Wer mordet schon in Salzburg? - Oskar Feifar - E-Book

Wer mordet schon in Salzburg? E-Book

Oskar Feifar

4,3

Beschreibung

Mord und Totschlag in Stadt und Land Salzburg? Unmöglich, möchte man denken, wenn man die traumhafte Kulisse dieser Region betrachtet. In Wahrheit ist es vielleicht auch ruhig und beschaulich. Literarisch ist das jedoch anders, zumindest bei Oskar Feifar. Der Autor hat einen »kriminellen« Freizeitplaner verfasst, der sich mit Stadt und Land gleichermaßen auseinandersetzt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 286

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,3 (16 Bewertungen)
9
3
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Oskar Feifar

Wer mordet schon in Salzburg?

11 Krimis und 125 Freizeittipps

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Anibal Trejo – Fotolia.com; Abb. der Mozartkugel: Konditorei Fürst in Salzburg; http://www.original-mozartkugel.com/

ISBN 978-3-8392-4302-2

Widmung

Für meine Mutter und meine Schwester Marion.

Doris

Freitag, 05.05.2012, 15:32 Uhr:

Mein Name ist Johannes Waldmüller und ich wurde am 18.03.1960 in Wien geboren. Ich wurde über alle mir in meiner Eigenschaft als Zeuge zukommenden Rechte und Pflichten belehrt und bin damit einverstanden, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird. Ich weiß, dass ich verpflichtet bin, die Wahrheit über die Geschehnisse der letzten Tage zu erzählen, und bin dazu bereit.

Es ist nachträglich schwer zu sagen, wessen Idee die Reise nach Salzburg war. Meine? Die von Graziella? Oder war es doch Jürgens Idee gewesen? Im Grunde ist das heute, eine Woche später, völlig unerheblich. Tatsache ist, wir waren da, und diese Reise hat unauslöschliche Spuren hinterlassen.

Wir machen jedes Jahr zu Frühlingsbeginn eine Reise. Wenn ich wir sage, dann meine ich Graziella und mich. Eigentlich, so gestand sie mir eines Abends in Alkohollaune, heißt sie gar nicht Graziella, sondern Doris. Sie habe sich den neuen Namen gegeben, weil Doris für eine Frau von ihrem Format viel zu profan sei. Ich habe das, ohne es weiter zu kommentieren oder mir gar weiterreichende Gedanken darüber zu machen, zur Kenntnis genommen und nenne sie ihrem Wunsch gemäß Graziella. Sie ist meine Freundin.

Obwohl das ein blödes Wort ist. Ich persönlich würde eher zu ›Lebensabschnittspartnerin‹ tendieren, weil es das am ehesten trifft, aber dieses Wort mag Graziella nicht. Sie bevorzugt ›Lebensgefährtin‹. Ich bin nicht sicher, ob es sich lohnt, über diese Begriffe und den eventuellen Unterschied zu diskutieren. Wohl eher nicht. Also ist Graziella einfach die Frau, mit der ich in den letzten vier oder fünf Jahren fast meine gesamte Freizeit verbracht habe, und mit der ich mir, immer mit der Frage im Hinterkopf, was eine Klassefrau wie sie wohl dazu gebracht hatte, unter Tausenden von Männern ausgerechnet mich auszuwählen, mein Haus geteilt habe.

Graziella ist eine Schönheit. Wirklich und wahrhaftig. Alles an ihr ist perfekt. Das lange und volle rotblonde Haar, ihr schmales Gesicht mit den grünen Augen und dem süßen Schmollmund, hinter dessen Lippen sich wahrlich makellose Zähne verbergen. Ihr großer und trotzdem fester Busen, ihre schlanke Taille und die endlos langen Beine. Diesen wunderbar geformten Hintern nicht zu vergessen. Einfach perfekt. Fast schon zu perfekt für mich. Irgendwie fühle ich mich in ihrer Nähe immer etwas unsicher. So, als würde ich nicht wirklich zu ihr gehören. Oder sie nicht zu mir. Wie man es sehen will.

Ich muss zugeben, dass mich dieses Gefühl, andauernd um ihre Gunst buhlen zu müssen, um sie ja nicht zu verlieren, auf Dauer echt fertigmacht. Aber was soll ich tun? Graziella hat so ihre Ansprüche. Und das Mindeste, was ich tun sollte, ist, zu versuchen, diese Ansprüche zu erfüllen. Vielleicht ist unsere Beziehung in diesem Sinn mehr eine geschäftliche. Ich sorge dafür, dass es ihr materiell an nichts fehlt, und sie ist für mich schön. Das Gute an diesem Deal scheint mir zu sein, dass er funktioniert. Je mehr ich sie umsorge, desto mehr strahlt sie. Und je mehr sie strahlt, desto schöner ist sie.

Der Umstand, dass sie dank meiner, sagen wir einmal, nicht gerade unglücklichen Finanzlage nichts weiter tun muss, als ihren Körper in Form zu halten, zur Kosmetik und ins Nagelstudio zu gehen und ihren Kleider- und Schuhschrank auf dem neuesten Stand der Designerwelt zu halten, trägt natürlich in ungeheurem Maße zur Entfaltung ihrer Schönheit bei. Unmöglich, mit ihr in ein Restaurant zu gehen, ohne eine Menge Blicke anzuziehen. Weibliche wie männliche. Eigentlich sollte mich das stolz machen. Macht es irgendwie auch. Aber ehrlich gesagt habe ich immer öfter den Eindruck, dass die Menschen rund um uns herum mir eher mitleidige Blicke zuwerfen. Vielleicht, weil sie denken, dass ich mit meinen knapp 50 Jahren keine 21-jährige Frau an meiner Seite haben sollte.

