Auch deshalb brauchte Lily dringend Geld. Denn dieses teure Londoner Apartment konnte sich Dan eigentlich gar nicht leisten. Hinzu kamen seine Verpflichtungen gegenüber Jocelyn, die aus Sorge vor einer weiteren Fehlgeburt kurz nach Beginn der Schwangerschaft unbezahlten Urlaub genommen hatte, den Dan mitfinanzierte.

»Lass uns gemeinsame Kasse machen und uns auch deine Londoner Unkosten teilen!«, hatte Lily Dan vor einiger Zeit nach einer wunderbaren Liebesnacht vorgeschlagen, nur zu froh darüber, dass er unverändert an ihr festhielt. Nach einigem Zögern war er damit einverstanden gewesen. Seither herrschte ständig Ebbe in ihrem Portemonnaie.

Lily seufzte wieder und sah auf die Uhr. Wenn Jerry Hoover pünktlich war, würde sie in wenigen Minuten eintreffen. Obwohl Lily das Thema Schwangerschaft und alles, was damit zusammenhing, im Augenblick unangenehm war, würde sie wahrscheinlich wohl oder übel eine ganze Therapie rund um diese Thematik gestalten müssen.

 

Knapp zehn Minuten später saß Lily ihrer neuen Patientin gegenüber und versuchte, sich einen ersten Eindruck von ihr zu bilden.

Eigentlich war Jerry mit ihrer hellbraunen Kraushaarfrisur und den mandelförmigen Augen eine ganz hübsche Frau, die sich nach Lilys Geschmack allerdings viel zu stark schminkte. Jerrys lange, gebogene Wimpern waren kohlschwarz getuscht, ihre Augenlider wirkten durch den dick aufgetragenen grellgrünen Lidschatten geradezu verkleistert. Mithilfe eines dunkelroten Lippenstifts hatte sie ihrem Mund eine Herzform verleihen wollen, was irgendwie albern aussah.

Unangenehm empfand Lily auch das starke, süßliche Parfum, das Jerry als Duftwolke umwaberte.

Am meisten frappierten Lily jedoch Jerrys künstlich verlängerte Fingernägel, die in allen Farben des Regenbogens schillerten und mit silbernem Strass garniert waren. Wie man damit auch nur die kleinste Alltagstätigkeit unfallfrei verrichten konnte, war Lily ein Rätsel.

Irgendwie habe ich sie mir ganz anders vorgestellt, wurde Lily klar, während sie zunächst die üblichen Fragen nach Adresse, Familienstand, Geburtsdatum und -ort stellte. »Sie stammen gar nicht aus Canterbury«, hakte sie ein.

Jerry nickte. »Nein, ich komme ursprünglich aus York.«

»Und was hat Sie hierhergeführt?«

Zu Lilys Überraschung wurden Jerrys graugrüne Augen, die ohne die Schminke eigentlich viel besser zur Geltung kämen, feucht. »Ich hab’s nach dem Tod von Jamie in York nicht mehr ausgehalten. Da hat mich alles an den Kleinen erinnert.« Jerry biss sich auf die Lippen, was rote Farbe auf ihren Zähnen hinterließ. »Dann hab ich zum Glück Carl kennengelernt. Er fand ’nen tollen Job hier in Canterbury und hat mich mitgenommen. Er ist Vorarbeiter auf der Baustelle an der Kathedrale.«

Lily wusste, dass die Renovierungsarbeiten an der Kathedrale eine Daueraufgabe darstellten. Jerrys Partner hatte also einen sicheren Job. Dennoch interessierte sie zunächst etwas anderes. »Darf ich fragen, was aus dem Vater von Jamie geworden ist?«

»Phhh«, machte Jerry verächtlich. »Der hat sofort nach dem Tod des Kleinen die Kurve gekratzt und mich sitzen lassen.«

»Sofort nach Jamies Tod?« Lily war schockiert, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.

Jetzt liefen Jerry sogar Tränen über die Wangen, die schwarze Streifen hinterließen. »Abgehauen ist er, auf der Stelle«, bestätigte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Erst da hab ich gemerkt, dass ihm nie was an mir und dem Baby gelegen hat. Dabei wollte er mich sogar mal heiraten.« Sie griff nach dem Kleenex, das Lily ihr reichte, und schnäuzte sich. Dadurch verwischte sich jetzt auch das zu dick aufgetragene Make-up.

Was versucht sie nur mit dieser Maskerade zu verbergen?, ging es Lily durch den Kopf. Zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Sympathie für ihre neue Patientin. »Mabel Ellis hat mir erzählt, dass Jamie vor ungefähr eineinhalb Jahren verstorben ist«, forschte sie behutsam nach. »Möchten Sie mir etwas mehr darüber erzählen?«

Jerry zögerte kurz, dann nickte sie. »Ich denk nicht mehr gern dran«, gab sie zu. Dann blickte sie auf. »Es tut einfach zu weh, versteh’n Sie das?«

»Das verstehe ich gut.« Lilys Empathie für Jerry Hoover wuchs. Hinter der grellen Aufmachung verbarg sich offensichtlich eine zutiefst verletzte Frau, die für ihr junges Alter schon viel zu viel hatte ertragen müssen.

»Wissen Sie, der Kleine war einfach mein ein und alles«, bekannte Jerry. »Ich bin ja schon mit siebzehn von daheim abgehauen, weil ich es da nicht mehr ausgehalten hab. Mein Stiefvater soff und konnte die Finger nicht bei sich behalten. Mit meiner Mum gab es immer nur Streit, wenn ich mich da drüber beklagt hab. Da bin ich eines Tages einfach weg. Zum Glück haben sie mich in Ruhe gelassen, obwohl ich noch nicht volljährig war.«

»Und wo und wovon haben Sie danach gelebt?«

»Ich hab bei Tesco eine Ausbildung als Verkäuferin angefangen. Da bin ich geblieben und hab sie abgeschlossen. Zwar nicht besonders gut, aber sie haben mich trotzdem behalten.« Jerry lächelte schief und entblößte dabei ihre lippenstiftroten Vorderzähne. »Auch hier in Canterbury arbeite ich nun beim Tesco«, fügte sie hinzu. »Bei dem gleich nebenan im Shoppingcenter. An der Kasse.«

Lily wunderte sich. Ihre Einkäufe besorgte sie oft in diesem Supermarkt, der nur ein paar Schritte von ihrer Praxis in der Rose Lane entfernt lag. Aber Jerry war ihr bislang noch nicht aufgefallen.

»Ich bin aber oft krankgeschrieben, seit ich wieder schwanger bin«, lieferte Jerry die Erklärung dafür. »Der Chef hat mir sogar gedroht, mich rauszuschmeißen, wenn das so weitergeht.« Sie umfasste mit beiden Händen ihr schon deutlich sichtbares Bäuchlein unter dem türkisfarbenen Sweatshirt, das ein großer goldener Stern zierte. »Aber das ist mir egal. Hauptsache, dem Baby da drin geht’s gut.« Wieder lächelte sie. »Es wird übrigens wieder ein Junge. Diesmal will ich ihn Dennie nennen.«

»Jetzt sind wir aber ganz von Jamie abgekommen«, erinnerte Lily vorsichtig. »Es ist wichtig für mich zu wissen, was damals genau geschehen ist.«

Jerry nickte. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Mrs Ellis hat mir schon gesagt, dass ich hier alles erzählen muss, auch wenn ich es am liebsten vergessen würde.«

Lily schwieg und wartete ab.

