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Werkzeuge der Historiker:innen E-Book

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Beschreibung

Der sichere Umgang mit Quellen ist fundamentale Voraussetzung für jeden, der sich mit dem Mittelalter beschäftigen möchte. Und doch gibt es keine systematische Einführung in die sogenannten "Grundwissenschaften". Thomas Wozniak legt nun mit seinem Autor:innenteam den zweiten Band der neuen Reihe "Werkzeuge der Historiker" vor. Anhand konkreter Beispiele wird unter anderen in die Paläographie, Kodikologie und Sphragistik eingeführt. Es wird aufgezeigt, wie die jeweiligen Quellen gefunden, gesammelt und herausgegeben werden. Und auch über weiterführende Quellennutzung, wie etwa die Genealogie oder Chronologie, informiert der Band. Die wissenschaftlichen Disziplinen werden von Expert:innen vorgestellt, indem Forschungsstand, Methoden und weiterführende Literatur sowie Links gut lesbar präsentiert werden. Ein absolutes Muss für jeden historisch Interessierten.

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Werkzeuge der Historiker:innen

Umschlagabbildung: Urkunde Ottos I. von 972 (MGH D O I. 411) Stiftsarchiv St. Gallen: StiAPf, Urk. 11.07.972-a (http://scope.stiftsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=140)

Thomas Wozniak (Hrsg.)

Werkzeuge der Historiker:innen

Mittelalter

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040954-5

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-040955-2

epub: ISBN 978-3-17-040956-9

Der sichere Umgang mit Quellen ist fundamentale Voraussetzung für jeden, der sich mit dem Mittelalter beschäftigen möchte. Und doch gibt es keine systematische Einführung in die sogenannten "Grundwissenschaften".

Thomas Wozniak legt nun mit seinem Autor:innenteam den zweiten Band der neuen Reihe "Werkzeuge der Historiker" vor. Anhand konkreter Beispiele wird unter anderen in die Paläographie, Kodikologie und Sphragistik eingeführt. Es wird aufgezeigt, wie die jeweiligen Quellen gefunden, gesammelt und herausgegeben werden. Und auch über weiterführende Quellennutzung, wie etwa die Genealogie oder Chronologie, informiert der Band. Die wissenschaftlichen Disziplinen werden von Expert:innen vorgestellt, indem Forschungsstand, Methoden und weiterführende Literatur sowie Links gut lesbar präsentiert werden.

Ein absolutes Muss für jeden historisch Interessierten.

apl. Prof. Thomas Wozniak lehrt und forscht an der Universität Tübingen.

Inhalt

Vorwort

1  Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften des Mittelalters

Thomas Wozniak

1.1  Historische Hilfs- und Grundwissenschaften

1.2  Zu den historischen Quellen

1.3  Zeit der mittelalterlichen Geschichte

1.4  Der Raum der mittelalterlichen Geschichte

1.5  Literatur

1.5.1  Einführungen und Überblickswerke

1.5.2  Spezialliteratur, Publikationsreihen und Zeitschriften

1.5.3  Digitale Hilfsmittel

I.  Quellen und Hilfswissenschaften

2  Urkunden: Diplomatik

Anja Thaller

2.1  Einleitung

2.2  Gegenstand, Einteilung und Quellenwert

2.3  Grundbegriffe

2.4  Forschungsgeschichte

2.5  Forschungsstand und Ausblick

2.6  Methoden

2.7  Literatur

2.7.1  Einführungen, Handbücher und Überblickswerke

2.7.2  Spezialliteratur

2.7.3  Reihen und Tafelwerke

2.7.4  Digitale Hilfsmittel und Repositorien

3  Codices: Kodikologie

Thom Gobbitt

3.1  Einführung

3.2  Pergament und Lagen

3.3  Punktierung und Linierung

3.4  Tinte und Schreibgeräte

3.5  Bindung

3.6  Kollationierung und Lagendiagramme

3.7  Zusammenfassung und Ausblick

3.8  Literatur

3.8.1  Einführungen und Überblickswerke

3.8.2  Spezialliteratur

3.8.3  Digitale Hilfsmittel

4  Wiegendrucke: Inkunabelkunde

Dorett Elodie Werhahn-Piorkowski

4.1  Einleitung

4.2  Forschungsgeschichte

4.3  Forschungsgegenwart und Hilfsmittel

4.4  Praxisorientierte Hinweise

4.5  Ausblick

4.6  Literatur

4.6.1  Überblickswerke und Hilfsmittel

4.6.2  Einzeldarstellungen

4.6.3  Digitale Hilfsmittel

5  Inschriften: Epigraphik

Franz-Albrecht Bornschlegel

5.1  Forschungsdisziplin und Forschungsgegenstand

5.1.1  Definition und Abgrenzung der Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

5.1.2  Definition Inschriften

5.1.3  Einteilung der Inschriften

5.1.4  Quellenwert Inschriften

5.2  Forschungsgeschichte

5.3  Forschungsstand

5.4  Aufgaben und Methoden der Epigraphik

5.4.1  Die epigraphische Schrift

5.4.2  Sprache und Formular

5.4.3  Zur Edition von Inschriften

5.5  Inschriftencorpora, Tagungsakten, Zeitschriften und Internetlinks

5.6  Literatur

5.6.1  Einführungen und Überblicksdarstellungen

5.6.2  Spezialliteratur

5.6.3  Digitale Hilfsmittel

6  Münzen: Numismatik

Sebastian Steinbach

6.1  Einleitung

6.2  Forschungsgeschichte und Forschungsstand

6.3  Methoden

6.3.1  Münzbeschreibung und Münzbestimmung

6.3.2  Numismatische Metrologie

6.3.3  Münzfundanalyse

6.3.4  Stempelanalyse

6.3.5  Stilkritik und Währungsgeographie

6.3.6  Metallanalyse

6.4  Literatur

6.4.1  Einführungen und Überblickswerke

6.4.2  Spezialliteratur

6.4.3  Bibliographien und Quellensammlungen

6.4.4  Digitale Hilfsmittel

7  Siegel: Sphragistik

Markus Späth

7.1  Gegenstandsbereich

7.2  Forschungsgeschichte

7.3  Forschungsstand und Ausblick

7.4  Methoden der Sphragistik

7.5  Literatur

7.5.1  Einführungen und Überblickswerke

7.5.2  Spezialliteratur und Corpuswerke

7.5.3  Digitale Hilfsmittel

8  Wappen: Heraldik

Christof Rolker

8.1  Forschungsgeschichte

8.2  Forschungsstand und Ausblick

8.2.1  Themen der Forschung

8.2.2  Editionen

8.2.3  Digitalisierung

8.3  Beispiele

8.3.1  Wappenprogramme

8.3.2  Heraldische Selbstdarstellung: Das Beispiel der ›Wappenakkumulation‹

8.3.3  Einzelne Wappen: Das Beispiel der schwäbischen Reichsstädte

8.4  Methoden

8.4.1  Elementar: Der Vergleich

8.4.2  Wappenbücher: Handschriften finden und vergleichen

8.5  Literatur

8.5.1  Einführungen und Überblickswerke

8.5.2  Handschriften, Faksimiles, Editionen und Digitalisate heraldischer Quellen

Beispielhaft drei wichtige heraldische Quellen des Mittelalters: Die Zürcher Wappenrolle, der Codex Ingeram und das Wappenbuch des Konrad Grünenberg

