Where's Molly - H. D. Carlton - E-Book

Where's Molly E-Book

H. D. Carlton

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Molly Devereaux wird seit mehr als zwei Wochen vermisst. Die Polizei sucht noch immer nach dem Mädchen, das scheinbar wie aus dem Nichts verschwunden ist. Die Welt will wissen ... Wo ist Molly?" In meinen Träumen bin ich nie aus den Wäldern von Oregon entkommen. Das Leben nach dem Tod ist schwer zu akzeptieren, besonders da ich mich wie ein Geist fühle. Jetzt lebe ich tief in den Bergen Montanas – dem Inbegriff von Schönheit. Aber sie beheimaten auch schreckliche Dinge. Dinge, die ich nur nachts entfessele. Sobald es meinen Schweinen erlaubt ist, zu schlemmen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DANKSAGUNG

H. D. Carlton

 

Where’s Molly

 

 

Where’s Molly

 

 

 

© 2025 VAJONA Verlag GmbH

 

 

Übersetzung: Madlen Müller

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel

»Where’s Molly«.

Korrektorat: Désirée Kläschen und Lara Gathmann

Umschlaggestaltung: Opulent Designs

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

Vermittelt durch die Agentur:

WEAVER LITERARY AGENCY,

8291 W. COUNTY ROAD 00 NS., KOKOMO, IN 46901, USA

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

Für Sam, Kristie und Samantha

Dafür, dass ihr mit mir in diesem Diner gesessen und über Kannibalismus gesprochen habt, bis Mollys Geschichte geboren war.

Playlist

 

 

Gabrielle Current – B&W

Underoath – Another Life

Little Oceans – Peace

Story of the Year – A Part of Me

Yung'cid & Maxx Xero – Endless Nightmare

Colorblind – Ghosts

The Used – Mosh 'n Church

Ellery Bonham – Sway

Amy Stroup – In the Shadows

 

 

 

Hinweis

 

Dies ist ein Dark Romance-Roman, der Trigger wie Mord, Blutvergießen, explizite Sprache, explizite sexuelle Situationen, Kindesmisshandlung und Vergewaltigung (nicht dargestellt), toxische Beziehungen zwischen den Hauptcharakteren, Kindesvernachlässigung, Selbstmordgedanken und -ideale, Menschenhandel, Drogen- und Alkoholkonsum und Tiere, die mit suspekter Scheiße gefüttert werden, enthält.

 

Und Kinks wie Beißen, Würgen, Blutspiele und Erniedrigung.

 

Bitte sei vorsichtig und stelle deine geistige Gesundheit in den Vordergrund. – H. D. Carlton

 

 

 

 

 

Das laute Knirschen der stumpfen Zähne, die sich durch den Knochen bohren, ist ein Schlaflied, zu dem ich für den Rest meines Lebens einschlafen könnte.

Ich rümpfe die Nase.

Das unangenehme Geräusch des Lippenschmatzens, das folgt, ist es nicht.

»Ich kann dir beibringen, mich zu respektieren, aber Manieren zu lernen, ist anscheinend zu viel verlangt«, murmle ich, und meine Oberlippe kräuselt sich vor Ekel, als blutiger Sabber auf die Plastikplane vor meinen abgenutzten Stiefeln spritzt.

Ekelhaft.

Ich bin in meiner Scheune, hocke draußen vor ihren Ställen und halte Abstand, während die fünf riesigen Schweine ihr Abendessen verspeisen. Sie können durch den Zaun leicht nach mir schnappen, wenn ich es wage, ihnen nahe genug zu kommen, und das ist kein Angriff, den ich wahrscheinlich überleben würde. Sie sind unglaublich stark, und wenn ich es schaffen würde, zu entkommen, würden mir sicher einige Gliedmaßen fehlen.

Ich frage mich, warum sich die Welt so sehr vor einer Zombieapokalypse fürchtet, wo wir doch bereits von Tieren umgeben sind, die mehr als fähig sind, uns in Stücke zu reißen und jeden einzelnen von uns verdammt noch mal zu verschlingen.

Wir können froh sein, dass sie das noch nicht herausgefunden haben. Oder besser gesagt, sie haben noch nicht herausgefunden, wie sie aus den Gefängnissen entkommen können, in die wir sie gesteckt haben.

Als sie fertig sind, schnüffeln sie eifrig am Heu und suchen nach dem nächsten Stück.

»Das Letzte«, warne ich sie, als ob sie mich verstehen könnten.

