Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wie denkt Amina, eine Trainerin mit Migrationshintergrund, über Sinnfindung? Welche Erfahrungen hat Herbert, ein langgedienter Vertriebsmitarbeiter, mit Fairness gemacht? Warum findet Francine authentische Führungskräfte cool? Was bedeutet Durchsetzungskraft für die Powerfrau Inna? Was hält der Senkrechtstarter André von Macht? Was lernt die Aufsichtsrätin Jessica über Verantwortung? Und welche Bedeutung haben Transparenz, Integrität oder Neugier in der Arbeitswelt? Kurzweilige Anekdoten und Essays laden zum Nachdenken über Werte ein, die für eine nachhaltige Karriere und Sinnfindung bedeutsam sind.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 145
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mein Dank gilt Ewald Zadrazil für seinen pointierten und frivolen Beitrag über Werte und unerfüllte Bedürfnisse.
Welche Werte kommen mir in den Sinn, wenn ich an Ewald denke? Humor und Leichtigkeit.
Ebenso bedanke ich mich bei Michaela Dietrich, die dieses Projekt als geduldige und insistente Lektorin/Korrektorin begleitet hat.
Welche Werte Michaela für mich verkörpert? Gelassenheit und Beständigkeit.
Du überfliegst das Inhaltsverzeichnis meines Buches. „Begeisterung, Wissen, Verantwortung – klar, das sind wichtige Eigenschaften im Beruf“, denkst du achselzuckend. „Aber warum zum Kuckuck schreibt der Typ über Ästhetik, Chaos oder Hingabe? Was hat das mit meinem Job zu tun?“
Nachdem ich im Juni 2020 die Studie „Werte in der Arbeitswelt 2020 – was Arbeitnehmer und Arbeitgeber verbindet“ veröffentlicht habe, lege ich dir mit dieser Sammlung von Anekdoten und Essays einen Werte-Ratgeber für das Arbeitsleben ans Herz. Pointierte und anregende Gedankenhäppchen wollen dich zur Reflexion über deine Werte und dein Arbeitsumfeld verführen – egal, ob du Berufseinsteiger oder Senior, Mitarbeiter oder Führungskraft, Personalmanager oder Berater bist.
Du bist skeptisch. „Warum soll ich ein Buch über Werte lesen? Klingt fad…“
„Werte sind das, was dir bleibt, wenn du sonst nichts mehr hast.“ Diese Einsicht kam mir, als ich beruflich jahrelang mit Unternehmenskrisen und menschlichen Schicksalen zu tun hatte. Werte sagen dir, was für dich wichtig und unwichtig ist. Sie geben dir ein Lebensziel, einen Purpose. Kenne deine Werte und du hast immer einen Kompass dabei, der die Marschrichtung angibt, und ein Exoskelett, das dich auch in den schwierigsten Situationen aufrecht hält. Dies trifft auf Menschen, aber auch auf Unternehmen zu.
„Wir sind die Summe unserer Werte.“ Jene Einsicht gewann ich, als ich mir die Frage nach dem Grund menschlichen und organisationalen Wirkens stellte. Unsere Werte, Haltungen, Einstellungen, Ansichten, Meinungen, Urteile, Bewertungen, Perspektiven – kurz, alles was wir über die großen und kleinen Dinge des Lebens sagen und denken, bestimmt unser Handeln. Auch dies trifft auf Menschen und Unternehmen gleichermaßen zu.
Wenn du nicht nur einen Beruf, sondern eine Karriere (oder noch besser: eine Berufung) haben willst, dann beschäftigst du dich mit deinen Werten. Wenn du ein Unternehmen nachhaltig führen willst, kriegst du das nur mit Werten gebacken.
Diese zweite Auflage enthält „wert“-volle Kapitel über die Werte Achtsamkeit, Neugier, Transparenz, Vermögen und Verständigung. Gute Einsichten beim Lesen wünscht
Christoph Dietrich, Jänner 2022
Gesundheitswarnung: Werte sind ansteckend!
