17,99 €
Eine neue Sprache für die Grundbegriffe des Christentums
Entlang von 24 Schlüsselbegriffen legt Christopher Zarnow zentrale Inhalte des christlichen Glaubens aus. Sein Buch lädt ein, die Ideen des Christentums neu zu entdecken – und mit ihnen den Reichtum und die lebensorientierende Kraft der Religion überhaupt.
Das Christentum ist traditionell eine Religion der großen Worte. Manchen erscheinen sie zu groß in spirituell eher wortkargen Zeiten. Aber ob vom »Reich Gottes« oder dem »ewigen Leben«, von »Auferstehung« oder »Erlösung« die Rede ist – die Leitbegriffe des Christentums sind dem Leben heute näher, als man oft vermutet. Die pointierten Essays dieses Bandes erschließen sie in ihrer elementaren Bedeutung und beziehen sei auf die religiösen Fragen und Sehnsüchte unserer Zeit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 219
Veröffentlichungsjahr: 2025
Was meinen Christinnen und Christen, wenn sie sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat oder Jesus am Kreuz für unsere Sünden starb? Wie lassen sich diese Vorstellungen mit unserem heutigen, säkularen Denken vereinbaren?
In 24 Essays erläutert Christopher Zarnow die großen Worte des christlichen Glaubens wie »Schöpfung«, »Erlösung« oder »Ewiges Leben« und übersetzt sie für Menschen des 21. Jahrhunderts.
Dabei wird deutlich, wie die christlichen Glaubensworte in ihrer symbolischen Kraft auch heute noch Lebensmut vermitteln und Orientierung geben können.
Christopher Zarnow ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB). Er forscht zu Fragen der theologischen Anthropologie, zur urbanen Religionskultur sowie zur Didaktik der christlichen Glaubenslehre.
Christopher Zarnow
WER’S GLAUBT, WIRD SELIG?
Was uns das Christentum heute noch sagen kann
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.
Copyright © 2025 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: © liuzishan – Adobe Stock.com
ISBN 978-3-641-31493-4V001
www.gtvh.de
In dankbarer Erinnerung an Holger Zarnow
Inhalt
Vorwort
ZWEIFEL
SEHNSUCHT
WERTE
RELIGION
GOTT
SCHÖPFUNG
SEGEN
THEODIZEE
INNERER MENSCH
DEMUT
SÜNDE
ERLÖSUNG
JESUS CHRISTUS
KREUZ
AUFERSTEHUNG
DREIEINIGKEIT
HEILIGER GEIST
REICH GOTTES
KIRCHE
ABENDMAHL
GLAUBEN
NÄCHSTENLIEBE
HOFFNUNG
EWIGES LEBEN
Anmerkungen
Literatur
Dank
Vorwort
Die »großen Worte«, in denen die christliche Religion überliefert ist, sind für viele Menschen blass, teilweise sogar unverständlich geworden. Sollen sie uns heute noch etwas zu sagen haben, müssen sie neu übersetzt werden. Dabei geht es nicht allein um die Frage, was ein Begriff wie »Sünde«, »Erlösung« oder »ewiges Leben« theologisch ›eigentlich‹ einmal bedeutet hat. Viel wichtiger ist, diese und andere Begriffe aus dem Bereich der christlichen Religion so auszulegen, dass sie in ihrer konkreten Lebensrelevanz einsichtig werden. Es muss deutlich werden, wie sie Orientierung geben und dabei helfen können, das Leben im Hier und Heute anders und besser zu verstehen.
Das vorliegende Buch versucht genau das. Es greift 24 religiöse Begriffe auf mit dem Ziel, sie heutigen Leserinnen und Lesern theologisch verständlich zu machen und in ihrer möglichen existenziellen Bedeutung nahezubringen. Einige dieser Begriffe gehören zum Kernbereich der christlichen Glaubensüberlieferung (wie »Schöpfung«, »Reich Gottes« oder »Auferstehung«), andere sind eher religiös-allgemeiner Art (wie »Sehnsucht« oder »Zweifel«). Letztere wurden mitaufgenommen, weil sie exemplarisch für den Zugang stehen, den heutige Menschen zur Welt der Religion haben.
