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Gutes Sterben – was ist das? Bestsellerautorin Luisa Francia beleuchtet Alter und Sterben aus ihrer Sicht als Tochter, die ihre alte Mutter pflegt und bis zum Tod begleitet. Offen, schonungslos ehrlich und fernab der heilen Welt der Werbeprospekte beschreibt sie, wie kräftezehrend die Pflege Angehöriger ist, wie die Pflegesituation in Heimen heutzutage oft aussieht und welche Konsequenzen sie für sich daraus gezogen hat. Luisa Francia beschäftigt sich vor allem mit den zwei essenziellen Fragen: Wie können wir gut alt werden und dabei unser Leben Stück für Stück loslassen, um angstfrei und friedvoll zu sterben? Sie gibt Mut machende Anregungen für das Alter und die Vorbereitung auf den eigenen Tod. Denn nur wer sich mit diesem Thema früh genug auseinandersetzt und sich vorbereitet, wird am Ende gut gehen können.
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Seitenzahl: 133
Luisa Francia
Wer nicht alt
werden will, muss
vorher sterben
Nachdenken über die letzte Lebenszeit
Row, row, row your boat,
Gently down the stream.
Merrily, merrily, merrily, merrily
Life is but a dream.
Englischer Kanon
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© für die Originalausgabe und das ebook: 2016 nymphenburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Umschlagmotiv: Luisa Francia
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-485-06126-1
Inhalt
Vorwort
Fast ein Ende
Nachdenken über das Ende
Die gute Frau Tod
Das letzte Drittel
Wer pflegt, muss ein dickes Fell und viel Humor haben
Wie alt sollen wir werden? Oder: Wie sollen wir alt werden?
Lebend komme ich hier nicht mehr raus: Das Leben im Seniorenheim
Meditation statt Medikation
Sterben
Das Ende als Befreiung
Über den Tod hinaus: Brief an meine Freundin
Anhang: Praktische Überlegungen
Ungewöhnliche Begegnung
Danksagung
Vorwort
Mein Weg zur Grundschule führte mich zwei Jahre lang durch den Friedhof, vorbei am Leichenhaus, in dem die Verstorbenen aufgebahrt wurden. Meine Freundin und ich blieben auf dem Schulweg immer an der Leichenhalle stehen und pressten unsere Gesichter an die Glasscheibe in der Tür. Angst vor Toten hatten wir nicht. Uns faszinierten vielmehr die wächsernen Gesichter und die Dinge, die man ihnen in die gefalteten Hände gelegt hatte. Wie fast alle Kinder, die nicht selbst unmittelbar vom Tod bedroht sind, hatte ich ein unkompliziertes Verhältnis zu Alten und Toten. Sie waren Teil meines Alltags.
In meiner Kindheit wurden viele Verstorbene noch gewaschen, schön gekleidet und zu Hause aufgebahrt. Bekannte und Verwandte konnten sich so verabschieden. Sie kamen, setzten sich und sprachen oder schwiegen, dann gingen sie wieder. Berührungsängste mit Toten gab es da eher nicht.
Und es war auch nicht wie in dem Zeitungsbericht aus Schweden, der darüber berichtete, dass die Mutter dem Sohn sagte: »Der Opa ist heute Nacht gestorben.« Und der Junge fragte: »Wer hat ihn erschossen?«
Obwohl – meine Großmutter hatte den Lesezirkel abonniert. In einer Zeitschrift sah ich eine Fotostrecke über ein Mädchen, das seine kleine Schwester über die Münchner Maximiliansbrücke in die Isar geworfen hatte. Die Kleine starb, und ich als jüngere Schwester hatte plötzlich so ein mulmiges Gefühl, denn ich provozierte meine ältere Schwester oft.
Eine Messerstecherei gab es in dem zwielichtigen Lokal »Rosenstüberl«. Ein Mann namens »Pelikan« war darin verwickelt. Ob er das Opfer oder der Täter war, weiß ich nicht, doch blieb mir der mysteriöse Pelikan bis heute mit einem leichten Schaudern in Erinnerung.
Sogar im Steinsee gab es einen Mord. Wo wir den ganzen Sommer übermütig badeten, schwammen und mit Mutter und Großmutter Picknick machten, hatte ein Mann seine Freundin umgebracht und mit seinem Auto im See versenkt. Doch waren diese Toten abstrakt, wir kannten sie ja nicht.