Leider sind sie die Einzigen, mit denen ich mich an den meisten Tagen unterhalten kann. Mein menschlicher Kontakt ist begrenzt und es ist schrecklich einsam auf dieser Schweinefarm. Aber das ist etwas, das ich mir selbst ausgesucht habe.

Und ich bereue es verdammt noch mal nicht.

Ich werfe ihnen den Rest des Beins vor die Füße und sehe zu, wie sie das abgetrennte Glied ernsthaft zerreißen. Sehnen, Muskeln und Adern werden in Sekundenschnelle zerfetzt, gefolgt von diesem befriedigenden Knacken.

Genau in diesem Moment klingelt mein Handy in meiner Gesäßtasche. Seufzend ziehe ich es heraus und gehe ran, ohne zu schauen, wer es ist. Ich weiß es schon.

»Ist es erledigt?«, fragt die weibliche Stimme tonlos. Sie ruft mich seit vier Jahren an und ich weiß immer noch nicht, wie sie heißt.

»Ja«, antworte ich. »Sie haben gerade das Letzte von ihm gefressen.«

»Gut. Wir melden uns bei dir, wenn der Nächste kommt.«

Der Anruf ist beendet, bevor ich antworten kann. Nicht, dass ich mir die Mühe gemacht hätte – das war schon immer das Ausmaß unserer Gespräche.

Meine menschlichen Kontakte sind sehr begrenzt.

Vor allem, weil das meine Haustiere gerne zum Abendessen essen.

»Danke, Petunia«, zwitschere ich. Jedes Mal, wenn sie auflegt, gebe ich ihr einen neuen Namen. Eines Tages, da bin ich sicher, werde ich ihren richtigen Namen mindestens einmal richtig erraten haben, auch wenn ich es nie wissen werde.

Ich habe das Gefühl, dass es nicht Petunia ist, aber es sind schon verrücktere Dinge passiert.

Ich vergewissere mich, dass auch der letzte Rest des Mannes, den ich an die Schweine verfüttert habe, vollständig verzehrt ist, und beginne dann mit der mühsamen Reinigung ihrer Ställe, meines Tisches und der Werkzeuge, verbrenne seine Haare und seine Kleidung und verstreue seine pulverisierten Zähne in den Bergen hinter meinem Haus. Um sicherzustellen, dass auch die letzte Spur von Carl Forthright verschwunden ist.

Er, der einst ein Vergewaltiger und Kinderhändler war, ist jetzt Schweinescheiße.

So verdammt poetisch.

»Ihr habt Glück, dass ich euch kleine Arschlöcher liebe, denn ihr seid verdammt unordentlich«, beschwere ich mich bei den schnaubenden Schweinen und rümpfe die Nase, als ich ein Stück Fleisch auf dem Boden vor ihrem Stall entdecke.

An den meisten Tagen sind sie absolute Nervensägen, aber ich würde sie um nichts in der Welt eintauschen wollen.

Sie halten mich bei Verstand.

Und der Teufel weiß, dass dieser an einem gottverdammten Faden hängt.

 

 

 

»Ich fahre zur Tankstelle, um für Layla ein paar Sachen zu besorgen«, sage ich zu Dad und runzle die Stirn über das Chaos im Wohnzimmer.

Fünf zerdrückte, leere Bierdosen liegen verstreut auf dem Beistelltisch, zusammen mit leeren Chipstüten und einem Dip mit offenem Deckel.

Mein Vater schaut ängstlich durch die zerschlissenen Vorhänge, ohne Hemd und mit einem dicken Bauch, der über seine Jeans quillt. Sein graues Haar ist oben kahl, und trotz seines Bauches ist er ein großer, schlaksiger alter Mann mit einem markanten Kiefer, ständig zusammengezogenen Brauen und Falten, die jeden Zentimeter seines Gesichts bedecken.

»Nein, ich brauche dich hier. Du warst den ganzen verdammten Tag weg«, schnauzt er, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Es ist nach halb neun Uhr abends, und ich habe den ganzen Tag im Diner gekellnert. Ich bin erschöpft, aber zum gefühlt millionsten Mal hat sie keine Windeln mehr und niemand hat es erwähnt. Morgen werde ich zwanzig, aber da ich das Trinkgeld von heute für Layla ausgebe, muss ich eine weitere Schicht übernehmen.

»Sie muss gewickelt werden und es sind keine Windeln mehr da«, argumentiere ich.