Ich habe mich beim Schreiben der Artikel um einen Stil bemüht, der möglichst allgemeinverständlich ist, ohne theologisch banal zu sein. Ich bin mir des doppelten Risikos bewusst, das ich damit eingehe: Vertreterinnen und Vertreter der theologischen Zunft könnten einige Darstellungen für sehr knapp und vereinfachend halten. Und für theologische Laien ist manches vielleicht immer noch etwas kompliziert. Mein Ziel war jedenfalls, so elementar wie möglich zu schreiben, ohne dass es inhaltlich flach oder gar falsch wird.
Über die Hälfte der Texte ist bereits vorab in der Zeitschrift »Praxis Gemeindepädagogik« erschienen. Sie wurden für das vorliegende Buch allerdings noch einmal stärker für eine Zielgruppe angepasst, die kein theologisches oder religionspädagogisches Vorwissen hat. Die Leserin, die ich mir beim Schreiben vorgestellt habe, hat einen – vielleicht nur losen – Draht zur Kirche, aber beruflich sonst nichts weiter mit der akademischen Theologie zu tun.
Noch ein Wort zur praktischen Nutzung des Buchs: Die einzelnen Texte lassen sich in beliebiger Reihenfolge lesen. Ihre blockweise Anordnung ist gleichwohl an klassischen Themenfeldern der christlichen Glaubenslehre orientiert. Die Artikel können daher auch als eine elementarisierende Einführung in diese Disziplin im schulischen oder gemeindlichen Kontext verwendet werden.
Ob die großen Worte des Christentums uns heute noch etwas zu sagen haben, muss am Ende jede und jeder für sich selbst entscheiden. Die Art und Weise, in der ein einzelner Mensch heute glaubt oder nach einem religiösen Sinn für sich sucht, folgt keinem kirchlich oder gar dogmatisch festgelegten Schema mehr. Aber die in den folgenden Texten ausgelegten Wörter können die eigene Lebensdeutung inspirieren, vertiefen, manchmal vielleicht auch irritieren. Die großen und teilweise schweren Worte des Christentums so leicht zu machen, dass sie gleichsam fliegen lernen – wie der Wal auf dem Buchdeckel –, wäre wohl sehr viel erwartet. Aber vielleicht können die Texte dabei helfen, den Sinn in höhere, ›himmlische‹ Sphären zu erheben. Aus den Glaubensgedanken, die dorthin zielen, haben Menschen über mehr als zwei Jahrtausende hinweg Orientierung gewonnen und Mut geschöpft. Wenn Leserinnen und Lesern dieses Buchs hier Anregungen auch für ihr eigene Lebensdeutung finden, würde mich das freuen.
ZWEIFEL
»Im Zweifel für den Zweifel« – so dichtet Dirk von Lowtzow, Sänger der deutschen Indie-Rock-Band Tocotronic in dem gleichnamigen Lied (zu finden auf der 2010 erschienenen Platte »Schall & Wahn«) und preist darin eine Haltung, die sich aller falschen Eindeutigkeit verweigert. Anstatt die Dinge einfach hinzunehmen, Meinungen und Parolen abzunicken, bricht er eine Lanze für das Zaudern, den Zorn und »die Pubertät«, wie er singt. Er beschwört (in diesem und in anderen Liedern der Band) den Trotz, die Verweigerung und überhaupt das Dagegen-Sein.
Das eigene Zweifeln zu bejahen, gewissermaßen zu umarmen, dem Zweifel den Vorzug gegenüber allen vordergründigen Gewissheiten zu geben: Das ist eine paradoxe, heroische – und darin auch ein wenig lächerliche Geste. Der Zweifel ist ja kein Zustand, in dem sich (gut) leben ließe. Wer schon einmal Bekanntschaft mit ihm gemacht hat, die und der weiß: Er nervt; er nagt an einem; man will ihn, wenn man ihn hat, wieder loswerden. Der Zweifel drängt auf seine Überwindung. »Für« den Zweifel zu sein – wie man etwa für eine Fußballmannschaft oder die soziale Marktwirtschaft sein kann – ist ein Widerspruch in sich selbst.