8.5.3  Digitale Hilfsmittel

9  Karten: Kartographie

Felicitas Schmieder

9.1  Was sind mittelalterliche Karten?

9.2  Forschungsgeschichte

9.3  Forschungsstand und -desiderata

9.4  Unterschiedliche Arten von Karten und methodische Fragen

9.4.1  Weltkarten

T-O-Karten

Zonen- und Klimakarten

Listenkarten

Mappae Mundi

9.4.2  Portulankarten

9.4.3  Antike Vorbilder und Ptolemäus-Rezeption

9.4.4  Regional- und Lokalkartographie

9.5  Literatur

9.5.1  Einführungen und Überblickswerke

9.5.2  Spezialliteratur: Zu islamischer, jüdischer und ostasiatischer Kartographie

9.5.3  Digitale Hilfsmittel

II.  Methoden

10  Paläographie

Colleen M. Curran

10.1  Einleitung

10.2  Forschungsgeschichte

10.3  Forschungsstand und Ausblick

10.4  Einfluss der Schriftträger auf die Schrift

10.5  Verschiedene Schriftarten

10.5.1  Römische Schriften

10.5.2  Frühmittelalterliche Schriften

10.5.3  Gotische Schriften

10.5.4  Humanistische Schriften

10.6  Paläographische Methoden

10.7  Literatur

10.7.1  Einführungen und Überblickswerke

10.7.2  Spezialliteratur

10.7.3  Zeitschriften, Reihen, Tafelwerke und Hilfsmittel

10.7.4  Digitale Hilfsmittel

11  Fragmentologie

Veronika Drescher

11.1  Einleitung

11.2  Forschungsgeschichte

11.3  Digitaler Wandel

11.4  Typologie

11.5  Methoden

11.6  Literatur

11.6.1  Einführungen und Überblickswerke

11.6.2  Spezialliteratur

11.6.3  Digitale Hilfsmittel

12  Chronologie

Thomas Wozniak

12.1  Einleitung

12.2  Grundbegriffe

12.3  Forschungsstand und Ausblick

12.4  Kalendersysteme, Komputistik und Jahreszählung

12.5  Die Jahresanfangstermine

12.6  Andere Kalender

12.7  Literatur

12.7.1  Einführungen und Überblickswerke

12.7.2  Spezialliteratur

12.7.3  Digitale Hilfsmittel

13  Genealogie und Prosopographie

Alexander Maul

13.1  Einleitung

13.2  Begriffsdefinition, geschichtlicher Überblick und Quellen

13.3  Entwicklung der (Familien-)Namen

13.4  Genealogische Zeichen

13.5  Grafische Darstellungen von genealogischen Zusammenhängen

13.6  Verwandtschaftsarten nach dem mittelalterlichen Kirchenrecht

13.7  Berechnung des Verwandtschaftsgrades

13.8  Generationen und das Phänomen ›Ahnengleichheit‹

13.9  Verwandtschaftsbezeichnungen

13.10  Die Kekule-Nummerierung

13.11  Ethnosoziologische Verwandtschaftssysteme

13.12  Ausblick: Genealogische Forschung im Wandel?

13.13  Literatur

13.13.1  Einführungen und Überblickswerke

13.13.2  Spezialliteratur

13.13.3  Digitale Hilfsmittel

14  Genetic History

Jörg Feuchter

14.1  Einleitung

14.2  Genetic History und Geschichtswissenschaft

14.3  Materialien und Methoden

14.4  Der Weg zur ›aDNA-Revolution‹

14.5  Anwendungsbeispiele

14.5.1  Historische Seuchenforschung

14.5.2  Migrationsforschung

14.5.3  Pergamentforschung

14.6  Ausblick und interdisziplinäre Zusammenarbeit

14.7  Literatur

14.7.1  Einführungen und Überblickswerke

14.7.2  Spezialliteratur

14.7.3  Digitale Hilfsmittel

15  Digitale Mediävistik

Georg Vogeler

15.1  Einführung

15.2  Forschungsgeschichte

15.3  Organisationsformen

15.4  Themengebiete

15.4.1  Text Encoding Initiative

15.4.2  Statistische Textauswertung

15.4.3  Von zu Graphdatenbanken

15.4.4  Netzwerkanalyse

15.4.5  Geographische Informationssysteme

15.5  Ausblick

15.6  Literatur

15.6.1  Einführungen und Überblickswerke

15.6.2  Digitale Hilfsmittel

III.  Anhang

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Index

Sachregister

Personenregister

Vorwort

Als im Jahr 1958 Ahasver von Brandt (1909–1977) seine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Werkzeug des Historikers, als 33. Band der Urban Taschenbücher vorlegte, rechnete wohl niemand damit, dass dieses Buch zu einem der meistverkauften Lehrbücher der Geschichtswissenschaft werden würde. Noch immer findet das Werk in seiner mittlerweile 18. Auflage nicht nur in der universitären Lehre reiche Anwendung, sondern gibt die Standards in der Quellenkunde vor.

Obwohl es für jeden Wissenschaftsverlag eine große Freude und Genugtuung ist, einen so erfolgreichen Titel im Programm zu wissen, haben wir uns entschieden, das Werk durch eine Neufassung zu ersetzen. Notwendig wurde dies vor allem aus zwei Gründen: Zum einen haben sich von Brandts Ausführungen sehr stark auf die Hilfs-/Grundwissenschaften der mittelalterlichen Geschichte konzentriert. Zum anderen haben sich die Hilfs-/Grundwissenschaften in den letzten Jahren nicht nur emanzipiert, sondern merklich weiterentwickelt – nicht zuletzt deshalb, weil sich die klassische Geschichtswissenschaft ausgehend von ihren politik- und rechtsgeschichtlichen Traditionen in einem früher ungeahnten Maße geöffnet hat. Mit der Einbeziehung zahlreicher neuer Forschungsfelder ging auch die Zuwendung zu neuen Quellengruppen einher. Diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Eine breite Auseinandersetzung mit neuen Quellen setzt deren ubiquitäre Zugänglichkeit voraus, die erst mit der allgemeinen Verbreitung von Digitalisaten durch das Internet sowie neue elektronische Erschließungsverfahren möglich geworden ist. So sind nicht nur neue Hilfsmittel und Methoden für alle historischen Teilfächer selbstverständlich geworden, sondern es werden auch gänzlich neue Quellengattungen – nicht nur, aber vor allem in der Zeitgeschichte – erschlossen und erforscht. Die damit einhergehenden Herausforderungen bergen gleichzeitig auch ganz neue Erkenntnispotentiale. Die nächsten Generationen von Wissenschaftler:innen benötigen daher dringend Orientierungspunkte in diesem Dickicht digitalisierter Quellenmassen. Sie benötigen Werkzeuge, um für künftige Fragestellungen mit den Quellen und ihren Digitalisaten auf allen Ebenen umgehen zu können. Zugleich ist auch die konkrete Arbeit an und mit den historischen Quellen stärker an Methoden orientiert und damit herausfordernder geworden. Durch die konsequente Einbeziehung früher als randständig betrachteter Quellengruppen können heute gänzlich neue Fragestellungen bearbeitet werden. Gleichzeitig steigt aber auch der Aufwand, um diese Quellen in ihrer ganzen Breite nutzen zu können.

Vor diesem Hintergrund war es dem Verlag sowie den Herausgeber:innen ein Anliegen, für die historischen Hilfs-/Grundwissenschaften eine moderne, zeitgemäße und alle Epochen berücksichtigende Einführung zu bieten: die Werkzeuge der Historiker:innen in vier Einzelbänden (Antike, Mittelalter, Neuzeit, Zeitgeschichte) mit jeweils rund zehn bis zwanzig Beiträgen. Gegenüber den neun behandelten Disziplinen bei Ahasver von Brandt können so die inhaltlichen und methodischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte deutlich umfassender behandelt werden. Die Bände streben trotz gebotener Kürze an, möglichst viele Teildisziplinen entsprechend der verschiedenen Quellengattungen sowie der besonderen hilfs-/grundwissenschaftlichen Arbeitstechniken einführend zu präsentieren. Um Redundanzen zu vermeiden, wurden die Inhalte der einzelnen Bände aufeinander abgestimmt. Dennoch bleibt jeder Band für sich alleinstehend verständlich und nutzbar und berücksichtigt umsichtig die Spezifika der einzelnen Epochen.

Je nach behandelter Epoche zwingt die Erweiterung und Heterogenität der Quellenbasis zu unterschiedlichen Herangehensweisen. So ist die Alte Geschichte trotz einer ursprünglichen Dominanz der literarischen Überlieferung seit jeher gezwungen, die ohnehin geringe Quellenbasis voll auszunutzen, während die Mediävistik stärker alltagsbezogene Quellengruppen wie Inschriften, Graffiti oder serielle Quellen lange Zeit zugunsten herrschaftsnaher Quellen wie Urkunden und Historiographie systematisch vernachlässigte. Mit dem erheblichen Anwachsen der Überlieferung in der Neuzeit und Zeitgeschichte strukturiert in diesen Epochen die gezielte Auswahl der in vertretbarer Zeit bearbeitbaren Quellen den Forschungsprozess. Hinzu kommen gänzlich neue Quellen wie Ton- und audiovisuelle Aufzeichnungen oder gespeicherte digitale Kommunikation.

Genau hier setzen die Bände der Werkzeuge der Historiker:innen an und zeigen, welche Entwicklungen die Disziplin in den jeweiligen Fachbereichen genommen hat und welche Veränderungen sich gerade auch durch die Digitalisierung ergeben haben. Zielgruppe bleiben Studierende, die eine sichere Basis brauchen, von der aus erste Schritte zum eigenen Forschen möglich werden. Im Vorwort zur 7. Auflage seines Werkes schrieb von Brandt: »Das vorliegende Buch ist aus der Praxis des akademischen Unterrichts entstanden«. Dies gilt auch für die neuen Werkzeuge, die auf Lehrerfahrung nicht nur aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, sondern auch weit darüber hinaus gestützt sind.

Wir haben uns entschlossen, den traditionsreichen Titel in eine gendergerechte Sprache zu überführen. Ob die einzelnen Kapitel diese verwenden, blieb jedoch im Ermessen der Autor:innen.

Wir sind zuversichtlich, dass diese zeitgemäßen Werkzeuge der Historiker:innen es schaffen werden, die Tradition des Klassikers aus der Feder Ahasver von Brandts fortzuführen.

Der Verlag und die Herausgeber:innen

1  Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften des Mittelalters

Thomas Wozniak

Das vorliegende Buch ist als Einführung in die Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften des Mittelalters konzipiert und richtet sich insbesondere an Studierende. Es ist in zwei Bereiche gegliedert:

1. Jene Hilfs- oder Grundwissenschaften, die sich über die intensive Beschäftigung mit einer Quellengattung definieren und die jeweiligen Quellen zur weiteren wissenschaftlichen Nutzung aufarbeiten und publizieren: die Diplomatik als Lehre von den Urkunden; die Sphragistik, die sich auf ein spezielles Beglaubigungsmerkmal der Urkunden, die Siegel, konzentriert; die Heraldik, deren Anfänge als Wappenkunde im Mittelalter liegen; die Numismatik als Lehre von Münzen und Geld im Mittelalter. Neben diese ›klassischen‹ hilfswissenschaftlichen Disziplinen treten hier noch die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die sich den Inschriften von 500 bis 1650 widmet, die Kodikologie als Handschriftenkunde sowie die Inkunabelkunde, die sich mit dem, ab dem späteren Mittelalter immer wichtiger werdenden, Buchdruck und seiner Produktion in Form der sogenannten Wiegendrucke auseinandersetzt.

2. Es folgen in einem zweiten Teil jene Hilfs- oder Grundwissenschaften, die in Ahasver von BrandtsWerkzeug des Historikers als Methoden zur Untersuchung der Voraussetzungen historischen Geschehens definiert wurden. Diese Grundbedingungen – bei Brandt sind es Raum, Zeit und Menschen – werden hier um die Schrift erweitert, denn diese gilt gemeinhin als ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen den Quellen der Geschichtswissenschaft und jenen der objektorientierten archäologischen oder kunsthistorischen Disziplinen. Sie umfassen also die Erschließung des Raumes durch die Kartographie, die Messung und Strukturierung der Zeit durch die Chronologie, die Analyse der biologischen Voraussetzungen wie interpersoneller/interpersonaler Verbindungen durch die Genealogie und Prosopographie mitsamt den neuen Möglichkeiten der Genetic History sowie die Entwicklungsgeschichte der lateinischen Schrift im Rahmen der Paläographie. Hinzu treten noch jene Hilfs- oder Grundwissenschaften, die aufgrund der in den letzten Jahrzehnten fortschreitenden Digitalisierung große Fortschritte gemacht haben, wie die Fragmentologie, die der Erforschung der fragmentarisch erhaltenen schriftlichen Überlieferung dient sowie die Digitale Mediävistik mit ihren verschiedenen Methoden.