Schließlich holte Jerry tief Luft. »Der Kleine war so ein Schreikind, wissen Sie? Schon gleich nach der Geburt war das so. Er brüllte, egal, ob ich ihn gerade gefüttert oder gewickelt hatte. Das war ganz schön anstrengend. Vor allem in der Nacht. Bert, so heißt sein Dad, ging das auch schrecklich auf die Nerven. Manchmal kam der gar nicht mehr heim, sondern pennte irgendwo anders.« Sie schluchzte auf.

Lily reichte ihr ein neues Kleenex und wartete weiter schweigend ab.

Nach kurzem Zögern fuhr Jerry fort. »Der Jamie war ungefähr sechs Wochen alt, da war er nachts endlich mal still, nachdem ich ihn hingelegt hab. Das war kurz vor Weihnachten. Ich hab mir gar nichts dabei gedacht, wissen Sie. Der Bert war wieder mal weg, und ich schlief endlich mal durch. Und als ich dann am nächsten Morgen aufgewacht bin und an Jamies Bettchen kam, war er tot.«

Genau in diesem Moment klopfte es heftig an Lilys Praxistür. Irritiert erblickte Lily Matts Kopf im Türspalt.

»Ich störe dich wirklich nur äußerst ungern, Lily. Aber es ist sehr wichtig.«

Wie auf Kommando stand Jerry auf. »Dann geh ich jetzt mal«, kündigte sie an.

Lily sah auf die Uhr. »Wir hätten noch ungefähr zehn Minuten. Wenn Sie kurz warten würden, könnten wir …«

Jerry schüttelte energisch den Kopf. »Ich erzähle Ihnen einfach den Rest beim nächsten Mal. Ich soll doch wiederkommen, oder nicht?«

»Natürlich sollen Sie das. Am nächsten Dienstag um die gleiche Zeit?«

»Ist gut. Ich bin da.« Jerry griff nach ihrer mit Pailletten besetzten Handtasche und schlüpfte hinaus.

 

»Na, ich muss schon sagen, Matt, das war eine sehr unwillkommene Störung«, sagte Lily ärgerlich. »So kenne ich dich gar nicht. Was ist denn los?«

»Es tut mir aufrichtig leid«, räumte Matt zerknirscht ein. »Aber es handelt sich um eine dringliche Anfrage von Greg Parker.«

»Parker? Dem Chief Superintendent von Kent? Was will der denn von uns?« Einen kurzen Moment lang glaubte Lily, der Chief wollte sie doch wieder als forensische Psychologin einstellen. Als sie sich im letzten Jahr nach ihrer Kündigung bei der MET darum beworben hatte, war ihre ehemalige Stelle besetzt gewesen.

»Greg wollte mich in meiner Rolle als Honorarpsychologe für die Kent Police engagieren. Für einen sehr dringenden Fall. Aber im Moment geht es mir nicht so gut.«

Lilys Zorn verrauchte. Matt Rider litt seit über zwei Jahren an Multipler Sklerose. Dieser Tatsache verdankte sie die Partnerschaft in seiner Praxis.

»Deshalb muss ich gleich nach London zu meinem Spezialisten«, fügte Matt hinzu. »Wenn ich den Termin versäume, muss ich vielleicht wochenlang auf den nächsten warten.«

»Ist schon gut«, beruhigte ihn Lily. »Aber das war ausgerechnet die neue Patientin mit dem plötzlichen Kindstod. Ich habe dir von ihr erzählt. Du bist gerade reingeplatzt, als sie mir sagen wollte, wie sie den toten Säugling damals aufgefunden hat. Und außerdem habe ich ihr jetzt vorzeitig zusagen müssen, sie weiterzubehandeln. Dabei entscheide ich das normalerweise erst nach der ersten Sitzung.«

»Das tut mir wirklich leid, Lily«, wiederholte Matt. »Ich selbst kann den Fall für die Kent Police beim besten Willen nicht übernehmen. Im Gegenteil wollte ich dir sogar ein paar meiner Patienten abgeben, bis es mir wieder besser geht.«

Lily erschrak. »Geht es dir denn wirklich so schlecht?«

Matt winkte ab. »Darüber reden wir ein anderes Mal. Jetzt muss ich wissen, ob du einspringen kannst. Du hast ja auch einen Vertrag als Honorarpsychologin, seit du hier eingestiegen bist.«

»Aber …«

»Der Chief wäre damit einverstanden«, kam Matt Lilys Einwand zuvor. »Er kennt und schätzt dich von früher. Ich weiß zwar, dass du noch keinen ähnlichen Fall übernommen hast. Trotzdem habe ich dich empfohlen. Aber Greg will noch heute wissen, ob er auf dich zählen kann.«

»Worum geht es denn, und warum ist das so eilig?«

»Der Police Sergeant, um den es geht, hat im Dienst einen Kollegen angeschossen. Das kann sich keiner erklären, der dabei war. Der Chief will wissen, ob der Mann noch dienstfähig ist, und noch diese Woche mit dir sprechen. Deshalb solltest du möglichst schnell nach Maidstone fahren. Danach kannst du allerdings entscheiden, ob du das machen willst.«

»Und wenn nicht?«, fragte Lily alarmiert.

Matt zuckte die Achseln. »Dann wird der Mann mit sofortiger Wirkung entlassen.«

Am frühen Abend

Lily vervollständigte gerade ihre Notizen über ihre Nachmittagsbehandlungen, als Matt zu ihrem Erstaunen in die Praxis zurückkehrte.

»Nun, heute bist du wirklich für viele Überraschungen gut, Matt«, begrüßte sie ihn. »Was sagt der Arzt?« Sie betrachtete ihn prüfend. Seit Beginn seiner Erkrankung hatte Matt stark abgenommen. Er war im Januar fünfzig geworden, sah aber älter aus. Haare und Bart waren völlig ergraut. Trotzdem wirkten seine hageren Gesichtszüge jetzt entspannter als vor seiner Abfahrt nach London.

»Es ist besser, als ich befürchtet habe«, antwortete er zu Lilys Erleichterung.

Sie sah auf die Uhr. Bestimmt wartete Kater Mick schon auf sie. Trotzdem schlug sie vor: »Hast du noch Zeit für eine Tasse Tee?«

Matt nickte lächelnd. »Mit dir immer, Lily. Zumal ich zum Glück keine ganz schlechten Neuigkeiten mitbringe.«

Dabei bedachte er sie mit einem Blick aus seinen blassblauen Augen, dem Lily rasch auswich. Obwohl sie sich nie darüber ausgesprochen hatten, wusste sie, dass Matt gern mehr in ihr gesehen hätte als eine Kollegin und liebe Freundin. Seitdem er wusste, dass Lily und Dan sich wieder versöhnt hatten und endlich in einer festen Beziehung lebten, hielt er sich allerdings zurück.