Aber gerade das Spiel mit diesem Widerspruch verleiht dem Lied »Im Zweifel für den Zweifel« seinen Witz. Der Zweifel wird von Dirk von Lowtzow zum künstlerischen und politischen Programm erhoben, zur Bastion gegen eine falsche und flache »Vereindeutigung der Welt«.1 Im Rückblick hat das etwas Prophetisches. Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Liedes breitete sich das Corona-Virus aus, und der Zweifel wurde zu einer tagespolitisch bedeutsamen Größe. Auf der einen Seite standen die Anzweifler des pandemischen Geschehens, deren Spektrum bis hin zu den handfesten Corona-Leugnerinnen reichte. Auf der anderen Seite konnte man beobachten, wie ein Pathos der Entschlossenheit und des politischen Durchgreifens Elemente des Zweifelns und Zögerns, die ja wesentlich zum demokratischen Gespräch dazugehören, ins Abseits drängten. Wer schnell und entschlossen handeln muss, kann keine Zauderer brauchen. Aber ohne die Stimmen der notorischen Zweiflerinnen und Zauderer – auch das zeigte sich – werden allzu schnell falsche Eindeutigkeiten beschworen.
Im Wort Zweifel steckt die Zahl 2. Wer zweifelt, sitzt zwischen (mindestens) zwei Stühlen. Dabei hat der Zweifel durchaus unterschiedliche Gesichter. Da wäre einmal der skeptische Zweifel zu nennen, den schon die alten Griechen kannten. Die Skepsis ist eine philosophische Position, die nicht mit letzten Antworten rechnet. Versuchten andere Philosophen durch die Welt der Erscheinungen hindurch auf letzte Gründe zu stoßen, in denen sie das Fundament allen Wissens zu finden hofften, erklärten die Skeptiker dieses Vorhaben für ein aussichtsloses Unterfangen. Skeptiker verstehen die Wirklichkeit nach dem Zwiebelprinzip: Die Suche nach Erkenntnis führt nicht zu einem festen Kern, der sich unter der Oberfläche des Wissens verbirgt, sondern stellt sich als ein endloses Abheben von Schichten dar, das niemals auf festen Grund stößt.
Das Gegenstück dazu ist der methodische Zweifel, der sich philosophiegeschichtlich mit dem Namen von René Descartes verbindet. Descartes erhebt den Zweifel zum philosophischen Programm – und hat damit der modernen, auf der Bildung von Hypothesen aufbauenden Wissenschaft den Weg geebnet. Alles Wissen, das nur einen Hauch von Unsicherheit aufweist, will er nicht als solches gelten lassen. Daher mustert er unterschiedliche Erkenntnisquellen durch (wie etwa die körperlichen Sinne oder unser bildliches Vorstellungsvermögen), um zu sehen, ob sie uns unumstößliche Gewissheit vermitteln können. Als Ergebnis dieser Durchmusterung stellt er fest: All unsere vermeintlichen Gewissheiten sind anzweifelbar – selbst die Gewissheit, wach zu sein und sich nicht im Zustand eines Dauerschlafs zu befinden. Nur eine einzige Gewissheit ist allem Zweifel enthoben: dass ich mental aktiv bin bzw. denke, wenn ich auf solche Weise zweifle. So kommt Descartes zu seinem berühmten Satz: Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum). Als letzte, unbezweifelbare Gewissheit erweist sich das denkende Ich.
Descartes lebte zur Zeit des 30-jährigen Kriegs, der im 17. Jahrhundert in Europa wütete und ganze Landstriche verwüstete. Sein Streben nach letzten Gewissheiten ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Zweihundert Jahre später greift der dänische Philosoph und Literat Sören Kierkegaard das Thema noch einmal anders auf. Ihn interessiert der Zweifel vor allem dann, wenn er sich nicht auf äußere Dinge, sondern auf das eigene Selbst bezieht. Dieser existenzielle Zweifel verdichtet sich im Phänomen der Verzweiflung. Kierkegaard kennt zwei Formen davon: den Versuch, verzweifelt man selbst sein zu wollen – und den Versuch, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen. Im ersten Fall jagt man einem Leben hinterher, das nicht das eigene ist. Im zweiten versucht man, vor dem eigenen Schicksal zu entfliehen, und lebt es gerade auf solche Weise aus.