Abenteuer
Achtsamkeit
Agilität
Aktualität
Akzeptanz
Altruismus
Anerkennung und Wertschätzung
Anmut
Ansehen
Anstand
Ästhetik
Aufgeschlossenheit
Authentizität und Glaubwürdigkeit
Begeisterung
Beharrlichkeit
Besonnenheit
Chaos
Dankbarkeit
Disziplin
Dominanz
Durchsetzungskraft
Egoismus
Effektivität vs. Effizienz
Ehrlichkeit
Einfluss vs. Macht
Entscheidungsfreude
Fairness und Gerechtigkeit
Freude und Fröhlichkeit
Freundschaft
Freiheit vs. Unfreiheit
Fürsorglichkeit und Großzügigkeit
Geduld und Gelassenheit
Hingabe („Flow“)
Humor
Innovation und Kreativität
Intelligenz
Integration
Integrität
Intuition
Kampf
Kontrolle
Leidenschaft
Macht
Macht vs. Freiheit
Neugier
Sicherheit vs. Autonomie
Transparenz
Verantwortung
Vermögen
Verständigung
Wissen
Sex: Wert oder Bedürfnis? (Ewald Zadrazil)
Was macht nun eigentlich Sinn?
Es ist Jänner. Grippezeit. Jetzt grassiert auch noch Corona. Und die Nase tropft im Winter sowieso immer. Verdammt. Du liegst auf der Couch, schniefst und hustest. Over and out. Zum Nichtstun verdammt. Nichtstun? Vielleicht. Nichts denken? Niemals! Du entscheidest dich dafür, den Krankenstand zum Nachdenken zu nutzen. „Reflektieren“ nennt man das ja heute. Soll gut für die Psychohygiene sein und sogar förderlich für deine Resilienz. Nur klappt das nicht ganz mit dem Nachdenken. Du bist zugedröhnt von den Medikamenten und deine Birne brummt. Die Alltagssorgen lassen auch nicht locker: Wann geht Corona vorüber? Verlierst du auch bald deinen Job? Du schaust in die sozialen Medien - vielleicht bloggt einer was Interessantes oder gibt dir einen Nudge, worüber du nachdenken kannst.
Da gibt´s doch diesen Werte-Blogger. Mal sehen – was schreibt der Typ? „…das Wertegerüst eines Menschen hängt unter anderem von seiner sozialen Prägung ab. Wir sind in einer bestimmten Weise sozialisiert worden und haben daher grobe Werte-Cluster erlernt, die uns für den Rest unseres Lebens begleiten. Allerdings kann die Ausprägung einzelner Werte in Abhängigkeit von unserem Umfeld variieren…“
Verschwurbelter Psycho-Quatsch. Aber: Du fängst an, über deine „Werte-DNA“ nachzudenken: Was treibt dich an, was hat dich geformt, was ist dir wichtig?
Deine Kindheit war geprägt von dem offenen Haus deiner Eltern – gute Nachbarschaft, viele Besuche, Partys im Garten. Deine Mutter hatte immer ein offenes Ohr für die Anliegen ihrer Freundinnen, dein Vater immer eine helfende Hand für seine Buddies. Als dein Vater seinen Job verlor, waren Familie und Bekannte unterstützend zur Stelle. Trotz aller Schwierigkeiten war das Leben immer easy. Solidarität und Freundschaft haben wohl deswegen auch für dich einen hohen Stellenwert erlangt. Netzwerke pflegen, andere teilhaben lassen, „Geben und Nehmen“, „Leben und leben lassen“ - das ist dein „Werte-Stammbaum“.
Wie veränderten sich deine Werte, als du nach dem Studium in eine Investment-Firma eingetreten bist? Deine Chefs waren Weltmeister in der Ellbogentechnik, und auch du hast rasch gelernt, auf dein eigenes Fortkommen zu schauen. Allmählich haben Werte wie Eigennutz, Durchsetzungskraft und Machtstreben deine ursprüngliche „Werte-DNA“ verwässert, aber nicht verdrängt; überlagert, aber nicht ersetzt.