»Dann mache ich uns rasch einen guten Darjeeling.« Lily ging in die kleine Teeküche und füllte Wasser in einen Kessel. Matt folgte ihr. »Willst du mir erzählen, was die guten Neuigkeiten sind?«

Matt verzog den Mund. »Richtig gut sind sie leider nicht. Ich hatte doch gesagt, nicht ganz schlecht«, antwortete er kryptisch.

»Dann schieß los!«

»Sag du mir zuerst, ob du mit Greg Parker gesprochen hast.«

Lily atmete hörbar ein. »Natürlich habe ich das. Hab ich dir doch versprochen. Ich fahre am Freitagvormittag nach Maidstone.«

»Nun sei doch nicht gleich so genervt!« Matt hatte feine Antennen für Lilys Befindlichkeiten. »Dieser Auftrag wird sehr gut bezahlt.«

Lily seufzte. »Dadurch bin ich natürlich ziemlich korrumpierbar. Du weißt ja, wie dringend ich im Augenblick Geld brauche.«

Matt nickte. Er war bisher der einzige außer Lilys Freundin Mandy in Cornwall, der von Jocelyns Schwangerschaft und den damit verbundenen Kosten wusste.

»Ich denke, dass hier für dich auch eine große Chance liegt, dich weiterzuentwickeln und ähnlich lukrative Fälle von der Kent oder Sussex Police zu übernehmen. Und wenn du möchtest, stehe ich dir als Berater oder Supervisor zur Verfügung. Denn zum Glück ist der neue Schub der MS, den ich seit zwei Wochen gespürt habe, nicht ganz so dramatisch, wie ich befürchtet habe.«

»Ein neuer Schub?«, echote Lily besorgt.

»Ich habe es vor allem daran gemerkt, dass ich immer wieder Taubheitsgefühle in Händen und Füßen hatte. Außerdem fiel es mir an manchen Tagen extrem schwer, mich selbst in meinen wenigen Behandlungsstunden zu konzentrieren. Ab und zu konnte ich mich bei manchen Patienten nicht einmal an die Inhalte der letzten Sitzung erinnern.«

»Und was sagt der Arzt dazu?«

»Nun, meine Laborwerte sind zum Glück besser, als ich angesichts dieser Verschlimmerung angenommen habe. Ich bekomme jetzt eine neue Medikation, von der sich mein Arzt gute Behandlungsergebnisse verspricht. Allerdings muss ich mich weiterhin schonen. Deshalb will ich dir drei gerade erst begonnene Behandlungen übertragen, wenn du einverstanden bist. Aber keine Sorge! Ich habe genügend finanzielle Reserven, um auch so noch eine Weile über die Runden zu kommen.«

»Aber auf einer Sache bestehe ich, Matt«, sagte Lily energisch. »Wenn ich den Fall dieses Polizisten tatsächlich übernehme und er so gut bezahlt wird, wie du sagst, gebe ich dir einen Teil des Honorars ab, sofern du mich supervidierst.«

»Das werden wir dann ja sehen«, wich Matt aus. »Ich denke, du brauchst das Geld im Augenblick dringender als ich.«

Er schwieg einen Moment lang, doch Lily verspürte keine Lust, ihn auf den aktuellen Stand ihrer Gefühle aufgrund der schwierigen Situation mit Dan zu bringen. Stattdessen schwenkte sie auf ein anderes Thema um.

»Ich denke schon den ganzen Tag darüber nach, was ich von Jerry Hoover halten soll. Irgendwie löst sie ganz widersprüchliche Gefühle in mir aus. Ich habe selten eine junge Frau gesehen, die sich so übertrieben kleidet und schminkt. So entspricht sie kaum dem Bild einer verantwortungsvollen Mutter. Eher dem eines durchgeknallten Teenagers. Andererseits ist sie wirklich betroffen über den plötzlichen Tod ihres ersten Säuglings und leidet noch immer sehr darunter.«

»Wie hättest du dich denn entschieden, wenn du deine probatorische Sitzung regulär mit ihr abgeschlossen hättest?«

Lily hob ratlos die Schultern. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen. Es wäre ganz darauf angekommen, was sie mir über den Tod ihres ersten Kindes erzählt hätte und wie sie ihn bislang verarbeitet hat.« Sie seufzte resigniert. »Aber es ist müßig, sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Solange Jerry zuverlässig zu meinen Sitzungen erscheint und produktiv mitarbeitet, werde ich die Behandlung fortsetzen.«

»Vielleicht war es ja auch in dieser Hinsicht von Vorteil, dass ich dich vorzeitig unterbrochen habe, Lily. Denn womöglich ist es gar nicht das äußere Erscheinungsbild von Jerry, sondern die simple Tatsache ihrer Schwangerschaft, mit der du im Augenblick unterschwellig Probleme hast.«

Lily stieß die Luft aus. Sie spürte, dass Matt recht hatte. »Wie gut du mich kennst«, räumte sie ein. »Aber nun lass uns von etwas anderem sprechen und unseren Tee genießen.«

Kapitel 2

Headquarter der Kent Police in Maidstone Freitag, 12. April 2019

Am Freitagvormittag saß Lily pünktlich um elf Uhr Gregory Parker, dem Chief Superintendent der Kent Police, gegenüber. Er hatte sie freundlich begrüßt und Kaffee bereitstellen lassen. Nachdem er ihnen beiden eingeschenkt hatte, erkundigte er sich zuerst nach Matt.

»Er sagt, es gehe ihm den Umständen entsprechend gut«, wich Lily aus, da sie nicht wusste, was Matt dem Chief über seine Krankheit mitgeteilt hatte.

»Multiple Sklerose ist tückisch«, sagte Parker bedächtig. »Ich hoffe sehr, dass Matt uns noch lange erhalten bleibt. Er wäre auch für die Kent Police ein unersetzlicher Verlust.«

Lily beschlich ein mulmiges Gefühl. Sie beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten. »Matt hat mir versichert, dass Sie auch mit mir als behandelnder Psychotherapeutin einverstanden sind. Wenn ich jedoch nur die Notlösung für Sie bin, sagen Sie es mir bitte sofort.«

Der Chief musterte sie mit einem unergründlichen Ausdruck in seinen eisgrauen Augen. Dann fuhr er sich mit der rechten Hand durch seine bereits schütter gewordenen Haare, die seit Lilys letzter Begegnung mit ihm vollständig ergraut waren. Er presste die Lippen zusammen und verzog sie danach zu einem schiefen Lächeln. »Das ist jedenfalls noch immer die Lily Brown, die ich kenne. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, nicht wahr?«

»Matt Rider hat mich gebeten, noch diese Woche hierherzukommen, weil Ihr Anliegen keinen Aufschub dulde«, antwortete sie forsch. »Aber warum haben Sie eigentlich nicht meine Nachfolgerin als forensische Psychologin der Kent Police mit der Sache betraut?«