Auch wenn viele der Hilfswissenschaften prinzipiell epochenübergreifend sind, liegt hier der Fokus auf der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft. Insgesamt ist zu betonen, dass die einzelnen Disziplinen der Historischen Hilfswissenschaften sich seit dem Erscheinen der Erstausgabe von Ahasver von BrandtsWerkzeug des Historikers 1958 in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Intensitäten weiterentwickelt haben. Diesem unterschiedlichen Wissenszuwachs war auch hier Rechnung zu tragen, weshalb manche Beiträge etwas mehr Platz bekommen haben.

Da historisches Arbeiten immer auf einer Kombination spezieller Kompetenzen aus unterschiedlichen Hilfs- oder Grundwissenschaften beruht, ergeben sich zwischen den hier versammelten Beiträgen fast zwangsläufig inhaltliche und methodische Überschneidungen. Solche Anknüpfungspunkte werden durch Querverweise grafisch markiert.

Im Sinne der Lesbarkeit und einfacheren Benutzbarkeit wurden Fußnoten weitgehend vermieden und die Beiträge – wie in den weiteren Epochenbänden – ähnlich gegliedert: Neben kurzen Anmerkungen zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand liegt der Fokus der Darstellung jeweils auf den spezifischen Methoden und Inhalten der jeweiligen Disziplin. Am Ende eines jeden Beitrags ermöglichen Verweise auf die Forschungsliteratur und digitale Hilfsmittel selbstständiges Vertiefen und Weiterarbeiten. Abgeschlossen wird der Band durch ein Register, dessen Einträge neben den relevanten Fachbegriffen auch Namen von Personen verzeichnen.

Zunächst gilt es im Folgenden jedoch, die Begrifflichkeiten zu klären und eine Orientierung über jene Bereiche zu geben, in denen sich die einzelnen Disziplinen berühren, überschneiden und ergänzen. Daran schließen Betrachtungen zu Zeit und Raum jener Epoche an, die in der Rückschau als Mittelalter bezeichnet wird.

1.1  Historische Hilfs- und Grundwissenschaften

Vor die Aufgabe gestellt, die Historischen Hilfswissenschaften mit nur einem einzigen Satz zu beschreiben, ließe sich vielleicht formulieren: Die Historischen Hilfswissenschaften als fixer Bestandteil der Geschichtswissenschaften wie des Geschichtsstudiums bilden die methodische Basis für jeglichen kritischen Umgang mit historischen Quellen, weshalb sie zum unentbehrlichen Rüstzeug für jede:n Historiker:in gehören. Dieser Satz ist natürlich unzureichend verknappt, gleichwohl umfasst er zentrale Merkmale: Die Sammelbezeichnung einer speziellen Fächergruppe als ›Historische Hilfswissenschaften‹ wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt, als die Systematisierung und Definition wissenschaftlicher Nomenklatur verstärkt wurde. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich der Begriff gegen ›Nebenwissenschaften‹ oder ›Hilfsdoktrinen‹ durch. Die Versuche der Umbenennung in ›Historische Grundwissenschaften‹ durch Karl Brandi und Leo Santifaller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, fanden mehrheitlich Widerspruch, wurden aber auch wiederholt eingebracht und verteidigt; insgesamt betrifft die Diskussion über den Begriff überwiegend die mediävistische Sicht. Regionale Ansätze in der Schweiz oder der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik versuchten sich durch die Begriffskombinationen ›geschichtswissenschaftliche‹ oder ›historische Spezial- oder Basiswissenschaften‹ abzugrenzen. Im internationalen Kontext werden die Historischen Hilfswissenschaften sprachübergreifend ähnlich bezeichnet; so etwa im Englischen als auxiliary/ancillary sciences (of history) oder im Französischen als sciences auxiliaires de l’histoire (auch: sciences annexes en histoire). Doch ist diese Sammelbezeichnung nicht überall so stark verankert und präsent wie in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Im deutschsprachigen Raum sind die ›Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften‹ aktuell an zwölf deutschen, drei österreichischen und zwei schweizerischen Universitäten institutionell oder zumindest in Form der Denomination von Lehrstühlen oder Professuren verankert.

Die Forschung zum Mittelalter hat zahlreiche Geschwister, wie die mediävistische Kunstgeschichte und die Mittelalterarchäologie. Die Byzantinistik und die Arabistik betrachten ebenfalls die gleiche Epoche nur mit anderem regionalen Fokus, wie auch die mediävistische Germanistik, die sich mit der Literaturproduktion dieser Zeit auseinandersetzt, und die mittellateinische Philologie, welche die Entwicklung der lateinischen Sprache und Literatur in den Fokus nimmt.

Je nach epochenorientiertem Fach – Antike, Mittelalter, Neuzeit, Zeitgeschichte – umfassen die als Werkzeuge der Historiker:innen genutzten ›Historischen Hilfs- oder Grundwissenschaften‹ andere Disziplinen. Grundsätzlich kann jedoch jede andere Wissenschaft (Philologie, Jurisprudenz, Philosophie, Kunstgeschichte, Naturwissenschaften usw.) als ›Historische Hilfswissenschaft‹ zum Erkenntnisgewinn der Geschichtswissenschaft beitragen. Gleichwohl hat sich unabhängig von solchen Überlegungen im Rahmen der Geschichtswissenschaft eine Gruppe von Hilfswissenschaften herausgebildet, deren primäre Forschungsbereiche der Alten wie der Mittelalterlichen Geschichte zuzuordnen sind. Die mediävistischen Hilfswissenschaften werden traditionell in die zu Beginn vorgestellten Bereiche unterteilt. Der erläuterte ›Werkzeugkasten‹ wurde hier gegenüber der Einteilung Ahasver von Brandts leicht modifiziert und erweitert. Hinzu kamen die Genetic History, als Ergänzung zur Genealogie, die Epigraphik, die Kodikologie, die Inkunabelkunde, die Fragmentologie und die Digital Humanities. Die Wasserzeichen, welche mit der Papierproduktion im Spätmittelalter aufkommen, erleben einen Höhepunkt in der Neuzeit, weshalb sie im Neuzeit-Band einen Beitrag erhalten.

1.2  Zu den historischen Quellen

Die Historische Hilfs- oder Grundwissenschaft, die Begriffe werden im Folgenden weitgehend synonym benutzt, ermöglicht die detaillierte Auswertung historischer Quellen. Unter Quellen versteht man – nach der epochenübergreifenden Definition von Paul Kirn – alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnisse der Vergangenheit gewonnen werden können.

Dabei lassen sich für alle Quellen zwei verschiedene Grundkategorien unterscheiden: zum Ersten, ob die Quellen mittelbar oder unmittelbar überliefert wurden. Beispielsweise sind historiographische oder hagiographische Texte oft nur mittelbar bekannt, denn alle diese Texte wurden während des Mittelalters wiederholt von Hand abgeschrieben. Zum einen, um den Text zu erhalten, zum anderen, um ihn durch Vervielfältigung zu verbreiten. Dieser mittelbaren Überlieferung stehen unmittelbar überlieferte Quellen wie Inschriften, Urkunden, Münzen usw. gegenüber, die während des Mittelalters entstanden und direkt auf uns gekommen sind.

Neben der Unterscheidung in ›unmittelbar‹ oder ›mittelbar‹ überlieferte Quellen, können diese auch in die Kategorien ›bewusste‹ (Traditionen) oder ›unbewusste‹ (Überreste) unterteilt werden. Diese Unterteilung hat nichts mit der Überlieferungssituation zu tun, sondern hängt mit dem Inhalt der Quelle zusammen. Diese bis heute vor allem in der Theorie angewandte Zweiteilung in Überreste und Traditionen schlug zuerst Ernst Bernheim (1850–1942) vor, während Ahasver von Brandt darauf aufbauend die Überreste definiert, als »alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben ist« und die Traditionen, als »alles, was von den Begebenheiten übriggeblieben ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung« (Brandt 2012, 56; 61).

Letztere werden unterteilt in schriftliche und mündliche Traditionen. Die schriftlichen umfassen u. a. historiographische Quellen (Annalen, Chroniken), (Auto-)Biographien, Hagiographie (Viten), Legenden, Memoiren, Gesta und Reisebeschreibungen, während zu den mündlichen Traditionen u. a. Sagen, Anekdoten, Lieder und Erzählungen gehören.

Überreste als ›unbewusste‹ Überlieferung umfassen dagegen Quellenzeugnisse, die nicht gezielt für eine Öffentlichkeit geschaffen wurden, sondern meist unmittelbar vom historischen Geschehen übriggeblieben sind, wie die letzte Schreibübung auf einer zerbrochenen Wachstafel, ein Brief auf einer Birkenrinde oder die Abrechnungsliste eines Stadtschreibers. Es sind meist Quellen, die auf dem Müll entsorgt wurden oder werden sollten und die nicht als Wissensspeicher für die Nachwelt gedacht waren. Fast immer waren diese Zeugnisse nicht für den öffentlichen Raum bestimmt, sondern wurden nur im Bereich eines begrenzten Personenkreises verwendet. Für den/die Nutzer:in hatte die Quelle vor allem funktionalen Charakter, oft als Gebrauchsgegenstand oder -text. Die Bedeutung ging für ihre Besitzer:innen verloren, aber aufgrund von Überlieferungszufällen blieben sie erhalten. Überreste stammen damit aus einem ganz speziellen historischen Zusammenhang, über den sie im Detail informieren.

Die Überreste (unbewusste Quellen) werden unterteilt in schriftliche Überreste, Sachüberreste und abstrakte Überreste. Als Beispiele für schriftliche Überreste seien genannt: Urkunden, Akten, Gerichtsprotokolle und Gesetze wie Verfassungen, Rechte, Weistümer, aber auch Personenverzeichnisse wie Anniversarien, Nekrologe, Verbrüderungsbücher, Genealogien, Testamente, Lehensverzeichnisse, Steuerlisten und -rechnungen, Inventare, Inschriften und Graffiti sowie Pläne und Karten. Zu den Sachüberresten gehören Bauwerke, Geräte, Arbeitsgegenstände, Waffen, Erzeugnisse von Kunst und Gewerbe, Fahnen, Siegel, Wappen und Münzen.

Demgegenüber sind die abstrakten Überreste über kulturelle Traditionslinien überliefert worden, wie es typisch ist für fortlebende oder überlieferte Institutionen wie Universitäten, Gerichte, Rathäuser usw., Rechts- und Verfassungszustände, Orts- und Flurnamen, aber auch Landschafts- und Siedlungsformen.