Es kommt dir vor, als ob du im Beruf mit Haltungen und Einstellungen infiziert worden wärst, die nicht zu dir passen. Diese „Werte-Inkongruenz“ zwischen deinen Kindheitswerten und deinen beruflichen Werten hat dich gestresst. Deine alten Werte haben dich unterbewusst spüren lassen, dass der Investment-Job nix für dich ist. Und so hast du dir einen anderen gesucht. Einen, der besser zu dir passt. Einen, wo du sein kannst, wie du bist. So, wie du es halt schon von Kindesbeinen an erlernt hast.
Du fragst dich, wie du dich am besten gegen solche „Werte-Infektionen“ schützen kannst?
Ganz einfach. Du gehst wie in der Homöopathie vor und bekämpfst Gleiches mit Gleichem. Indem du dir regelmäßig jene Werte bewusst machst, die dir wichtig sind, hast du den besten Schutzschild gegen andere Haltungen, die nicht so günstig sind für dich.
Und du wirst ein gutes, werterfülltes Leben haben.
Eine Sportbekleidungskette wirbt mit dem Slogan „Ich bin raus“ und lässt seine Kunden über entlegene Bergwiesen wandern. Ein Telekomunternehmen wirbt mit „Giga-Highspeed“ und verführt mit rasanten Motorradfahrten. Das Abendprogramm bringt eine Doku über Naturparadiese in Costa Rica. Schon eine geile Sache, diese Abenteuer. Unwillkürlich denkst du: „Wenn ich mal in Pension bin oder einen Sabbatical nehme, dann schau´ ich mir die Welt an.“
Wir verbannen das Erleben von Abenteuern ausschließlich in die Privatsphäre. In der Arbeitswelt sind Abenteuer weitgehend tabu. Unser Arbeitsalltag wird stattdessen beherrscht von Leistungsdenken; Pflichterfüllung; den Mühen des Tagesgeschäfts; Konformität in Sprache, Verhalten und Kleidung; Wettbewerbsdruck und Gewinnstreben. Ein Teambuilding Event mit Whitewater-Rafting ist vielleicht der einzige Berührungspunkt mit dem Abenteuer im Beruf.
Musst du ein abenteuerloses Berufsleben führen? Mitnichten. Abenteuer kann auch anders definiert werden: als Experimentierfreude, als Mut zum Risiko, als Lust auf ein Wagnis, als Neugier auf unbekannte Horizonte.
Du siehst schon: Abenteuer und eine unternehmerische Arbeitseinstellung sind eng miteinander verbunden. Dein nachhaltiger Erfolg im Berufsleben hängt von deiner Bereitschaft ab, in deinem Wirkungskreis tagtäglich nach einem Abenteuer zu suchen und deinen Job spannend zu gestalten. Wer wartet, dass der Chef zum Animateur mutiert, wartet vergeblich.
Überleg doch, mit welchen kleinen Abenteuern du deinen Arbeitsalltag anreichern könntest.
Achtsamkeit hat in den letzten Jahren viele verschiedene Bedeutungen erlangt. Für die einen bedeutet sie, durch Meditation oder Yoga zur Ruhe zu kommen; für andere, Mitmenschen wertschätzend und respektvoll entgegenzutreten; für wieder andere ist sie ein kognitives Therapiemittel zur Behandlung von Depressionen und Ängsten.
Achtsamkeit hat mittlerweile eine stark ich-bezogene Konnotation erlangt, d.h. für viele ist die Achtsamkeitslehre zur Antwort auf die Frage „Was kann ich tun, damit es mir besser geht?“ geworden. Achtsamkeit ist allerdings kontextbezogen, d.h. es geht vielmehr um die Frage „Was mache ich hier eigentlich?“. Achtsamkeit ermöglicht dir nämlich, dich am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und dein Umfeld aus der Helikopterperspektive zu betrachten. Wie das funktioniert?