Parker seufzte hörbar. »Darüber habe ich eine ganze Weile mit mir gerungen«, gab er zu. »Doch es erschien mir besser, einen Außenstehenden einzubeziehen. Ich erhoffe mir davon größere Objektivität.«

»Das bedeutet also, dass man innerhalb der Kent Police bereits Vorbehalte gegen den Police Sergeant hat, den ich behandeln soll?«

Wieder betrachtete der Chief Lily mit jenem seltsamen Blick. »Sie waren doch lange genug dabei, um zu wissen, was man von einem Polizisten hält, der ohne erkennbaren Anlass einen Kollegen anschießt.«

Lily nickte nachdenklich. »Wahrscheinlich hätte es eine interne Polizeipsychologin schwer. Zu welchem Urteil sie auch käme, es wäre angreifbar. Fällt es gegen den Police Officer aus, wüssten Sie nicht, ob der allgemein herrschende Gruppendruck der Grund dafür war. Spricht sie sich für ihn aus, könnte sie womöglich diffamiert werden.«

»Sie sind so scharfsinnig wie eh und je, Lily, ich darf Sie doch noch so nennen?«

»Nun, tatsächlich konnte ich den Korpsgeist bei der Polizei während meiner Dienstzeit kennenlernen«, bestätigte Lily trocken. »Darin sehe ich sogar eine der größten Schwächen der Institution. Aber was erwarten Sie denn nun von mir?«

Parker schob ihr eine Akte über den Tisch hinweg zu. »Hier drin finden Sie die Beschreibungen von insgesamt drei Vorfällen, in die der Sergeant in jüngster Zeit verwickelt war. Es gab bereits zwei weitere vor dem Schuss in der Bank, die nicht so gravierend, sehr wohl aber auffällig waren. Die Akte enthält alle Aussagen der Betroffenen und Zeugen dazu.«

»Es gab also insgesamt drei Vorfälle?«, fragte Lily irritiert. »Erzählen Sie mir doch bitte selbst etwas darüber.«

»Selbstverständlich. Fangen wir mit der Person des Police Officer an. Er heißt Martin Gordon und ist jetzt einundvierzig Jahre alt. Vor ungefähr fünf Jahren hat er sich von der Schutzpolizei der MET, wo er in Southwark tätig war, auf eigenen Wunsch zu uns nach Kent versetzen lassen. Da ein Police Sergeant gerade in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war, bot ich ihm seine Nachfolge an. Er hat sein Büro in der Dover Police Station und ist einer von drei Schichtleitern des Streifendiensts. Das sind jeweils achtzehn Männer und Frauen, mit ein paar Ausnahmen alles erfahrene Police Constables.«

Lily zog ein Notizbuch aus ihrer Aktentasche. »Ich würde mir gern das ein oder andere aufschreiben.«

Der Chief verzog den Mund. »Eigentlich finden Sie alle Informationen in den Unterlagen. Aber meinetwegen, lassen Sie uns gleich zum entscheidenden Punkt kommen. Ich möchte Martin Gordon nicht zu Ihnen überweisen, damit er mit einer regulären Psychotherapie beginnt. Im Gegenteil. Einer solchen Psychotherapie werde ich nur zustimmen, wenn Sie zu dem einwandfrei schlüssigen Urteil kommen, dass sie aus Ihrer Sicht auch Erfolg hätte.«

Lily war konsterniert. »Ich stehe aber auch Ihnen gegenüber unter Schweigepflicht, wenn ich Gordon behandle.«

Parker schüttelte heftig den Kopf. »Eben nicht. Im Gegenteil erwarte ich nach maximal zehn Behandlungseinheiten eine Art Gutachten von Ihnen, in dem Sie ein klares Urteil über Gordons Dienstfähigkeit treffen. Halten Sie ihn noch für geeignet, bei der Kent Police verantwortlich mitzuarbeiten, können Sie ihn von mir aus weiter psychotherapieren, bis seine volle Dienstfähigkeit wiederhergestellt ist. Halten Sie jedoch eine erfolgreiche Rückkehr in den Dienst für aussichtslos, muss ich ihn leider entlassen.«

Einen Moment lang war Lily schockiert, dann klappte sie ihr Notizbuch entschlossen zu. »Unter diesen Bedingungen muss ich den Auftrag ablehnen, Mr Parker«, erklärte sie entschieden. »Ein solches Vorgehen würde gegen meine Berufsehre verstoßen. Ich darf meine Schweigepflicht unter keinen Umständen verletzen.«

Der Chief hob die Hand. »Bevor Sie sich weiter echauffieren, darf ich Ihnen sagen, dass Martin Gordon mit meinen Bedingungen einverstanden ist.«

Wieder war Lily überrascht. »Er ist damit einverstanden? Wie das?«

»Weil es die allerletzte Chance ist, die ich ihm bei der Kent Police geben kann. Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich mich überhaupt darauf einlassen soll. Ausschlaggebend war letztlich Gordons desolate private Situation. Verlöre er jetzt auch noch sein Einkommen, befände er sich in einer aussichtslosen Lage.«

Lily wartete ab, woraufhin der Chief fortfuhr: »Gordon hat vor seiner Versetzung nach Dover seine Frau verloren. Sie ist binnen weniger Monate an einer aggressiven Form von Brustkrebs verstorben. Sie war erst vierunddreißig Jahre alt.«

Er trank einen Schluck Kaffee. Auch Lily griff automatisch nach ihrer Tasse. Der Kaffee war lauwarm und schmeckte schal.

»Seither ist Gordon allein für seine jetzt sechzehnjährige Tochter Judy verantwortlich. Außer seiner Schwester in Liverpool gibt es keine weiteren Verwandten. Judy war erst zehn, als ihre Mutter starb, und hat deren Tod noch schlechter verkraftet als Gordon selbst. Sie entwickelte damals eine so ausgeprägte Depression, dass sie mehrere Wochen in einer kinderpsychiatrischen Einrichtung behandelt werden musste. Zuvor hatte sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Das war der Hauptgrund für Martin Gordon, sich von der hektischen Großstadt London ins beschauliche Dover versetzen zu lassen.«

Lily ließ dies auf sich wirken, während sie sich weiter Notizen machte. Dann blickte sie auf. »Seit wann empfinden Sie Martin Gordons Verhalten denn als so auffällig, dass Sie an seiner Dienstfähigkeit zweifeln?«

»In den ersten Jahren war er unauffällig. Kein herausragender Beamter, aber er ließ sich auch nichts zuschulden kommen. Die Probleme begannen vor circa vier Monaten. An seiner Dienstfähigkeit zweifle ich jedoch erst, seit er den Kollegen Clark Jarrett bei einem Einsatz anlässlich eines Banküberfalls angeschossen hat. In Gegenwart von zwei weiteren Polizisten, die zu Martins Team gehören.«

Lily lauschte aufmerksam, während Gregory Parker den Vorfall in allen Einzelheiten schilderte.