Er knurrt, lässt den Vorhang fallen und dreht sich zu mir um.

»Sie geht dich nichts an.«

Doch sie tut es.

Sie geht ihn verdammt noch mal nichts an, auch wenn sie seine Tochter ist.

Dad kratzt sich am Arm, Einstichstellen verunstalten seine Haut. Wieder blickt er zu den Vorhängen, als würde er darauf warten, dass jemand auftaucht. Wahrscheinlich einer seiner gruseligen Freunde, der sicherlich mit einer Tasche voller Drogen kommt, obwohl ich ihm erst gestern welche kaufen musste.

»Ich brauche nicht länger als zwanzig Minuten«, erwidere ich. »Ich brauche nur Windeln und Muttermilchersatz.«

Besorgnis macht sich in meiner Brust breit, als Layla oben zu weinen beginnt. Ich habe sie gerade hingelegt und gehofft, dass sie schläft, bis ich zurückkomme. Sie ist schon seit einer Woche unruhig. Gerade als sich ihre Augen schließen und ich denke, dass sie endlich eingeschlafen ist, springen sie wieder auf und sie stößt einen kläglichen Schrei aus, der mir das Herz zerreißt.

»Lass mich erst Layla beruhigen, dann werde ich … «

»Nein«, bellt er. »Wenn du gehen willst, dann geh jetzt. Ich habe nicht die verdammte ganze Nacht Zeit.«

»Gut«, murmle ich.

Meine vier Monate alte Schwester schreit jetzt aus Leibeskräften, während unsere Mutter mit offenem Mund und Sabber am Kinn ohnmächtig auf der Couch liegt und leise schnarcht.

Vor ihr auf dem Couchtisch liegt eine leere Nadel, an deren Spitze noch Blutstropfen zu sehen sind.

Sie wird nicht aufwachen, was bedeutet, dass Layla ihren Tränen überlassen wird, während ich weg bin.

Seufzend gehe ich zur Tür und bleibe kurz stehen, als ich Dad rufen höre: »Und hol mir eine Schachtel Zigaretten und noch ein Sixpack Bier!«

Ich mache mir nicht die Mühe, zu antworten – nicht, dass er eine Antwort erwarten würde. Er weiß, dass ich tun werde, was er sagt. Wenn nicht, muss ich in eine neue Flasche Concealer investieren. Die, die ich habe, ist fast leer.

Laylas Schreie verstummen, als ich die Tür hinter mir schließe, meine Besorgnis wird immer größer und nagt an meinem Magen. Ihr armer kleiner Hals wird wund sein, und ich bin mir sicher, dass ihr Kopf wehtun wird, wenn ich zurückkomme.

Sie hasst es, wenn ich sie allein lasse, und ich hasse, was das bedeutet. Es gibt Tage, an denen ich mich frage, ob es mehr als nur die Anhänglichkeit an mich ist, die diese Angst in ihre Augen bringt, wenn ich weggehe.

Wenn Dad sie so verletzt, wie er mich verletzt hat …

Ich weiß nicht, was ich tun würde. Ich weiß nur, dass ich voller Blut wäre, wenn ich fertig bin.

Meine Hände zittern, als ich im Eiltempo zur Tankstelle ein paar Straßen weiter laufe. Es ist eine warme, windige Herbstnacht im Oktober – wahrscheinlich eine der letzten, bevor der Winter kommt.

Reaper Canyon, Montana, ist von dem Electric Peak-Gebirge umgeben und hier bin ich geboren und aufgewachsen. Der einschüchternde Name dieser kleinen Stadt ist passend, denn hier sterben die Träume aller. Dieser Staat strahlt Schönheit aus, aber nicht einmal die Berge in der Ferne können mir die Hässlichkeit meiner Welt nehmen.

Ich halte den Kopf gesenkt und konzentriere mich auf das Loch in der Spitze meiner schmutzigen Sneaker. Meine Füße sind jetzt zu groß für sie, aber ich habe kein Geld, um mir ein neues Paar zu kaufen. Das ganze Geld geht für Layla oder für meine Eltern und ihre Drogen drauf.

An meinem sechzehnten Geburtstag drohte mir mein Dad, mich aus dem Haus zu werfen, wenn ich mir nicht einen Job suchen würde. Er sagte, ich müsse anfangen, meinen Beitrag im Haus zu leisten, als ob es nicht schon genug wäre, zur Schule zu gehen, die Hausarbeit zu erledigen und die Drogen für sie zu besorgen. Ganz zu schweigen davon, rund um die Uhr für ihn und Mom da zu sein.