So plausibel solche Kategorisierungen wirken mögen, es ist zu betonen, dass die Einteilung in bewusste (Traditionen) und unbewusste (Überreste) Quellen immer von der jeweiligen Fragestellung abhängt. So wird ein historiographischer Text in Bezug auf den Autor immer als bewusste Quelle (Traditionen) interpretiert werden, sobald aber in der Fragestellung zahlreiche historiographische Texte verglichen werden, so kann derselbe Text zur unbewussten Quelle (Überrest) werden.

Für das Mittelalter lassen sich die schriftbasierten Quellen noch in drei andere Großgruppen unterschieden:

1. erzählende Quellen (Chroniken, Annalen, Gesta),

2. dokumentarische Quellen (Urkunden, Akten) und

3. serielle Quellen (Steuerregister, Güterverzeichnisse usw.).

Jede dieser Quellengruppen lässt sich in weitere Untergruppen teilen, jede hat ihre eigenen methodischen Schwierigkeiten. So ist bei den erzählenden Quellen die Intention des Autors und seine avisierte Zielgruppe wichtig. Der Ereignishorizont dient oft nur als vom Autor genutzte Folie und seine erzählende Quelle stellt keinen objektiven ›Ereigniskatalog‹ dar. Eine erzählende Quelle kann nur begrenzt zur Analyse historischer Ereignisse beitragen, weil sie die persönliche Geschichtsvorstellung ihres Autors abbildet. Demgegenüber wurden dokumentarische Quellen wie Urkunden lange als zuverlässige und belastbare Überreste interpretiert – allerdings stellte sich nach intensiven Forschungen heraus, dass das Problem der späteren Fälschung von Urkunden deutlich größer und weitreichender ist als vermutet. Die seriellen Quellen, die im Spätmittelalter verstärkt einsetzen, bilden eine sehr hohe Zahl einzelner Rechtsgeschäfte, wie Zahlungs- oder Einhebungsvorgänge ab. Die Glaubwürdigkeit dieser Quellengruppe ist zwar belastbarer als bei den beiden anderen Quellengruppen, aber durch ihre immer wiederholte schematische Form auch viel weniger aussagekräftig. Zudem erfordert sie einen ungleich höheren Aufwand, um verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen.

Auch für die Mediävistik ist abschließend der Unterschied zwischen den gerade beschriebenen historischen Quellen und moderner wissenschaftlicher Forschungsliteratur hervorzuheben. Bei Letzteren handelt es sich um Texte, die aus der intensiven Beschäftigung mit historischen Quellen, ihrer nachvollziehbaren Auswertung nach wissenschaftlichen Fragestellungen sowie ihrer transparenten Bewertung und kritischen Interpretation resultieren.

1.3  Zeit der mittelalterlichen Geschichte

Der Epochenbegriff Mittelalter als eines von den Historischen Hilfswissenschaften zu betrachtenden Teilgebietes der Geschichtswissenschaften wird seit seinem Aufkommen immer wieder neu diskutiert. Der Terminus Mittelalter ist ein historisch gewachsener Begriff, der in seiner lateinischen Form als medium aevum oder media tempestas auf den Humanisten und päpstlichen Bibliothekar Giovanni Andrea Bussi (1417–1475) zurückgeht. Er grenzte damit 1469 seine eigene Epoche, die er als ›Moderne‹ empfand, von den Jahrhunderten zuvor ab. Mit der Unterscheidung zwischen einer idealisierten Antike, einem negativ konnotierten Mittelalter sowie der selbst erlebten ›Modernität‹ legten Gelehrte des 15. Jahrhunderts die Fundamente für eine rein irdisch orientierte Chronologie und grenzten sich so von religiösen Epocheneinteilungen ab.

Eine dreigegliederte Unterteilung der Menschheitsgeschichte findet sich jedoch erst Ende des 17. Jahrhunderts bei deutschen Gelehrten wie etwa Georg Horn (1620–1670), der in seinem 1666 veröffentlichten Werk Arca Noe vom »Mittelalter« (medium aevum) sprach. Aber erst durch die weit verbreitete Historia Universalis (1702) des Hallenser Professors Christoph Cellarius (Keller, 1638–1707), die er als dreiteilige Geschichte (historia tripartita) anlegte, wurde die Einteilung in Historia Antiqua, Historia Medii Aevi und Historia Nova schließlich kanonisch.

Die in der deutschsprachigen Forschung zur Anwendung kommende akademische Konvention setzt das Mittelalter etwa vom Jahr 500 bis etwa zum Jahr 1500 an, während die angelsächsische Forschung das Intervall von 300 bis 1300 bevorzugt. Die ungefähren Grenzen dieser Übergangsphasen hängen davon ab, auf welchen Aspekten (Kultur, Religion, Politik, Wirtschaft, Umwelt) der historischen Betrachtungsweise der Fokus liegt. In ­Abhängigkeit vom jeweils betrachteten Teilaspekt, aber auch je nach geographischem Raum ergeben sich unterschiedliche Zeitmarker, die genutzt werden können, um das Mittelalter von den benachbarten Epochen abzugrenzen. Diese vielerorts exemplarisch aufgelisteten Ereignisse und Zeitspannen sind einzeln kaum geeignet, um ein ›Ende‹ der Antike oder einen ›Beginn‹ der Neuzeit definieren zu können. Beides sind dynamische und multikausale Transformationsprozesse mit langen Übergangszeiten, bei der Antike vom frühen 4. bis ins 8. Jahrhundert, bei der Neuzeit vom ausgehenden 15. bis ins 18. Jahrhundert.

Die Übergangsphasen und ›Sattelzeiten‹, die das Mittelalter von der vorhergehenden Antike und der nachfolgenden Neuzeit trennen und in denen Transformationsprozesse zum Tragen kommen, können dabei durchaus Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte umfassen. Heute tritt niemand mehr für einzelne Ereignissen als eindeutige Zäsuren, für konkrete Beginn- und Enddaten ein.

Das Mittelalter wird oft dreigeteilt – in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter –, aber auch diese Binnendifferenzierung variiert. Die Unterteilung ist in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft traditionell an Herrscherdynastien orientiert. So werden dem Frühmittelalter (6.–10. Jh.) die Dynastien der Merowinger und Karolinger zugeordnet, dem Hochmittelalter (10. Jh.–1250) die Liudolfinger/Ottonen, Salier und Staufer und dem Spätmittelalter (1250–1500) das Interregnum, also die herrscherlose Übergangszeit (1250–1273), und die anschließende abwechselnde Herrschaft der Habsburger, Wittelsbacher und Luxemburger. Auch diese Art der Binnengliederung ist nicht mehr als eine Orientierungshilfe. Betrachtet man andere Aspekte als die das Reich regierenden Herrscherdynastien, so gelangt man wiederum zu anderen Periodisierungsansätzen, wie dies auch in anderen nationalen Traditionen der Fall ist.

1.4  Der Raum der mittelalterlichen Geschichte

Der Raum, in dem dieses dreiteilige Geschichtsmodell üblicherweise zur Anwendung kommt, ist Europa mit angrenzenden Gebieten. In anderen Teilen der Erde, wie China, Südamerika oder Afrika, geht die dreiteilige Epochengliederung völlig an den dortigen historischen Gegebenheiten vorbei. Der Raum, in dem der Mittelalter-Begriff verwendet werden kann, lässt sich überwiegend auf die Nachfolgegebiete des Römischen Reiches reduzieren, ergänzt um das europäische Gebiet nördlich der Grenzen des ehemaligen Imperium Romanum. Punktuell greifen zwar christliche Missionare, Gesandte, Siedler und Händler sowie besonders jüdische und arabische Kaufleute und Reisende bis weit in die Peripherie aus, im Westen durch die isländischen und norwegischen Siedler bis zum amerikanischen Kontinent, im Osten entlang der Seidenstraße(n) bis nach China und teilweise bis auf indonesische Inseln. Auch segeln im 15. Jahrhundert portugiesische, spanische und italienische Seefahrer entlang der Küste Afrikas immer weiter in den Süden, nichtsdestotrotz bleiben Europa und die im Nahen Osten angrenzenden Gebiete der Kernraum des ›Mittelalters‹.

1.5  Literatur

1.5.1  Einführungen und Überblickswerke

Beck, Friedrich/Henning, Eckart (Hrsg.): Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung, 3. Aufl., Köln u. a. 2003.

Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 18. Aufl., Stuttgart 2012.

Delort, Robert: Introduction aux sciences auxiliaires de l’histoire, Paris 1969.

Kümper, Hiram: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014.

Rhode, Maria/Wawra, Ernst (Hrsg.): Quellenanalyse. Ein epochenübergreifendes Handbuch für das Geschichtsstudium, Paderborn 2020.

Rohr, Christian: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung, Wien u. a. 2015.

1.5.2  Spezialliteratur, Publikationsreihen und Zeitschriften

Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde, bisher 68 Bde., Münster u. a. 1955 ff.; Beihefte, bislang 20 Bde., Köln u. a. 1976 ff. Rückschauende Überblicksartikel in Bd. 54/2008, 55/2009, 65/2019, 66/2020.

Brandi, Karl: Die Pflege der historischen Hilfswissenschaften in Deutschland, in: Geistige Arbeit 6/2 (1939), 1 f.

Diederich, Toni/Oepen, Joachim (Hrsg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln u. a. 2005.

Doublier, Étienne/Schulz, Daniela/Trump, Dominik (Hrsg.): Die Historischen Grundwissenschaften heute. Tradition – methodische Vielfalt – Neuorientierung, Wien u. a. 2021.

elementa diplomatica 12 Bde., Bd. 1–7 hrsg. von Peter Rück, Bd. 8–12 hrsg. von Erika Eisenlohr und Peter Worm, Marburg 1994–2007.

Hahnsche historische Hilfswissenschaften, hrsg. von Elke Frfr. von Boeselager und Thomas Vogtherr, 4 Bde., Hannover 2004–2009.

Historische Hilfswissenschaften, hrsg. von Peter Rück, 4 Bde., Sigmaringen/Stuttgart 1989–1999.

Historische Hilfswissenschaften, hrsg. von Anton Scharer, Georg Scheibelreiter und Andreas Schwarcz, 5 Bde., Wien/Köln/Weimar 2009–2013.

Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen, hrsg. von Thomas Frenz und Peter-Johannes Schuler, 4 Bde., Stuttgart 2000.

Rück, Peter (Hrsg.): Mabillons Spur. Zweiundzwanzig Miszellen aus dem Fachgebiet für Historische Hilfswissenschaften der Philipps-Universität Marburg zum 80. Geburtstag von Walter Heinemeyer, Marburg a. d. Lahn 1992.

Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft, 59 Bde., Marburg a. d. Lahn 1966 ff.

1.5.3  Digitale Hilfsmittel

Arbeitsgemeinschaft für Historische Grundwissenschaften – https://www.ahigw.de [9.8.2023].

Diskussionsforum: Historische Grundwissenschaften und die digitale Herausforderung – https://www.hsozkult.de/text/id/texte-2890 [9.8.2023].

Südwestdeutsche Archivalienkunde – https://www.leo-bw.de/web/guest/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde [9.8.2023].

Virtual Library – https://www.vl-ghw.uni-muenchen.de [9.8.2023].

I.  Quellen und Hilfswissenschaften

2  Urkunden: Diplomatik

Anja Thaller

2.1  Einleitung

Die Diplomatik oder Urkundenlehre befasst sich mit urkundlichem Schriftgut in verschiedenen Formen. Für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte ist sie eine der grundlegenden Historischen Hilfswissenschaften.

Die Bezeichnung Diplomatik leitet sich vom altgriechischen diploma ab, was ›Gefaltetes‹ oder ›Schriftstück aus zwei verbundenen Teilen‹ bedeutet. Eine Urkunde ist »ein schriftliches Zeugnis über eine Handlung, mit der ein Rechtszustand geschaffen oder bestätigt wird« (Härtel 2011, 13). Wesentliche Charakteristika von Urkunden sind ihre Schriftlichkeit, ihre Rechtserheblichkeit, ihre Form- und Traditionsgebundenheit. Um eine Urkunde rechtswirksam zu machen, müssen bestimmte Formen eingehalten und bestimmte Ausdrucksweisen verwendet werden, auch eine Beglaubigung ist nötig.

Die Diplomatik beschäftigt sich mit Entstehung, Einteilung, Formen, Verwendung, Funktion, Überlieferung, Wahrnehmung sowie Rezeption dieser Quellengattung. Die Untersuchung und Edition von Urkundengruppen und -fonds zählen zu ihren wesentlichen Aufgaben, dabei spielt die Überprüfung der Echtheit eine zentrale Rolle.

2.2  Gegenstand, Einteilung und Quellenwert

Urkunden sind bereits aus der griechisch-römischen Antike bekannt und begegnen uns auch heute in vielen Bereichen: zum Beispiel als von Ämtern, Notaren und öffentlichen Behörden ausgestellte Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden, Testamente, Patente, Sieger- oder Ehrenurkunden usw. Jeder schriftliche Vertrag (etwa über einen Hauskauf) ist eine Urkunde. Für das europäische Mittelalter zwischen 500 und 1500 stellen Urkunden eine zentrale Quellengruppe dar, die noch in großer Zahl in den Archiven aufbewahrt wird. Aus diesem Grund wird das Mittelalter oft als ›Urkundenzeitalter‹ bezeichnet und so vom neuzeitlichen ›Aktenzeitalter‹ abgegrenzt, auch wenn die Übergänge fließend sind.

Urkunden sind in erster Linie Rechtsdokumente und gehören damit zu den Rechtsquellen. Sie enthalten die für das jeweilige Rechtsgeschäft notwendigen Informationen. Mit ihnen können Rechte und Pflichten begründet, bestätigt, erneuert, geändert oder beendet (widerrufen, entzogen) werden. Die in Urkunden festgehaltenen Rechtsakte sind vielfältig und umfassen beispielsweise Kauf/Verkauf, Tausch, Schenkung, Stiftung und Verleihung, Bestätigung oder Erneuerung von Rechten, Vereinbarungen über Belehnung, Investitur, Verpfändung oder verschiedene Leiheformen und Nutzungsrechte. Darüber hinaus können Urkunden auch spirituelle Angelegenheiten (z. B. Ablassurkunden) und Geldgeschäfte (z. B. Schuldurkunden) betreffen.

Als Produkte der Rechts- und Verwaltungspraxis haben Urkunden einen hohen Quellenwert. Stärker als normative Quellen spiegeln sie Rechtswirklichkeit und -vorstellungen ihrer Zeit wider und überliefern tatsächlich gelebtes, praktiziertes oder beanspruchtes Recht. Allerdings sind Urkunden nicht ›nur‹ rechtliche Zeugnisse, die als Beweismittel oder als bloße Sicherung eines Anspruchs auf einen Rechtstitel genutzt wurden. Durch ihre Materialität, Form, Sprache, visuelle Symbolik und Performativität hatten sie auch kommunikative Funktion und symbolische Bedeutung. Urkunden erfüllten somit auch herrschaftslegitimierende, repräsentative, memoriale, erinnerungsstützende und administrative Zwecke.

Geschrieben wurden Urkunden üblicherweise mit dem Gänsekiel oder dem Schreibrohr mit Eisengallustinte auf Papyrus, Pergament oder Papier, manchmal wurden sie auf Schiefertafeln geritzt. Konzepte (Entwürfe) wurden oft auf Wachstafeln festgehalten; Urkundeninschriften finden sich auf Stein oder Metall.

Urkunden werden heute nicht mehr als reine ›Textsteinbrüche‹ verwendet, da auch sie vielfach (un-)bewusst gefilterte Inhalte bieten. So sind sie zwar »Momentaufnahmen« aus der Vergangenheit, allerdings »keine Fotografien einstiger Wirklichkeit« (Härtel 2011, 15). Es handelt sich nicht um tendenzlose Informationsspeicher oder »Garanten für objektive Informationen« (Brauer 2013, 27). Dennoch ist ihr Quellenwert für die von ihnen überlieferten Rechtsgeschäfte und deren Vorgeschichte zentral und sie können somit noch immer »zu den verläßlichsten Zeugen von Vergangenem« (Kölzer 2008, 217) gezählt werden.

In der deutschsprachigen Diplomatik erfolgt die gängige Einteilung mittelalterlicher Urkunden nach dem Ausstellerprinzip in Herrscherurkunden (Königs- und Kaiserurkunden), Papsturkunden und sogenannte Privat­urkunden. In manchen Ländern werden andere Kriterien herangezogen.

Für den etablierten, jedoch nur als Notbehelf dienenden Terminus ›Privat­urkunden‹ gibt es bislang keine allgemein anerkannte Definition (oder Ersatz durch einen treffenderen Begriff). Man versteht darunter alle Urkunden, die nicht Herrscher- oder Papsturkunden sind, genauer alle Urkunden über Geschäfte von privatrechtlichem Charakter, die von einem professionellen Notar mit öffentlicher Glaubwürdigkeit, von Institutionen mit vergleichbaren Funktionen oder (nicht-königlichen und nicht-päpstlichen) Ausstellern mit obrigkeitlichem Charakter ausgefertigt sein können (Härtel 2011, 19).

Innerhalb dieser drei Urkundenarten lassen sich verschiedene Urkundentypen unterscheiden, je nach zugrunde gelegtem Kriterium: nach dem Rechtsinhalt (Bestätigungs-, Kauf-, Tauschurkunde usw.) oder auch nach dem Verhältnis zwischen Urkunde und Rechtsgeschäft (Geschäfts- oder Beweisurkunde). Häufig wird der Gültigkeitsanspruch herangezogen: So unterscheidet man die auf dauerhafte Gültigkeit angelegten herrscherlichen Diplome (Abb. 2.1) und Privilegien der Päpste (Abb. 2.2) von zeitlich begrenzt gültigen Herrschermandaten und päpstlichen Litterae (Abb. 2.3).

Abb. 2.1:  Herrscherdiplom: Kaiser Ludwig der Fromme schenkt dem Kloster Reichenau die villa Dettingen sowie weitere Rechte und Güter, Bodman, 839 April 21.

Abb. 2.2:  Papstprivileg: Papst Innozenz III. nimmt das Kloster Bebenhausen in seinen Schutz, bestätigt ihm den Besitz genannter Güter und erteilt weitere Rechte, Lateran, 1204 Mai 18.

Abb. 2.3:Littera (cum filo canapis): Papst Gregor IX. ermahnt den Bischof von Speyer, seinen Angehörigen und anderen, die in seiner Begleitung die Höfe des Klosters Maulbronn besuchen, das Schlachten von Tieren und das Essen ihres Fleisches innerhalb des Klosterbezirks zu untersagen; Perugia, 1229 Januar 31.

Fließende Übergänge führen oft zu einer schwierigen Abgrenzung zwischen manchen Urkundentypen, aber auch hin zu anderen Quellengattungen (etwa zwischen Brief und Urkunde). Die Entstehung neuer Urkundentypen im späteren Mittelalter und gerade die Heterogenität der unter dem Begriff ›Privaturkunden‹ versammelten Formen erschweren eine Typologisierung und haben zur Herausbildung unterschiedlicher Unterscheidungskriterien geführt: Man kann Urkunden auch nach Art oder Qualifikation des Ausstellers (etwa Bischofs-, Fürstenurkunden, notarielle, kirchliche oder städtische Urkunden usw.), nach der Art der Redaktion und Beglaubigung (Carta, Notitia, Notariatsinstrument, Siegelurkunde, Chirograph usw.), nach Art und Umfeld der Herstellung (›kanzleimäßig‹, Empfängerausfertigung usw.) oder nach der Funktion (einseitige Willensäußerung oder zweiseitige Vereinbarung) unterscheiden (Abb. 2.4 und 2.5).

Abb. 2.4:  Privaturkunde: Gebalinda, die Tochter des Maginbert, überträgt dem Kloster St. Gallen für ihr Seelenheil ihren Besitz in Löhningen, Juli 779.

Abb. 2.5:  Deutschsprachiges Notariatsinstrument über den Kauf des Dorfes Wim­mental durch Abt Johann [III.] von Schöntal, Wimmental, 1487 März 23.