Vorigen Freitag stand Graziella anlässlich des beginnenden Frühlings der Sinn nach einer kleinen Reise. Mir war das gar nicht recht, weil ich noch einiges für die Firma hätte erledigen wollen. Aber wer meine Graziella kennt, der weiß, dass man ihr beim besten Willen nichts abschlagen kann. Man nicht und ich schon gar nicht. So kam es auch dieses Mal genauso, wie es immer kam. Ich gab nach. Was blieb, war die Frage nach einem möglichen Ziel.

Mitten in der schönsten Diskussion darüber, ob wir wohl nach Nizza oder lieber doch nach Korsika jetten sollten, kam Jürgen dazu. Jürgen ist mein Sohn aus erster Ehe. Zwischenzeitlich, zumindest vom biologischen Alter her, zum Manne gereift und mit seinen 20 Lenzen ein Lebemann der Extraklasse. Dazu befragt würde er als Beruf wahrscheinlich Student angeben. Was theoretisch auch durchaus seine Richtigkeit hat. Immerhin hatte er bis vor Kurzem tatsächlich an der Universität in Wien studiert. Jura und Psychologie. Was für eine seltsame Kombination. Offenbar fand das auch Jürgen. Zumindest wäre es eine Erklärung dafür, warum er sein Studium unbedingt hinschmeißen und plötzlich viel lieber Theaterwissenschaften studieren wollte.

Mein Psychologe meinte zu diesem Thema, ich solle mich nicht zu sehr aufregen, weil die jungen Leute von heute in diesem Alter eben noch nicht reif genug sind, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Na ja, Hauptsache, sie dürfen wählen gehen. Dabei werden ja Gott sei Dank keine nachhaltigen Entscheidungen getroffen.

Mein Sprössling jedenfalls fand sehr bald heraus, dass Sohn der wesentlich bessere Beruf war. Vor allem konnte er den auch ohne jegliche Vorkenntnisse und ohne Studium ergreifen. Was er vor ungefähr einem Jahr auch tat. Vor die Wahl gestellt, diese Tatsache einfach hinzunehmen oder ihm seine Kreditkarte sperren zu lassen und mir dann sein ewiges Gezeter anhören zu müssen, entschied ich mich dafür, es mit Geduld und Gesprächen zu versuchen. Völlig sinnlos. Zumal Jürgen noch nicht einmal versuchte, so zu tun, als würde er mir wirklich zuhören. Sein Verhältnis zu alkoholischen Getränken, diversen Tabletten, Marihuana, der Uhr und zur Erfüllung der wenigen, ihn treffenden Verpflichtungen, hat in der Vergangenheit öfter zu Spannungen geführt, die sich nie richtig legten, weil wir nicht in Ruhe darüber sprachen. Soweit zumindest die Aussage meines Psychofritzen. Ich habe keine Ahnung, warum ich mir diesen Mist anhöre und auch noch dafür bezahle.

Wie dem auch sei. Als Jürgen mitbekam, dass wir nach einem Reiseziel suchten, begann er ebenfalls Vorschläge einzustreuen, die, soviel sei verraten, auch nicht besser waren als die von Graziella. Billiger schon gar nicht. Dafür bot seine Einmischung reichlich Zündstoff. Wann immer mein Sohn und Graziella nämlich aufeinandertrafen, gerieten sie sich mächtig in die Haare. Aber nicht spielerisch, so wie es bei jungen Hunden oft der Fall ist, sondern, wie Graziella es als Fan von schrägen Geschichten ausdrücken würde, vampirmäßig bösartig!

Ich gebe zu, dass die dauernde Streiterei der beiden ganz schön mühsam ist, habe aber sehr bald damit aufgehört, Frieden stiften zu wollen, da sich bei diesen Versuchen immer beide gegen mich wenden, was ich ehrlich gesagt nicht wirklich brauchen kann. Zumal sie derart infantil werden, dass ich mir vorkomme wie im Kindergarten. Der Weg des geringsten Widerstandes erscheint mir in diesen Situationen also immer der bessere zu sein, und ich verlasse einfach den Raum oder, wenn es ganz arg ist, das Haus. Die Kunst ist, solange wegzubleiben, bis sich die zwei wieder beruhigt haben.

Wie schon gesagt, weiß ich nicht mehr, wer auf die Idee gekommen ist, nach Salzburg zu fahren. Von einem Moment zum nächsten lag der Vorschlag auf dem Tisch und wurde mehrheitlich angenommen. Wobei diese Mehrheit aus Graziella und Jürgen bestand. Ich war bei dieser Abstimmung mehr Statist denn Stimmberechtigter.