Mein ganzes erstes Gehalt ging für Zigaretten, Bier und Drogen drauf. Jetzt verlassen sie sich darauf, dass ich unser Essen und alles für Layla kaufe.

Die Glocke über mir läutet, als ich die Tankstelle betrete und die Aufmerksamkeit des Angestellten errege. Abgesehen von Layla ist er der einzige Mensch auf der Welt, den ich wirklich mag.

»Hey, Mol«, grüßt er, ein Lächeln gleitet über sein Gesicht, Lachfalten bilden sich auf seiner dunklen Haut. Er ist einer der wenigen Menschen, die ich kenne, der immer glücklich ist. Ich glaube, ich habe dieses Gefühl noch nie erlebt. Vielleicht, als Layla mich zum ersten Mal angelächelt hat. Aber das war flüchtig. Es dauerte nicht lange, bis meine Eltern mir die Freude wieder raubten.

»Hi, Mario«, erwidere ich und winke ihm zu, bevor ich in einem der Gänge verschwinde und direkt zu den Kühlschränken gehe, in denen sich das Bier befindet.

Ich bin noch nicht alt genug, um Alkohol zu kaufen, aber Mario kennt meinen Vater inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich, wenn ich es nicht nach Hause bringe, am nächsten Tag mit blauen Flecken im Gesicht bei ihm auftauche und ihn anflehe, es kaufen zu dürfen. Er hat versucht, die Polizei zu rufen, aber jedes Mal bin ich auf die Knie gegangen und habe ihn angefleht, es nicht zu tun. Ich wollte Layla nicht der Gefahr aussetzen, vom Jugendamt abgeholt und in ein Heim gesteckt zu werden.

Familien adoptieren gerne junge Mädchen, aber das tun auch Straftäter, und ich will das Risiko nicht eingehen. Zumindest kann ich sie zu Hause beschützen.

Trotz Marios Hass auf meine Eltern riskiert er seine Zulassung und verkauft mir den Alkohol, weil er weiß, dass er sowieso nicht für mich ist. Er hat mich schon zum Fingerschwur gebracht, mit dem Trinken zu warten, bis ich alt genug bin, obwohl er mir gesagt hat, dass ich mich für immer von Zigaretten fernhalten soll.

Ich stimmte bereitwillig zu. Ich habe die Sucht bei meiner Mutter gesehen, die einmal Abschiedsrednerin war und ein Stipendium für das College hatte. Aber dann lernte sie meinen Vater kennen, und all diese Träume und Bestrebungen schienen nicht mehr so wichtig zu sein, als die Euphorie durch ihre Adern floss.

Ich hole Dads Lieblingsbier, Windeln und Muttermilchersatz für Layla und ein paar Packungen Ramen für die nächsten Tage.

Ich lasse die Sachen auf den Tresen fallen und hole mein Geld heraus, während Mario sich umdreht und die Zigarettenschachtel hinter sich hervorzieht. Dads Lieblingszigaretten.

»Wie geht es dir heute Abend, Sweetheart?«, fragt er mich, während er auf der Tastatur tippt, um alles einzugeben.

Ich seufze. »Wie immer, wie immer.«

»Macht dir dein Dad immer noch Probleme?«

Ich werfe ihm einen trockenen Blick zu. »Immer. Ich werde meinen Geburtstag morgen im Diner verbringen. Eigentlich sollte ich den Tag frei haben, aber ich habe heute nicht viel Trinkgeld bekommen und«, ich fuchtle mit dem mickrigen Geldbündel herum, »jetzt ist sowieso alles weg.«

Mario sieht mich unbeeindruckt an. »Was hindert dich daran, ihnen Layla wegzunehmen?«

Scham hält mich davon ab, ihm in die Augen zu sehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass er mich das fragt, aber jede Ausrede, die ich mir einfallen lasse, verpufft. Denn die Wahrheit ist verwerflich, und so sehr ich Mario auch mag, was, wenn ich ihm nicht trauen kann?

Als ich mich wieder auf ihn konzentriere, zieht sich mein Herz zusammen. Sein Blick ist sanft und strahlt echte Sorge aus. Ich spüre, wie mein Entschluss ins Wanken gerät.

»Bitte, Mol, du kannst mir alles erzählen.«

Ich seufze und die letzten Vorbehalte zerfallen.