Mittelalterliche und frühneuzeitliche Urkunden erlangten ihren Stellenwert als historische Quellen im Wesentlichen erst mit dem Verlust ihrer Rechtsgültigkeit nach dem Ende des Alten Reichs. Zusätzlich zum urkundlichen Schriftgut selbst in seinen unterschiedlichen Überlieferungsformen können auch rechtliche Vorschriften, theoretische Abhandlungen und praktische Anleitungen zum Verfassen von Urkunden sowie Verwaltungs- und Geschäftsschriftgut, Rechnungen, Prozessakten, erzählende oder bildliche Quellen für die Erforschung des Urkundenwesens herangezogen werden.

Der Aussagewert einer Urkunde als historische Quelle geht »weit über den Inhalt und den Zweck hinaus, den ihre Verfasser und Schreiber bei ihrer Herstellung im Sinne hatten« (Härtel 2011, 16). Denn Urkunden informieren nicht nur über Rechtshandlungen, deren Vorgeschichte und die beteiligten Personen oder Institutionen, sondern sind auch philologische, linguistische, namenkundliche oder künstlerische Zeugnisse. Durch die Einbettung in ihren historischen Kontext können Urkunden als Quellen für eine Fülle von Fragestellungen herangezogen werden und Einblicke in Politik, Recht, Verfassung, Verwaltung, Institutionen, Wirtschaft, Religion, Kultur und Gesellschaft des Mittelalters bieten.

2.3  Grundbegriffe

Die Urkunde wird von einem Aussteller ausgefertigt und ist an einen oder mehrere Empfänger gerichtet. Beide können natürliche oder juristische Personen sein. Je nach rechtlichem Kontext fungieren auch Frauen als Ausstellerinnen, Empfängerinnen, Urkundenschreiberinnen usw.; die nachfolgende Verwendung des generischen Maskulinums ist allein der notwendigen Verkürzung geschuldet.

In einer Urkunde wird entweder die einseitige Willenserklärung des Ausstellers (mit unterschiedlich großem Empfängereinfluss) oder, mit Zustimmung aller Beteiligter, ein zwei- oder mehrseitiger Vertrag schriftlich fixiert. Der Aussteller kann die Herstellung der Urkunde entweder auf Ersuchen des Empfängers (Petent), eines Fürsprechers (Intervenient) oder aus eigenem Interesse und Antrieb veranlassen. Der Empfänger als Begünstigter oder Nutznießer der Urkunde erhält meist auch das Schriftstück und bewahrt es auf.

Eine Urkunde kann sich aber auch an einen Dritten (Adressat), richten, der mit der Durchführung oder Überwachung von Maßnahmen zugunsten des Empfängers beauftragt wird. Bei der Rechtshandlung und/oder deren Beurkundung sind Zeugen anwesend, um diese später rechtskräftig beweisen (bezeugen) zu können. Sie beteiligen sich am Beurkundungsvorgang durch Berührung oder ›Unterfertigung‹, (ganz oder teilweise eigenhändige Unterschrift, Unterzeichnung durch Kreuze oder Handzeichen) oder werden nur namentlich angeführt. Häufig haben sie die Funktion von Konsentienten, die dem Rechtsakt zustimmen, sind jedoch nicht immer klar als solche benannt.

Die Diplomatik unterscheidet zwischen Rechtshandlung (Actum mit Angabe von Ort und Zeit) und Beurkundung (Datum mit Angabe von Ausstellungsort und -zeit). Diese Akte können zeitlich wie örtlich auseinanderliegen, was sich aber nur erkennen lässt, wenn auch beide in der Datum-Formel angeführt werden.

Meist wird mit der Urkunde ein bereits abgeschlossenes Rechtsgeschäft nachträglich beweiskräftig dokumentiert. Das Rechtsgeschäft kann aber auch erst durch die Niederschrift zustande kommen, die ihm Rechtswirkung verleiht. Der Abschluss einer Rechtshandlung bedurfte allerdings nicht immer und unbedingt der Verschriftlichung in Urkundenform, sondern diese konnte auch mündlich, vor Zeugen und durch rechtssymbolische Handlungen vollzogen werden (durch Handschlag, Schwurgebärde oder Überreichung eines Rechtssymbols).

Der Beurkundungsvorgang (oder Geschäftsgang) variiert je nach Aussteller. Er umfasst alle Vorgänge, welche eine Urkunde von der Petitio (Bitte) des Empfängers bis zu ihrer Aushändigung an denselben durchlief. Hinter der Urkundenausstellung standen weitere Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten, vor allem zwischen Aussteller und Empfänger.

Eine Urkunde konnte auf unterschiedliche Weise ausgefertigt werden: Sie kann vom Aussteller selbst verfasst und geschrieben sein (Autograph, z. B. eigenhändiges Testament), dieser konnte bei der Herstellung mitwirken (durch Unterfertigung oder Vollziehungsstrich) oder, häufiger, sie in seinem Namen und Auftrag ausfertigen lassen (anordnen oder erbitten). Nicht nur der Aussteller, sondern auch der Empfänger kann an der Herstellung der Urkunde Anteil haben: durch vollständige oder teilweise Vorfertigung der Urkunde, die in einem solchen Fall als Empfängerausfertigung bezeichnet wird. Diese wurde dann der ausstellenden Institution nur zur Bestätigung und Beglaubigung vorgelegt.

Der Verfasser (auch Redaktor, Diktator) formulierte den Text der Urkunde, während der Schreiber (Ingrossist, Mundator) für die Niederschrift zuständig war. Beide Tätigkeiten konnten auch von derselben Person ausgeführt werden. Verfasser und Schreiber standen entweder im Dienst des Ausstellers und waren somit Teil seiner ›Kanzlei‹ oder gehörten der Empfängerinstitution an. Alternativ konnten außenstehende Dritte (öffentliche Notare, Geistliche) mit der Anfertigung der Urkunde beauftragt werden. Personen, die nur im Bedarfsfall eine Urkunde für einen Aussteller schrieben, ohne zum gewöhnlichen Personal von dessen ›Kanzlei‹ zu gehören, werden als Gelegenheitsschreiber bezeichnet.

Heutzutage versteht man unter dem Begriff ›Kanzlei‹ in der Urkundenforschung nicht mehr eine ortsfeste, hierarchisch organisierte Einrichtung im Sinne moderner Verwaltungsbehörden wie im klassischen im 19. Jahrhundert entwickelten Modell. Vielmehr wird darunter eine Personengruppe mit wechselnden Strukturen ohne präzise Zuständigkeiten verstanden, die von einem Aussteller beauftragt wurde, Urkunden zu verfassen, zu verschriftlichen, zu bestätigen und unter Umständen auch zu versenden. Darüber hinaus kümmerte sie sich gegebenenfalls auch um die Registrierung und Veröffentlichung von Urkunden oder die Einhebung von Gebühren. Eine ›Kanzlei‹ konnte aus mehreren Personen bestehen oder nur aus einem einzigen Notar bzw. Schreiber, was als ›Ein-Mann-Kanzlei‹ bezeichnet wird.

Die Beglaubigung der Urkunde war von wesentlicher Bedeutung für ihre Rechtskraft. Die Formen von Beglaubigungen variieren je nach Aussteller, Zeit und Region und umfassen Unterfertigung, Siegel, besondere graphische Zeichen (etwa Monogramm und Subskriptionszeichen bei Herrscherurkunden; Subskription bei Papsturkunden; Notariatssignet bei Notarsurkunden), Zeugen oder Hinterlegung bei einer ›öffentlichen‹ oder kirchlichen Institution.

Bei den Überlieferungsformen unterscheidet man Originale (auch Ausfertigungen genannt) von abgeleiteter Überlieferung (Abschriften, Kopien). Originale oder Ausfertigungen sind Urkunden, die in der Form vorliegen, wie der Aussteller sie intendiert und autorisiert hat. Die Vorstufe dazu nennt man Konzept, der Textentwurf eines Notars wird als Minute bezeichnet.

Eine Urkunde konnte als Einzelausfertigung oder als Mehrfachausfertigung mehrerer gleichlautender Urkunden ausgestellt werden. Daneben gibt es ›zeitgenössische Niederschriften‹ in Form von Sammelaufzeichnungen über Rechtsgeschäfte, die in Bücher eingetragen wurden und auch ohne vorhergehende oder nachfolgende Einzelausfertigung beweiskräftig waren, wie die Gesta municipalia (behördliche Aufzeichnungen der Spätantike und des Frühmittelalters), Traditionsnotizen (Aufzeichnungen zur Übergabe von unbeweglichem Gut oder Menschen an kirchliche Empfänger) und Imbreviaturen (Kurzfassungen notarieller Urkunden).

Eine besondere Form der Ausfertigung ist das Chirograph: Der auf einem Blatt zwei- oder mehrfach niedergeschriebene identische Text wird entlang einer (dann damit halbierten) Buchstabenreihe oder eines Wortes durchgeschnitten. Bei Anfechtung konnte der Inhalt durch Zusammenfügung der Exemplare überprüft werden, die an der durchtrennten Stelle zueinanderpassen mussten.

Während die äußeren Formen von Original und Abschrift voneinander abweichen, ist letztere textlich (inhaltlich) gegenüber dem Original idealiter unverändert, weicht aber vor allem orthographisch häufig davon ab. Einfache Kopien entbehren einer Beglaubigung und geben nur den Text der Urkunde wieder: auf einem Einzelblatt oder in systematisch angelegten buchförmigen Sammlungen (auslaufende Urkunden eines Ausstellers in Registern oder eingegangene Urkunden in Kopialbüchern/Kopiaren/Chartularen einer Empfängerinstitution).

Beglaubigte Kopien wurden prinzipiell als ebenso rechtlich beweiskräftig erachtet wie Ausfertigungen, allerdings gibt es zahlreiche Ausnahmen. Eine Abschrift konnte dadurch beglaubigt werden, dass eine anerkannte Autorität ihr Siegel daran anbrachte; der Urkundentext kann dabei auch vollständig oder teilweise in eine bestätigende, jüngere Mantelurkunde eingefügt (inseriert) sein. Man spricht von einem Transsumpt, wenn der Rechtsnachfolger des Ausstellers die rechtliche Verpflichtung übernimmt, die sich aus der ursprünglichen Urkunde ergab, während bei einem Vidimus (oder Inspeximus) lediglich die Übereinstimmung zwischen Vorlage und Abschrift bestätigt wurde. Eine notarielle Abschrift ist von einem Notar angefertigt und mit dessen Signet und Unterfertigung beglaubigt (Transsumpt) (Weileder 2019, 144–149).