Die Pathologien der Verzweiflung, die Kierkegaard in seinem 1849 erschienenen Buch »Die Krankheit zum Tode« beschreibt, haben viel Ähnlichkeit mit dem Krankheitsbild der Depression. Erst in jüngster Zeit haben sich klinische Psychologen intensiv mit dem Phänomen des Grübelns beschäftigt, das nicht nur mit depressiven Verstimmungen einhergeht, sondern diese auch begünstigen und verstärken kann. Auch und gerade aus religionspsychologischer Sicht ist das ein interessanter Befund, der Fragen aufwirft, etwa: Neigen religiöse Geister besonders zum Grübeln? Wo ist die Grenze zwischen Tiefsinnigkeit und einem ergebnislosen und darin dysfunktionalen Wälzen von Sinnfragen? Wie sähe ein vom Grübeln befreiter Glaube aus?
Das Thema des Zweifels bildet auch den Ausgangspunkt des Buches »Einführung in das Christentum«, das Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., im Jahr 1968 veröffentlicht hat. (Er war damals 41 Jahre alt und damit nur zwei Jahre älter als Dirk von Lowtzow bei Erscheinen von »Schall & Wahn«.) Ratzinger interessiert sich für den Zweifel als eine Grundhaltung, die heutige Menschen gegenüber den Lehren der Kirche haben. Typisch für die gegenwärtige Situation sei dabei, dass nicht nur einzelne überlieferte Dogmen – wie die Annahme, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde – bezweifelt werden. Als zweifelhaft erscheint vielmehr bereits der Anspruch der christlichen Religion, überhaupt etwas von Bedeutung, etwas Relevantes für die heutige Lebenssituation auszusagen. Der moderne Mensch steht gleichsam mit einem großen Fragezeichen im Kopf vor der Welt des kirchlich überlieferten Glaubens – wenn er zu dieser überhaupt noch Berührungspunkte hat. Zweifel, das bedeutet hier in der Tat eine Ent-Zwei-ung: Die überlieferten Wahrheiten des christlichen Glaubens und das profane Wirklichkeitsverständnis fallen in zwei mehr oder weniger unabhängig voneinander existierende Bereiche auseinander. Infolge dieser Entfremdung ist der Zweifel zum Normalfall in Sachen Kirche und Christentum geworden. Für Menschen, deren Weltbild durch empirische Wissenschaft, Forschung und Technik geprägt ist, klingen die Worte der überlieferten Glaubenstradition so, als würden sie von weither, wie aus einer anderen Zeit hinüberwehen. Ob sie überhaupt noch etwas bedeuten können und wenn ja was, ist offen.
Ratzinger ist nicht der einzige Theologe, der sich mit dem Zweifel als Grundhaltung des modernen Menschen gegenüber der Welt der Religion auseinandergesetzt hat. Das Nachdenken über das Verhältnis, ja, das Ineinander von Glaube und Zweifel gehört vielmehr zu den zentralen Themen der Theologie des 20. Jahrhunderts. Auf evangelischer Seite sticht hier besonders Paul Tillich hervor. Tillich, der sich selbst als ein Denker auf der Grenze zwischen Philosophie und Religion begriff, versteht das Wesen des Zweifels dabei als in sich zutiefst paradox. Denn der Ernst des Zweifels ist Ausdruck einer existenziellen Wahrhaftigkeit. Wer ernsthaft zweifelt, erweist der Wahrheit Ehre – und leistet damit, wenn Gott selbst als die absolute Wahrheit angesehen wird, letztlich einen Gottesdienst. Das geht für Tillich so weit, dass sich hinter dem Zweifel an Gott eine noch tiefere Form des Glaubens verbergen kann.
Eng damit verbunden entwirft Tillich in Analogie zu Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders eine Lehre von der Rechtfertigung des Zweiflers. Rechtfertigungsglaube bei Luther bedeutet: sich von Gott angenommen und als gerecht angesehen zu wissen, gerade im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeiten. Vorausgesetzt ist hier, dass sich der Mensch am Ende aller Tage vor Gott als seinem Richter verantworten muss. Seine Rechtfertigung kommt einem unverdienten Freispruch gleich, der sich allein der Barmherzigkeit seines göttlichen Richters verdankt.
