What the River Knows. Geheimnisse des Nil, Band 1 (Knisternde historische Romantasy) - Isabel Ibañez - E-Book

What the River Knows. Geheimnisse des Nil, Band 1 (Knisternde historische Romantasy) E-Book

Isabel Ibañez

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Beschreibung

Eine gefährliche Reise. Ein tödliches Geheimnis. Ein magischer Kuss. Inez Olivera wünscht sich nichts mehr, als ihre Eltern auf ihren Abenteuern zu begleiten – bis ein Brief alles verändert: Ihre Eltern sind unter mysteriösen Umständen verstorben. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, macht sie sich – ihren antiken Ring im Gepäck – auf den Weg nach Kairo. Doch bei ihrer Ankunft in Ägypten entflammt jahrtausendealte Magie in dem Ring, und Inez gerät nicht nur in ein Spiel voller tödlicher Geheimnisse, sondern auch mit dem gut aussehenden Whit aneinander … Tauche ein in die "Geheimnisse des Nil": Band 1: What the River Knows Band 2: Where the Library Hides (Herbst 2025)

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Seitenzahl: 682

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2025 Ravensburger Verlag WHAT THE RIVER KNOWS Copyright © 2023 by Isabel Ibañez. All rights reserved. First published in the United States by Wednesday Books, an imprint of St. Martin’s Publishing Group. Übersetzung: Dr. Maria Zettner Lektorat: Fam Schaper Covergestaltung: Micaela Alcaino Illustrationen im Innenteil: Isabel Ibañez Verwendete Zitate: Zitate auf den Seiten 145, 373 und 426 stammen aus »Antonius und Cleopatra« von Shakespeare übersetzt von Wolf Graf von Baudissin. Zitat auf S. 357 stammt aus »Julius Caesar« von Shakespeare übersetzt von August Wilhelm von Schlegel. Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51261-4

ravensburger.com/service

Für Rebecca Ross, die sich in Ägypten verliebt hat, als ich den ersten Entwurf schrieb, die mich angefeuert hat, selbst dann, wenn ich in Sackgassen landete, und die völlig hingerissen war, als Whit zum ersten Mal über eine Seite spazierte.

(Grobe) Chronik von Ägypten

2675 – 2130 v. Chr.Altes Reich

1980 – 630 v. Chr.Mittleres Reich

1539 – 1075 v. Chr.Neues Reich

356 v. Chr.Geburt Alexanders des Großen

332 – 305 v. Chr.Hellenistische Periode

69 v. Chr. Geburt Kleopatras VII

31 v. Chr. Schlacht bei Actium (Tod von Kleopatra und Marcus Antonius)

31 v. Chr. Beginn der römischen Herrschaft

639 Arabische Eroberung

969 Kairo wird Hauptstadt

1517 Ägypten geht ins Osmanische Reich ein

1798 Napoleons Ägyptenfeldzug (Entdeckung des Steins von Rosette)

1822 Champollion entziffert die Hieroglyphen

1869 Eröffnung des Suezkanals

1870 Thomas Cooks erste Nilkreuzfahrt

1882 Die englische Flotte bombardiert Alexandria und zerstört ihre Festungen

1922 Ende des britischen Protektorats. Entdeckung des Grabs von Tutanchamun

1953 Unabhängigkeit Ägyptens

Prólogo

AUGUST 1884

Ein Brief veränderte mein ganzes Leben.

Den ganzen Tag schon hatte ich, versteckt in dem alten Geräteschuppen, auf ihn gewartet, weg von Tía Lorena und ihren beiden Töchtern, der einen, die ich sehr mochte, und der anderen, die mich nicht mochte. Mein Zufluchtsort, der alt war und klapprig, stand nur gerade so noch aufrecht. Ein kräftiger Windstoß, und alles wäre in sich zusammengefallen. Goldenes Sonnenlicht kämpfte sich durch das verschmierte Fenster. Doch ich zog die Stirn in Falten, tippte mir mit meinem Stift auf die Unterlippe und gab mir Mühe, nicht an meine Eltern zu denken.

Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, ehe ihr Brief kam.

Falls er überhaupt kam.

Ich schaute auf den Skizzenblock, der an meinen Knien lehnte, und machte es mir in der alten Porzellanbadewanne etwas bequemer. Was noch von der ursprünglichen Zauberkraft an ihr haftete, hüllte mich ein –leidernurspärlich.DerZauberstammteauseinerlangzurückliegenden Zeit, da hatten schon zu viele Hände zugepackt, als dass ich vollständigdarinversinkenkonnte.DaswardasDummeandenmeisten von Zauberhand berührten Gegenständen. Jegliche Spuren des ursprünglichen Zaubers waren schwach und verblassten, je öfter der Gegenstand den Besitzer wechselte. Das hielt meinen Vater allerdings nicht davon ab, so viele magisch angehauchte Sachen zu sammeln, wie er nur finden konnte. Das Herrenhaus war voll von Schuhen, aus deren Sohlen Blumen sprießten, Spiegeln, die anfingen zu singen, wenn man vorüberging, und Truhen, aus denen Seifenblasen quollen, sobald der Deckel aufging.

Draußen rief meine jüngere Cousine Elvira laut meinen Namen. Das wenig damenhafte Gekreische würde Tía Lorena gar nicht gefallen. Sie bevorzugte einen gemäßigten Tonfall, zumindest solange sie nicht selbst sprach. Ihre eigene Stimme konnte erstaunliche Höhen erklimmen.

Vor allem, wenn sie sich an mich richtete.

»Inez!«, rief Elvira.

Ich fühlte mich zu elend für ein Plauderstündchen.

Also rutschte ich tiefer in die Wanne hinein, während vor der Holzhütte meine Prima unter großem Geraschel den üppigen Garten durchkämmte,zwischendemFarnundhintereinemZitronenbaumnach mir suchte und dabei immer wieder meinen Namen rief. Doch ich gab keinen Mucks von mir, für den Fall, dass Elvira ihre ältere Schwester Amaranta dabeihatte. Die Cousine, die ich am wenigsten leiden konnte, bei der nie auch nur der kleinste Fleck auf dem Kleid oder eine Haarsträhne verrutscht war. Die niemals kreischte oder in schrillem Ton sprach.

Durch die Schlitze zwischen den Brettern sah ich Elvira über die unschuldigen Blumenbeete trampeln. Ich unterdrückte ein Lachen, als sie in einen Topf mit Lilien trat und dabei einen lauten Fluch ausstieß, der bei ihrer Mutter garantiert auch nicht gut angekommen wäre.

Gemäßigte Töne und keine Flüche bitte!

Ich sollte mich wohl besser bemerkbar machen, bevor sie noch ein weiteres Paar ihrer empfindlichen Lederschuhe ruinierte. Allerdings wäre ich bis zum Eintreffen des Postboten keine besonders gute Gesellschaft.

Jeden Augenblick konnte er hier sein.

Heute musste sie doch endlich kommen, die Antwort von Mamá und Papá. Tía Lorena hatte eigentlich mit mir in die Stadt fahren wollen, aber ich hatte abgelehnt und mich den ganzen Nachmittag über verkrochen, damit sie mich nicht mit Gewalt aus dem Haus schleppen konnte. Meine Eltern hatten sie und meine beiden Cousinen dazu ausersehen, mir Gesellschaft zu leisten, während sie monatelang in der Weltgeschichte unterwegs waren, und meine Tante gab sich alle Mühe, nur ging mir ihr strenges Regiment ziemlich auf die Nerven.

»Inez! ¿Dónde estás?« Elvira verschwand weiter hinten im Garten, und der Klang ihrer Stimme verlor sich zwischen den Palmen.

Ich schenkte ihr keine Beachtung mehr – dazu schnürte mich mein Korsett auch viel zu sehr ein – und konzentrierte mich wieder auf die Zeichnung, die ich gemacht hatte. Die Gesichter von Mamá und Papá schauten zu mir hoch. Ich war die perfekte Mischung aus den beiden. VonmeinerMutterhatteichdiehaselnussbraunenAugenunddieSommersprossen, meine vollen Lippen und das spitze Kinn. Mein Vater hattemirseinestrubbeligenschwarzenLockenvererbt –diebeiihminzwischen schon ganz grau waren –, außerdem seine gebräunte Gesichtsfarbe,diegeradeNaseunddieAugenbrauen.ErwarälteralsMamá, verstand mich aber am besten.

Mamá war sehr viel schwerer zufriedenzustellen.

Ich wusste selbst nicht, warum ich sie überhaupt gezeichnet hatte, ich wollte doch gar nicht an sie denken. Denn wenn ich an sie dachte, rechnete ich mir immer gleich die vielen Meilen aus, die zwischen uns lagen. Wenn ich an sie dachte, fiel mir wieder ein, dass sie sich ja am anderen Ende der Welt befanden, während ich hier versteckt in meiner kleinen Ecke auf unserem Landgut hockte.

Mir fiel wieder ein, dass sie in Ägypten waren.

Ein Land, das Mamá und Papá heiß und innig liebten, das für sie ein zweites Zuhause war. Solange ich zurückdenken konnte, saßen sie ständig auf gepackten Koffern, und das Abschiednehmen fiel mir von Mal zu Mal schwerer, auch wenn ich gute Miene zum bösen Spiel machte.