Da mein Sohn es sich bereits vor längerer Zeit abgewöhnt hatte, sich mit dem überaus komplexen Vorgang des Kofferpackens aufzuhalten, und Graziella eine solche Tätigkeit nicht einmal in Erwägung zog, weil beide es weitaus einfacher fanden, sich am jeweiligen Urlaubsort mithilfe einer meiner Kreditkarten neu einzukleiden, waren die Reisevorbereitungen relativ schnell abgeschlossen. Ich begnügte mich damit, meinen ledernen Weekender, den ich auf so ziemlich jede meiner Reisen mitzunehmen pflege, mit wenigen Stücken an Reservekleidung zu füllen. Kosmetikartikel kann man schließlich überall erwerben.

Graziella bestand vehement darauf, mit dem Aston Martin zu fahren. Richtigerweise war Jürgen dagegen, weil es im Fond des Wagens nicht sonderlich bequem ist. Diesmal beendete ich den aufkeimenden Streit bereits im Ansatz, indem ich, ohne ein Wort zu sagen, in den Range Rover stieg und den Motor startete. Ein Zeichen, das sogar die Streithähne richtig zu deuten wussten. Einen Augenblick lang befürchtete ich, dass jetzt eine Diskussion darüber ausbrechen würde, wer vorne sitzen darf. Gott sei Dank blieb das aber aus, weil Graziella sich mit hocherhobenem Haupt und geblähten Nasenflügeln an Jürgen vorbei drängte und hinten einstieg, um mir zu zeigen, dass sie schmollte.

Die Fahrt von Wien nach Salzburg verlief, bis auf ein Telefonat, das Graziella mit ihrer Freundin Isabella führte, schweigend. Wobei das relativ zu sehen ist, weil Telefonate zwischen den beiden Frauen zumeist Marathoncharakter haben und mindestens eine Stunde dauern. Da ich mir schon lange abgewöhnt habe, bei diesen Gesprächen zuzuhören, kann ich nichts über den Inhalt sagen. Ich glaube aber nicht, dass sie über die Themen Shopping und Styling hinauskamen. Auch das ist eine Facette des Deals zwischen Graziella und mir. Ich muss damit leben, dass sie außer schön eben nur schön ist. Man kann nicht alles haben.

Jürgen schlief fast die ganzen drei Stunden. Wahrscheinlich war die Nacht zuvor wieder hart gewesen. Ich für meinen Teil genoss die ruhige Fahrt und die kontinuierlich bergiger und schöner werdende Landschaft. Natürlich hatte sich in der allgemeinen Aufbruchsstimmung niemand Gedanken zum Thema Hotelzimmer gemacht. Ein Problem, das sich in einer solchen Stadt sicherlich lösen lassen würde.

Irgendwie freute ich mich auf Salzburg. Ich war zuletzt mit Veronika, meiner Ex-Frau, da. Anlässlich der Salzburger Festspiele. Damals waren wir relativ frisch verheiratet und ziemlich verliebt. Deswegen haben wir in Wahrheit gar nichts von den Festspielen mitbekommen, weil wir, aus unserer damaligen Sicht, Besseres zu tun hatten. Ich denke, ich würde das heute anders beurteilen und vielleicht doch eher zu einer der vielen Aufführungen von wer-weiß-schon-so genau-was-alles gehen, um meine Wissenslücken auf dem Gebiet der Klassik ein klein wenig zu schließen. Wobei sich hier allerdings die Frage stellt, ob Graziella dafür wirklich die richtige Begleitung darstellt. Zum Glück stellte sich diese Frage aber nur in der Theorie, weil es für die Festspiele viel zu früh war. Ich glaube, die beginnen erst Ende Juli.

Verzeihung, aber könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser und einen Kaffee bekommen? Ja? Das wäre sehr schön! Danke sehr. Zum Glück rauche ich seit einigen Jahren nicht mehr. Ansonsten würde ich sicherlich viel öfter eine Pause brauchen. So kann es mir Gott sei Dank völlig egal sein, ob das Lokal meiner Wahl ein Raucher- oder Nichtraucherlokal ist.

Graziella ist da nicht so. Sie raucht. Überhaupt, wenn sie Alkohol trinkt. Man könnte sagen, ihr Nikotinkonsum steigt proportional zum Alkoholgenuss. Genau deswegen schleppt sie mich immer in Raucherlokale. Meistens stört es mich nicht besonders. Zumindest nicht in den gut belüfteten Lokalen. Aber in diesen Buden, wo die Lüftung abgeschaltet bleibt, um die Stromrechnung bezahlen zu können, und in denen man schon einen Raucherhusten bekommt, wenn man zum Fenster hineinschaut, da halte ich es seit einiger Zeit nur noch sehr schwer aus. Aber da sind wir wieder beim Thema. Was Graziella will, bekommt Graziella auch.

Hm, könnte ich eventuell noch ein Stück Zucker bekommen? Vielen Dank. Ich war immer schon ein Süßer, wenn sie verstehen, was ich meine. Leider sieht man das auch an meiner Figur. Speziell am Bauch und den Hüften. Aber so ist das halt. Graziella hat keine Figurprobleme. Sie ernährt sich aber auch in einer Weise, die nur schwer nachvollziehbar ist. Vor allem frage ich mich, wer von einem Salatblatt satt werden soll, um das einmal ein bisschen überspitzt zu formulieren.