Ganz einfach – durch Selbstbefragung. Entscheider in Politik und Wirtschaft könnten sich beispielsweise folgende Fragen stellen:
„Bin ich Leader oder Getriebener?“
„Handle ich fair und transparent oder willkürlich und undurchsichtig?“
„Handle ich richtig und rechtens?“
„Welche Interessen bestimmen mein Handeln?“
„Welche Konflikte und Konsequenzen könnten sich daraus ergeben?“
Achtsamkeit ist eine Anleitung zur Selbstreflexion, die zwei wunderschöne Blüten treibt. Erstens fühlst du dich selbstwirksam, indem du deine Probleme kognitiv analysierst. Zweitens tust du damit auch etwas für deinen Selbstschutz, indem du deine Problemlösungskapazitäten ausbaust. So gesehen, ist Achtsamkeit daher die beste und günstigste Haftpflichtversicherung für Führungskräfte – und damit eine wertvolle Investition, wenn du Karriere machen willst.
---
Ich sitze vor meiner Almhütte, blinzle in die wärmende Frühlingssonne und räkle mich gemächlich auf meiner Lärchenbank. Doch lange will der Müßiggang nicht währen – ich springe auf, ich muss was tun. Schnellen Schrittes eile ich zur Gartenhütte, greife entschieden zu den Werkzeugen meiner Wahl und mache mich über meinen Garten her. Ein Gefühl der Macht keimt in mir auf, als meine Motorsense die ersten Halme fällt. Euphorisch greife ich zur Baumschere und metzle überhängende Sträucher meines Nachbarn nieder. Exterminisierungsbesessen mache ich mich über das Unkraut in meinem Blumenbeet her, hämisch grinsend mache ich Löwenzahn und Co. den Garaus. Siegestrunken lasse ich mich mit einer Flasche Bier auf meinem Gartenstuhl nieder und betrachte mein Werk. Mein Blick fällt auf ein unscheinbares Loch neben dem Tulpenbeet: Wühlmaus-Alarm! Neben dem Flieder rührt sich plötzlich die Erde: Maulwurf-Attacke! Kann ich das zulassen? Niemals! Mit Wühlmaus-Abwehrköder hechte ich zum Tulpenbeet, schlage eine Ninja-Rolle und positioniere mich mit einem Spaten bewaffnet neben dem Maulwurfshügel, um dem possierlichen Tierchen bei der geringsten Bewegung eins Überzubraten. Es geht doch nichts über Gartenarbeit. Ich bin Herr über Leben und Tod, ich bestimme was gedeiht und was stirbt. Meine Machtgelüste kann ich hier hemmungslos ausleben, Allmachtsphantasien setze ich tatkräftig in die Realität um. Gegenwehr? Gibt´s nicht. Jeder Grashalm beugt sich meinem Willen. Wenn´s nur im Job auch so wär´.
Das war ich, bevor ich meine Führungskarriere an den Nagel hing und mit Achtsamkeitstraining anfing. Und heute?
Ich muss nicht mehr etwas tun, sondern ich kann, wenn ich will. Der Rasen muss kein englischer sein, Sträucher dürfen überhängen und Löwenzahn hat seine Daseinsberechtigung zwischen Rosen und Bartnelken. Wühlmäusen, Maulwürfen und selbst der gelegentlichen Katze, die in mein Beet pisst, begegne ich mit Achtsamkeit. Ich bemerke, dass die Tiere da sind, weil sie immer da waren und immer da sein werden, egal was ich mache. Mein Wunsch nach weniger Löchern, Hügeln und Katzenkot macht mich nur unglücklich, weil ich ihn nie verwirklichen kann. Sollte ich mich ärgern, erinnere ich mich behutsam daran, dass es für mich nicht günstig ist und leite meine Gedanken zum schönen Gesamtbild meines Gartens. Gewaltfreie Gartenarbeit lehrt mich, dass es doch auch anders geht – ohne Konkurrenzdenken, Ellbogentechnik und Perfektionismus. Wenn´s nur im Job auch so wär´.
Führungskräfte, fühlt die Frühlingskräfte! Gewaltfreie Gartenarbeit ist Management-Training. Sie lehrt euch, eure Karriere nachhaltig zu gestalten.
Neulich gelesen in einer Job-Annonce: „Bist du flexibel wie ein Gummiband? Dann brauchen wir dich als Office-Manager*in für unsere Agentur.“ Kein Scherz – die haben das wirklich so gepostet.