Die Reise sei zu gefährlich für mich, erklärten sie mir immer, die Expedition zu lang und anstrengend. Aber mich, die immer nur an ein und demselben Ort herumsaß, lockte das Abenteuer. Ihnen musste es ganz ähnlich gehen, denn trotz aller Widrigkeiten, die sie unterwegs erlebten, kauften sie sich jedes Mal wieder ein Ticket für den Dampfer von Buenos Aires nach Alexandria. Sie luden mich nie ein, sie zu begleiten.

Tatsächlich verboten sie mir, mitzukommen.

MürrischschlugichdasBlattumundstarrteaufdieleereSeitehinunter. Dann fing ich an, aus dem Gedächtnis ägyptische Hieroglyphen zu zeichnen. Das übte ich so oft ich konnte, denn Papá kannte Hunderte dieser Schriftzeichen, was für mich ein Ansporn war. Er fragte mich oft, ob ich wieder neue gelernt hatte, da wollte ich nicht mit leeren Händen dastehen. Ich hatte die zahlreichen Bände von Description de l’Égypte und Florence Nightingales Tagebücher über ihre Reisen durch Ägypten verschlungen und auch noch Samuels Birchs Geschichtsbücher über Ägypten gelesen, kannte die Namen aller Pharaonen aus dem Neuen Reich auswendig und konnte eine ganze Menge ägyptische Götter und Göttinnen zuordnen.

Als ich keine Lust mehr hatte, ließ ich den Stift in meinen Schoß fallen und spielte ein bisschen mit dem Goldring an meinem kleinen Finger herum.DerwarinPapásletztemPäckchenvomJuligewesen,ohneeinenKommentarundnurmitseinemNamenundeinerAbsenderadresse in Kairo auf der Verpackung. Das war mal wieder typisch für ihn. Der Ring funkelte im Dämmerlicht, und ich dachte zurück an den Tag, an dem ich ihn mir zum ersten Mal angesteckt hatte. Sofort hatte ich ein starkes Kribbeln in meinem Finger gespürt, mein Arm war wie elektrisiert, und ich hatte einen Rosengeschmack im Mund.

Vor meinem geistigen Auge stieg das Bild einer Frau auf, das aber gleich wieder verschwand, als ich blinzelte. Doch in dem kurzen Augenblick hatte ich ein so intensives Verlangen gespürt, als wäre ich diese Frau gewesen.

Papá hatte mir ein von Zauberhand berührtes Objekt geschickt.

Es war verwirrend.

Ich habe nie jemandem davon erzählt. Ein Zauber aus der Alten Welt war auf mich übergegangen. So etwas geschah nur selten, war aber möglich, vorausgesetzt, dass nicht so viele Menschen den Gegenstand berührt hatten.

Papá hatte es mir einmal so erklärt: Vor langer Zeit, als die Menschen noch keine Städte gebaut und sich an einem festen Ort niedergelassen hatten, zauberten die Magier überall auf der Welt mithilfe von Pflanzen und anderen Zutaten, die nur sehr schwer aufzutreiben waren. Mit jedem Zauber entlud sich ein Funke, eine überirdische Energie, die auf Gegenstände in der Nähe übersprang und dort einen Abdruck hinterließ.

Eine natürliche Begleiterscheinung des Zauberns.

Aber niemand beherrscht heute noch diese Kunst. Die Menschen mit dem nötigen Wissen leben schon lange nicht mehr. Da es bekanntlich gefährlich ist, Zauberformeln aufzuschreiben, hatten sie ihre Methoden mündlich weitergegeben. Doch selbst diese Tradition starb irgendwann aus,sodassmansichmitvonMenschenhandgemachtenDingenbegnügen musste.

Uralte Praktiken gerieten in Vergessenheit.

AberalldieschongewirkteMagie,diesesunfassbareEtwas,warja in der Welt, war tief in die Erde oder in Seen und Meere eingesunken. Sie haftete an Gegenständen, und manchmal sprang sie eben auch über – wenn sie in Kontakt mit etwas oder jemand anderem kam. Magie hat ihreneigenenKopf,undmankannunmöglichsagen,warumsieaufeinen bestimmten Gegenstand oder Menschen übergeht und nicht auf einen anderen. Jedenfalls schwächt sich der Zauber mit jedem Übergang ein kleines bisschen weiter ab, bis er am Ende ganz weg ist. Begreiflicherweise kaufen die Leute nicht gerne etwas, dem womöglich noch ein alter Zauber anhaftet. Am Ende erwischt man noch eine Teekanne, die Neid zusammenbraut oder einen kratzbürstigen Geist heraufbeschwört.

Unzählige Artefakte wurden von Geheimorganisationen, die auf das Aufspüren von Magie spezialisiert waren, versteckt oder vernichtet und tauchten niemals wieder auf.

Ebenso wie die Namen der Schöpfer der Magie. Niemand weiß mehr, wer sie waren, wie sie lebten, was sie so machten. Und doch hinterließen sie all die verborgenen Schätze, die in den meisten Fällen noch gar nicht so oft von Hand zu Hand gegangen sind.

Mamá war die Tochter eines bolivianischen Viehzüchters, und in ihrem kleinen Pueblo, so erzählte sie mir einmal, war die magia allgegenwärtig,einselbstverständlicherTeildesLebens.Verstecktinabgetragenen Ledersandalen oder in einem alten Sombrero – sie war fasziniert gewesen von der Vorstellung, dass sich in alltäglichen Dingen noch Überreste kraftvoller Zauber bewahrt hatten.

Ich blätterte meinen Skizzenblock um und fing noch einmal neu an. Nur nicht an den letzten Brief denken, den ich an meine Eltern geschickt hatte. Den ersten Satz hatte ich etwas krakelig in Hieroglyphen geschrieben und sie dann noch einmal gebeten, mich doch bitte, bitte nach Ägypten kommen zu lassen. Das hatte ich schon unzählige Male getan, und die Antwort war immer die gleiche gewesen.

Nein, nein, nein.

Aber dieses Mal war es ja vielleicht anders. Noch heute konnte ihr Brief eintreffen, und es war doch möglich, dass er das erlösende Wort enthielt.

Ja, Inez, du darfst endlich in das Land kommen, in dem wir so viel Zeit getrennt von dir verbringen. Ja, Inez, endlich kannst du dir ansehen, was wir in der Wüste machen und warum sie uns so viel bedeutet – mehr als die Zeit mit dir. Ja, Inez, endlich sollst du begreifen, warum wir dich immer wieder verlassen und warum wir dich bisher nie zu uns geholt haben.

Ja, ja, ja.

»Inez«, brüllte Cousine Elvira plötzlich wieder. Ich erschrak. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sie so nah an mein Versteck herangekommen war. Der Zauber, der noch an der alten Badewanne haftete, mochte mich ja von Weitem unsichtbar machen, aber wenn sie näher kam, würde sie mich problemlos sehen können. Ihre Stimme wurde schriller, und ich hörte eine leichte Panik heraus. »Du hast Post.«

Ruckartig setzte ich mich auf.

Finalmente.

Ich steckte mir den Stift hinters Ohr und stieg aus der Wanne. Dann stieß ich die schwere Holztür einen Spalt breit auf und spähte mit einem verlegenen Lächeln nach draußen. Elvira stand keine zehn Schritte von mir entfernt. Zum Glück war Amaranta nirgendwo zu sehen. Sie wäre entsetzt über meinen zerknitterten Rock und würde die Schandtat sofort ihrer Mutter melden.

»Holla, Prima!«, rief ich laut.

Elvira kreischte auf und sprang erschrocken hoch. Dann verdrehte sie die Augen. »Du bist unverbesserlich.«

»Nur bei dir.« Ich schaute auf ihre leeren Hände hinunter. »Wo ist denn der Brief?«

»Meine Mutter hat gesagt, ich soll dich holen. Mehr weiß ich nicht.«

Ich hakte mich bei ihr unter, und wir machten uns auf den Weg zum Haus. Ich hatte wie immer einen schnellen Schritt drauf. Mit dem langsamen Schlendergang meiner Tante konnte ich nichts anfangen. Wollte sie denn nie irgendwo ankommen? Elvira musste sich anstrengen, um mitmirmitzuhalten.EswareinpassendesBildfürunserVerhältnis.Immer versuchte sie, mir nachzueifern und mir alles recht zu machen. Wenn mir etwas in Gelb gefiel, dann gab es auch für sie keine schönere Farbe. Wenn ich Hunger auf Carne Asada hatte, holte sie schon mal das Messer aus der Schublade.

»Der Brief löst sich schon nicht in Luft auf«, lachte Elvira und warf ihr dunkelbraunes Haar zurück. Sie hatte liebevolle Augen, und ihre vollen Lippen umspielte ein fröhliches Lächeln. Wir sahen uns ziemlich ähnlich, abgesehen von unseren Augen. Ihre waren grün, während meine haselnussbraunen immer in einer anderen Schattierung schimmerten. »Meine Mutter hat gesagt, er ist in Kairo abgestempelt.«

Mir stockte das Herz.

Ich hatte meiner Cousine nichts von meinem letzten Brief an meine Eltern erzählt. Es hätte ihr nicht gefallen, dass ich zu Mamá und Papá fahren wollte. Weder meine Cousinen noch meine Tante hatten Verständnis dafür, dass sich meine Eltern die Hälfte des Jahres nach Ägypten verzogen. Für sie gab es nichts Schöneres als Buenos Aires mit seiner europäischen Architektur, den Prachtstraßen und schicken Cafés. Die Familie meines Vaters stammte ursprünglich aus Spanien. Vor etwa hundert Jahren hatte sie sich nach einer äußerst beschwerlichen Überfahrt in Argentinien angesiedelt und in der Eisenbahnindustrie ein Vermögen gemacht.