Als ich ungefähr zwanzig Jahre alt war, starb eine gute Freundin bei einem Motorradunfall. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie unwiderruflich verschwunden die Menschen sind, die sterben. Wie weh es tut, sie loszulassen. Ich fand: Der Tod ist gemein. Dargestellt wurde er ja auch immer als Skelett mit einer Sense. Die Leichtigkeit im Umgang mit Alter und Tod wollte sich danach lange nicht mehr einstellen. Und dann passierte es mir selbst – ich schrammte haarscharf am Tod vorbei.
Fast ein Ende
Der Morgen des 25. Juni 1992 ist trüb. Es nieselt. Meine Tochter hat vor, gleich mit ihrem Roller zur Schule zu fahren. Ich werde mir ein Taxi zum Bahnhof nehmen, denn ich habe am Abend eine Lesung und noch eine weite Reise vor mir. Sie möchte allerdings unbedingt, dass ich mit ihr auf dem Roller fahre. Das Wetter ist zwar lausig, aber ich gebe nach und fahre mit ihr mit. Vor ungefähr drei Monaten habe ich mein Auto aufgegeben, als eine Art Deal mit den Mardern, denn ich liebe die Marderfamilie. Ich habe das Gefühl, sie sind eigentlich Untergrundkämpfer gegen den Autoverkehr. Seither versuche ich, mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln (den letzten Abenteuern der Menschheit) und Taxis durchzuschlagen. Zum Einkaufen nehme ich das Fahrrad.
Zur gleichen Zeit setzt sich Professor Edgar Biemer zum Frühstück hin. Karl Kandler, der Sozialarbeiter, richtet Kakao und Semmeln für seine Schützlinge in der Außenstelle der Heckscher-Kinderklinik auf der Rottmannshöhe her. Der Sanitäter Michael Schwedler hat in der Einsatzzentrale gerade mal eine ruhige Minute und trinkt einen Kaffee. Chirurg Klaus Höllenriegel verlässt seine Wohnung in München und steigt in sein schnelles Auto.
Am Abend zuvor war ich am Waldrand spazieren gegangen und auf einen Jägerstand geklettert. Erst oben merkte ich, wie wacklig und brüchig er war. »Wenn du hier runterfällst, brichst du dir alles«, dachte ich und weiß doch gar nicht, wie das ist, sich alles zu brechen: 42 Jahre bin ich alt und noch nie habe ich mir einen Knochen gebrochen. Zu Hause schrieb ich zwei Artikel, für die ich eigentlich noch lange Zeit hatte. Und einem Impuls folgend stellte ich für alle offenen Rechnungen Schecks aus. Sogar Briefmarken fanden sich. Noch am Abend lief ich zum Briefkasten und gab die ganze Post auf. Das hätte mich schon stutzig machen können. Aber was nützt das: Kann man aufhören zu leben, nur weil man Vorahnungen hat?
Ein Müllwagen biegt auf die Vorfahrtsstraße ein, auf der wir mit dem Roller fahren, der Fahrer sieht uns nicht. Ich schreie, Walli gibt Gas, der Reifen des Lasters streift fast meinen Arm.
Nach diesem Vorfall hätten wir umkehren können. Andererseits ist uns ja nichts passiert. Alles ging gut. Wir steigen ab, schimpfen, regen uns auf und ab. Zigarettenpause vor dem Super-GAU. Wir fahren weiter. Es ist 7:08 Uhr. Wir unterhalten uns schreiend durch die offenen Klappen unserer Helme. Ich bewundere Wallis Gelassenheit nach diesem Beinahe-Unfall. Ich denke: »Ich nehme den Zug um 8:03 Uhr nach München, dann gehe ich dort frühstücken. Und danach in die Bibliothek, das Buch von Nigel Calder über Einsteins Universum holen.«
Mein alter Freund und Anwalt Jürgen Arnold bricht jetzt in seinen Urlaub auf. Dass ich ihn sehr bald dringend brauchen werde, wissen wir beide nicht. In etwa zehn Minuten wird von diesem Tag nicht mehr viel übrig sein.