Weitere Faktoren, welche die Glaubwürdigkeit einer Abschrift beeinflussen, sind der Zeitpunkt ihrer Anfertigung (zeitnah, zeitgenössisch oder in zeitlicher Distanz), der Urheber (Aussteller, Empfänger, Dritter) und die Art der Ausführung (keine bzw. teilweise Berücksichtigung oder rein imitative Wiedergabe und Nachzeichnung von Schrift, graphischen Zeichen und Layout).

Formelsammlungen (Formulae) enthalten Zusammenstellungen anonymisierter realer oder konstruierter Musterurkunden als Formulierhilfe oder Lehrbehelf in der ›Kanzlei‹. Ab dem 11. Jahrhundert entstanden vor allem in Italien schriftliche Anleitungen sowie Hand- und Lehrbücher zum Verfassen von Briefen und Urkunden (artes dictandi, artes notariae).

Der Forschung stehen Urkunden in unterschiedlichen Erschließungsformen zur Verfügung: als Quelle im Archiv, als Regest (Kurzzusammenfassung) oder in edierter Form. Die heute in staatlichen, kommunalen oder kirchlichen Archiven (zum Teil auch Bibliotheken) aufbewahrten Urkunden sind in der Regel frei zugänglich, außer es bestehen konservatorische Bedenken oder rechtliche Einschränkungen. Bei privaten Archiven können besondere Genehmigungspflichten gelten.

Die häufig anzutreffende (und in mancher Hinsicht problematische) Aussonderung von Herrscher- und Papsturkunden in Selektbestände erleichtert die Auffindbarkeit im Unterschied zu jenen Fällen, in denen die Stücke in den Fonds der Empfängerarchive verblieben sind, was vor allem, aber nicht nur, auf Privaturkunden zutrifft. Schwierigkeiten können beim Fehlen systematischer Erschließung oder unzureichender Kennzeichnung in Findbehelfen auftreten. In jüngster Zeit wird die Zugänglichkeit zu archivalisch überliefertem urkundlichem Schriftgut durch verstärkte Bemühungen der Digitalisierung verbessert. Immer mehr Archive stellen ihre Findmittel und (Urkunden-)Bestände online zur Verfügung.

Regesten sind Hilfsmittel: Man versteht darunter die knappe Zusammenfassung des rechtlich relevanten Inhalts einer Urkunde. Unterschieden wird zwischen ausführlicheren Vollregesten und stark verkürzten Kurzregesten: Vollregesten werden verwendet, wenn kein Abdruck des Urkundentexts erfolgt, während Kurzregesten eine Art ›Überschrift‹ zum nachfolgenden Volltext der Urkunde darstellen. Besonders bei massenhafter Überlieferung wie bei Papsturkunden oder im Spätmittelalter ist eine Erschließung durch Regestenwerke wichtig. Regesten wie Editionen können dem Ausstellerprinzip (z. B. Urkunden eines Papstes) oder dem Empfängerprinzip (z. B. Urkunden im Archiv eines Klosters) folgen oder eine Mischform bieten (wie regionale Urkundenbücher).

Eine kritische Edition ist eine den wissenschaftlichen Standards entsprechende Druckausgabe, die in der Regel nicht nur echte Urkunden, sondern auch unechte oder ›verunechtete‹ Stücke und Deperdita umfasst. Unter einem Deperditum versteht man eine heute verlorene Urkunde, deren einstige Existenz aber nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden kann.

2.4  Forschungsgeschichte

Als älteste der Historischen Hilfswissenschaften entstand die Diplomatik im späten 17. Jahrhundert. Die Wurzeln der kritischen Beschäftigung mit Urkunden reichen jedoch viel weiter zurück: Erste Normen dafür finden sich bereits im spätantiken Corpus iuris civilis. Vor allem die sich ab dem 12. Jahrhundert herausbildende Kanonistik entwickelte erste rationale ­Methoden der Urkundenkritik, die ›Juristen-Päpste‹ erließen Strafbestimmungen gegen Urkundenfälschungen. Im Mittelalter wurden Echtheitsüberprüfungen allerdings nur in rudimentärer Form und anlassbezogen durchgeführt, es gab keine grundsätzlich-systematisierenden Überlegungen. Als Vorläufer einer als wissenschaftlich zu bezeichnenden Echtheitskritik gelten die Studien der Humanisten, die mit philologischen, linguistischen, historischen und juristischen Argumenten Fälschungen aufdeckten. Einen Meilenstein in der Entwicklung der Urkundenkritik markieren die bella diplomatica im Zeitalter der Gegenreformation. Dabei ging es um die Glaubwürdigkeit und Echtheit von Urkunden, auf denen damals noch gültige Rechtsansprüche ruhten.

Die neue Wissenschaft der Diplomatik entstand aus einer Kontroverse zwischen Jesuiten und Benediktinern sowie deren wissenschaftlichen Gesellschaften, den Bollandisten und Maurinern. Der Jesuit und Bollandist Daniel Papebroch (auch van Papenbroek, 1628–1714) und der Benediktiner und Mauriner Jean Mabillon (1632–1707) legten die Grundlagen der modernen Urkundenlehre wie auch der Paläographie und gelten mittlerweile beide als deren Gründerväter. Mabillons 1681 veröffentlichtes sechsbändiges Grundlagenwerk De re diplomatica gab der jungen Wissenschaft ihren Namen.

Besonders wichtig für die weitere Entwicklung der Diplomatik waren in der Folge auch die Mauriner Charles-François Toustain und René-Prosper Tassin mit ihrem sechsbändigen Nouveau traité de diplomatique (1750–1765). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts fand die Diplomatik Eingang in Universitäten in Deutschland, Italien und den habsburgischen Ländern.

Mit der Französischen Revolution 1789 und den daraus resultierenden Umwälzungen in Europa verloren die älteren Urkunden ihren Wert als rechtliche Beweismittel und wurden zum Gegenstand historisch-kritischer Forschung. Die Diplomatik entwickelte sich von einer juristischen zu einer historischen Hilfswissenschaft, im 19. Jahrhundert institutionalisierte, professionalisierte und spezialisierte sie sich. Die Säkularisation kirchlicher Institutionen, die Urkunden in großer Zahl produziert, genutzt und aufbewahrt hatten, sowie die Herausbildung des staatlichen Archivwesens trugen zur besseren Zugänglichkeit des Materials bei. Damit einher ging der Wunsch nach Bestandsaufnahme und Edition von Urkunden: In der Zeit der mittelalterbegeisterten Romantik und des aufkeimenden Nationalismus wurden große Unternehmen zur Quellenerschließung- und -publikation ins Leben gerufen: 1819 die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, später Monumenta Germaniae Historica (MGH), 1829 die Regesta Imperii (RI). Die Editionen der Diplomata-Abteilung der MGH gelten nach wie vor als modell- und vorbildhaft. Die RI bieten die urkundlich wie historiographisch belegten Aktivitäten der römisch-deutschen Könige und Kaiser des Mittelalters in Regestenform. Ähnliche Unternehmungen und Publikationsreihen wurden auch in Frankreich und Italien begründet.

Die Ausbildung in den Historischen Hilfswissenschaften wurde durch die Gründung außeruniversitärer Ausbildungsstätten für den Archiv- und Bibliotheksdienst verankert (1821 École nationale des chartes in Paris, 1854 Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien, 1883 Istituto Storico Italiano per il Medio Evo in Rom).

Als Begründer der Spezialdiplomatik prägten vor allem zwei Forscher die Urkundenlehre im deutschsprachigen Raum im ausgehenden 19. Jahrhundert: Theodor Sickel mit seiner auf Schriftbestimmung und Diktatvergleich sowie auf der Untersuchung der ›Kanzleimäßigkeit‹ aufbauenden systematischen Methodik und Julius Ficker, der die Rechtshandlung, den Beurkundungsvorgang und damit auch die Rechts-, Institutionen- und Verfassungsgeschichte ins Zentrum rückte.

Die diplomatische Methode bildete sich hauptsächlich an den Königs- und Kaiserurkunden heraus. Erst die Öffnung des Vatikanischen Apostolischen Archivs (früher: Geheimarchiv) 1881 führte zur verstärkten Erforschung der Papsturkunden (Philipp Jaffé, August Potthast, Julius von Pflugk-Harttung, Paul Fridolin Kehr). Zur Erschließung der päpstlichen und kurialen Überlieferung wurden ausländische historische Institute in Rom gegründet, an denen wichtige Projekte und Publikationsreihen angesiedelt sind wie das Repertorium Germanicum (RG) oder das Repertorium Poenitentia­riae Germanicum (RPG). 1896 erfolgte die Gründung des noch heute existierenden Göttinger Papsturkundenwerkes.

Die Beschäftigung mit Privaturkunden trat erst später hinzu: Eine Privat­urkundenlehre entstand an der Wende zum 20. Jahrhundert (Harold Steinacker, Oswald Redlich). Als Pionier der Erforschung von Notarsurkunden – bis heute in Italien ein wesentliches Betätigungsfeld der Diplomatik – gilt Luigi Schiaparelli.

Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurden die Grundlagen für die Urkundenlehre durch die Erschließung neuer Quellenbestände erweitert, ihre Methoden im Rahmen editorischer Tätigkeit durch praktische Anwendung weiterentwickelt und die Forschungsfelder durch neue Fragestellungen und thematische Schwerpunktsetzungen bereichert.

2.5  Forschungsstand und Ausblick

Die eben genannten Regesten- und Editionsunternehmen sind nach wie vor höchst produktiv. Sie erfüllen mit der Erschließung und Edition von Urkunden wichtige Aufgaben der Diplomatik und bieten so zugleich Hilfsmittel wie Anregung für die diplomatische wie historische Forschung. Zunehmend werden Regesten, Editionen und Abbildungen von Urkunden auch in digitaler Form angeboten (s. Kap. 2.7.4) usw.