»Nicht nur Clark Jarrett selbst, auch Molly Gibson und Jack Taylor haben eindeutig ausgesagt, dass einer der Bankräuber bereits in Handschellen am Boden lag. Molly wollte gerade den zweiten fesseln, den Clark mit seiner Pistole in Schach hielt. Ihre Waffen hatten die Bankräuber vorher fallen lassen. Jack behauptet steif und fest, Gordon habe absichtlich auf Jarrett gezielt. Hätte der sich nicht in letzter Sekunde bewegt, hätte die Kugel ihn ins Herz getroffen anstatt in den linken Oberarm. So hat er sich zwar nur eine Fleischwunde zugezogen und ist bald wieder im Dienst. Aber der Schock sitzt bei allen natürlich tief. Nicht nur bei Jarrett, sondern auch bei Molly und Jack und all ihren Kollegen in Dover. Sie haben jegliches Vertrauen in Martin verloren. Zumal er, obwohl er der verantwortliche Schichtleiter war, bei diesem Einsatz keine tragende Rolle spielte.«

»Inwiefern?«

»Er kannte weder die Gegend noch das Gebäude, in dem der Banküberfall stattfand. Wäre Molly Gibson nicht ortskundig gewesen, wären die Räuber wahrscheinlich entkommen. In der Bank selbst hat dann Clark Jarrett die Initiative übernommen. Er hat dafür gesorgt, dass die Kerle die Waffen fallen ließen und schließlich überwältigt wurden. Gordon hat dazu nicht das Geringste beigetragen, sieht man von diesem unerklärlichen Schuss einmal ab.«

Lily krauste die Stirn. »Und so schildern es die übrigen drei Beteiligten übereinstimmend?«

Parker schnaufte. »Sogar einer der Bankräuber schildert es so. Nämlich der, der angeblich versucht hat, in seine Jackentasche zu greifen, was Gordon zum Anlass für seinen Schuss genommen haben will. Fälschlicherweise habe er geglaubt, behauptet Gordon, der Räuber habe eine weitere Waffe ziehen wollen. Der Mann selbst sagt jedoch, er sei durch einen Stoß von Jarrett ins Wanken geraten und habe nur mit den Armen gerudert, um sein Gleichgewicht wiederzufinden.«

Lily ließ dies auf sich wirken. »So eine Kampfsituation spielt sich in wenigen Sekunden ab«, wandte sie dann ein. »Könnte Gordon sich nicht tatsächlich getäuscht und in bester Absicht gehandelt haben?«

»Ganz ausschließen kann ich das nicht. Zumal er außerdem behauptet, sich mit seiner Dienstwaffe, der SIG Sauer, nicht so gut auszukennen wie mit der Glock, die bei der MET verwendet wird. Außerdem hat er wie viele Kollegen seine Pistole nur selten dabei und daher nur wenig benutzt.«

»Aber es gibt doch sicher ein regelmäßiges Schusswaffentraining?«

»Ganz genau, Lily«, stimmte ihr Parker zu. »Insgesamt hat die Aussage von Martin Gordon für mich weder Hand noch Fuß. Eigentlich hätte ich ihn bereits entlassen müssen. Ich habe ihn natürlich sofort in den Innendienst versetzt und auch von seiner Vorgesetztenfunktion suspendiert. Dennoch schnitten ihn die Kollegen in Dover. Als ich ihn deshalb nach Maidstone holen wollte, gab es hier ebenfalls einen Shitstorm. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Gordon bei vollem Gehalt zu beurlauben. Nun sitzt mir natürlich sowohl die Finanzabteilung als auch die Interne Ermittlung im Nacken. Denn es war ja auch nicht der erste Vorfall, wie ich bereits erwähnt habe.«

Lily erinnerte sich und lauschte aufmerksam, während sie sich Notizen über die zwei anderen Vorfälle machte. Dann fiel ihr noch etwas ein. »Wissen Sie etwas über die Beziehung zwischen Martin Gordon und Clark Jarrett?«, schoss sie ins Blaue.

Der Chief nickte. »Auch Jarrett kommt von der Londoner MET. Er ist ebenfalls Police Sergeant und führt eine andere Schicht in Dover. Vorher hat er eine Zeit lang wie Gordon in Southwark gearbeitet. Die Beamten von der Internen Ermittlung haben dort einmal nachgeforscht, wie das Verhältnis der beiden gewesen ist. Aber wie so oft, stießen sie nur auf eine Mauer des Schweigens. Eine Krähe hackt der anderen eben kein Auge aus.«

»Und was genau erwarten Sie jetzt von mir?«

»Sie haben bis Ende Mai maximal zehn Behandlungseinheiten Zeit, um mit Gordon ins Gespräch zu kommen. Mehr als diesen Zeitraum konnte ich bei meinem Chief Constable nicht für ihn rausschlagen. Bis dahin hält auch die Interne Ermittlung still. Spätestens am 30. Mai erwarte ich ein Gutachten von Ihnen. Darin schildern Sie mir ausführlich, welche Erklärung Sie für Gordons Verhalten während dieser drei Vorfälle gefunden haben. Und ob und welche Ansätze Sie für eine erfolgreiche Weiterbehandlung in Betracht ziehen. Danach sehen wir weiter.«

Lily holte tief Luft. »Und Martin Gordon ist damit wirklich einverstanden? Auch mit mir als Behandlerin?«

Der Chief lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es bleibt ihm nichts anderes übrig«, gab er zu und zögerte einen kurzen Moment lang. »Ganz offen gestanden, Lily, hätte ich lieber Matt Rider mit dieser Aufgabe betraut. Er hat im Vergleich zu Ihnen die größere Erfahrung, und sie hätten von Mann zu Mann miteinander reden können.« Er hob die Hand, als er Lilys Gesichtsausdruck sah. »Aber sagen Sie mir deshalb jetzt bloß nicht ab, liebe Lily! Sie sind Martin Gordons letzte Chance. Das habe ich ihm gesagt, und das sage ich Ihnen.«

Lily überlegte noch eine Minute lang und traf dann ihre Entscheidung. »Dann will ich es einmal versuchen, Mr Parker. Immerhin hat Matt mir versprochen, mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Aber eine Bedingung habe ich auch.«

»Und die wäre?«

»Wenn ich schon vor Ablauf der zehn Behandlungsstunden zu einem für Gordon ungünstigen Urteil gelange, möchte ich das Ganze vorzeitig beenden.«

»Damit bin ich einverstanden. Sofern Sie es plausibel begründen.«

»Das versteht sich von selbst«, erwiderte Lily gereizt.

»Dann müssen wir jetzt nur noch die Formalitäten erledigen.« Parker schob Lily ein weiteres Papier zu. »Dies ist Ihr Vertrag. Sie erhalten insgesamt ein Honorar von fünftausend Pfund. Darin inbegriffen ist Ihr Verdienstausfall heute, Ihre maximal zehn Behandlungsstunden samt Vorbereitung und die Erstellung des abschließenden Gutachtens. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden.«

Zum wiederholten Male an diesem Vormittag war Lily perplex. Matt hatte ihr zwar angekündigt, dass der Auftrag überaus gut bezahlt werden würde. Aber mit einer solch hohen Summe hatte sie trotzdem nicht gerechnet.

Sie griff nach dem Kugelschreiber und unterzeichnete.