Wir passieren die Rottmannshöhe. Der Sozialarbeiter Kandler ist auf dem Weg nach Hause. Während wir die leichte Linkskurve zur Abzweigung Maxhöhe nehmen, steigt Frau M. in ihren BMW und fährt los. Sie plagen Sorgen: Ihr Mann hat Schulden und eine Geliebte. Aber an diesem Morgen fühlt sie sich leicht und frei, wird sie mir zwei Jahre später erzählen. Sie gibt Gas. Ich sehe den dunklen BMW, der vor der Kreuzung abbremst und dann plötzlich auf uns zuschießt (»Ich habe Sie nicht gesehen«, wird sie später sagen). Ein Augenblick, der in der Unendlichkeit einfriert.
»Tatsächlich«, denke ich, »es ist, wie alle immer sagen.«
Walli denkt: »Verdammt, schon wieder so ein Scheißauto, das einfach rausfährt.«
Und sie realisiert, dass sie diesmal keine Chance hat, auszuweichen. Sie schreit wütend: »Nein!« Mit hässlichem Knirschen und Krachen prallen wir aufeinander. Der Wagen hat Airbags – wir sind leider draußen.
Die Zeit hört auf zu existieren und alles liegt nebeneinander: das unglaublich tiefe Grün der Wiese, der Holzzaun – wahrscheinlich stehen Pferde dahinter –, das grauenhafte Geräusch des Metalls, Wallis Schrei: »Nein!«, mein Gedanke: »Doch!«
Meine Hände streben nach oben und ziehen den Körper mit, raus aus dem scharfen Schmerz, dem trockenen Krachen der Knochen, zwei dunklen Eulenaugen unter grauem Haar im Auto.
Verwunderung: So ist das? So beiläufig fliegt man ins Verderben? So weit hinauf? So leicht. So seltsam. Dieser Schrei – das ist meine Stimme. Später wird einer sagen: »Ein Kamikazeschrei.«
Und dann dieses Gefühl: Jetzt ist es passiert, jetzt ist alles vorbei. Schade eigentlich. Ach, was solls! Während der Körper Arme und Beine ausbreitet, der Rücken auf den Asphalt knallt und sofort wütenden Schmerz freisetzt. Ich ringe nach Luft, der ganze Organismus kämpft wie unter Wasser. Über allem dieser widerliche tierische Schrei. Mein Schrei. Über der Plexiglasklappe vor meinem Gesicht taucht das angespannte Gesicht eines Mannes auf, beugt sich weg, ich höre, wie sich jemand übergibt, ich denke – oder sage ich es? –: »Bitte gehen Sie doch etwas weiter weg!« Und irgendwo drin ein wildes Lachen über den Gedanken, jetzt auch noch vollgekotzt zu werden!
»Ich sah, dass es nicht war wie jeden Morgen«, sagt Herr Kandler, »mitten auf der Straße stand ein Auto, jemand lag auf der Straße, Leute standen drumherum. Ich dachte: ›Fährst du jetzt einfach vorbei oder sollst du halten?‹ Ich hab dann halt doch angehalten. Ich dachte, vielleicht kann ich irgendwas tun, die Ambulanz von der Rottmannshöhe aus anrufen oder so. Das sah nicht gut aus. Die Frau war so eigenartig verdreht …«
Walli liegt ganz entspannt am Auto, wie schlafend. Ich mache mir keine Sorgen um sie. Nur wenn sich ihr jemand nähert, kreische ich: »Nicht bewegen!« Denn unter den chaotischen Impulsen von Schmerz, ungläubigem Staunen – oder ist es Entsetzen? –, der Wahrnehmung von Gesichtern, die neugierig, schockiert oder interessiert über mir auftauchen und wieder wegschwimmen, liegt eine funktionierende Leitung. Durch die kommt: Bei Motorradunfällen könnte die Wirbelsäule verletzt sein. Nicht bewegen! Nicht drehen! Ein Mann beugt sich über Walli und öffnet ihren Mund. Sie hat sich die Zunge abgebissen. Er holt sie vorsichtig aus dem Rachen, sie hängt nur noch an einem schmalen Streifen und wird später wieder so angenäht, dass nichts mehr von der Verletzung bleibt.