Obwohl die Urkunden des Früh- und Hochmittelalters, besonders im Bereich der Herrscherurkunden, verhältnismäßig gut durch Editionen erschlossen sind, gibt es immer noch regional und zeitlich unterschiedlich große Desiderate. Besonders lückenhaft ist der Bearbeitungsstand von Privaturkunden, da die ›Massen‹ an spätmittelalterlichen Urkunden mit den aufwändigen traditionellen Methoden kaum zu bewältigen sind, hinzu kommt die ›Vielgestaltigkeit‹ ihrer Formen.

Das Verhältnis zwischen einstiger Urkundenproduktion und erhaltener Überlieferung ist schwer zu bestimmen, sind doch die anzunehmenden Verzerrungen durch Auswahl- und Ausscheidungsprozesse wie auch äußere Einflüsse kaum zu klären. Grob vereinfachend ist von einem – allerdings nicht linearen – Anstieg der urkundlichen Gesamtproduktion vom Früh- bis zum Spätmittelalter auszugehen. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen: Während die Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen 418 Urkunden und 231 Deperdita (davon etwa ein Drittel ge- oder verfälscht), jene Kaiser Friedrichs I. 1031 Urkunden (mit Deperdita und unechten Stücken 1248 Nummern), umfasst, wird der Urkundenausstoß der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. auf rund 50 000 Stück geschätzt. Für den mit Abstand größten Urkundenproduzenten des Mittelalters, die päpstliche Kurie, geht man von etwa 30 000 päpstlichen Briefen und Urkunden bis 1198 aus. Insgesamt wird die Zahl der bis zum Höhepunkt der Schriftproduktion im späten 15. Jahrhundert produzierten Papsturkunden auf etwa 5,4 Millionen geschätzt (Frenz 2012, 629–632). Ein Überblick über die erhaltenen Privaturkunden ist noch schwerer zu erlangen: Die Unterschiede hinsichtlich Ausfertigung wie auch Verlustquoten variieren je nach Urkundentyp, Zeit und Region stark. Im früh- und hochmittelalterlichen Europa gilt Italien als das an Privaturkunden reichste Land: für Städte wie Lucca, Genua, Pisa oder Florenz werden im 13. Jahrhundert etwa 20 000–40 000 Notarsurkunden pro Jahr angenommen. Skandinavien, die westslawischen Länder und Ungarn sind hingegen die Regionen mit der geringsten Überlieferung (Härtel 2011, 294–301).

Das fachlich einschlägige Expertengremium ist die Commission Internationale de Diplomatique. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die internationale Zusammenarbeit zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der von nationalen Forschungsschwerpunkten und ›Schulen‹ geprägten Diplomatik zu fördern.

Das Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde (erscheint seit 1956 in der Nachfolge des Archivs für Urkundenforschung) ist die einzige Zeitschrift, die den Historischen Hilfswissenschaften vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart im Allgemeinen und der Diplomatik im Besonderen gewidmet ist. Manche Zeitschriften primär historischen Zuschnitts bieten ebenfalls einschlägige Beiträge (Archivalische Zeitschrift, Archivio Storico Italiano, Bibliothèque de l’École des chartes, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung u. a.).

Handbücher zur Diplomatik, die den Wissensstand kompendienartig zusammenfassen, setzen bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein. Daneben gibt es mehr oder weniger ausführliche Einführungen in die Diplomatik, oft im Rahmen von Quellenkunden, Studienbüchern zu den Historischen Hilfswissenschaften oder Einführungen in das Studium der mittelalterlichen Geschichte.

Übersetzungen von Urkunden in moderne Sprachen liegen nur in geringem Umfang vor; häufiger im angelsächsischen Raum. Eine größere Zahl ins Deutsche übersetzter Urkunden findet sich in Quellensammlungen wie der Reihe Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe (FSGA).

Die Aufgaben der Diplomatik bestehen einerseits in der Erschließung und Edition bisher noch nicht ausreichend bearbeiteter Bestände, andererseits in der Auswertung und Untersuchung von Urkunden, im Hinterfragen älterer Beurteilungen und der Neubewertung. Die Untersuchungsansätze sind quantitativer wie qualitativer Natur: Sie reichen von den traditionellen Aufgaben der Diplomatik wie der Analyse einzelner Urkunden, -gruppen oder -fonds mit Echtheitskritik und Einordnung in die Kanzleigeschichte, der Erforschung von Urkundenschriften und -schreibern, von Überlieferungsformen, Urkundenarten und ihrer Entwicklung sowie von wechselseitigen Einflüssen über die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Form und Inhalt, von Aussteller- und Empfängeranteilen sowie des Verhältnisses zwischen Rechtshandlung und Urkunde, die (prosopographische) Erforschung der beteiligten Personen, ihrer Beziehungen zueinander und die Institutionengeschichte bis hin zu Quer- und Längsschnittstudien einzelner Urkundenformeln oder äußerer Merkmale. In größeren Zusammenhängen wird die Herausbildung, Gestalt und Entwicklung des Urkundenwesens in seinen regional wie zeitlich unterschiedlichen Ausprägungen untersucht, werden ›Urkundenlandschaften‹ erschlossen, geht es um Medienwechsel, Intermedialität usw.

Die traditionell eng mit der Rechtsgeschichte und den Philologien verbundene Diplomatik öffnete sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts stärker hin zur Geschichtswissenschaft und nahm Anregungen aus der politischen und religiösen Ideengeschichte, der Mentalitätsgeschichte, der Bildwissenschaft und Kunstgeschichte, der Bildungs-, Sozial- und (vergleichenden) Kulturgeschichte auf.

Starke Impulse kamen aus der ›Urkundensemiotik‹, die den Fokus auf das visuelle Erscheinungsbild der Urkunde sowie die graphischen Zeichen und Symbole als komplexe Bedeutungsträger richtete (Urkunden als ›Kunstwerke‹ und ›Plakate des Mittelalters‹). Das Verhältnis zwischen Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Performativität bei Rechtshandlung und Beurkundung rückte durch die Erforschung von (pragmatischer) Schriftlichkeit, symbolischer Kommunikation und Ritualen in den Blick. Bei der Untersuchung der Genese, Verwendung und Aufbewahrung von Urkunden sowie ihrer Wahrnehmung durch die Zeitgenossen, ihrer Rezeption und ihrem ›Nachleben‹ wird versucht, die verschiedenen ›Lebensstadien‹ von Urkunden zu verstehen.

Eine wesentliche Akzentverschiebung betrifft die Entwicklung von der traditionell ausstellerorientierten Diplomatik hin zu einer stärker empfängerbasierten Betrachtungsweise. Herrscher-, aber auch Papsturkunden, gelten nunmehr weniger als einseitige ›Gnadenakte‹ denn als Ergebnisse von Kommunikations- und Aushandlungsprozessen zwischen Aussteller- und Empfängerseite, die, ähnlich wie Verträge, mündlich getroffene Vereinbarungen wiedergeben.

Auch wenn die Urkundenlehre per se eine epochenübergreifende Hilfswissenschaft ist, so wird die aus der Editions- und Forschungspraxis resultierende Beschränkung auf das europäische Mittelalter doch deutlich. Deshalb gibt es seit Längerem die Forderung nach einer Erweiterung des gegenständlichen, zeitlichen und geographischen Zuständigkeitsbereiches unter Anpassung von Untersuchungsmethoden und -kriterien.

Neuere Fragestellungen zeigen auch Einflüsse aus Gender- und Mate­rialitätsforschung, Objektgeschichte sowie den Digital Humanities. Durch ­Untersuchungsverfahren an der Schnittstelle zur Naturwissenschaft und durch neue Bildgebungsmethoden (C14-Methode, Multispektralanalyse, Röntgen, Computertomographie, Reflectance Transformation Imagingusw.) verändert sich der Blick auf die Urkunde als Realie. Die ›digitale Diplomatik‹ bietet mit dem Einsatz neuer Forschungsinstrumente und Datenbanken zur Auswertung größerer Bestände (›Big Data‹, Text-Mining), digitaler Werkzeuge (etwa zur automatisierten Texterkennung, Transkriptionssoftware) und digitalen Präsentationsplattformen neue Möglichkeiten der Erschließung und Auswertung sowie Erleichterungen in puncto Zugänglichkeit. Trotz aller Fortschritte des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz bleiben jedoch grundlegende (menschliche) Kompetenzen in der klassischen Quellenkritik und den diplomatischen Methoden bislang weiterhin unverzichtbar.

2.6  Methoden

Als eigenständige Disziplin verfügt die Diplomatik über eigene Methoden, Fragestellungen und Erkenntnisziele. Auf Erschließung, kritische Beurteilung und Auswertung von Urkunden spezialisiert, bringt sie diese Quellen ›zum Sprechen‹. Dadurch soll ein angemessenes Verständnis der Urkunden sowie der ihnen zugrunde liegenden rechtlichen und kulturellen Vorgänge erzielt werden. Herausgebildet hat sich das anwendungsorientierte Instrumentarium der Diplomatik anhand der Untersuchung früh- und hochmittelalterlicher Herrscherurkunden, es ist aber mit Einschränkungen und Anpassungen auch für andere Urkundenarten und über die Epochengrenzen hinweg einsetzbar.

Die zentrale Aufgabe der Diplomatik, die Urkundenkritik, bestimmt den historischen Quellenwert einer Urkunde und nimmt diese dafür sowohl in ihren einzelnen Bestandteilen wie auch als Ganzes in den Blick. Dabei werden zunächst Überlieferung, äußere wie innere Merkmale der Urkunde analysiert und eine Überprüfung von Authentizität und Echtheit durchgeführt (discrimen veri ac falsi, die ›Unterscheidung des Echten vom Falschen‹). Zur quellenkritischen Erschließung und Aufbereitung kann auch das Erstellen von Regesten oder die Anfertigung einer kritischen Edition gehören.

Die Diplomatik arbeitet – bei Vorliegen einer ausreichenden Anzahl von vergleichbaren Stücken – mit der vergleichenden Methode: Hierbei gilt es zunächst, eine im Hinblick auf die jeweilige Fragestellung sinnvoll zu vergleichende, vollständige oder wenigstens repräsentative Materialsammlung zu erstellen, etwa eine Zusammenstellung aller von einem Aussteller bzw. seiner ›Kanzlei‹ oder aus demselben räumlich-zeitlichen Milieu stammenden Urkunden.

Da Erscheinungsbild und Aufbau einer Urkunde von Aussteller, Zeit, Ort, Inhalt (Rechtshandlung