»Ich werde mein Bestes geben, Sir«, sagte sie zum Abschied. »Darauf können Sie und Martin Gordon sich verlassen.«

Kapitel 3

Lilys Wohnung in Canterbury Freitag, 12. April 2019, am Abend

Als Lily am selben Abend müde die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, war ihr Kater Mick zu ihrer Enttäuschung nicht da. Beginnt er schon wieder mit seinen Streunereien?, dachte sie besorgt, während sie die Einkäufe auspackte, die sie fürs Wochenende besorgt hatte.

Sie wollte mit Dan ein Irish Stew kochen, eins ihrer beider Lieblingsgerichte. Auch für Mick hatte sie im Tesco ein paar Leckereien besorgt. Unauffällig hatte sie dabei nach Jerry Hoover Ausschau gehalten, sie aber nirgends entdecken können. Offensichtlich war sie weiterhin krankgeschrieben.

Als Lily ihre Einkäufe verstaut hatte und Mick immer noch nicht erschienen war, trat sie auf die Terrasse und rief nach ihm. Ohne Ergebnis. Zurück in der Wohnung, fiel ihr auf, dass auch Micks Futter unberührt war.

Das kann ja heiter werden, dachte sie mit zunehmender Unruhe. Hoffentlich beginnt Mick die Wohnung nicht deshalb zu meiden, weil sich Dan jetzt regelmäßig hier aufhält. Spätestens in einer Stunde würde er eintreffen, um wie üblich das Wochenende mit ihr zu verbringen. Ahnte der Kater das etwa?

In den ersten Monaten in Canterbury war Mick ihr einziger Hausgenosse gewesen und in ihrer Verzweiflung über das Scheitern ihrer Beziehung zu Dan zudem ihr größter Trost. Sie hatte den Kater daher sehr verwöhnt. So schlief er nachts am Fußende ihres Betts. Das durfte er natürlich nicht mehr, wenn sich Dan bei Lily aufhielt.

Lily versuchte seither, Micks Frustration darüber mit immer neuen Leckerlis zu mildern. Dies zeigte bislang kaum Wirkung, denn mit seinem Futter wurde Mick immer wählerischer. Dans Anwesenheit nahm er weiterhin außerordentlich übel und pflegte ihn entweder zu ignorieren oder sogar anzugreifen.

»Mick! Mick!«, rief sie jetzt laut zur Haustür hinaus. Doch nichts rührte sich.

Gerade wollte sie frustriert in die Wohnung zurückkehren, als sich die Tür des Nachbarhauses öffnete. Der rotweiß gefleckte Kater schoss hervor und rannte mit lautem Maunzen auf sie zu.

Hinter ihm kam ihr Nachbar Mr O’Brian heraus. »Entschuldigen Sie, Mrs Brown«, begrüßte er Lily mit einem zerknirschten Lächeln. »Ich habe gerade erst bemerkt, dass Sie nach Hause gekommen sind. Sonst hätte ich Mick schon früher hinausgelassen.«

»Mick hält sich in Ihrem Haus auf?« Lily konnte es kaum fassen. Noch vor wenigen Monaten hatte der Nachbar den Kater mit Ingrimm aus seinem Garten verjagt, weil er es auf Singvögel abgesehen hatte.

O’Brian nickte lächelnd. »Oh ja! Seitdem wir die beiden Vogelhäuser auf Stelzen aufgestellt haben, an denen Mick nicht hochklettern kann, sind er und ich sogar gute Freunde geworden. Er besucht mich regelmäßig, zumal ich mittlerweile einen kleinen Vorrat an Katzenfutter parat habe.«

»Katzenfutter?«, echote Lily ungläubig.

»Ja, ich hoffe, das ist Ihnen nicht unrecht.« O’Brian wirkte verunsichert. »Ich habe nur hochwertige Sorten besorgt. Wollen Sie auf eine Tasse Tee hereinkommen und sie sich anschauen?«

Lily zögerte kurz und lehnte dann ab. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich erwarte in der nächsten halben Stunde Besuch.«

»Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Vielleicht kommen Sie einfach mal an einem anderen Abend vorbei.«

Lily lächelte O’Brian zum Abschied zu und wunderte sich wieder einmal darüber, wie rasch sich ihre ehemalige Feindschaft zu einem immer herzlicheren Verhältnis entwickelt hatte. Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir beide tierlieb sind, überlegte sie, während sie Mick in ihre Wohnung folgte. Mir hat es ja auch immer leidgetan, wenn Mick einen Vogel erlegt hat.

Im Flur stand der Kater naserümpfend vor seiner Futterschale und wandte sich mit allen Anzeichen des Abscheus ab. Ich muss tatsächlich nächste Woche einmal rübergehen und schauen, was O’Brian dem verwöhnten Kerl anbietet, beschloss Lily. In diesem Augenblick hörte sie Dans Schlüssel im Schloss.

 

»Du siehst müde aus«, stellte Lily fest, nachdem sie Dan umarmt und geküsst hatte.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Mick vergeblich versuchte, die Wohnung durch seine mittlerweile verschlossene Katzenklappe zu verlassen. Dann verkroch er sich beleidigt unter der Wohnzimmercouch. Sie beschloss, die Allüren des Katers zu ignorieren, und goss Dan und sich erst einmal ein Glas des bereitgestellten Roséweins ein.

»Ich hatte auch einen sehr anstrengenden Tag«, gab Dan zu.

»Geht es Jocelyn immer noch schlecht?«, erkundigte sich Lily.

Dan nickte bedrückt. »Im Gegensatz zu ihrer ersten Schwangerschaft, die ihr gar nichts ausmachte, wird ihre Übelkeit von Tag zu Tag schlimmer. Sie kann so gut wie nichts mehr bei sich behalten und hat deutlich abgenommen. Das tut natürlich auch dem Ungeborenen nicht gut. Aber die Ärzte sagen, sie können wenig dagegen machen, und sie müsse da halt durch.«

»Genau wie bei Herzogin Kate.« Lily konnte sich diese sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. Auch die Frau des zukünftigen Thronfolgers hatte in jeder ihrer drei Schwangerschaften an heftiger Übelkeit gelitten.

Dan grinste müde. »Ich glaube, das spielt für Jocelyn nicht die geringste Rolle. Viel schlimmer für sie und auch für mich ist, dass sie schon unbezahlten Urlaub genommen hat, bevor diese Übelkeit auftrat. Anderenfalls wäre sie jetzt bei fortlaufendem Gehalt krankgeschrieben. Aber rückgängig machen kann sie ihren unbezahlten Urlaub natürlich nicht.«

»Ja, das ist wirklich ärgerlich«, stimmte Lily zu. »Dagegen habe ich zum Glück ganz gute Nachrichten.«

Kurz erzählte sie Dan von ihrem lukrativen Auftrag bei der Kent Police. »Aber du hörst mir gar nicht richtig zu«, stellte sie fest. »Machst du dir solche Sorgen um Jocelyn?«

Dan schüttelte den Kopf. »Eher um meinen aktuellen Fall, der mich fast zur Verzweiflung bringt.«

»Worum geht es da?« In der Regel mieden sie in ihrer Freizeit berufliche Themen. Doch heute schien Dan eine Ausnahme zu brauchen.