»Jemand wollte Ihre Beine anders legen, aber Sie haben ganz bestimmt gesagt, dass er das bleiben lassen soll. Da habe ich Sie bewundert, wie stark Sie in dieser Situation waren, Sie haben keinen Augenblick die Kontrolle über die Situation verloren«, wird Herr Kandler später sagen.
Wieder ein bleiches Gesicht über meinem. Jemand sagt: »Haben Sie Schwein gehabt, dass der Rucksack unter Ihr Genick gerutscht ist, sonst wäre es gebrochen.«
Im Rucksack liegt, in ein Tuch eingewickelt, eine Figur der Göttin Kali, zusammen mit dem Buch meiner Freundin Ute Schiran, Menschenfrauen fliegen wieder.
Zwei Männerstimmen unterhalten sich über meine Zukunft, wobei von Amputation und Rollstuhl die Rede ist. Ich fühle mich unbeteiligt. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nichts von zynischen Versicherungsvertretern, von Verhandlungen mit der Krankenkasse, von der existenziellen Bedrohung. Ich arbeite freiberuflich. Obwohl die »Schuld« von Anfang an feststeht (die BMW-Fahrerin hat die Vorfahrt missachtet), bekomme ich von der Versicherung monatelang kein Geld.
Durch die Wellen von Schmerz schneidet eine Polizeisirene. Eine Kappe taucht auf und wieder weg. Ein Mann mit einer Brille beugt sich über mich, eine Stimme sagt: »Biemer. Ich bin Arzt.« Ich weiß, wer er ist. Er ist Professor, Doktor für plastische Chirurgie. Unsere Kinder sind im gleichen Alter. Ich denke: »Hab ich ein Glück! Schutzengel! Mehrere.«
»Das blutet nach innen«, sagt er.
Ich sage: »Ich spüre meine Hände und Füße.«
Er erwidert: »Ich lege Ihnen jetzt eine Kanüle, damit wir dann gleich eine Blutkonserve dranhängen können, wenn der Notarztwagen da ist.«
Er ist blass. An diesem Morgen sind irgendwie alle Gesichter so blass. Er drückt an meinem Arm herum.
»Da werden Sie nichts mehr finden!« Ich lache.
Er fragt: »Sind Sie vom Fach?«
Und ich antworte: »Ich bin Fachfrau für meinen Körper.«
Er drückt mir eine Nadel in den Hals und ich denke: »Was? Auf dem dreckigen Asphalt! Und wieso gibt mir eigentlich niemand eine Decke, merken die gar nicht, dass ich erfriere?«
Das Blaulicht der Ambulanz, besorgte Satzfetzen fliegen über mich hinweg. Ich höre Walli die Orte aufzählen, die wir passiert haben. Neben ihr kauert ihre Schulfreundin Sonja, die dazugekommen ist.
»Kümmere dich bitte um Walli«, sage ich zwischen zwei unkontrollierbaren Schreikrämpfen zu ihr. Und habe dabei das Gefühl, dass ich schon zurechtkomme.
Das Fachpublikum diskutiert: »Das überlebt die doch nie«, sagt einer.
»Schauen Sie mal die Blutlache da an!«, sagt ein anderer.
»Jetzt gehen Sie mal weg da«, sagt eine autoritäre Stimme.
»Ich war aber zuerst da«, beklagt sich einer.
»Sie ist so tapfer«, sagt eine heisere Frauenstimme.
Wie ist man tapfer? Wie ist es, wenn man nicht tapfer ist? Stirbt man dann zur Strafe gleich? Was kann man tun? Man liegt da und schreit vor Schmerz, verliert gelegentlich den Überblick, zieht sich wieder hoch, kämpft. Alles geschieht von allein.
Der Sanitäter unterhält sich mit dem Professor und überlässt ihm das medizinische Feld, während er mir die Kleidung aufschneidet. Ich höre das Geräusch der Schere und Widerstand steigt in mir auf. Schmerz ist ein kulturabhängiges Phänomen, habe ich bei Adam Smith gelesen. Ich denke: »Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass es so wehtut? Vielleicht bin ich wehleidig?«
Ich trage die maisgelbe Nicole-Farhi-Jacke meiner Schwester. Zwei Jahre habe ich gebraucht, bis sie sie mir mal geliehen hat. Jetzt sehe ich sie als life jacket.