DieEhemeinerElternverbandMamásgutenNamenmitPapásvielem Geld, aber mit den Jahren erwuchs daraus tiefe Zuneigung und gegenseitiger Respekt und bis zum Zeitpunkt meiner Geburt eine große Liebe. Papá bekam nie die große Familie, die er sich gewünscht hatte, aber meine Eltern sagten gern, dass sie mit mir sowieso alle Hände voll zu tun hätten.

Allerdings weiß ich auch nicht so genau, wie sie das wohl meinten, wo sie doch so viel auf Reisen waren.

Wir waren fast am Haus angekommen. Groß und wunderschön stand es da mit seinen weißen Steinen und großen Fenstern, reich verziert und elegant wie ein Pariser Stadtpalais. Ein vergoldeter Eisenzaun schloss uns ein und versperrte die Sicht auf die umliegende Gegend. Als ich klein war,warichimmeraufdieobersteSprossederPfortegeklettert,weil ich hoffte, ich könnte von dort aus den Ozean sehen. Doch das blieb ein Wunschtraum, und ich musste mich mit der Erkundung des großen Gartens begnügen.

Aber der Brief konnte alles verändern.

Ja oder nein. Würde ich hierbleiben oder weggehen? Jeder Schritt in Richtung Haus war ein Schritt auf ein neues Land zu. Eine neue Welt.

Ein Platz am Tisch neben meinen Eltern.

»Da bist du ja endlich«, rief Tía Lorena von der Verandatür aus. Neben ihr stand Amaranta mit einem dicken, ledergebundenen Wälzer in der Hand. Die Odyssee. Interessante Wahl. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte der letzte Klassiker, an dem sie sich versucht hatte, sie in den Finger gebissen. Blut war auf die Seiten getropft, und das verzauberte Buch war durchs Fenster geflohen und wurde nie wieder gesehen. Allerdings hörte ich immer noch von Zeit zu Zeit ein Jaulen und Knurren aus den Sonnenblumenbeeten …

Das mintgrüne Kleid meiner Cousine kräuselte sich in der warmen Brise, aber davon abgesehen war sie perfekt wie immer. Kein einziges Haar wagte es, sich aus der zurückgekämmten Frisur zu lösen. Amaranta war so, wie meine Mutter mich gerne gesehen hätte. Ihre dunklen Augen musterten mich eingehend, und sie verzog missbilligend den Mund, als sie meine schmutzigen Finger bemerkte. Kohlestifte hinterließen nun mal ihre Spuren, so wie Ruß.

»Na, mal wieder die Nase im Buch?«, neckte Elvira ihre Schwester.

Amaranta begann zu lächeln und hakte sich bei Elvira unter. »Es ist eine spannende Geschichte. Wärst du doch bei mir geblieben, dann hätte ich dir meine Lieblingsstellen vorgelesen.«

Mit mir redete sie nie so liebevoll.

»Wo warst du denn bloß? Ach, schon gut«, unterbrach Tía Lorena mich, als ich gerade antworten wollte. »Dein Kleid ist schmutzig, weißt du das?«

DergelbeLeinenstoffwarganzzerknittertundfleckig,abereswareinsmeinerLieblingskleider.Eswarsopraktisch,dennichbrauchtezum Anziehen keine Zofe. Heimlich hatte ich mir mehrere Kleider bestelltmitKnöpfen,andieichleichtalleineherankam.TíaLorenawardarüberentsetzt.Siefand,solcheKleiderwärenunanständig.MeinearmeTantegabsichdiegrößteMühe,ausmireinevorzeigbarejungeDamezumachen,aberzuihremLeidwesenhatteicheinunnachahmlichesTalent,RocksäumezuruinierenundRüschenzuzerdrücken.IchliebtemeineKleider,abermusstensieunbedingtsoempfindlichsein?

Sie stand mit leeren Händen da, und ich konnte meine Ungeduld kaum noch beherrschen. »Ich war im Garten.«

Elvira verstärkte den Griff um meinen Arm und kam mir zu Hilfe. »Sie hat an ihrem Malstil gefeilt, Mamá, weiter nichts.«

Meine Tante und Elvira liebten beide meine Zeichnungen (Amaranta fand sie zu unreif) und sorgten dafür, dass ich auch immer ausreichend StifteundPinselhatte.TíaLorenahieltmichsogarfürbegabtgenug, ummeineBilderineinerdervielenGalerienzuverkaufen,dieüberall in derStadtausdemBodenschossen.SieundmeineMutterhattenmeinen Lebensweg schon genau geplant. Neben unzähligen Privatstunden in den verschiedenen Künsten hatte ich Unterricht in Französisch und Englisch, den Naturwissenschaften und in Geschichte bekommen, vor allem natürlich in ägyptischer Geschichte.

Papá gab mir all die Bücher zu dem Thema, die er selbst gelesen hatte, und begeisterte mich auch für die Theaterstücke, die ihm wichtig waren. Shakespeare war sein Lieblingsautor, und wir warfen uns gegenseitig die Zitate zu wie bei einem Ballspiel, das nur wir beide beherrschten. Hin und wieder führten wir in unserem Ballsaal Stücke für die Dienerschaft auf. Als Förderer des Opernhauses kam Papá problemlos an Kostüme, Perücken und Theaterschminke, und ich erinnere mich noch gut an die Anproben und Planungen unserer Vorstellungen.

Die Miene meiner Tante hellte sich auf. »Na, jetzt komm, Inez. Du hast Besuch.«

Ich warf Elvira einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du hast doch gesagt, es wäre Post für mich gekommen!«

»Dein Besucher hat einen Brief von deinen Eltern mitgebracht«, stellte Tía Lorena klar. »Er muss sie auf einer Reise getroffen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wer dir sonst schreiben sollte. Es sei denn, es gibt da einen geheimnisvollen Caballero, von dem ich nichts weiß …« Sie schaute mich erwartungsvoll an.

»Die letzten beiden hast du ja vergrault.«

»Nichtsnutze,allebeide.KeinervonihnenkonnteetwasmiteinerSalatgabel anfangen.«

»Ich weiß gar nicht, warum du überhaupt noch welche anschleppst«, entgegnete ich. »Mamá hat doch schon alles entschieden. Sie meint, Ernesto wäre der passende Mann für mich.«

Tiá Lorena machte ein langes Gesicht. »Es schadet doch nichts, ein bisschen Auswahl zu haben.«

Ich musste schmunzeln. Meine Tante hätte noch gegen einen Prinzen Einwände erhoben, sofern der Vorschlag von meiner Mutter gekommen wäre. Die zwei hatten sich nie gut verstanden. Dafür waren beide zu eigenwillig und rechthaberisch. Manchmal hatte ich sogar den Verdacht, dass meine Tante der Grund war, warum meine Mutter mich so viel allein ließ. Sie konnte es nicht ertragen, mit der Schwester meines Vaters auf gleichem Raum zu leben.

»Das Vermögen seiner Familie spricht bestimmt für ihn«, sagte Amaranta mit ihrer nüchternen Stimme. Den Ton kannte ich. Eine arrangierte Ehe widerstrebte ihr noch mehr als mir. »Das ist doch wohl das Wichtigste, oder etwa nicht?«

Ihre Mutter schaute sie empört an. »Das ist es nicht, nur weil …«

Ich klinkte mich aus dem Rest der Unterhaltung aus und schloss die Augen. Der Brief meiner Eltern war angekommen, und ich hatte endlich meine Antwort. Heute Abend würde ich meine Garderobe zusammenstellen, meine Koffer packen, vielleicht sogar Elvira überreden, mich auf der langen Reise zu begleiten. Ich öffnete meine Augen gerade rechtzeitig,umdiekleineSorgenfalteaufderStirnmeinerCousinezubemerken.

»Ich habe die ganze Zeit auf Nachricht von ihnen gewartet«, erklärte ich ihr.

Sie schaute skeptisch drein. »Wartest du nicht immer auf Nachricht von ihnen?«

Ein guter Einwand. »Ich habe sie gefragt, ob ich zu ihnen nach Ägypten kommen kann«, gestand ich mit einem nervösen Blick auf meine Tante.

»Aber … aber, warum denn nur?«, stammelte Tía Lorena.

IchhaktemichbeiihrunterundschobunsalleinRichtungHaus. Es muss reizend ausgesehen haben, wie wir drei da so Arm in Arm die große Halle durchquerten mit meiner Tante, die den Takt angab wie eine Fremdenführerin.

Das Haus hatte neun Schlafzimmer zu bieten und dazu noch ein Frühstückszimmer, zwei Salons und eine Küche, die es mit dem elegantesten Hotel in der Stadt aufnehmen konnte. Wir hatten sogar ein Raucherzimmer, aber seit Papá zwei Sessel gekauft hatte, die fliegen konnten,hatteesniemandmehrbetreten.SiehattenziemlichenSchadenangerichtet, waren in die Wände gekracht, hatten die Spiegel zerschlagen und Löcher in die Bilder gebohrt. Mein Vater trauerte immer noch seinem zweihundert Jahre alten Whiskey nach, den er im Barschrank aufbewahrt hatte.