Wie bitte? Ich soll zurück zum Thema kommen? Oh. Ich dachte, Graziella ist das Thema. Aber gut. Wo war ich stehen geblieben? Ah ja …

Nach etwa drei Stunden fuhren wir von der Autobahn ab und ließen uns von Lisa ins Zentrum lotsen. Lisa ist mein Navi. Ich nenne es Lisa, weil die Stimme so heißt, die ich eingestellt habe. Blöderweise wusste Lisa offensichtlich nicht, dass die Salzburger Innenstadt nicht mehr frei befahrbar ist und von Pollern gesichert wird. Ich wusste das, ehrlich gesagt, auch nicht. Als ich den Klingelknopf an der Säule betätigte und der Person, die sich daraufhin meldete, erklärte, dass ich zu einem Hotel wolle, kam die Frage, wo ich denn eine Reservierung habe. Da wir keine hatten, blieb freilich auch der Poller oben. Hinter mir hupte ein Taxifahrer, und ich beschloss, zur Seite zu fahren, um ihn vorbeizulassen. Jürgen beobachtete den Vorgang genau und meinte dann, dass wir einfach so knapp wie möglich hinter dem nächsten Auto herfahren sollten. Diese Poller seien sicherlich mit Lichtschranken ausgestattet, fügte er, den Wissenden mimend, hinzu.

Nun, ich bin nicht gerade stolz darauf, mich auf diesen Vorschlag eingelassen zu haben. Das lag wahrscheinlich an der Aussicht, die blöde Sperre zu überlisten und sich dann für einige Minuten wie ein Outlaw fühlen zu dürfen. Keine Ahnung. Ich stellte mich also hinter das nächste Taxi, das kam, wartete, bis der Poller im Boden verschwand, und gab in dem Moment Gas, in dem das Taxi losfuhr. Es dauerte keine 20 Sekunden und der Range Rover stoppte abrupt. Mit einer ziemlich demolierten Ölwanne und fehlender Bodenhaftung an der Vorderachse. Jürgens Lichtschrankentheorie war damit eindeutig widerlegt, und meine Outlawträume ausgeträumt. Graziella, die unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war, kommentierte den Unfall mit Gezeter und Gekeife.

Zwei Stunden später war alles soweit erledigt. Der Unfall war von zwei hämisch grinsenden Polizisten aufgenommen, die feixenden Schaulustigen fort und mein Wagen von einem Abschleppdienst in die Werkstatt gebracht worden. Wir drei standen schweigend auf der Straße. Graziella war es, die als Erste das Wort ergriff und feststellte, dass es wohl nicht schaden könne, ein Hotel zu suchen. Und, so setzte sie fort, ich mir nicht einzubilden bräuchte, dass sie sich an dieser Suche beteiligen würde. Nein, sie würde sich im nächsten Kaffeehaus niederlassen und warten, bis ich das erledigt habe. Ihr Tonfall machte klar, dass es darüber nichts zu diskutieren gab.

Wie ich spätestens seit der Unfallaufnahme durch die Polizei wusste, befanden wir uns auf dem Mozartplatz und somit eigentlich schon in der Altstadt. Aus dem Augenwinkel konnte ich eine Fußgängerbrücke sehen, die über die Salzach führte. Später erfuhr ich, dass es sich dabei um den denkmalgeschützten Mozartsteg  1 handelte. Leider blieb in diesem Moment keine Zeit, die Schönheit der Umgebung zu betrachten, weil einerseits Graziella einfach loslief und mich stehen ließ, und andererseits auch Jürgen anfing herumzumotzen, weil er, wie er sagte, keinen Bock darauf hatte, blöd herumzustehen, und hinter Graziella her latschte. Ich blieb mit meinem Weekender und dem Beautycase meiner Holden zurück. Eilig schnappte ich das Gepäck und japste hinterher.

An der Mozartstatue  2 vorbei, ging es ziemlich eilig voran. Graziella schwebte schnurstracks auf ein Kaffeehaus zu, das ›Tomaselli‹ hieß, recht feudal aussah und am Alten Markt lag. Dort hockte sie sich an den erstbesten freien Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und würdigte mich keines Blickes.

Jürgen, der unmittelbar vor mir ebenfalls eingetreten war, hockte sich zwei Tische weiter hinten hin und wandte mir demonstrativ den Rücken zu. Ich wusste also, was die Stunde geschlagen hatte. Die Hotelsuche war einstimmig zu meiner Angelegenheit erklärt worden. Also stellte ich Beauty Case und Weekender so nahe wie möglich an Graziellas Tisch und verließ das Lokal wieder, nachdem ich den Hinweis, jetzt ein Zimmer besorgen zu wollen, deponiert hatte.

Ich trat also wieder hinaus auf den Alten Markt. Diesmal verharrte ich allerdings, machte ein paar tiefe Atemzüge und ließ die Umgebung auf mich wirken. Ein toller Anblick war das, der sich mir hier bot. Zu meiner Linken der Florianibrunnen  3, die alte Fürsterzbischöfliche Apotheke  4, und dahinter all die anderen wirklich tollen Gebäude. Wohin ich meinen Blick auch richtete, alles war einfach nur schön.

Meine Mission fest im Blick, wandte ich mich nach rechts, marschierte über den Residenzplatz und bog nach links in die Goldgasse ab, wo ich sogleich über das Hotel ›Goldene Ente‹ stolperte. Das Haus sah gut aus, und ich ging hinein und nahm die letzten beiden freien Zimmer. Zufrieden machte ich mich auf den Rückweg ins Café ›Tomaselli‹. Dort angekommen musste ich feststellen, dass weder Graziella, noch Jürgen da war. Ich fragte den Kellner, ob er wisse, wo die beiden abgeblieben waren, und musste feststellen, dass er sich nicht einmal erinnern konnte, dass sie überhaupt da gewesen waren.