»Die schneiden Sie jetzt nicht auf«, sage ich. Ich habe das Gefühl, da hängt jetzt mein Leben dran. Sie ist ganz blutig. Er fummelt am Reißverschluss herum und über all dem Schmerz und dem Wahnsinn muss ich lachen. Heute Morgen klemmte der Reißverschluss auch schon. Behutsam zieht er mir die Jacke aus, schneidet mir die Unterhose und das Hemd vom Leib und jetzt liege ich nackt auf der Straße und alle starren mich an. Irgendwer fragt, ob ich Bauchweh habe. Ich überlege, was Bauchweh ist und wo ich das abtrennen würde, wenn ich in die Schmerzorgie hineinfühlen müsste.
Meine Schreie halten das Publikum auf Abstand. Übergangslos kommt die Erinnerung an eine überfahrene Füchsin. Ich halte an. Ihre Zitzen sind voll Milch. Sie stirbt in meinen Armen, einmal dreht sie die Augen hoch und schaut mich an. Was wird aus ihren Jungen? Jetzt erscheint sie und legt sich unter meinen Körper, lindert den Schmerz.
Die Fahrerin des Wagens, die später »Unfallgegnerin« heißt, tappt wie eine Geistererscheinung umher.
»Als ich Ihre Schreie hörte«, sagt sie später, »hab ich gedacht, jetzt hast du einen Hund überfahren.«
Einer der Retter sagte später: »Das war doch nichts Besonderes, dass ich Ihnen geholfen hab, das hätte ich auch für einen überfahrenen Hund getan!«
»Kümmern Sie sich doch um die Frau, die hat einen Schock«, sage ich zum Sanitäter. Er antwortet fast wütend: »Um die brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen machen!«
Wahnsinn, wie lange alles dauert!
»Das halte ich jetzt nicht mehr aus!«, sage ich. Ein Mann mit einem weichen Wolljackett – später erfahre ich, dass es der Sozialarbeiter Kandler ist – kniet sich zu mir. Ich denke daran, wie sich der Asphalt unter seinem Knie anfühlt, weil ich weiß, wie er sich unter meinem Rücken anfühlt.
»Können Sie Ihr Knie vielleicht ein bisschen unter meinen Hintern schieben?«, bitte ich ihn, weil ich das Gefühl habe auseinanderzubrechen und tatsächlich bin ich da ja auseinandergebrochen. Zart schiebt er sein Knie hin. Ich halte mich an seinem Jackenaufschlag fest. Mit sanfter Stimme spricht er zu mir. Ich halte mich auch an seiner Stimme fest. Als ich zu seinem Gesicht hochschaue, ist es schon fast blau. Ich habe die Jacke so gekrallt und gedreht, dass er keine Luft mehr bekommt.
»Jetzt hätte ich Sie beinahe erwürgt«, sage ich.
»Das macht doch nichts«, antwortet er freundlich und ich muss schon wieder lachen. Man erwürgt einen und der sagt: »Das macht doch nichts.« Köstlich. Ach, das Leben ist lustig. Euphorie zieht durch meine Poren. Die Stimme von Herrn Kandler schaukelt mich wie eine Hängematte. Ich bin geborgen und ruhig.
Plötzlich sehe ich die Unfallstelle von oben. Da stehen zwei Krankenwagen, dort liegt Walli, ein Mann und Sonja knien bei ihr. Sie redet. Sie zählt immer noch die Orte auf, durch die wir gefahren sind: Ambach, Holzhausen, Münsing, Weipertshausen … Dann stockt sie und fängt wieder von vorn an. Ich denke von da oben rein: »Allmannshausen.« Aber das Wort kommt nicht. Später wird Walli erzählen, dass ihre Erinnerung in Weipertshausen aufhört. Tatsächlich ist der Unfall zwei Kilometer weiter passiert. Diese zwei Kilometer am »Höllgraben« verschwinden aus ihrem Leben.
Ich sehe, wie Polizisten den Verkehr über die Fahrradspur umleiten. Von dort, wo ich liege, kann ich das allerdings gar nicht sehen. Der Polizist im Einsatz bestätigt mir später meine Wahrnehmung.