»Weil sie eben Inez ist«, erklärte Amaranta. »Zu schade für häusliche Tätigkeiten wie Nähen oder Stricken oder irgendeine andere Beschäftigung für ehrbare Damen.« Sie warf mir einen finsteren Blick zu. »Deine Abenteuerlust wird dich eines Tages noch in Schwierigkeiten bringen.«

Das saß. Ich war mir nicht zu schade fürs Nähen und Stricken. Ich machte beides nur nicht gern, weil ich so furchtbar schlecht darin war.

»Es geht um deinen cumpleaños«, sagte Elvira. »Das muss es sein. Du bist traurig, dass sie nicht dabei sein werden, und das kann ich gut verstehen. Wirklich, Inez. Aber sie kommen ja auch wieder zurück, und dann veranstalten wir ein großes Fest und laden alle gut aussehenden Jungs aus der barrio ein, auch Ernesto.«

Da hatte sie nicht ganz unrecht. Meine Eltern würden meinen neunzehnten Geburtstag verpassen. Wieder ein Jahr, in dem ich die Kerzen alleine ausblasen musste.

»Dein Onkel hat einen ganz schlechten Einfluss auf Cayo«, erklärte Tía Lorena verächtlich. »Ich begreife wirklich nicht, warum mein Bruder so viele von Ricardos verrückten Ideen unterstützt. Kleopatras Grab, du meine Güte!«

»¿Qué?«, fragte ich.

Sogar Amaranta war hellhörig geworden. Erstaunt spitzte sie die Lippen. Wir waren zwar beide Leseratten, aber ich hatte nicht angenommen, dass sie eins von meinen Büchern über das alte Ägypten kannte.

Tía Lorena errötetet leicht, und sie steckte sich verlegen eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinters Ohr. »Ricardos neustes Hirngespinst. Ich habe nur zufällig mit angehört, wie Cayo mit seinem Anwalt darüber sprach.«

»Über Kleopatras Grab?«, hakte ich nach. »Und was meinst du eigentlich genau mit dem Wort unterstützen?«

»Wer in aller Welt ist Kleopatra?«, fragte Elvira. »Und warum konntestdumirnichtsoeinenNamengeben,Mamá?Klingtdochvielromantischer. Stattdessen heiße ich jetzt Elvira.«

»Zum letzten Mal: Elvira ist würdevoll. Elegant und angemessen. Genau wie Amaranta.«

»Kleopatra war die letzte Pharaonin Ägyptens«, erklärte ich. »Papá hat das letzte Mal, als sie hier waren, über nichts anderes gesprochen.«

Elvira runzelte die Stirn. »Frauen konnten Pharaonen werden?«

Ich nickte. »Die Ägypter waren schon sehr fortschrittlich. Obwohl KleopatrastrenggenommengarkeineÄgypterinwar.SiewarGriechin. Auf jeden Fall waren sie, wenn du mich fragst, unserer Zeit weit voraus.«

Amaranta sah mich vorwurfsvoll an. »Dich hat aber keiner gefragt.«

Ich beachtete sie nicht weiter und wandte mich wieder mit fragendem Blick an meine Tante. Jetzt wollte ich es aber genau wissen. »Was kannst du uns noch darüber sagen?«

»Die Einzelheiten kenne ich nicht«, wehrte Tía Lorena ab.

»Das hört sich aber anders an«, entgegnete ich.

Elvira beugte sich vor und verdrehte den Kopf, sodass sie ihrer Mutter ins Gesicht schauen konnte. »Also ich würde das auch gern wissen …«

»Das war ja zu erwarten. Du willst doch immer alles, was Inez will«, murmelte meine Tante genervt. »Was sage ich immer über vorwitzige junge Damen, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen? Amaranta macht mir nie so viel Ärger.«

»Du warst doch diejenige, die gelauscht hat«, wehrte sich Elvira. Dann wandte sie sich mir mit einem eifrigen Lächeln zu. »Glaubst du, deine Eltern haben auch ein Päckchen mit dem Brief geschickt?«

Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken. Der letzte Brief meiner Eltern hatte in einer Kiste voller wunderbarer Dinge gesteckt, und in der Zeit, die ich fürs Auspacken brauchte, und noch mehr beim Betrachten der Schätze, war mein Groll schon fast dahingeschmolzen. Hinreißende gelbe Pantoffeln mit goldenen Troddeln, ein rosafarbenes Seidenkleid mit feiner Stickerei und ein etwas schrulliger Übermantel in einem wilden Farbenmeer: Dunkelviolett, Oliv, Pfirsich und ein blasses Meergrün. Aber das war nicht alles: Ganz unten in der Kiste hatte ich noch kupferne Trinkbecher und eine Konfektschale aus Elfenbein mit Perlmuttintarsien gefunden.

Jedes Geschenk, jeder Brief, den sie mir schickten, war mir lieb und teuer, auch wenn es nur halb so viel war wie das, was ich ihnen schickte. Aber das spielte keine Rolle. In gewisser Weise verstand ich sogar, dass ich mehr nicht von ihnen erwarten durfte. Sie hatten sich für Ägypten entschieden und sich ihm mit Haut und Haaren verschrieben, und ich hatte gelernt, mich mit dem zu begnügen, was noch übrig blieb, auch wenn dieser Gedanke mir schwer wie Blei im Magen lag.

Ich wollte Elvira gerade antworten, aber wir bogen um die Ecke und ich blieb abrupt stehen.

Ein älterer Herr mit graumeliertem Haar und tiefen Falten auf der braun gebrannten Stirn wartete an der Haustür. Ich kannte ihn nicht. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf den Brief gerichtet, der in der runzligen Hand des Fremden steckte.

Ich riss mich von meiner Tante und meinen Cousinen los und lief auf den Mann zu. Das Herz schlug heftig gegen meine Rippen wie ein Vogel, der sich aus seinem Käfig befreien will. Hier war sie endlich. Die Antwort, auf die ich so sehnsüchtig gewartet hatte.

»Señorita Olivera«, sagte der Mann mit einer tiefen Baritonstimme. »Ich bin Rudolpho Sanchez, der Anwalt Ihrer Eltern.«

Seine Worte nahm ich gar nicht wahr. Ich hatte ihm bereits den Brief aus der Hand gerissen. Mit zittrigen Fingern drehte ich ihn um und wappnete mich innerlich für die Nachricht. Die Schrift auf dem Umschlag war mir vollkommen fremd, also drehte ich ihn noch einmal um und sah mir das erdbeerfarbene Wachssiegel genauer an. In der Mitte war ein winziger Käfer – nein, ein Skarabäus – zu erkennen und darum herum Worte, die so verzerrt waren, dass ich sie beim besten Willen nicht lesen konnte.

»Worauf wartest du? Soll ich es dir vielleicht vorlesen?«, fragte Elvira und spähte mir über die Schulter.

Ich schenkte ihr keine Beachtung, riss den Umschlag auf und überflog in aller Eile die verwischte Schrift. Jemand musste etwas darüber verschüttet haben, aber das nahm ich nur ganz am Rande wahr, denn ich hatte inzwischen begriffen, was ich da gerade las. Die Worte verschwammen vor meinen Augen, und mit einem Mal bekam ich kaum noch Luft.

Neben mir stieß Elvira einen schrillen Schrei aus. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, die eisige Hand der Panik.

»Und?«, drängte Tía Lorena mit einem besorgten Blick auf den Anwalt.

Meine Zunge schien derart angeschwollen zu sein, dass ich nicht sicher war, überhaupt sprechen zu können. Als ich es dann doch tat, war meine Stimme so heiser, als hätte ich stundenlang nur geschrien.

»Meine Eltern sind tot.«

Teil eins

In einem anderen Land

Capítulo uno

November 1884

Herrgott noch mal, wann konnte ich denn endlich runter von diesem verfluchten Schiff?

Ich spähte durch das Bullauge in meiner Kabine, die Finger fest an die Scheibe gedrückt wie ein Kind, das sich vor dem Schaufenster einer Bäckerei nach all den süßen Verlockungen dahinter verzehrt. Keine einzige Wolke trübte den azurblauen Himmel über dem Hafen von Alexandria. Ein langer Holzsteg streckte sich dem Schiff zur Begrüßung entgegen, und auf der ausgefahrenen Ausstiegsplanke beförderten bereits Mannschaftsmitglieder lederne Schrankkoffer, Hutschachteln und Holzkisten aus dem Bauch des Dampfschiffes.

Ich hatte es nach Afrika geschafft.

Nach einem Monat auf See, über einen launischen Ozean hinweg, war ich endlich angekommen. Um einige Pfunde leichter – das Meer und ich, wir mochten uns einfach nicht – und nach unzähligen schlaflosen, tränenreichen Nächten und den immer gleichen Kartenspielen mit meinen Mitreisenden war ich tatsächlich hier.

Ägypten.

Das Land, in dem meine Eltern siebzehn Jahre verbracht hatten.

Das Land, in dem sie gestorben waren.

Nervös spielte ich an dem goldenen Ring herum, den ich seit Monaten nicht mehr vom Finger genommen hatte. Er gab mir das Gefühl, ich hätte meine Eltern mit auf die Reise genommen. Ich hatte erwartet, beim ersten Blick auf die Küste ihre Gegenwart zu spüren, eine enge Verbindung.

Doch so war es nicht. Ich spürte auch jetzt noch nichts.

MeineUngeduldtriebmichwegvomFensterundließmichmitwild ausschlagenden Armen auf und ab laufen, bis in jeden Winkel meiner luxuriösen Kabine. Ich war der reinste Wirbelwind, wie elektrisiert. DiegepacktenKofferschobichmitdemFußzurSeite,ummirPlatz zu schaffen. Auf dem schmalen Bett lag meine Seidenhandtasche. Die schnappte ich mir im Vorbeigehen und riss noch einmal den Brief meines Onkels heraus.