Paul Tillich knüpft an diesen Vorstellungskomplex an, verleiht ihm aber einen modernen Anstrich. Denn nicht mehr das Bewusstsein ethisch-religiöser Schuld, sondern Erfahrungen der Sinnlosigkeit und Leere stehen im Zentrum des modernen Lebensgefühls. Das erfordert dann aber auch, die christliche Heilsbotschaft entsprechend neu auszurichten. Die religiöse Schlüsselfrage unserer Zeit lautet eben nicht mehr: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?«, sondern: Wie kann der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Daseins existenziell überwunden werden? Tillichs Antwort lautet: Nur durch den Akt eines existenziellen Mutes, genauer: durch den Akt einer Selbstbejahung des Lebens, der die Abgründe und Widersprüche des Daseins nicht leugnet, aber in sich aufnimmt und durch allen Zweifel hindurch neue Lebenszuversicht vermittelt. Als religiöse Quelle eines solchen existenziellen »Mutes zum Sein« (Courage to Be) will Tillich den »Glauben« (Faith) verstanden wissen. Anders gewendet heißt das: Soll der christliche Begriff des »Glaubens« dem modernen Menschen überhaupt noch etwas bedeuten können, dann ist er als persönliche Quelle der Selbstbejahung und des Lebensmutes auszulegen.
»Im Zweifel für den Zweifel«: In diesen Refrain hätte der protestantische Theologe vermutlich gut miteinstimmen können. Er hätte diese Zeilen allerdings wohl nicht als Loblied auf einen Skeptizismus verstanden, der alles prinzipiell infrage stellt, sondern als Ausdruck einer existenziellen Haltung – einer Haltung, die dem Zweifel zwar nicht ausweicht, ihn aber auch nicht das letzte Wort sein lässt, sondern in einer vertieften Form des Glaubensmutes aufgehoben weiß. Das wäre es dann wohl auch in etwa, was heute unter dem alten und schönen Ausdruck Gottvertrauen vorzustellen wäre.
SEHNSUCHT
»I have climbed highest mountains, I have run through the fields only to be with you […] But I still haven’t found what I’m looking for.« Wie kaum eine andere Band der 1980er-Jahre haben U2 dieses Gefühl beschworen: Sehnsucht. Immer wieder geht es in ihren Liedern um das rastlose Suchen, das ungestillte Verlangen (»Desire«), das Ankommen-Wollen und doch nicht -Können (»With or Without you«). Schmachtfetzen sind das allesamt, mit relativ einfachen musikalischen Mitteln gemacht und doch höchst effektvoll auf den Punkt gebracht. Unzählige andere Pop-Songs variieren dasselbe Thema – ob »Sweet Dreams« von den Eurythmics (»I travel the world and the seven seas, everybody’s looking for something«) oder der deutsche Schlager »Verdammte Sehnsucht« von den Amigos. Oft – sehr oft – geht es um das Motiv unerfüllter Liebe. Aber darin erschöpft sich die Sehnsucht nicht. Wenn Bono, der Sänger von U2, singt, dass er noch nicht gefunden hat, wonach er sucht, ist das eine doppeldeutige Aussage: Es kann sein, dass er einen vermissten Gegenstand oder eine gesuchte Person noch nicht gefunden hat. Die Zeile kann aber auch so gedeutet werden, dass er noch gar nicht herausgefunden hat, was genau es eigentlich ist, worauf sich sein rastloses Suchen bezieht.
Die Sehnsucht baut eine Spannung im Inneren auf. Sie ist wie ein Hinweisschild auf Größeres, das noch kommen soll. Sie versetzt in Bewegung, lässt Menschen höchste Berge erklimmen und die sieben Weltmeere durchqueren. Von solch einer Suchbewegung waren auch schon Menschen früherer Tage angetrieben. »Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« (Lukas 18,18) Voller Sehnsucht wendet sich ein wohlhabender junger Mann (in der Lutherbibel als »reicher Jüngling« bezeichnet) an Jesus. Immerhin hat er ein Wort dafür, wonach er sucht: ewiges Leben. Das würde uns heute wahrscheinlich nicht mehr so leicht über die Lippen gehen. Aber es benennt sehr genau, dass die Sehnsucht auf etwas zielt und uns mit etwas verbindet, das über den Horizont unserer eigenen Möglichkeiten hinausgeht.