Ich verließ das Café und überlegte, in welche Richtung ich wohl gehen sollte. Ich entschied mich dafür, rechts um die Ecke zu gehen, da ich vorhin gesehen hatte, dass es da einen Durchgang gab, der interessant aussah. Graziella zu finden, erschien mir in dem Moment nicht ganz so wichtig. Ich wollte ihr die Gelegenheit geben, sich erst einmal zu beruhigen. Ich ging also auf den Durchgang zu und las die Aufschrift auf dem Haus. ›Bücherei Höllriegel‹  5 stand da zu lesen. Auch konnte ich feststellen, dass es sich bei dem Durchgang um den Ritzerbogen  6 handelte. Ohne mich lange aufzuhalten, ging ich weiter und kam am anderen Ende des Durchganges neuerlich auf einen Platz. Links vor mir sah ich eine Kirche, bei der es sich, wie ich von einem deutschsprachigen Fremdenführer erfahren konnte, der mit einer Gruppe Touristen vor der Kirche stand, um die Universitätskirche  7 handelte.

Noch während ich mittelmäßig interessiert das Bauwerk besah, erklärte der Fremdenführer, dass der weitere Weg nun in Richtung des Großen Festspielhauses  8 führen werde, und ich beschloss, mich der Gruppe lose anzuschließen. Schaden konnte es nicht, und Besseres hatte ich ohnehin nicht zu tun. Hinter dem hochgereckten Schirm des Reiseführers ging es zu einem weiteren Brunnen, den der Mann als Marstallschwemme  9 oder, wie er noch hinzufügte, Pferdeschwemme bezeichnete. Wort- und gestenreich erläuterte er, dass diese Schwemme in der Zeit der Erzbischöfe entstanden sei.

Wirklich genau hörte ich allerdings nicht zu, weil die Bildtafeln im Hintergrund der Schwemme meine komplette Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Insgesamt sah das Bauwerk, dafür, dass darin dereinst Pferde gewaschen worden waren, recht feudal aus. Da hatte es einer ganz schön krachen lassen bei den Baukosten.

Die Pferdeschwemme steht ganz in der Nähe vom Großen Festspielhaus. Bevor die Gruppe es allerdings erreichte und davor stehen blieb, blickte ich mehr zufällig nach links und sah Jürgen, der zielstrebig auf ein Gebäude zuging und schließlich darin verschwand, noch bevor ich ihn rufen konnte. Neugierig geworden ging ich in die gleiche Richtung und konnte sehen, dass es sich bei dem Haus um ein offensichtlich sehr nobles und teures Hotel handelte.

Daraus schloss ich, dass mein Sohn ebenfalls versuchte, Zimmer für uns zu finden, was es aus meiner Sicht natürlich zu verhindern galt, weil ich ja schon welche besorgt hatte. Ich ging eilig hinein und rechnete damit, Jürgen an der Rezeption stehen zu sehen. Da war er aber nicht. Ich sah mich um, konnte ihn aber nicht entdecken. Die junge Dame hinter der Rezeption bemerkte mich und fragte in überaus zuvorkommendem Tonfall, wie sie mir behilflich sein könne.

Ich fragte sie also, ob sie den jungen Mann gesehen habe, der gerade zur Tür hereingekommen war, und sie bejahte. Ich erklärte ihr kurz, dass ich Jürgens Vater sei, und erkundigte mich, wo er abgeblieben war. Sie antwortete, dass er auf sein Zimmer gegangen sei. Ich zerbiss einige unschöne Worte und fragte nach der Zimmernummer. Höflich aber bestimmt teilte sie mir mit, dass sie mir diese nicht verraten werde, weil das nicht den Gepflogenheiten des Hauses entspreche und das junge Paar außerdem ausdrücklich gesagt habe, dass es nicht gestört werden wolle.

Um sicherzugehen, mich nicht verhört zu haben, fragte ich nach, ob sie ›junges Paar‹ gesagt hatte, und sie hatte. Verwirrt bedankte ich mich und machte mich wieder auf den Weg. Diesmal allerdings fest entschlossen, Graziella zu finden und ihr diese Geschichte zu erzählen. Mit irgendjemandem musste ich meine Verwunderung schließlich teilen.

Davon ausgehend, dass Graziella wieder ins Café ›Tomaselli‹ gehen würde, sobald es ihr wieder besser ging, machte ich mich dorthin auf den Weg. Da der ›Goldene Hirsch‹ gar nicht weit weg war, fand ich ohne Probleme wieder hin. Graziella war aber immer noch nicht da.

Ich beschloss, meine Suche in Richtung Getreidegasse auszuweiten, die links vom ›Tomaselli‹ liegt. Ich muss zugeben, ich war erstaunt, als ich sah, welche Menschenmassen sich durch diese relativ schmale Gasse schoben. Anders kann man das wirklich nicht ausdrücken. Ein normales Gehen war kaum möglich. Hinein in den Strom aus fremden Menschen und einfach treiben lassen, war angesagt. Wie ich Graziella in diesem Getümmel finden sollte, war mir schleierhaft.