Der zweite Satz traf mich noch immer mitten ins Herz und trieb mir die Tränen in die Augen. Trotzdem zwang ich mich, alles noch einmal von vorne bis hinten zu lesen. Bei dem leichten Schaukeln des Schiffes war das gar nicht so leicht, aber trotz der aufkommenden Übelkeit gab ich mir Mühe, nicht versehentlich das Blatt zu zerreißen, und las zum hundertsten Mal die niederschmetternden Worte.

Juli 1884

Meine liebe Inez,

ich weiß gar nicht, wo ich anfangen und wie ich das zu Papier bringen soll, was ich Dir mitteilen muss. Deine Eltern sind in der Wüste verschollen und aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Wir haben wochenlang nach ihnen gesucht, aber keine Spur von ihnen gefunden.

Es tut mir sehr leid, mehr, als ich in Worte fassen kann. Du sollst wissen, dass ich immer für Dich da sein werde, und wenn Du etwas brauchst, musst du mir nur schreiben. Es wird wohl das Beste sein, wenn Du unverzüglich in Buenos Aires eine Trauerfeier ausrichtest, dann kannst Du sie besuchen, wann immer Du willst. Wie ich meine Schwester kenne, ist ihr Geist ganz bestimmt schon bei Dir im Land ihrer Geburt.

Wie Du Dir vermutlich denken kannst, bin ich jetzt Dein Vormund und der Nachlassverwalter des Vermögens und Deines Erbes. Da Du inzwischen achtzehn und allem Anschein nach eine intelligente junge Frau bist, habe ich an die argentinische Nationalbank geschrieben und mein Einverständnis gegeben, dass Du Dir dort nach Bedarf Geldmittel abholst – in angemessenem Rahmen, versteht sich.

Nur Du und ich haben Zugriff auf das Geld, Inez.

Gib gut acht, wem Du Vertrauen schenkst. Ich habe mir erlaubt, den Familienanwalt über die Sachlage zu informieren, und gebe Dir den guten Rat, Dich an ihn zu wenden, falls Du jetzt gleich etwas brauchst. Wenn Du gestattest, würde ich Dir auch gern empfehlen, einen Verwalter für das Gut einzustellen, damit Du den Freiraum hast, diesen entsetzlichen Verlust zu verarbeiten. Verzeih mir die schlimme Nachricht. Ich bedaure aufrichtig, dass ich nicht bei Dir sein und mit Dir gemeinsam trauern kann.

Bitte lass mich wissen, wenn ich Dir irgendwie helfen kann.

Dein Onkel,

Ricardo Marqués

Ich setzte mich aufs Bett und ließ mich ungehemmt und vollkommen undamenhaft nach hinten plumpsen, wobei mir sofort Tía Lorenas ermahnende Stimme im Ohr klang: Eine Dame muss immer eine Dame bleiben, auch wenn niemand zusieht. Das bedeutet, kein Herumlümmeln oder Fluchen, Inez. Ich schloss die Augen und verdrängte das schlechte Gewissen, das mich plagte, seit ich das Gut verlassen hatte. Es war ein hartnäckiger Reisegefährte und ließ sich auch mit zunehmender Entfernung nicht ausblenden. Weder Tía Lorena noch meine Cousinen hatten etwas von meinen Plänen geahnt, Argentinien zu verlassen. Ich konnte beinahe ihre Gesichter vor mir sehen, als sie in meinem Zimmer meinen Abschiedsbrief vorfanden.

Mir hatte der Brief über meine Eltern das Herz gebrochen. Für sie konnte meiner nicht viel weniger schmerzhaft gewesen sein.

Keine Anstandsdame. Gerade einmal neunzehn – meinen Geburtstag hatte ich untröstlich weinend in meinem Zimmer verbracht, bis Amaranta laut an die Wand klopfte – und schon mutterseelenallein auf Reisen, vollkommen unbeaufsichtigt und unerfahren und nicht mal eine Zofe, die mir die leidige Angelegenheit der Kleiderpflege abnahm. Ich hatte es gewagt. Aber das spielte keine Rolle. Ich war hier, um mehr über das Verschwinden meiner Eltern in Erfahrung zu bringen. Ich wollte herausfinden, warum mein Onkel nicht besser auf sie aufgepasst hatte und warum sie alleine da draußen in der Wüste gewesen waren. Zugegeben, mein Vater war ziemlich zerstreut, aber er würde doch nie meine Mutter solchen Gefahren aussetzen, ohne ausreichend Vorräte.

Ich kaute auf meiner Unterlippe. Ganz stimmte das vielleicht doch nicht. Er konnte durchaus leichtsinnig handeln, vor allem wenn er es eilig hatte. Trotzdem, da war noch so manches im Unklaren, und ich hasste unbeantwortete Fragen. Sie waren wie eine offene Tür, die ich hinter mir schließen wollte.

Ich hoffte, mein Plan würde aufgehen.

Das Reisen ohne Begleitung öffnete mir die Augen über mich. Ich stellte zum Beispiel fest, dass ich nicht gern alleine esse, dass mir beim LesenaufeinemSchiffschlechtwirdunddassicheinemiserableKartenspielerin bin. Ich machte aber auch die Erfahrung, dass ich ein Talent dafür habe, mich mit Menschen anzufreunden. Die meisten waren ältere Ehepaare, die wegen des angenehmen Klimas nach Ägypten reisten. Anfangs waren sie schockiert, dass ich alleine unterwegs war, aber darauf war ich gefasst gewesen.

Ich behauptete einfach, ich wäre eine Witwe, und hatte mich auch entsprechend gekleidet.

Meine Vorgeschichte wurde mit jedem Tag ausgeklügelter. Man hatte mich viel zu jung mit einem älteren Caballero verheiratet, der mein Großvater hätte sein können. Bis zum Ende der ersten Woche hatte ich so gut wie alle Frauen auf meiner Seite, und den Herren imponierte mein Wunsch, durch Reisen meinen Horizont zu erweitern.

Ich blickte zum Fenster und machte ein langes Gesicht. Ungeduldig riss ich meine Kabinentür auf und schaute den Korridor hinunter. Immer noch keine Erlaubnis, von Bord gehen zu dürfen. Ich machte die Tür wieder zu und packte zu Ende.

Ich dachte über meinen Onkel nach.

Nachdem ich mir meine Fahrkarte gekauft hatte, hatte ich ihm noch schnell einen Brief geschrieben. Bestimmt wartete er jetzt schon ungeduldig am Kai auf mich. Nicht mehr lange, und wir würden uns nach zehnJahrenendlichwiedersehen.EinganzesJahrzehntohneirgendwelchenKontakt.IchhattezwardenBriefenanmeineElternvonZeit zuZeitmaleineZeichnungfürihnbeigelegt,aberdaswarreineHöflichkeit. Und er hatte mir nie etwas geschickt. Kein einziger Brief, keine Geburtstagskarte oder ein Souvenir, das er meinen Eltern für mich mitgegeben hätte. Wir waren Fremde, Familie nur dem Blut und dem Namennach.IchkonntemichkaumnochanseinenBesuchinBuenosAireserinnern, aber das war nicht weiter schlimm, denn meine Mutter sorgte schon dafür, dass ich ihren Lieblingsbruder nicht ganz vergaß, der, nebenbei gesagt, auch ihr einziger Bruder war.

MamáundPapáwarenbegnadeteGeschichtenerzähler,siekonnten mit Worten anschaulich ganze Welten erschaffen, die alle Sinne ansprachen und unvergesslich blieben. Tío Ricardo erreichte so geradezu Legendenstatus. Ein Koloss von Mann, der immerzu Bücher mit sich herumschleppte,seineBrillemitDrahtgestellzurechtrückteunddie haselnussbraunen Augen auf den Horizont gerichtet hielt, während er ein weiteres Paar Stiefel durchlief. Er war groß und kräftig, was nicht so recht zu seinen geistigen Interessen und Forschungsaktivitäten zu passen schien. Die Wissenschaft war seine Welt, in Bibliotheken fühlte er sich am wohlsten, doch war er gleichzeitig rauflustig genug, um sich in einer Kneipenschlägerei behaupten zu können.

Nicht, dass ich persönlich irgendetwas über Kneipenschlägereien wusste und wie man sich in ihnen behauptet.

Die große Leidenschaft meines Onkels war die Archäologie. Geweckt wurde sie in den Ausgrabungsstätten von Quilmes im Norden Argentiniens, wo er in meinem Alter schon eifrig die Schaufel schwang. Nachdem er dort so viel er nur konnte gelernt hatte, machte er sich auf nach Ägypten.HierverliebteersichineineÄgypterinnamensZaziundheiratete sie, doch nach nur drei gemeinsamen Jahren starb sie bei der Geburt eines Kindes. Er hat nie wieder geheiratet und kehrte, abgesehen von dem erwähnten einen Besuch, auch nicht mehr nach Argentinien zurück. Nicht so ganz klar war mir allerdings, was er eigentlich genau machte. War er ein Schatzsucher? Ein Student der Ägyptologie? Liebte er einfach den Sand und Tage in der brennenden Sonne?

Vielleicht war er ja ein bisschen was von allem.