Ein paar hundert Jahre nach der Begegnung zwischen Jesus und dem reichen Jüngling ist ein anderer junger Mann aus Nordafrika von rastloser Unruhe getrieben. Der spätere Kirchenvater Augustin erfindet mit seinen »Bekenntnissen« eine eigene Buchgattung: die religiöse Autobiographie. Hier beschreibt er, wie er in seinen jungen Jahren von Ehrgeiz und Geltungsstreben zerfressen war und erst über einen langen Weg, der mehrere bekehrungsartige Erlebnisse in sich einschloss, inneren Frieden fand. Gleich zu Anfang des Buchs finden sich die berühmten Worte: »Ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir.«2 Hier ist die Verbindung hergestellt: Die Sehnsucht des menschlichen Herzens weist letztlich über den Bereich der Immanenz hinaus. Daher unterscheidet sie sich auch von einem bloßen Wunsch, wie Franz Jalics, Mitglied des Jesuitenordens und Autor geistlicher Schriften ausführt: »Der Wunsch will besitzen, Ansprüche befrieden und Ziele erreichen, die zu unserer begrenzten Welt gehören. […] Die Sehnsucht hat eine andere Qualität. Ihre Quelle liegt tiefer. Sie hat ihren Ursprung in unserem Seelengrund und richtet sich immer auf unsere definitive Heimat, auf das ewige Leben, auf Gott.«3
Die Sehnsucht des menschlichen Herzens ist eine Art Richtungssinn fürs Göttliche. Sie verbindet uns mit den tiefsten religiösen Quellen unseres Selbst. Aber vor der Einkehr in die Ruhe des göttlichen Hafens ist die menschliche Seele zahlreichen Stürmen auf hoher See ausgesetzt. Unruhig ist unser Herz, wie Augustin sagt, in der Tat: permanente Zeitknappheit, Arbeitsüberlastung, der Wunsch nach einer guten Work-Life-Balance, der Kampf mit den inneren Dämonen, dauerhafter Selbstoptimierungsdruck, die Erfahrung gescheiterter Beziehungen … Wenn nur endlich dieses Projekt geschafft ist, dann – ja, was dann eigentlich genau?
Auf die Suche des modernen Menschen nach Sinn und Seelenfrieden reagiert ein hart umkämpfter Markt von Glücksphilosophien, psychologischen Beratungsangeboten, Lebenskunst- und Selbstfindungsunterweisungen. Längst hat die traditionelle Religion kein Monopol mehr auf Sinnstiftungs- und Seelenrettungsangebote. Auf ihrer Suche nach letztem Halt wird die Seele von allerlei höchst irdischen und ›vorletzten‹ Glücksverlockungen abgefangen. Wo das menschliche Herz nicht zur Ruhe gelangt, kann es immerhin Zerstreuung finden, sich ablenken und umlenken lassen von jenem Sehnen, das tief in ihm wohnt, hin auf erreichbare Sehnsuchtsziele mittlerer Reichweite. Nicht nur die Tourismusbranche wirbt mit Paradiesversprechungen. Wie an kaum einer anderen Stelle erscheint der spätmoderne Mensch ansprechbar, aber auch verführbar zu sein wie bei seinen Sehnsüchten nach Erfüllung und Erlösung. »Ich habe immer darauf gewartet, dass mein Leben endlich anfängt, aber es ging einfach nur weiter« – die Worte des in die Jahre gekommenen Gelegenheitsarbeiters und Hobbymusikers Buddy aus dem Film »Das Leben ist eine Baustelle« aus dem Jahr 1997 bringen es auf den Punkt: Dem Leben wohnt eine eigene Tendenz auf seine Erfüllung inne – ganz unabhängig davon, ob und wenn ja wie sie an ihr Ziel gelangt.
Wie bei kaum einem anderen Phänomen unserer Gegenwartskultur sind beim Thema »Sehnsucht« die Bezüge zur Religion mit Händen zu greifen – ob in der romantischen Liebeskomödie, im Coming-of-Age-Film, in der zeitgenössischen Poesie oder Literatur. In der Sehnsucht nach Unendlichkeit, nach Weite, nach »Mehr« zeigt sich, wie unstillbar die religiöse Frage im Wesen des Menschen angelegt ist. Umso merkwürdiger ist es vor diesem Hintergrund, dass das Thema »Sehnsucht« im klassischen Lehrgebäude der Theologie, der christlichen Dogmatik, so gut wie keine Rolle spielt. Der Grund dafür liegt in deren konzeptionellem Aufbau. Die alten Dogmatiken, die im Gefolge der Reformation entstanden sind, behandeln die Themen der christlichen Glaubenslehre nicht aus der Sicht des Menschen, sondern aus quasi-göttlicher Perspektive ›von oben‹: Gott hat die Welt geschaffen; dann haben die Menschen den Sündenfall begangen und sind aus göttlicher Sicht verloren; schließlich sendet Gott seinen Sohn, um durch seinen Tod am Kreuz die Schuld der Menschen zu sühnen und das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder geradezurücken. Dass der gefallene Mensch dabei überhaupt gerettet und aus seinem Zustand erlöst werden will, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt, aber nicht eigens thematisiert. Auch das inhaltliche Zentrum des christlichen Erlösungsdramas wird ganz aus der Vogelperspektive erzählt. Durch das Heilswerk Jesu Christi wird die Entfremdung, die zwischen Gott und Mensch bestand, überwunden. Aber was bedeutet dieses »Heilswerk« ganz persönlich für das eigene Leben? Und inwiefern knüpfen die Aussagen der Dogmatiker dabei überhaupt an die religiösen Fragen und Sehnsüchte an, die Menschen tatsächlich umtreiben?