Im Vorbeitreiben erspähte ich gerade noch ein Schild an einer Hauswand zu meiner Rechten, auf dem ›Mozarts Geburtshaus‹  10 stand. Es einer Gruppe von Japanern gleichzutun, die allesamt fröhlich schnatternd vor dem Haus standen und ihre Digitalkameras strapazierten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu hätte es meinerseits des Einsatzes der Ellenbogen bedurft. Da ein solches Verhalten meiner guten Erziehung widerspricht, spülte mich die Woge einfach fort.

Trotzdem verfiel auch ich dem Charme der Getreidegasse und bewunderte so gut es ging die Fassaden der Häuser, die teilweise richtig alten Werbeschilder der Geschäfte und natürlich den schwunghaften Handel mit diversen Artikeln, in denen der Name Mozart vorkommt: Mozartlikör, Mozartmelange, Mozarttaler, Mozartwürfel, das Café Mozart, T- Shirts mit dem Konterfei des Komponisten, Tassen, Teller, Bilder, Mozarttorten und natürlich, nicht zu vergessen, die Mozartkugeln, von denen gleich mehrere Hersteller behaupten, dass ihre die einzig originalen sind. Unglaublich, wie viel Geld sich anscheinend mit einem Leichnam verdienen lässt!

Vorläufige Endstation war bei einem Lokal mit dem klingenden Namen ›Carpe Diem‹  11, von dem ich schon im Internet gelesen hatte. Ein kleines Stück die Straße hinunter konnte ich auf der gegenüberliegenden Seite ein weiteres Lokal mit dem Namen ›Afro-Café‹  12 sehen. Allein der Name schloss für mich schon aus, dass ich Graziella darin finden könnte. Dann wohl eher im Carpe Diem.

Das Lokal war allerdings derart gut besucht, dass ich den Versuch, meine Holde darin zu finden, sehr schnell aufgab. Jetzt hatte ich nicht mehr viele Möglichkeiten. Ich überlegte, ob ich ins ›Tomaselli‹ zurückgehen und dort auf Graziella warten sollte oder doch lieber noch einmal im ›Goldenen Hirschen‹ nach der Zimmernummer von Jürgen fragen sollte, um mir sein Handy zu leihen, da ich meines, wie ich erst jetzt bemerkte, im Auto gelassen hatte. Ohne sie anzurufen, dessen war ich mir bewusst geworden, würde es verdammt schwer werden, sie zu finden.

Ich nahm mir fest vor, ihr die Leviten zu lesen, weil sie nicht gewartet hatte, und machte mich auf den Weg zurück zum ›Goldenen Hirschen‹, weil er einfach näher war als unser Hotel. Ungefähr 100 Meter vor dem Eingang traf ich auf meinen Sohn, der scheinbar erstaunt war, mich hier zu sehen. Neugierig wie ich nun einmal bin, fragte ich ihn zu allererst, mit wem er im Hotel gewesen sei, und er erzählte mir etwas von einer Freundin von ihm, die in Salzburg das Mozarteum  13 besuche und mit der er sich während der Fahrt per SMS verabredet habe. Ich nahm das neidvoll zur Kenntnis und bedauerte nicht mehr, ganz so jung zu sein und diese offensichtliche Freizügigkeit und Unkompliziertheit der jungen Leute nicht teilen zu können.

Da Jürgen auch nichts dazu sagen konnte, wo Graziella abgeblieben war, und er obendrein ihre Telefonnummer nicht in seinem Handy gespeichert hatte, machte ich mich mit ihm auf den Weg zur ›Goldenen Ente‹.

Wir waren noch keine zehn Schritte weit gekommen, als eine ziemlich hohe Frauenstimme hinter uns »Juhu!« rief. Die Stimme gehörte zu Graziella, die sich auf den Pflastersteinen redlich bemühte, uns in ihren High Heels einzuholen.

Zu meiner Überraschung wirkte sie überaus fröhlich. Normalerweise hätte sie dem Straßenbauer die Pest an den Hals gewünscht und sich lautstark über das Fehlen stöckelschuhtauglicher Gehwege ausgelassen. Aber nicht an diesem Tag. Als sie zu uns aufschloss, würdigte sie Jürgen keines Blickes und hakte sich sofort, jede Menge uninteressantes Zeug redend, bei mir unter.

Wie ich eigentlich hätte vorhersehen müssen, mochte Graziella das Hotel nicht. Das hatte aber nichts mit der Ausstattung oder dem Personal zu tun und auch nicht mit dem Preis. Nein. Ihr ging es einzig und allein um die Anzahl der Sterne. Ihre Unzufriedenheit zog sich dann wie ein roter Faden durch den ganzen Abend. Kein Restaurant und keine Bar waren Madame gut genug. Wir wurden trotzdem satt, und ich für meinen Teil war auch leicht angeheitert.

Der Rückweg zum Hotel verlief weitgehend schweigend, was mich nicht wirklich störte. Alles war besser als Gejammere oder Streiterei. Den Prozess des Zubettgehens spulten wir ebenfalls wortlos ab, und meine Annäherungsversuche trafen auf wenig Gegenliebe. Insgesamt kein schlechter Tag.

Am nächsten Morgen wachte ich früh auf. Ich stieg leise aus dem Bett, sorgsam darauf bedacht, Graziella nur ja nicht zu wecken. Sie kann nämlich ziemlich ekelhaft werden, wenn man sie um ihren, wie sie sagt, Schönheitsschlaf bringt. Ich erledigte meine Morgentoilette, zog mich an und verließ so leise wie möglich das Zimmer. Graziella schlief.