Mein einziger wirklicher Anhaltspunkt war dieser Brief. Darin hatte er zweimal betont, dass ich, sollte ich etwas brauchen, mich jederzeit bei ihm melden konnte.

Ja, ich brauchte tatsächlich etwas, Tío Ricardo.

Antworten.

***

Tío Ricardo war spät dran.

Ich stand am Kai, die salzige Seeluft in der Nase. Die Sonne knallte unbarmherzig auf mich herunter, und die Hitze raubte mir beinahe den Atem. Meiner Taschenuhr zufolge wartete ich bereits seit zwei Stunden. Mein Gepäck war gefährlich schief neben mir aufgestapelt, während ich nach einem Gesicht Ausschau hielt, das große Ähnlichkeit mit dem meiner Mutter hatte. Mamá hatte mir erzählt, dass der Bart ihres Bruders außer Kontrolle geraten und inzwischen viel zu buschig und lang war für die feine Gesellschaft.

Um mich herum drängten sich die Menschen, die mit lautem Geschnatter ihrer Begeisterung Luft machten, endlich im Land der ehrwürdigen Pyramiden und des majestätischen Nils angekommen zu sein. Ich konnte in ihre gute Laune nicht einstimmen, dazu plagten mich meine Füße zu sehr, machte ich mir zu viele Sorgen über meine unsichere Lage.

Ich fühlte allmählich schon eine leichte Panik in mir aufsteigen.

Lange konnte ich hier nicht mehr stehen bleiben. Die Sonne strebte mit großen Schritten auf den Horizont zu, und die Brise, die vom Meer her kam, wurde merklich kühler. Ich hatte noch einige Meilen zurückzulegen. Soweit ich mich erinnern konnte, nahmen meine Eltern immer von Alexandria aus den Zug nach Kairo, wo sie etwa vier Stunden später ankamen. Dort nahmen sie dann eine Kutsche zum Shepheard’s Hotel.

IchschauteaufmeinGepäckhinunterundüberlegte,wasicheventuell zurücklassen konnte. Unglücklicherweise war ich nicht kräftig genug, um alles mit mir zu schleppen. Vielleicht fand ich ja jemanden, der mir half, aber ich beherrschte nur ein paar Brocken der Sprache, und die reichten auf keinen Fall aus für etwas wie: Hallo, könnten Sie mir wohl mit meinem ganzen Hab und Gut behilflich sein?

Wenig hilfreich war auch, dass sich an meinem Haaransatz schon Schweißperlen bildeten und ich ganz zappelig wurde. Mein marineblaues Reisekostüm bestand aus mehreren Schichten, und die Jacke war auchnochzweireihiggeknöpft,sodassessichanfühlte,alssteckteich in einer eisernen Faust. Meine Mutter hätte ihr Unbehagen mit Fassung getragen, ich dagegen nahm mir die Freiheit, meine Jacke aufzuknöpfen. Es wurde immer lauter: Die Leute begrüßten aus vollem Hals Verwandte und Freunde, das Meer krachte gegen die Felsen, das Schiff ließ sein Horn erschallen. Aus all den schrägen Tönen hörte ich plötzlich meinen Namen heraus.

Einer melodischen Männerstimme war es gelungen, sich in all dem Trubel bemerkbar zu machen.

Mit langen, lässigen Schritten kam ein junger Mann auf mich zu. Die Hände tief in den Taschen seiner Khakihose vergraben, wirkte er wie jemand, der fröhlich pfeifend gemütlich am Kai entlanggeschlendert war und die Aussicht bewundert hatte. Sein hellblaues Hemd war leicht zerknittert und unter lederbesetzte Hosenträger gestopft, und die bis zur Wadenmitte geschnürten Stiefel hatten wohl schon die eine oder andere Meile hinter sich, gemessen an der Staubschicht, die sich auf ihnen abgelagert hatte, und der gräulichen Verfärbung des Leders.

Der Blick des Fremden traf mich, die Linien, die seinen Mund umrahmten, waren angespannt. Seine Körperhaltung wirkte ungezwungen, seine Ausstrahlung sorglos, doch als ich ihn genauer betrachtete, konnte ich die Anspannung in seinem verkrampften Kinn erkennen. Es lag ihm etwas auf der Seele, was niemand wissen sollte.

IchnahmdenRestseinesGesichtsinAugenschein.Einearistokratische Nase unter geraden Brauen, Augen so blau wie sein Hemd. Die perfekt geschwungenen vollen Lippen waren zu einem schiefen Lächeln verzogen – ein Gegengewicht zu seiner kantigen Kieferpartie. Sein Haar war dicht und strubbelig, farblich irgendwo zwischen braun und rot angesiedelt. Ungeduldig strich er es nach hinten.

»Hallo. Sind Sie Señorita Olivera? Die Nichte von Ricardo Marqués?«

»Da sind Sie bei mir richtig«, antwortete ich auf Englisch. Sein Atem roch leicht nach hochprozentigem Alkohol. Ich rümpfte die Nase.

»Gott sei Dank«, sagte er. »Sie sind die vierte Frau, die ich frage.« Er schaute auf meine Koffer und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich hoffe aufrichtig, Sie haben nicht noch etwas vergessen.«

Er klang nicht im Entferntesten aufrichtig.

Ich kniff die Augen zusammen. »Und wer bitte sind Sie?«

»Ich arbeite für Ihren Onkel.«

Ich schaute an ihm vorbei in der Hoffnung, irgendwo meinen geheimnisvollen Verwandten zu entdecken. Doch niemand, der ihm ähnlich gesehen hätte, hielt sich irgendwo in der Nähe auf. »Ich hatte erwartet, dass er mich hier in Empfang nehmen würde.«

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriffen hatte, was er da sagte. Doch dann schoss mir das Blut ins Gesicht. Tío Ricardo hatte es nicht für nötig gehalten, persönlich hier zu erscheinen. Seine einzige Nichte hatte eine wochenlange Reise auf sich genommen und sich wiederholt mit Seekrankheit herumgeplagt, und er hatte ihr einen Fremden zur Begrüßung geschickt.

Einen Fremden, der auch noch zu spät gekommen war.

Und, nach seinem Akzent zu urteilen, aus England stammte.

IchwiesaufdiezusammengefallenenGebäude,dieBergevonzerklüfteten Steinen, mit denen die Maurer versuchten, den Hafen wieder aufzubauen, nachdem die Briten ihn zerstört hatten. »Das Werk Ihrer Landsleute. Sie sind vermutlich auch noch stolz darauf.«

Er blinzelte. »Wie bitte?«

»Sie sind doch Engländer«, erwiderte ich frei heraus.

Er sah mich fragend an.

»Ihr Akzent«, erklärte ich.

»Richtig«, sagte er, und die Falten an seinen Mundwinkeln vertieften sich. »Maßen Sie sich immer an zu wissen, was ein völlig Fremder denkt oder empfindet?«

»Warum ist mein Onkel nicht hier?«, konterte ich.

Der junge Mann zuckte die Achseln. »Er hatte eine Verabredung mit einem Beamten vom Antikendienst. Ließ sich nicht verschieben, aber er lässt Ihnen ausrichten, dass es ihm leidtut.«

Ich bemühte mich, meine Worte nicht zynisch klingen zu lassen, aber so ganz gelang mir das nicht. »Na ja, solange es ihm leidtut. Er hätte aber auch so viel Anstand haben können, das einigermaßen pünktlich ausrichten zu lassen.«

Um die Lippen des Mannes zuckte es. Wieder fuhr er mit der Hand durch seine Haarmähne, um sie sich aus der Stirn zu streichen. Das ließ ihn ein bisschen aussehen wie ein kleiner Junge, wenn auch nur ganz kurz. Mit seinen breiten Schultern und schwieligen, rauen Händen kam er mir vor wie eine Figur aus einem Wildwestroman. Er würde auf jeden Fall in einer Kneipenschlägerei bestehen.

»Na, ist ja noch nicht alles verloren«, erklärte er und wies mit der Hand auf mein Gepäck. »Ich stehe ab jetzt zu Ihren Diensten.«

»Nett von Ihnen«, sagte ich widerstrebend. Ich hatte noch nicht ganz die Enttäuschung überwunden, dass mein Onkel nicht gekommen war. Wollte er mich etwa nicht sehen?

»Ich bin nichts dergleichen«, bemerkte er schleppend. »Wollen wir dann? Meine Droschke wartet.«

»Fahren wir direkt zum Hotel? Es ist das Shepheard’s, nicht wahr? Da sind sie« – meine Stimme versagte kurz – »immer abgestiegen.«

Der Fremde setzte eine neutralere Miene auf. Mir fiel auf, dass seine Augen ein ganz klein wenig gerötet waren – und dichte Wimpern hatten. »Es ist so, dass nur ich nach Kairo zurückfahre. Für Sie habe ich eine Passage zurück nach Hause auf dem Schiff gebucht, das Sie gerade verlassen haben.«

Da hatte ich mich doch wohl verhört. »¿Perdón?«

»Deshalb bin ich auch zu spät gekommen. Am Ticketschalter war eine höllisch lange Schlange.« Angesichts meines ungläubigen Gesichtsausdrucks sprach er hastig weiter. »Ich bin hier, um Sie zu verabschieden«, sagte er und klang fast schon mitfühlend. Aber nur fast, denn gleichzeitig bemühte er sich, unnachgiebig zu wirken. »Und dafür zu sorgen, dass Sie auch vor der Abfahrt an Bord sind.«

Jedes Wort schlug mit unbarmherziger Härte ein. Doch die Bedeutung wollte mir einfach nicht in den Kopf. Vielleicht hatte ich ja Meerwasser in den Ohren. »No te entiendo.«

»Ihr Onkel«, erklärte er mir ganz langsam, als wäre ich fünf Jahre alt, »möchte, dass Sie zurückkehren nach Argentinien. Ich habe ein Ticket mit Ihrem Namen drauf.«

Aber ich war doch gerade erst angekommen. Wie konnte er mich so schnell schon wieder wegschicken? Meine Verwirrung kochte allmählich über und wurde zu Zorn. »Miércoles.«

Der Fremde legte den Kopf schief und lächelte mich verwundert an. »Heißt das nicht Mittwoch?«

Ich nickte. Auf Spanisch klang das Wort so ähnlich wie mierda, ein Kraftausdruck, den ich nicht benutzen durfte. Deshalb musste Papá in meiner Gegenwart immer darauf zurückgreifen.