Es gibt zumindest einen Ort im Aufriss der traditionellen Glaubenslehre, an dem dieser Zusammenhang annäherungsweise aufleuchtet – in der Lehre von der Buße. Hier, wo es gilt, eine Art innere Umkehrbewegung zu beschreiben, die das bußfertige Herz erfasst, zeigen die Theologen ein Gespür für die Psychologie der Religion. Das gilt in besonderer Weise für das Bußverständnis Martin Luthers. Nach Luther besteht die Buße aus zwei Teilen bzw. Phasen. Am Anfang steht das erschrockene Gewissen. Plötzlich gehen einem die Augen über die Falschheit und Verkehrtheit des eigenen Tuns und Trachtens auf. Nach Luther besteht genau hierin die eigentliche Funktion der biblischen Gebote: Sie sollen solche Augenöffner sein, durch die sich der Mensch vor Gott in seiner Sündhaftigkeit erkennt. Würde es allein bei dieser Erfahrung bleiben, würde der Mensch allerdings, wie Luther psychologisch tiefgründig formuliert, in »Verzweiflung und Hass wider Gott«4 verharren. Wer sich nur angeklagt und niedergeworfen fühlt, ohne dem etwas Positives entgegensetzen zu können, gerät in einen destruktiven Strudel der Selbstabwertung.
Um eine wirkliche innere Umkehr zu bewirken, muss daher, so Luther, ein zweites Stück hinzukommen, nämlich »die Verheißung oder das Evangelium, welches das erschrockene Gewissen sicher macht und aufrichtet, dass es den guten Vorsatz fasse«5. Die Gebotsworte des Gesetzes führen dem Menschen seine Sündhaftigkeit vor Augen. Sie werfen ihn nieder. Das Wort des Evangeliums hat genau die gegenteilige Aufgabe: Es richtet den so Niedergeworfenen wieder auf und spricht ihm Gottes Vergebung zu. Es eröffnet ihm eine neue Perspektive, richtet ihn innerlich neu aus, so dass er in die Lage gesetzt wird, den »guten Vorsatz« zu fassen, nämlich: es von nun an anders und besser zu machen. Schon der aufrichtige Wunsch nach Veränderung ist daher als ein erstes Werk der Gnade zu begreifen, wie dies in den Worten des biblischen Psalms zum Ausdruck kommt: »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist« (Psalm 51,10).
Luthers Bußtheologie lässt eine tiefe Sensibilität für die religiösen Nöte und Hoffnungen des menschlichen Herzens erkennen. Zugleich zeigt sie aber auch die Grenzen, in denen Fragen religiöser Sehnsucht traditionell theologisch verhandelt werden. Die Unruhe des menschlichen Herzens wird als Ausdruck seiner sündhaften Verkehrtheit gedeutet, die Sehnsucht nach Veränderung und Erneuerung in das bußtheologische Schema von Gesetz und Evangelium gepresst. Das mag zu Luthers Zeiten vielleicht plausibel gewesen sein. Heute ist es das nicht. Die Sehnsucht nach Änderung, Erneuerung, ja, nach Erlösung, muss nicht zwingend aus einem Akt der inneren Selbstzerfleischung hervorgehen. Sie kann auch durch positive Bilder, etwa durch die Begegnung mit der Kunst geweckt werden. In seinem Gedicht »Archaïscher Torso Apollos« beschreibt der Dichter Rainer Maria Rilke seine Konfrontation mit vollkommener, wenn auch nur fragmentarisch greifbarer Schönheit. Das Gedicht endet mit den Worten: »Du musst dein Leben ändern.« Im Sinne Rilkes müsste man sagen: Es gibt Erfahrungen, die gehen uns so unter die Haut, dass unser ganzes Leben eine Antwort darauf geben will.