»Meine Eltern haben Beweise, dass ich Drogen gekauft habe – ihre Drogen – aber das ist egal. Es sieht schlecht aus. Sie wissen, dass ich sie will, und sie haben gedroht, die Beweise dem Gericht zu zeigen, wenn ich versuche, das Sorgerecht zu bekommen. Dad hat Fotos und Videos, von denen ich nicht einmal wusste, dass er sie gemacht hat, aber er zeigte sie mir noch, bevor er sie versteckte. Und wenn ich sie einfach mitnehme … wäre das Entführung. Ich bin zwar volljährig, aber als ich erfuhr, dass meine Mutter schwanger war, habe ich es mir in meinem Gefängnis bequem gemacht. Ich kann sie nicht verlassen, Mario.«

Mein Freund schüttelt den Kopf, und aus seinen braunen Augen strahlt blanker Ekel. »Sie sind krank. Kranke, kranke Leute. Und sie erpressen dich! Vielleicht könnte ein Anwalt …«

»Anwälte kosten Geld, Mario. Geld, das ich nicht habe. Es geht alles an sie, und ich … « Mir fehlen die Worte, Hilflosigkeit macht sich breit. Ich atme scharf aus und schließe mit den einzigen Worten ab, die zählen: »Ich sitze in der Falle.«

Tränen brennen mir in den Augen, als Mario mich wütend anstarrt. Wut für mich, das weiß ich. Aber seine Wut wird nichts an meiner Situation ändern.

Ich weiß nicht einmal, wie das gehen soll.

»Hast du keine andere Familie?«, fragt er, und die Hoffnung, die in seinen Worten liegt, ist brüchig.

Stirnrunzelnd schüttele ich den Kopf. Soweit ich weiß, sind meine Eltern beide Einzelkinder und ihre Eltern sind entweder tot oder zerstritten.

Ich habe niemanden außer Layla.

»Ich kann meine Frau fragen, ob du bei uns bleiben kannst …«

Ich schüttele den Kopf, bevor er ausreden kann. »Meine Eltern lassen mich Layla nicht mitnehmen, und ich kann sie nicht alleinlassen.«

»Molly, bitte lass mich dir helfen«, fleht Mario. »Wir finden eine Lösung.«

»Ich brauche Zeit«, schnauze ich, und er gibt nach. Schuldgefühle steigen in mir auf und verstärken meine Hilflosigkeit nur noch mehr. »Ich werde eine Lösung finden, okay? Sie ist noch so jung, ich muss nur sicherstellen, dass ich es richtig mache.«

Er nickt, lenkt ein, obwohl seine steifen Bewegungen seine wahren Gefühle verraten. Aber genau wie ich, ist er hilflos.

Selbst wenn ich meine Eltern zu Fall bringe, würden sie mich mit in den Abgrund reißen.

»Dann lass mich wenigstens für Laylas Sachen bezahlen, ja? Ich helfe dir, in der Zwischenzeit alles zu besorgen, was sie braucht. Aber glaube nicht, dass ich keinen Ausweg für dich finden werde, kleines Mädchen«, sagt er streng. »Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du leidest.«

Tränen brennen mir in den Augen und ich bin zu überwältigt von der Dankbarkeit, um ihm richtig zu danken.

Schließlich stoße ich hervor: »Danke. Auch wenn ich sonst keine Familie habe, habe ich wenigstens dich.«

Er lässt die Schultern sinken, obwohl die Überzeugung in seiner Stimme kräftig ist. »Das tust du, Sweetheart. Für alles.«

Ich lächle leicht, auch wenn es mir schwerfällt. Aber ich bin ihm unendlich dankbar, zumal er der einzige Mensch ist, der je nett zu mir war.

Die Glocke läutet, und ich schaue zu den Neuankömmlingen, die hereinkommen. Schnell blicke ich stirnrunzelnd ein zweites Mal in die Richtung.

Es ist mein Vater, zusammen mit einem Mann, den ich nicht kenne. Ich hätte sie für zwei Fremde gehalten, die zur gleichen Zeit hereingekommen sind, wenn sie nicht mitten in ein leises Gespräch vertieft und ihre Worte verstummt wären, als sie mich endlich erblickten.

Mir rutscht das Herz in die Hose.

»Was machst du denn hier? Ich hole deine Sachen … «, frage ich und stocke vor Nervosität, als ich merke, dass der andere Mann mich mit einem Ausdruck anstarrt, den ich nicht richtig beschreiben kann. Es ist ein Blick, den ich nicht entschlüsseln will, weil er mir sofort die Nackenhaare zu Berge stehen lässt.