»Na, dann sollten wir Sie mal unterbringen«, sagte er und kramte in seinen Hosentaschen. Er zog ein zerknittertes Ticket heraus und reichte es mir. »Sie brauchen es mir nicht zurückzuzahlen.«

»Nicht zurück…«, begann ich und schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie habenmirnochgarnichtIhrenNamengenannt.«Undnochetwasanderes fiel mir auf. »Sie sprechen ja Spanisch.«

»Ich habe doch gesagt, dass ich für Ihren Onkel arbeite.« Und da war es wieder, sein Lächeln. Unwiderstehlich jungenhaft und so wenig vereinbar mit seiner kräftigen Statur. Er sah aus, als könnte er mich ohne große Anstrengung ins Jenseits befördern.

Ich für meinen Teil konnte ihm sehr gut widerstehen.

»Nadann«,erklärteichaufSpanisch,»verstehenSiejaauch,wennichIhnensage,dassichÄgyptennichtwiederverlassenwerde.Fallswirzusammenweiterreisen,sollteichallerdingsIhrenNamenkennen.«

»SiewerdeninnerhalbderkommendenzehnMinutenwiederanBord gehen. Eine formelle Vorstellung ist da ja wohl kaum nötig.«

»Ah«, sagte ich kühl. »Anscheinend verstehen Sie ja doch kein Spanisch. Ich steige nicht auf dieses Schiff.«

Das Grinsen wich nicht eine Sekunde lang von seinem Gesicht, als er sagte: »Zwingen Sie mich nicht, Gewalt anzuwenden.«

Mich überlief es kalt. »Das würden Sie nicht wagen.«

»Ach, meinen Sie nicht? Sieht doch ganz so aus, als hätte ich hier die Oberhand.« Er tat einen Schritt nach vorn und streckte die Hand nach mir aus. Seine Finger streiften schon meine Jacke, doch ich konnte mich noch losreißen.

»Wenn Sie mich noch einmal anfassen, schreie ich, dass man es bis nach Europa hört. Das schwöre ich Ihnen.«

»DaranhabeichkeinenZweifel.«Erdrehtesichvonmirwegundspazierte davon. Ein Stück entfernt warteten ungefähr ein Dutzend leere Karren darauf, dass sie gebraucht wurden. Davon rollte er einen zu mir herüber und fing an, meine Koffer aufzuladen – ohne, dass ich ihn dazu aufgefordert hätte. Für einen Mann, der eindeutig getrunken hatte, bewegte er sich erstaunlich wendig, mit einer ähnlichen Anmut wie eine teilnahmslose Katze. Er hantierte mit meinem Gepäck, als wäre es leer und nicht voll mit Dutzenden von Skizzenblöcken, noch unbeschriebenen Notizbüchern und nagelneuen Farbtuben. Ganz zu schweigen von Kleidern und Schuhen für mehrere Wochen.

Touristen mit Federhüten und teuren Lederschuhen schauten uns neugierig zu. Vermutlich hatten sie die Auseinandersetzung zwischen mir und diesem nervigen Fremden mitbekommen.

Er warf mir einen auffordernden Blick zu.

Ichhieltihnnichtauf,dennmeineSachenwürdensichaufdemKarren leichter transportieren lassen, doch als er dann mit dem ganzen Kram in Richtung Kai marschierte, geradewegs auf die Einschiffungsschlange zu, rief ich laut hinter ihm her: »Ladrón! Dieb! Hilfe! Er stiehlt meine Sachen!«

Die elegant gekleideten Touristen erschraken und zogen ihre Kinder von dem Spektakel weg. Ich starrte sie mit offenem Mund an in der Hoffnung, wenigstens einer von ihnen würde mir helfen, den Fremden zu überwältigen.

Doch die gewünschte Hilfe blieb aus.

Capítulo dos

Ich sah ihm wütend nach, während sein Lachen zu mir herüber schallte wie das eines boshaften Kobolds. Was für eine Dreistigkeit! Der Fremde hatte jetzt mein ganzes Hab und Gut, bis auf meine Handtasche, in der sich mein ägyptisches Geld, alles, was ich an Banknoten und Piastern beim Durchforsten des Herrenhauses gefunden hatte, sowie ein Vorrat an argentinischen Goldpesos für Notfälle befanden. Das war ja die Hauptsache. Ich konnte versuchen, ihm den Karren zu entreißen, aber das hatte wohl, angesichts seiner körperlichen Überlegenheit, wenig Aussicht auf Erfolg. Es war wirklich frustrierend.

Also schön: Welche Möglichkeiten hatte ich?

Viele waren es nicht gerade.

Ich konnte ihm kleinlaut zurück aufs Schiff folgen, wo am Ende der Reise Argentinien auf mich wartete. Aber wie würde es dort für mich sein ohne meine Eltern? Auch wenn sie die Hälfte des Jahres getrennt von mir verbracht hatten, so hatte ich doch immer ihrer Rückkehr entgegengefiebert. Die Zeit mit ihnen war wunderbar, wir unternahmen Ausflüge zu Ausgrabungsstätten, gingen ins Museum, sprachen bis spät in die Nacht über Bücher und Kunst. Mamá war zwar streng, aber sie liebte mich abgöttisch, ließ mich ohne Einschränkung meinen Hobbys nachgehen und förderte, wo sie konnte, meine Kreativität. Ihr Leben war immer in festen Bahnen verlaufen, und sie sorgte dafür, dass ich eine gute Erziehung bekam, aber ich durfte lesen, was ich wollte, offen meine Meinung sagen und nach Herzenslust zeichnen.

Auch Papá bestärkte mich darin, mir ein breites Wissen anzueignen – mit Schwerpunkt Ägypten – und das, was ich Neues gelernt hatte, wurde lebhaft beim Abendessen diskutiert. Meine Tante hatte mich lieber still und fügsam. Wenn ich zurückfuhr, konnte ich bis auf die Stunde genau vorhersagen, wie mein Leben aussehen würde. Die Vormittage waren dem Unterricht in Haushaltsführung vorbehalten, es folgte das Mittagessen und danach der Tee – der gesellschaftliche Höhepunkt des Tages –, dann zurück nach Hause für Besuche von Verehrern zum Abendessen. Es war kein schlechtes Leben, aber nicht das Leben, das ich wollte.

Ich wollte ein Leben mit meinen Eltern.

Meine Eltern.

Tränen traten mir in die Augen, aber ich blinzelte sie weg und atmete ein paarmal tief durch. Das hier war meine Chance. Ich hatte es allen Widrigkeiten zum Trotz alleine nach Ägypten geschafft. Kein anderes Land hatte meine Eltern so sehr fasziniert, keine andere Stadt war ihnen sozurzweitenHeimatgeworden.VielleichtsahensieKairojaalsihreigentliches Zuhause an. Mehr als Argentinien.

Mehr als mich.

Wenn ich jetzt fortging, würde ich nie begreifen, was sie Jahr für Jahr hierhergezogen hatte. Ich wollte herausfinden, wer sie waren, damit ich mich auch immer an sie erinnern konnte. Wenn ich fortging, würde ich nichtherausfinden,wasmitihnenpassiertwar.DerDrang,daszuerfahren, war so unsagbar stark, dass mein Herz wie wild anfing zu schlagen.

Mehr als alles andere wollte ich wissen, was es wert war, dass sie ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt hatten.

Ob sie überhaupt an mich gedacht hatten. Ob sie mich vermisst hatten.

Der einzige Mensch, der darauf eine Antwort hatte, lebte hier. Und aus irgendeinem Grund wollte er mich loswerden. Mich abservieren. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich würde mich nicht so einfach abwimmeln lassen, als wäre ich die Mühe nicht wert. Ich war aus einem bestimmten Grund hier, und den wollte ich durchziehen. Selbst wenn es schmerzhaft werden, mir das Herz brechen sollte.

Nichts und niemand würde mich je wieder von meinen Eltern fernhalten.

Der Fremde spazierte mit meinem Gepäck weiter den Kai hinunter. ErschauteüberdieSchulterzurück,entdecktemichzielsicherinderwuseligen Menge und wies mit seinem Kinn in die Richtung des Schiffes. Als wäre es eine ausgemachte Sache, dass ich ihm brav wie ein Schoßhündchen hinterhertrotten würde.

Ohne mich, mein Herr!

Ich trat einen Schritt zurück und schien ihn damit zu überraschen. Fast unmerklich spannten sich seine Schultern an. Er rollte meine Sachen noch ein Stück weiter vor und vermied dabei geschickt um Haaresbreite, gegen den Mann vor ihm in der Warteschlange zu stoßen. Und dann winkte mich der Fremde ohne Namen zu sich heran.