Es gehört zu den Charakteristika religiöser Sehnsucht, dass sich der ersehnte Zustand mit unterschiedlichen Begriffen füllen lässt: »Da wohnt ein Sehnen tief ins uns«, heißt es in einem neueren geistlichen Lied von Anne Quigley (deutscher Text: Eugen Eckert), »o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe« – die Reihe ließe sich fortsetzen: nach Sinn, Fülle, Zuversicht, Friede, Gerechtigkeit, Erlösung … Diese Offenheit bzw. Unbestimmtheit liegt in der Sache selbst begründet. Der Soziologie und Kulturphilosoph Georg Simmel schreibt über den Begriff des »Seelenheils«, den er als Inbegriff und Fluchtpunkt menschlicher Sehnsüchte sieht: »Nicht eigentlich irgendein angebbares Gut meinen wir […]; vielmehr das ist der ganze Inhalt dieses Begriffs, dass er den Einheits- und Treffpunkt all jener Bestrebungen und Regungen bedeutet: er besteht nicht für sich als etwas, worauf unsere Sehnsucht sich richte, sondern er ist der Name für den Ort unserer Sehnsüchte.«6 Anders gesagt: Dasjenige, wonach sich die Seele im Tiefsten sehnt, ist größer, umfassender und unbegreiflicher, als durch Worte definiert werden kann. Da wohnt ein Sehnen tief in uns nach Dir, o Gott – das ist ein Satz, den man mitsprechen, mitsingen kann, selbst wenn man an der Existenz des so besungenen Gottes zweifelt oder mit den Worten des christlichen Glaubensbekenntnisses hadert. Es sind die Lieder, die gesungen, und die Gebete, die gemurmelt werden, in denen die Religion ihre eigene Sprache findet – die Sprache der Sehnsucht.
WERTE
»Weil ich meinem Kind christliche Werte vermitteln will« – so oder so ähnlich lautet die wiederkehrende Antwort, wenn Eltern von der Pastorin nach den Gründen gefragt werden, wieso sie ihr Kind taufen lassen wollen. Näher nachgefragt, an welche Werte genau sie dabei denken, werden Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Solidarität mit Schwächeren oder auch die Fähigkeit genannt, sich selbst zurücknehmen zu können. Wo die traditionellen Glaubensinhalte des Christentums eher unzugänglich und weit weg vom eigenen Leben erscheinen – wie etwa die Vorstellung eines stellvertretenden Opfertodes des Gottessohnes auf Golgatha –, erscheint der Bezug auf »christliche Werte« unmittelbar evident. Im praktischen Handeln, nicht in komplizierten theologischen Formeln, gewinnt das Christentum an Plausibilität.
Der Begriff des Wertes entspringt ursprünglich der ökonomischen Sphäre. Bereits Aristoteles unterschied zwischen dem Gebrauchs- und dem Tauschwert einer Sache, wie »etwa bei einem Schuh einerseits das Anziehen, andererseits seine Verwendung als Tauschobjekt«7. Zu einer im engeren Sinn ethischen Kategorie wurde der Wertbegriff dann erst im 19. Jahrhundert. Die sogenannte »Wertethik« war dabei wesentlich durch das Anliegen geleitet, den »Formalismus« der Ethik Immanuel Kants zu überwinden. Der Königsberger Philosoph hatte das Prinzip aller Ethik im berühmten kategorischen Imperativ zusammengefasst: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«8 Auffällig ist an dieser Formel, dass Kant keine konkreten sittlichen Forderungen oder Gebote, sondern ein abstraktes Prinzip ins Zentrum seiner Ethik stellt. Es besteht im Wesentlichen in einer Art Test- oder Prüfverfahren. Als Frage formuliert: ›Welche Regel bestätigst du durch dein Tun – und taugt diese Regel zum Aufbau der moralischen Gemeinschaft, deren Teil du bist?‹ Die ganze Ethik schnurrt auf eine Selbstüberprüfung der eigenen Gesinnung zusammen.