Er ist klein und stämmig, mit kurz geschnittenen Haaren und einem kantigen, ausgeprägten Kiefer. Seine blasse Haut ist übersät mit beschissenen Tattoos, und in seinen braunen Augen liegt ein kalter Schimmer.

Dad kommt auf mich zu und deutet mir an, zur Seite zu gehen. »Ich nehme dir das ab. Du bist sowieso zu jung, um Alkohol zu kaufen. Warum gehst du nicht mit meinem Freund hier mit und wartest auf mich, bis ich fertig bin?«, befiehlt er schroff.

Mein Mund steht offen, verwirrt und zunehmend misstrauisch.

Mein Vater ist noch nie gekommen, um mir etwas ›abzunehmen‹. Das heißt, es gibt einen Grund, warum er hier ist, und dieser schreckliche Mann hat etwas damit zu tun.

Zur Hölle, als würde ich mit ihm irgendwo hingehen.

»Schon gut, ich habe es … «

»Geh«, bellt er. »Jetzt.«

Meine Wirbelsäule richtet sich auf. Es ist nicht die Schärfe in seiner Stimme, die mich beunruhigt, sondern die Dringlichkeit.

Sprachlos schaue ich zu Mario und stelle fest, dass er nur eine Lippenbewegung davon entfernt ist, meinen Vater anzugehen. Er starrt die beiden Männer mit Misstrauen und einem Zorn an, der heißer brennt als die Unterwelt unter unseren Füßen. Aber was kann er tun? Wenn er die Polizei anruft und mich beschuldigt, Bier kaufen zu wollen, nur um mich von ihnen wegzubekommen, würde ich später trotzdem mit Dad nach Hause gehen, und Mario könnte die Zulassung entzogen werden, wenn sie herausfinden, dass er mir schon einmal Alkohol verkauft hat. Und wenn er sagt, dass Dad eine Bedrohung für mich ist, würde mich das nur von Layla trennen.

Ich könnte weglaufen … Aber wohin sollte ich gehen? Ich könnte meine vier Monate alte Schwester nicht allein lassen, und ich wüsste nicht, wohin ich sie bringen sollte.

Verschiedene Szenarien gehen mir durch den Kopf, aber jedes Mal komme ich zu demselben Schluss. Ich bin hilflos.

»Ich brauche hier eigentlich etwas Hilfe. Warum bleibt sie nicht hier bei mir und ich bezahle … «

»Hast du ein Auge auf meine Tochter geworfen, oder was, Kumpel? Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß, hm?«, schnauzt Dad Mario an.

»Schon gut«, flüstere ich und blicke den fremden Mann nervös an. Er starrt mich immer noch an, was mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Wer auch immer er ist, er ist der Sensenmann, und wohin er mich auch bringt, ich werde nirgendwo hingehen, außer nach unten.

»Geh mit ihm, Molly. Ich werde es dir nicht noch einmal sagen«, bellt Dad.

Ich versuche, zu schlucken, und trete zögernd von der Theke zurück. Ich werfe Mario einen letzten Blick zu, neige mein Kinn und gehe auf den Mann zu, Adrenalin durchströmt meine Adern, wie ich es noch nie zuvor gespürt habe. Mein Puls dröhnt in den Ohren und mir wird übel.

Ein böses Lächeln umspielt die Lippen des Fremden, mein Magen füllt sich mit Säure und die Galle kitzelt in meiner Kehle.

»Dein Vater und ich sind gute Freunde, keine Sorge«, versichert er mir und grinst noch breiter, als ob das meine Nerven beruhigen würde.

Es fühlt sich an, als ob Klebstoff an meinen Schuhsohlen kleben würde, was jeden Schritt auf dem Weg zur Tür schwierig macht.

Ich kann das nicht tun. Ich kann nicht zulassen, dass dieser Mann mich so einfach mitnimmt. Wohin ich auch gehe, ich werde nicht kampflos aufgeben.

Ich werde Layla mitnehmen und einen Ort finden, an den wir gehen können. Denn wo auch immer das ist, es muss besser sein als dort, wo wir jetzt sind. Selbst wenn ich eine verdammte Flüchtige bin, die wegen Entführung gesucht wird, werde ich einen Weg finden, wie wir überleben können.