Ich beließ es bei einem kurzen Gastspiel im Frühstücksraum, weil ich viel lieber hinaus und die nähere Umgebung erkunden wollte. Ich erinnerte mich, gestern ganz in der Nähe ein Geschäft gesehen zu haben, wo es Stadtpläne zu kaufen gab, und begab mich in die Richtung, um einen zu holen. Mit dem Plan bewaffnet stand ich da und staunte nicht schlecht, als ich sah, wie viele Sehenswürdigkeiten sich in meiner Nähe befanden.

Fast genau vor mir befanden sich das Glockenspiel  14, der Residenz- oder auch Hofbrunnen  15, die Neue Residenz  16, die Alte Residenz  17, in der sich auch die Residenz- Galerie  18 befindet, und der Salzburger Dom  19 mit dem Dommuseum  20. Alles nur einen Steinwurf entfernt. Oder in Blickweite. Wie man es sagen möchte. Sightseeing light. Obwohl ich in der Zwischenzeit festgestellt habe, dass das so nicht ganz stimmt. Alles sieht man nämlich nicht sofort. Ich habe gar nicht gewusst, dass es unter der Residenz und dem Dom auch noch das Domgrabungsmuseum  21 gibt, das Einblicke in die städtischen Bautätigkeiten seit der Römerzeit gibt. Ich muss zugeben, das hätte mich wirklich interessiert. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Ich tat an dem Tag jedenfalls nichts weiter, als mich in das kleine Café zu meiner Rechten zu hocken, die Sonne zu genießen und mich umzusehen. Typisch für mich als geborenem Minimalisten.

Von meinem Platz aus konnte ich den schönen Brunnen deutlich sehen und, weil es noch sehr ruhig war, auch das Wasser plätschern hören. Da kam richtig Urlaubsfeeling auf. Ich stellte mir den Platz vor 100 Jahren vor. Die Kutschen, die Frauen in ihren wallenden Kleidern und die Männer in ihren Gehröcken und mit ihren Zylindern. Ich war so vertieft in diesen Tagtraum, dass ich ein wenig die Zeit übersah. Der Gedanke daran, dass Graziella in der Zwischenzeit wach sein und nach mir suchen könnte, holte mich in die Gegenwart zurück. Ich zahlte und machte mich auf zum Hotel.

Zu meiner Überraschung war Graziella tatsächlich schon aufgewacht. Und, ich konnte es kaum glauben, auch schon weg. Ich tippte auf den Frühstücksraum, was sich allerdings als falsch erwies. Eine Rückfrage beim Kellner ergab, dass weder Graziella noch Jürgen beim Frühstück gewesen waren. An der Rezeption sagte mir eine sehr freundliche junge Dame, dass sie mir nicht sagen könne, ob meine Begleitung das Haus bereits verlassen habe oder nicht.

Immer noch unter dem Eindruck des Tagtraumes stehend kam mir die Abwesenheit meines Herzblatts als verschmerzbare Tatsache vor, die mir Gelegenheit gab, mich weiter alleine in der Stadt umzusehen. Ich entschied also, Graziella einen kurzen Brief zu hinterlassen, und ging zurück ins Zimmer. Und siehe da, aus dem Badezimmer drang das Geräusch der Dusche. Ich ging zur Badezimmertür, öffnete, setzte mein Sonntagslächeln auf und schenkte ihr mein süßestes »Guten Morgen«. Sie erschrak offensichtlich, funkelte mich böse an und echauffierte sich über mein Eindringen in ihre Privatsphäre. Sofort war klar, dass es wieder ein guter Tag werden würde.

Wie bitte? Ja, ja. Ich bin doch schon die ganze Zeit dabei, zur Sache zu kommen. Ich bin schon mittendrin in der Sache. Sie müssen die ganze Geschichte kennen, um zu verstehen. Also lassen sie mich weiter erzählen und hören sie einfach nur zu. Ist das etwa so viel verlangt? Nein? Na also!

Nach der Sache im Badezimmer hatte ich aus meiner Sicht zwei Möglichkeiten. Ich konnte mich ihrem nervigen Gezeter weiter aussetzen oder einfach gehen und mich später dafür anmaulen lassen. Variante zwei gefiel mir besser. Als ich die Zimmertür öffnete, rannte ich fast Jürgen über den Haufen, der anscheinend gerade hätte anklopfen wollen. Auch er erschrak offensichtlich. Ich erzählte ihm, dass Graziella eher schlechter Laune war, und schlug ihm vor, ihn zum Frühstück zu begleiten.

Er lehnte das mit dem Hinweis ab, noch joggen gehen zu wollen, und meinte, er werde sich jetzt umziehen. Auch recht, dachte ich und ging meiner Wege, die mich diesmal ein Stück weiter zum Domplatz führten. Ich kannte den Platz, weil dort in der Festspielzeit alljährlich die Aufführung des ›Jedermann‹ stattfindet. Allerdings war mir die wunderschöne Mariensäule  22 bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen. Aber da hatte ich ja auch noch Wichtigeres zu tun gehabt. Was waren das nur für gute Zeiten gewesen. Mit diesem Gedanken ging ich weiter in Richtung Kapitelplatz.