Seitdem das Wort „Flexibilität“ in unsere Business-Sprache Einzug gehalten hat (Wann war das nochmal? In den 1980er Jahren?), hat es sich gut verankert und gilt als Basis-Attribut, wenn man es in der Arbeitswelt überhaupt annähernd zu etwas bringen will. Aber was bedeutet Flexibilität eigentlich?
Der Begriff ist so superschwanger mit Bedeutungsmehrlingen, dass eine Definition nicht ganz einfach erscheint. Würde mich ein HR-Manager im Bewerbungsgespräch fragen, ob ich denn flexibel sei, würde ich zur Antwort geben: „Naja – ich würde Ihnen gerne was vortanzen, aber leider hab´ ich mein Tütü nicht dabei. Aber im Ernst – definieren Sie doch, was das eigentlich in Ihrem Unternehmen bedeutet. Welcher Erwartungshaltung müsste ich entsprechen?“
Bin ich flexibel, wenn ich aufgrund meiner fachlichen Versiertheit vielseitig einsetzbar bin? Oder bin ich´s, wenn ich Lösungsoptionen aufzeige anstatt zu sagen „Ich bin nicht zuständig“? Oder bin ich´s, wenn ich als Multi-Tasker durchs Büro fege, mit rechts telefonierend, mit links einen Vertrag unterschreibend und mit dem linken Fuß dem Chef einen Kaffee servierend? Vielleicht gelte ich als flexibel, wenn man mich morgen als Expat nach Kiev versetzt, im nächsten Jahr nach Timbuktu und im übernächsten auf den Mond? Nein, denn letzteres würde man „Mobilität“ nennen – räumlich gedachte Flexibilität sozusagen. Bin ich flexibel, wenn ich trotz meiner drei Kinder jederzeitige Erreichbarkeit in einem Teilzeitjob zusage? Oder bin ich es, wenn ich beharrlich immer dieselbe Arbeit verrichte, während ich dreimal im Jahr die Abteilung und das Büro wechsle, jedes Jahr einen Change-Prozess über mich ergehen lasse und im Halbjahresrhythmus einen neuen Chef vor die Nase geknallt bekomme? Oder wäre das dann die Steigerungsstufe von Flexibilität, nämlich „Agilität“?
Vor dreißig Jahren wurde uns Flexibilität abverlangt, heute sollen wir agil sein. Während damals Flexibilität eine individuelle Eigenschaft war, wird Agilität heute als eine kollektive gesehen. Das Postulat der agilen Organisation treibt dabei oft wundersame Blüten. „Und Agilität machen Sie auch?“, wurde ich neulich von einem Beratungskunden gefragt, mit dem ich personenzentrierte Ansätze für organisationale Veränderung diskutierte. Unweigerlich entstand dabei vor meinem geistigen Auge das Bild eines Regenmachers, der mit schamanischen Ritualen einen kriegsmüden Stamm wieder fit machen sollte. Auf meine Frage „Und warum soll´s denn bei Ihnen ein bisschen agiler zugehen?“ erhielt ich für ein paar verdutzte Sekunden zunächst keine, und dann die Standardantwort: „…Digitalisierung…Karussell dreht sich immer schneller…stetig steigender Veränderungsdruck des Marktes…“
Aha: Agilität als zwingende Voraussetzung für Überlebensfähigkeit. Das Rezept: Je mehr agile Mitarbeiter, desto agiler und krisenresistenter das Unternehmen. Eine valide Schlussfolgerung? Ich meine nicht.