Gerade als der Mann die Tür öffnet und die Glocke läutet, renne ich in den Gang zu meiner Rechten.

»Hey!«, schreit Papa, woraufhin sein Freund herumwirbelt. Er verschwendet keine Zeit und stürmt auf mich zu, wodurch mir das Herz bis zum Hals schlägt.

Instinktiv schnappe ich mir ein paar Sachen aus den Regalen und werfe sie hinter mir auf den Boden. Chipstüten, Müsliriegel und andere Lebensmittel verteilen sich auf den schmutzigen Fliesen, aber das hält ihn nicht auf. Er springt darüber und seine Finger gleiten über meine Schulter, als ich um eine Ecke biege und mein Vater genau dort steht. Ich schreie auf und stolpere fast gegen seine Brust.

Seine Arme heben sich, um mich zu packen, also ducke ich mich unter ihn hinweg und kann ihnen gerade noch ausweichen. Ich schaffe es rechtzeitig, mich an ihm vorbeizudrängen, während ich ihre gemurmelten Flüche hinter mir höre.

»Verdammt noch mal, du kleine Schlampe!«, spuckt Dad aus.

Das Herz schlägt mir heftig gegen meinen Brustkorb, während ich in einen anderen Gang renne, als ich Mario entdecke. Er hält einen Baseballschläger in der Hand, während er hektisch mit Leuten telefoniert, von denen ich annehme, dass es die Polizei ist.

»Kommen Sie sofort her!«, schreit Mario über das Telefon.

Ich werfe weitere Gegenstände auf den Boden. Diesmal sind es Sodaflaschen, die alle auf dem Boden landen, einige von ihnen platzen auf oder explodieren sogar.

Schnell werfe ich einen Blick über die Schulter, als die beiden Männer kurz vor der Verschüttung stehenbleiben. Ich sehe den dämonischen Blick, der über das Gesicht meines Vaters gleitet. Und ich weiß, was auch immer sie für mich geplant haben, es wird mein Leben zu Hause wie ein Zuckerschlecken aussehen lassen.

Sie trennen sich, Dad geht in die eine Richtung und der Mann rennt in den gegenüberliegenden Gang. Sie wollen mir eine Falle stellen.

Ich gerate in Panik und versuche, mich zurückzuziehen und über eines der Regale zu klettern. Der Mann kommt um die Ecke und stürmt auf mich zu.

Ich bin fest entschlossen, weiterzumachen, bis ich aus dem Augenwinkel sehe, wie er in seine Gesäßtasche greift, gefolgt von einem deutlichen Klicken.

Ich erstarre, hänge auf halber Höhe des Regals, während mir das Eis durch die Adern rinnt, und blicke über meine Schulter.

Mario starrt in den Lauf einer Pistole, sein Gesicht ist vor Angst erstarrt, während der Mann die Pistole in der Hand hält. Sein Gesicht ist vor Wut verzerrt, während er schwer keucht.

»Ich werde ihn verdammt noch mal erschießen. Willst du diesen Tod wirklich auf deinem Gewissen haben, kleines Mädchen?«, zischt der Mann.

Mit einem wütenden Gesichtsausdruck stapft Dad auf mich zu und zeigt auf die Hintertür, die nur für Angestellte bestimmt ist.

»Lass uns gehen. Und zwar verdammt noch mal sofort!«

Ich habe keine andere Wahl, als zu hören.

Es gibt kein Weglaufen mehr.

Ich hatte eine Chance, konnte den Ausgang aber nicht rechtzeitig erreichen. Und so sehr es mich auch reizt, weiterzukämpfen, werde ich Marios Leben nicht riskieren.

Keuchend und mit Tränen in den Augen klettere ich vom Regal und gehe Richtung Tür. Als ich an Mario vorbeikomme, winke ich ihm zu und flüstere »Tschüss«, bevor ich zur Tür gehe.

Mit einem tiefen Atemzug gehe ich durch den Lagerraum und durch den Hinterausgang. Ich folge dem Mann durch die Seitengasse, während Dad mir in den Nacken atmet. Dort werde ich von drei weiteren Männern umzingelt.

Ich habe keine Chance, zu schreien. Nicht, als sie mich am Bizeps packen, mir ein Tuch auf den Mund drücken und mich in ihren schwarzen Van zerren.

Für mich ist es vorbei. Ich werde Layla nie wiedersehen.

Noch schlimmer ist, dass sie mich nie wiedersehen wird – die einzige Person, die sich um sie gekümmert und sie in Sicherheit gebracht hat.