»Möglicherweise bin ich einem Serienvergewaltiger auf der Spur.«

»Möchtest du mir mehr darüber erzählen?«

Dan seufzte. »Eigentlich wollte ich zum Wochenende ein wenig abschalten. Aber ich fürchte, die Sache verfolgt mich die ganze Zeit. Zumindest wenn ich sie mir nicht von der Seele rede.«

Lily streichelte seinen Rücken und wartete.

»Du kennst doch diese Sendung in der BBC, in der über ungelöste Verbrechen berichtet wird. So ein Fall wurde vor ein paar Wochen vorgestellt. Es handelt sich um eine Frau, die im März 2018 an einer abgelegenen Stelle des Hyde Park in einem Gebüsch gefunden wurde, offensichtlich vergewaltigt und misshandelt. Jill Reynolds, so heißt sie, kann sich zwar an die Tat selbst erinnern, aber gibt vor, alles andere vergessen zu haben. Was die Rahmenumstände des Verbrechens und vor allem den Täter angeht, sind wir daher nicht weitergekommen.«

»Aber du glaubst ihr nicht?« Lily hatte aufmerksam zugehört. »Ein partieller Gedächtnisverlust dieser Art ist in der Tat merkwürdig. Eher würde ich vermuten, die Amnesie bezieht sich auf die Vergewaltigung selbst, nicht auf alles andere.«

»Das denke ich auch. Ich habe inzwischen mit Jill gesprochen. Sie hat meiner Ansicht nach panische Angst davor, etwas über den Täter zu verraten. Das halte ich für den Grund ihres Schweigens. Erst recht, seit das Verbrechen an ihr nun landesweit publik gemacht wurde.«

»Hat man denn ihre Identität in der Sendung preisgegeben?«

»Natürlich nicht!«, schnaubte Dan. »Man hat nicht einmal ihren Vornamen genannt. Auch ihr Gesicht wurde nicht gezeigt. Der Fall wurde in die Sendung aufgenommen, weil man hoffte, ähnliche Fälle zu finden und dem Täter damit auf die Spur zu kommen. Der Appell richtete sich daher gezielt an Frauen, die vergewaltigt wurden, dies aber bislang nicht angezeigt haben. Auch über die Tat an sich wurde nichts preisgegeben. Denn es gibt da ein paar ganz bestimmte Eigenheiten bei den sexuellen Handlungen. Die Ermittler wollten erst aus den Aussagen betroffener Frauen Rückschlüsse ziehen, ob es Gemeinsamkeiten mit dem Verbrechen an Jill gibt.«

»Hat das denn funktioniert? Das Vorgehen ist jedenfalls ungewöhnlich.«

Dan schnaubte. »Ja und nein! Der Aufruf in der Sendung fand eine vergleichsweise große Resonanz. Es meldeten sich allein aus London fast zwanzig Frauen. Über die Hälfte davon, nämlich zehn Anzeigen, stammen von Vergewaltigungsopfern, bei denen das Vorgehen des Täters tatsächlich ähnlich gewesen zu sein scheint. Aber du glaubst es nicht! Neun davon waren schriftlich und anonym, die meisten zum Glück wenigstens recht ausführlich. Nur eine einzige Zeugin, deren Aussage zum Muster passt, hat sich persönlich gemeldet und zu erkennen gegeben. Aber die war nicht selbst betroffen.«

»Zehn ähnliche Anzeigen? Also zehn weitere, möglicherweise vom selben Täter vergewaltigte Frauen?«

Dan nickte. »Mindestens. Deshalb hat man mich ja hinzugezogen. Denn die Parallelen sind, angefangen von der Anonymität der Anzeigen, so frappierend, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein und denselben Täter handelt.«

»Oha! Also läuft in London ein Serienvergewaltiger frei herum!«

»Davon gehe ich im Moment aus. Und es macht mich wahnsinnig, dass kein Hinweis dabei ist, der auf die Identität dieses Schweinehunds hindeutet.«

»In keiner einzigen Anzeige gibt es einen Hinweis auf den Täter?«, fragte Lily ungläubig.

Dan hob die Schultern. »Ich vermute, dass sich die anderen Opfer ebenfalls panisch vor ihm fürchten. Wenigstens haben wir ein paar Entsprechungen beim Modus Operandi. Alle Frauen behaupten übereinstimmend, sie hätten das Gesicht ihres Peinigers nicht erkennen können, da er eine schwarze Maske getragen habe. Außerdem schwarze Latexhandschuhe.«

»Was für Anhaltspunkte für denselben Täter gibt es noch?«

»Einige Frauen behaupten, sich zwar an die Taten, aber nicht an die Entführung an sich erinnern zu können – genau wie Jill, das Hyde-Park-Opfer. Drei Frauen schreiben, dass sie der Täter genötigt habe, in sein Auto zu steigen. Wie genau er das bewerkstelligt hat, bleibt allerdings ihr Geheimnis. Und ich kann mit keiner von ihnen sprechen, weil ich ja weder ihre Namen noch ihre Adressen kenne! Die Anzeigen sind zudem bei verschiedenen Londoner Polizeidienststellen eingegangen. Auch das lässt sich nicht einordnen. Entweder begeht der Mann seine Straftaten in ganz London, oder auch das ist ein Versuch der Frauen, ihre Anonymität zu wahren.«

Lily schauderte es zwar vor der Antwort, aber sie überwand sich trotzdem zu der Frage: »Und was berichten die Frauen über die Taten an sich?«

»Da gibt es überaus große Parallelen. Der Täter ist extrem sadistisch mit ihnen umgesprungen. Er hat sie gefesselt, geschlagen, gedemütigt und sogar auf sie uriniert. Er hat sie vaginal und rektal penetriert und darüber hinaus gezwungen, ihn auch oral zu befriedigen. Das erste und zweite der drei angezeigten Verbrechen spielten sich sogar über mehrere Tage ab. In dieser Zeit wurden die Frauen völlig nackt angekettet, geknebelt und mit verbundenen Augen in irgendeinem Kellerloch gefangen gehalten. Sie erhielten nichts zu essen und nur ein wenig Wasser zu trinken. Der Täter kam täglich vorbei, um ihnen erneut Gewalt anzutun. Alle drei fürchteten tagelang um ihr Leben und wurden – wie übrigens alle Opfer – vor ihrer Freilassung mit dem Tode bedroht, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen verrieten.«

Lily bekam Gänsehaut am ganzen Körper. »Wie furchtbar! Also gibt es eine Steigerung der Gewalt über die Zeit hinweg! Wurde denn auch Jill mehrere Tage lang festgehalten und gequält?«

»Jill macht zwar keine Angaben zum Täter. Aber sie war völlig unterzuckert und dehydriert, als man sie fand. Außerdem wurde sie drei Tage lang von niemandem aus ihrem Bekanntenkreis gesehen und erschien auch nicht auf ihrer Arbeitsstelle. Wenn man sie damit konfrontiert, verweist sie auf ihren Gedächtnisverlust.« Dan schnaubte und trank einen Schluck Wein.