Das heißt, ich wollte dahin. Ein seltsames Gefühl beschlich mich. Keine Ahnung, woher es kam. Ich wusste es nicht zu deuten, aber es beunruhigte mich doch sehr. Ich fühlte, wie mein Magen sich zusammenzog und meine Hände leicht zu zittern begannen. Kein angenehmer Zustand. Schon gar nicht für eine Besichtigungstour. Ich war besorgt und ging wieder zurück zum Hotel.

An der Rezeption bat ich darum, mir einen Arzt zu rufen, stieg in den Lift und fuhr in den zweiten Stock. Wollte ich zumindest. Ohne es zu bemerken, hatte ich die Taste 3 gedrückt und landete demnach natürlich auch in der dritten Etage. Ich bemerkte das allerdings erst, als ich versuchte Zimmer 311 mit meinem Schlüssel aufzusperren, was natürlich nicht gelang.

Weil der Lift schon weg war, benutzte ich die Treppe. Als ich im Halbstock war, bemerkte ich gerade noch ein Pärchen, das sich aus einer innigen Umarmung zu lösen schien. Zumindest sah es für mich so aus. Ein paar Treppenstufen weiter unten erkannte ich, dass es Jürgen und Graziella waren, die sich da auf dem Flur gegenüberstanden. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Graziella die Augen aufriss, die Hand hob und Jürgen eine scheuerte. »Komm mir ja nicht mehr zu nahe, du Arsch«, zischte sie ihn wenig damenhaft an und brauste davon. Sie schien mich nicht bemerkt zu haben.

Jürgen auch nicht. Er stand da, rieb sich die Wange und schüttelte den Kopf. Ich konnte hören, wie er »Verrücktes Huhn« murmelte. Ich trat von hinten zu ihm und fragte, was los gewesen sei. Er sah mich ziemlich verwirrt an und meinte, dass er das auch nicht so genau wisse. Sicher sei nur, dass er eben eine gefangen hätte und keine Ahnung habe, warum. Erst jetzt, im Gespräch mit mir, schien ihn das aufzuregen, und er steigerte sich mächtig in seine Wut hinein. Ich hörte ihm gar nicht richtig zu, sondern wunderte mich über die Tatsache, dass er es scheinbar immer noch nicht geschafft hatte, seine Sportbekleidung anzuziehen.

Ich ging ins Zimmer, legte mich ins Bett und wartete auf den Arzt. Der kam nach einer halben Stunde, verabreichte mir nach einer kurzen Untersuchung zwei Aspirin und meinte, ich solle etwas schlafen, was ich auch versuchte. Plötzlich drang ein polterndes Geräusch aus dem Nebenzimmer an mein Ohr, und ich fuhr im Bett hoch. Es rumpelte ein zweites Mal, dann herrschte Ruhe.

Nur allmählich begriff ich, dass dieses Geräusch aus Jürgens Zimmer gekommen war, und machte mich besorgt auf den Weg, um nachzusehen, was passiert war. In Unterhosen stand ich vor der versperrten Tür und klopfte mehrmals. Keine Reaktion. Ich rief Jürgens Namen und legte mein Ohr an das Holz des Türblattes, um zu lauschen. Für einen Moment glaubte ich leise, aufgeregte Stimmen aus dem Raum zu hören, war aber nicht sicher. Niemand öffnete.

Ich rief an der Rezeption an und verlangte, dass jemand kommen und nach dem Rechten sehen solle, da ich annahm, dass jemand im Zimmer meines Sohnes war. Man versprach mir, umgehend jemanden mit einem Schlüssel zu schicken, und ich ging, für den Fall, dass jemand aus dem Zimmer kommen sollte, um Wache zu stehen.

Zu meiner Überraschung traf ich meinen Sohn, der gerade in sein Zimmer wollte. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, aufzusperren und erzählte ihm, was los war. Er sah mich nur ungläubig an, schüttelte den Kopf, öffnete die Tür und trat in den Raum. Ich ging besorgt hinterher. Niemand war da. Im Schlafraum nicht und auch im Bad und dem WC.

Alles schien in Ordnung zu sein. Nur vor der Kommode, die an der Wand zu meinem Zimmer stand, lagen einige Gegenstände auf dem Boden, die offenbar vorher darauf gestanden hatten, und es sah so aus, als stünde sie zu weit von der Wand weg. Ich betrachtete die Gegenstände. Es handelte sich um diversen Zierramsch, der auch in meinem Zimmer zu finden war. Unter der Kommode lugte ein kleiner, goldfarbener Gegenstand hervor, der mich neugierig machte, weil er mir irgendwie bekannt vorkam.

Ich wollte näher rangehen, um zu sehen, worum es sich handelte, als Jürgen sich eilig bückte, das Teil aufhob und in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Keine Ahnung, warum, aber ich unterdrückte den Impuls, ihn danach zu fragen, und tat so, als hätte ich nichts bemerkt. Aber spätestens jetzt begann ich zu ahnen, dass der Junge nicht ehrlich zu mir war. Da in der Zwischenzeit auch der Hotelangestellte ins Zimmer getreten war, beschloss ich, die Sache später zu hinterfragen. Seltsamerweise verstärkte sich mein Zittern wieder. Genauer gesagt wuchs es sich zu einem innerlichen Erdbeben aus. Ich musste ins Bett.