Agilität ist überbewertet und bewirkt für sich alleine nichts. Genauso wichtig ist in Krisenzeiten nämlich ihr zweieiiges Zwillingsgeschwisterchen: das Beharrungsvermögen. Während die Agilität zukunftsorientiert und veränderungsbereit in die Pedale tritt, sitzt das Beharrungsvermögen behäbig auf dem Gepäckträger und stellt der Agilität einige unbequeme, aber legitime Fragen:
„Bist du dir sicher, wo du hinwillst?“
„Was ist dann besser, wenn du dein Ziel erreicht hast?“
„Mit welchem Minimum an Veränderung und welchem Maximum an Bewahrung kannst du dieses Ziel erreichen?“
Veränderungsprozesse in Unternehmen profitieren nicht von Agilität allein, sondern vielmehr davon, wie mit der Gegensätzlichkeit zwischen Erneuerungsstreben und Bewahrung von Althergebrachtem umgegangen wird. Ohne einen reflektierten Diskurs über Ausmaß und Zweck der angestrebten Veränderung verkommt Agilität zu orientierungslosem Management-Aktionismus. Findet dieser Diskurs nicht am Beginn eines Veränderungsprozesses statt, lässt allein die Erwähnung des Wortes „Agilität“ durch das Management die Belegschaft in Angststarre verfallen. Die Bewahrung von Bewährtem ist deswegen wichtig, weil sie Sicherheit schafft – und ohne diese kann Veränderungsbereitschaft in Menschen nicht entstehen.
Du siehst schon: ich bin ein Agilitätskritiker. Worauf meine Abneigung gegen Agilität beruht? Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel über nachhaltige Agilitätsentwicklung in Organisationen:
„Ausgehend von dem Agilen Manifest haben wir fünf Dimensionen abgeleitet, die die Eckpfeiler agilen Arbeitens und die Grundlagen von agilen Organisationen darstellen:
1. Customer Value: Wie wird ein Lernprozess sichergestellt, um den Wert für den Kunden kontinuierlich zu maximieren?
2. Frequent Delivery: Wie wird ein hochfrequenter Feedbackzyklus erreicht, um schnelles Lernen und schnelle Adaption des Gelernten sicherzustellen?
3. Human Centric: Wie wird erreicht, dass der Mensch in den Mittelpunkt gesetzt wird, weil dies zu schnelleren Entscheidungen und höherer Motivation führt?
4. Technical Excellence: Welche technische Infrastruktur ist notwendig, um den Prozess optimal in Bezug auf die Schnelligkeit und Qualität in der Entwicklung zu unterstützen?
5. End User Collaboration: Wie wird ein kontinuierlicher Austausch mit den End-Usern erreicht, sodass deren Geschäftsnutzen maximiert wird?“
Wie dieser Absatz demonstriert, geht es bei Agilität lediglich um die Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeit und Nutzenmaximierung. Wie aber kann Kundennutzen fortwährend maximiert werden? Wie kann kontinuierliche Schnelligkeit nachhaltig sein?
Mir erscheint Agilität als unerfüllbares Heilsversprechen an verzweifelte Führungskräfte, denen die Märkte weg-, die Margen ein- und die Mitarbeiter zusammenbrechen.
Wie wollen wir denn in Ländern wie Deutschland oder Österreich agile Organisationen schaffen, wenn Agilität dort nicht Teil der gesellschaftlichen DNA ist? Wenn unser Bildungssystem nur dazu geeignet ist, Beamte und Funktionäre hervorzubringen anstatt junger Menschen, die sich nach der Decke strecken? Wenn unser Sozialstaat uns den letzten Rest Eigenverantwortlichkeit aberzieht und einer Vollkaskomentalität Vorschub leistet? Wenn Verwaltung und Regulierung überbordend sind? Wenn „Schauen wir mal“ die bessere Option ist als „Machen wir´s einfach!“?
Wer in Anti-Agilität sozialisiert wurde, kann nicht ohne weiteres auf Agilität umschalten. Daher werden agilitätsfördernde Konzepte und Maßnahmen nie den gewünschten - geschweige denn einen nachhaltigen - Erfolg bringen.
Unser Bedürfnis nach Aktualität befriedigt eine wichtige menschliche Emotion, die unsere Entwicklung maßgeblich gefördert hat: die Neugier.
Im Zeitalter der Digitalisierung muss allerdings die Frage gestellt werden, wann wir genügend Aktualität konsumiert haben. Brauchen wir jederzeit Nachrichten aus allen Ecken des Planeten? Auf wie viele Newsletter und Blogs können wir verzichten? Brauchen wir sekundenaktuelle Börsenkurse? Wie aktuell und umfangreich soll das Finanzreporting unseres Unternehmens sein?