Ich musste unwillkürlich lachen.

Nein, formte ich mit den Lippen.

Doch, bedeutet er mir auf die gleiche Weise zurück.

Er kannte mich noch nicht gut genug, um zu begreifen, dass ich, wenn ich mich einmal zu etwas entschlossen hatte, nicht wieder davon abzubringen war. Mamá nannte es Sturheit, meine Lehrer hielten es für einen Charakterfehler. Ich aber sah es als das, was es war: Beharrlichkeit. Er schien mir die Entschlossenheit vom Gesicht abzulesen, denn er schüttelte den Kopf, und die kleinen Fältchen an seinen Augenwinkeln spiegelten seine Besorgnis. Ich drehte mich auf dem Absatz um und mischte mich unter die Menge. Was juckten mich meine Sachen? Alles war ersetzbar – aber diese Chance?

Eine solche Gelegenheit kam so schnell nicht wieder.

Und ich ergriff sie mit beiden Händen.

Die Menschenmenge wies mir den Weg, weg von den Schleppkähnen am Kai. Der Fremde brüllte mir etwas hinterher, aber ich war schon zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen. Sollte er sich doch mit meinem Gepäck herumschlagen. Wenn er ein Mann aus gutem Hause war, würde er es kaum unbeaufsichtigt lassen. Und wenn nicht – aber nein, das schien mir nicht wahrscheinlich. Da war so etwas in seiner Körperhaltung. Verantwortungsbewusstsein, trotz des frechen Grinsens. Beherrschtheit, trotz des Alkohols in seinem Atem.

Er wirkte aristokratisch, von klein auf daran gewöhnt, anderen Befehle zu erteilen.

Um mich herum unterhielten sich die Leute in den verschiedensten Sprachen. Aus allen Richtungen drang Ägyptisch-Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch und sogar Portugiesisch an mein Ohr. Ägypter in Maßanzügen und mit Tarbuschen auf dem Kopf wichen geschickt den Touristen aus, um zeitig in ihre Büros zu gelangen. Meine Mitreisenden, die den breiten Boulevard überquerten, mussten immer wieder Pferdekutschen und mit Reisetaschen beladenen Eseln Platz machen. Ich gab acht, nicht versehentlich in eine der tierischen Hinterlassenschaften zu treten, mit denen die Straße versehen war. Der Geruch von teurem ParfümundSchweißwehtedurchdieLuft.DasHerzwurdemirschwer, alsichdievielenzusammengefallenenHäuserunddieSchutthaufen sah, das Ergebnis der britischen Bombardierungen zwei Jahre zuvor. Ich hatte seinerzeit in der Zeitung gelesen, wie schwer die Schäden gewesen waren, vor allem in der Gegend der Zitadelle, wo einige Ägypter versucht hatten, Alexandria zu verteidigen.

Jetzt hier die zerstörten Hafenanlagen mit eigenen Augen zu sehen, war noch einmal etwas ganz anderes, als nur darüber zu lesen.

Eine Menschengruppe, die vom Hafen kam, nahm Kurs auf einen großen Steinbau, hinter dem sich eine lange, scheinbar ins Unendliche reichende Eisenbahnlinie erstreckte. Der Bahnhof. Ich drückte meine Tasche fester an mich und überquerte die Straße. Dabei schaute ich noch einmal über meine Schulter, falls der Fremde sich entschlossen hatte, mir nachzukommen.

Keine Spur von ihm, aber ich ging trotzdem zügig weiter. Ich hatte so ein Gefühl, dass er mich nicht so leicht vom Haken lassen würde.

Vor mir hörte ich ein paar Leute Englisch miteinander sprechen. Das beherrschte ich sehr viel besser als Französisch. Der Schweiß lief mir den Nacken hinunter, während ich den Leuten ins Bahnhofsgebäude folgte. DiequadratischenFensterließengenugLichtherein,umdasDurcheinander zu beleuchten, das sich vor mir ausbreitete. Überall standen Stapel mit Gepäck herum, Reisende liefen aufgescheucht umher, riefen Verwandten Abschiedsgrüße zu oder versuchten noch ihren Zug zu erwischen, während andere Karren vor sich herschoben, auf denen die Koffer bedrohlich schwankten. Mein Puls raste. Ich hatte noch nie so viele Menschen – der Kleidung nach aus allen Gesellschaftsschichten – gleichzeitig an einem Ort gesehen. Dutzende Ägypter in langen Tuniken boten, im Gegenzug für ein großzügiges Trinkgeld, ihre Dienste beim Gepäck an.

Schlagartig fiel mir auf, dass ich den Engländer abgehängt hatte.

»Miércoles«, murmelte ich vor mich hin.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte verzweifelt, mir einen Überblick zu verschaffen. Da war ein Mann mit einem hohen Hut. Umsichtig schlängelte ich mich durch die Menge, sie wies mir den Weg zum Fahrkartenschalter. Die Schilder waren überwiegend auf Französisch, das ich natürlich nicht so genau verstand. Wie sollte ich denn bloß an eine Fahrkarte nach Kairo kommen? Meine Eltern hatten mich immer gewarnt, nicht mit Fremden zu sprechen – aber ohne Hilfe war ich aufgeschmissen.

Also brach ich eine von Mamás Regeln und trat auf jemanden zu.

***

Ich lehnte mich in die Plüschkissen zurück und schnupperte. Die Luft hier war abgestanden. Über allem, von den Sitzen bis zu den Gepäcknetzen, lag zudem eine dicke Staubschicht. Von außen hatte der Zug durchaus elegant ausgesehen: dicke schwarze Balken, eingefasst von rot-goldenen Zierstreifen. Innen war allerdings schon seit Jahrzehnten nichts mehr aufgefrischt worden. Aber das kümmerte mich nicht. Ich wäre auf einem Esel durch die Wüste geritten, wenn der mich zum Shepheard’s Hotel gebracht hätte.

Bis jetzt hatte ich das Abteil noch für mich allein, trotz der vielen Reisenden, die schon eingestiegen waren, Effendis auf dem Weg nach Kairo, um dort ihren Geschäften nachzugehen, und Touristen, die aufgeregt in verschiedenen Sprachen schnatterten.

Die Holztür ging auf, und ein Herr mit einem geradezu bühnenreifen Schnurrbart und pausbackigem Gesicht trat ein. Mit seiner linken Hand hatte er eine lederne Aktentasche gepackt, auf der in Gold die Initialen BS aufgedruckt waren. Bei meinem Anblick stutzte er kurz, doch dann lächelteerundhobhöflichseinenHutzumGruß.Ertrugeineneleganten grauen Anzug mit weiten Hosenbeinen und ein gestärktes weißes Oberhemd. Nach seinen blank polierten Schuhen und der gut sitzenden Kleidung zu urteilen, war er nicht gerade arm.

Trotz seines warmherzigen Lächelns wurde mir unbehaglich zumute. Die Fahrt nach Kairo dauerte etwa vier Stunden. Eine lange Zeit, um auf engem Raum mit einem Mann alleine zu sein. Noch nie in meinem Leben war ich in einer solchen Lage gewesen. Meine arme Tante wäre außer sich angesichts der Gefahr für meinen guten Ruf. Ohne eine Anstandsdame auf Reisen zu gehen, war ein Skandal. Wenn irgendjemand in der feinen Gesellschaft davon Wind bekommen sollte, wäre ich für alle Zeiten geächtet.

»Guten Tag«, sagte der Mann und hievte seine Aktentasche in eins der Gepäckfächer über den Sitzen. »Zum ersten Mal in Ägypten?«

»Ja«, antwortete ich auf Englisch. »Sie stammen aus … England?«

Er setzte sich mir gegenüber und streckte die Beine aus, sodass die Quasten an seinen Schuhen meinen Rock streiften. Ich rückte weiter aufs Fenster zu.

»London.«

NocheinEngländer.Ichwarjageradezuvonihnenumzingelt.Seit ich von Bord gegangen war, waren mir so viele von ihnen begegnet, dass ich sie schon nicht mehr zählen konnte. Soldaten und Geschäftsmänner, Politiker und Kaufleute.

Tío Ricardo musste sie zu Dutzenden angeheuert haben, um mich aus dem Land zu jagen.

MeinMitreisenderblickteaufdiegeschlosseneTür,zweifelsohne inderErwartung,dasssichnochjemandzuunsgesellenwürde.Und als niemand auftauchte, wandte er sich wieder an mich. »Sie reisen allein?«

Ich wurde verlegen, wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Er machte ja einen ganz harmlosen Eindruck, und auch wenn ich ihm nicht die Wahrheit sagen wollte, würde er sie bis zur Ankunft in Kairo ja doch erraten haben.

»Dastueichtatsächlich.«Dasklangso,alsmüssteichmichrechtfertigen.

Der Engländer musterte mich genauer. »Verzeihen Sie mir, ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber brauchen Sie Beistand? Wie ich sehe, haben Sie weder Zofe noch Anstandsdame dabei. Recht ungewöhnlich, wenn ich das so sagen darf.«

Die Trauerkleidung, die ich auf See getragen hatte, schien mir nach der Ankunft nicht mehr notwendig zu sein, deshalb hatte ich mir mein schickes Reisekostüm angezogen. Das war etwas voreilig gewesen. »Nicht, dass Sie das etwas angehen würde, aber ich bin Witwe.«