»Wisst ihr, wann die Taten begonnen haben?«

»Das Datum der Tat haben zum Glück alle Frauen ungefähr angegeben, wenn auch keine auf den Tag genau«, bestätigte Dan. »Die Vergewaltigungen ziehen sich über einen Zeitraum von ungefähr sechs Jahren hin, müssen nach dem, was wir wissen, also irgendwann 2012 begonnen haben. Jill ist das letzte Opfer, das zu dieser Serie gehören könnte. Seit ungefähr einem Jahr ist entweder nichts Derartiges mehr geschehen, oder die neuesten Opfer haben noch nicht gewagt, sich zu melden. Nicht einmal anonym.«

»Womit jagt der Mann den Frauen denn solche Angst ein?«

»Nur in drei der anonymen Anzeigen findet sich dazu ein Hinweis: Die Opfer sind überzeugt davon, dass der Täter sie jederzeit finden und töten kann, sollten sie ihn verraten.«

»Das ist in der Tat sehr merkwürdig«, überlegte Lily. »Es wäre am ehesten damit zu erklären, dass der Kerl sich seine Opfer gezielt aussucht, ihnen tagelang nachspioniert und deshalb ihre Adresse und Lebensumstände kennt.«

»Diese Hypothese habe ich auch verfolgt und Jill gezielt danach befragt. Ihre einzige Reaktion war ein hysterischer Weinkrampf. Sie hat sich sogar geweigert, wenigstens Ja oder Nein dazu zu sagen.« Dan ballte die Hände zu Fäusten. »Deshalb wissen wir auch nicht, ob der Täter auf ganz bestimmte Opfer steht. Bisher lässt sich kein Muster erkennen. Einige Frauen haben ihr Alter bei der Vergewaltigung angegeben. Die Spanne reicht von achtzehn bis achtunddreißig Jahren. Ihr Äußeres hat keine einzige beschrieben. Auch diesbezüglich ist unklar, ob es ein Muster gibt. Die Haarfarbe wird es wahrscheinlich nicht sein. Es ist zum Verzweifeln!«

Er trank sein Glas Wein in einem Zug leer und streckte es Lily auffordernd entgegen. Wortlos schenkte sie nach. Selten hatte sie Dan so aufgewühlt erlebt, wenn es um einen Fall ging.

»Wie kommst du denn jetzt auf die Haarfarbe?«, fragte sie behutsam.

Dan holte tief Luft und trank einen weiteren Schluck Wein. »Jill ist blond, ein anderes Opfer namens Bridget war brünett. Das wissen wir von der einzigen Zeugin, einer Mrs Alice Price, die sich persönlich gemeldet hat. Sie war Bridgets Freundin. Bridget wurde vor ungefähr einem Jahr in Camden bei einem Raubüberfall ermordet. Das Verbrechen wurde bislang nicht aufgeklärt.«

»Wie furchtbar!« Lily war erschüttert. »Was haben manche Menschen für ein schreckliches Schicksal! Zuerst wurde diese Bridget vermutlich Opfer des Serienvergewaltigers und einige Zeit später das eines Raubmörders? Was hat euch diese Mrs Price denn genau gesagt?«

Gerade kroch Mick unter der Couch hervor und miaute. Lily beachtete ihn gar nicht und hing stattdessen an Dans Lippen. Mit hängendem Schwanz trottete der Kater zu seinem Futternapf.

»Wie ich schon sagte, war Alice die beste Freundin der ermordeten Frau. Bridget hat sich ihr vor vier Jahren nach einer brutalen Vergewaltigung anvertraut. Allerdings unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit. Denn auch Bridget hat die Tat nie angezeigt. Sie hat Alice allerdings nichts von möglichen Todesdrohungen erzählt, sondern behauptet, den Täter nicht identifizieren zu können. Deshalb wolle sie sich die demütigende Prozedur einer polizeilichen Anzeige ersparen, bei der sowieso nichts herauskomme.«

»Aber diese Anzeige hat Alice jetzt stellvertretend nachgeholt?«

Dan nickte. »Sie fühlte sich nach Bridgets Tod nicht mehr an das Schweigegebot gebunden und hat sich daher nach der Fernsehsendung bei einer Polizeidienststelle gemeldet, um über die ihr bekannten Einzelheiten der Vergewaltigung zu berichten.«

»Also neun anonyme Anzeigen und eine Zeugin, die die Tat nur vom Hörensagen kennt«, fasste Lily zusammen. »Das ist wirklich frustrierend.«

»Genauso frustrierend wie die Tatsache, dass das Hyde-Park-Opfer Jill überhaupt keine verwertbaren Spuren aufwies.«

»Keine einzige Spur?«, echote Lily. »Obwohl sich Jill möglicherweise mehrere Tage lang in der Gewalt des Täters befand?«

»An ihrem ganzen Körper fand sich nicht das Geringste, was uns weiterbringen könnte. Keine DNA, kein fremdes Haar, keine Fasern. Jill war nackt. Der Täter hat sie mit K.-o.-Tropfen betäubt und dann wahrscheinlich von Kopf bis Fuß gesäubert, bevor er sie in einen Müllsack steckte und ablegte. Es regnete außerdem stark in dieser Nacht, sodass es auch keine verwertbaren Spuren in der Umgebung gab, in der sie gefunden wurde. Ein früher Jogger war mit seinem Hund unterwegs, der sie aufspürte. Jill war so stark unterkühlt, dass sie wenige Stunden später wahrscheinlich gestorben wäre.

»Also ist der Kerl mit allen Wassern gewaschen.« Lily schauderte zusammen. »Und wird wahrscheinlich weitere Opfer suchen. Wenn es nicht sogar bereits jetzt welche gibt, die sich auf die Fernsehsendung hin nicht gemeldet haben.«

»Eben!«, fuhr Dan auf. »Das macht die ganze Sache ja so frustrierend! Anonyme Opfer, die sich aus Angst nicht zu erkennen geben und uns somit wesentliche Informationen vorenthalten! Und möglicherweise weitere Taten, die niemals angezeigt worden sind, sodass wir den wahren Umfang dieser Verbrechen noch gar nicht erfasst haben.«

»Oje!«, stöhnte Lily. »Die Dimension deines aktuellen Falls überfordert mich jetzt. Da du am Wochenende ohnehin nicht damit weiterkommst, lass uns jetzt abschalten und zu Abend essen.«

Sie erblickte den Kater und musste trotz der Ernsthaftigkeit ihres Gesprächs unwillkürlich grinsen. »Mick sitzt jedenfalls schon demonstrativ auf deinem Stuhl. Es ist schlimm genug, dass er deine Anwesenheit immer noch übel nimmt.« Sie küsste Dan auf die Nasenspitze. »Allerdings ganz im Gegensatz zu mir.«

Kapitel 4

Dane John Gardens in Canterbury Dienstag, 16. April 2019

Wenn ich nur wüsste, was da gleich auf mich zukommt und wie ich mich am besten verhalten soll.