Die einzige Frage, die sich mir stellt, ist: Wird ihr Schicksal schlimmer sein oder meins?

 

 

Ich lese das letzte Wort, das ich auf die Seite geschrieben habe, bevor ich das Tagebuch zuklappe. Es ist ein Tagebuch, in das ich in den letzten Wochen heimlich geschrieben habe. Es war meine einzige Form der Entspannung, aber ich weigere mich, es mit mir zu nehmen, auch wenn es das Einzige war, das meinen explodierenden Verstand einigermaßen intakt gehalten hat. Es war das einzige Ventil, das ich für meine aufgestaute Wut hatte.

Und von mir aus kann es mit dem Rest des Hauses verbrennen.

Ich hoffe bei Gott, dass nie ein anderes Mädchen dieses Tagebuch finden wird. Das würde bedeuten, dass sie mich ersetzt, und niemand – niemand –solltejemals die Schrecken dieses Hauses erleben müssen. Zumindest keine Unschuldigen. Es wäre mir egal, wenn Francesca, Rocco oder einer seiner Freunde eines Tages ihr eigenes Gift zu spüren bekämen. Das ist das Mindeste, was sie verdammt noch mal verdienen.

Mein gebrochenes Herz hämmert heftig in meiner Brust, die zersplitterten Teile schneiden mit jedem Schlag in mein Inneres. Doch das Adrenalin, das durch meine Adern fließt, dämpft den Schmerz. Das Einzige, was ich fühle, ist Entschlossenheit und Wut. So viel verdammte Wut.

Ich warte nicht länger. Ich kann nicht.

Noch ein Tag in diesem Höllenloch und ich verliere meinen verdammten Verstand. Noch ein Tag ohne Layla und ich töte jeden, den ich töten muss, auch wenn es meinen eigenen Tod bedeutet. Es wird sowieso nur mein Körper sterben. Meine Seele haben sie schon zerstört, und alles, was bleibt, ist ein leeres Haus, das schon so viele Tragödien gesehen hat, wie die, der ich heute Abend entkommen will.

Mein Puls pocht in meinen Ohren, als ich leise aus dem Bett gleite und auf Zehenspitzen zu dem Loch unter dem Fußbodenbrett gehe. Als ich hier ankam, bemerkte ich, dass das Brett locker war, und nach einer Woche Anstrengung gelang es mir endlich, es aufzuhebeln. Es war nur ein schmutziges Loch, aber jetzt beherbergt es all meine Geheimnisse und meinen Herzschmerz.

Mit zitternden Händen lege ich das Tagebuch hinein und werfe den Stift achtlos dazu. Dann schiebe ich das Holzstück wieder an seinen Platz zurück.

Hier drinnen gibt es keine Uhr, aber Rocco und seine Freunde sind ganz still geworden, was bedeutet, dass sie wahrscheinlich eingeschlafen sind. Francescas ständigem Gejammer zufolge passiert das normalerweise jede Nacht gegen zwei oder drei Uhr. Ich habe mich seit Monaten darauf vorbereitet.

Und jetzt, wo er endlich da ist, habe ich Angst, dass ich etwas übersehen habe. Ein kleines Detail, das ich nicht eingeplant habe, obwohl ich nichts anderesgetan habe, alszu planen.

Das Einzige, was mich von der Freiheit trennt, sind diese dünnen Wände und die kilometerlangen Wälder.

Das und die Wache vor dem Haus. In vielen Nächten blieb ich von der Dämmerung bis zum Morgengrauen auf, um ihn zu beobachten, und habe auf kostbaren Schlaf verzichtet, um seinen Zeitplan und seine Gewohnheiten zu lernen. Das hat mich oft in Schwierigkeiten gebracht, weil ich während des Unterrichts eingeschlafen bin. Obwohl Francesca meinen Ungehorsam schon lange satthat, wird sie mich auch nicht mehr los.

Ich bin eine von vier, die die Auslese überlebt haben – ein verdrehtes Spiel, das eine Gruppe von Pädophilen und Vergewaltigern zum Spaß entwickelt hat. Ziel ist es, uns in Wälder voller Fallen zu bringen, wo sie uns mit Armbrüsten jagen. Wenn wir getroffen werden, werden wir bestraft. Wenn wir gewinnen und ihnen entkommen, gelten wir als hochwertiges Fleisch und werden dann versteigert.

Es ist eine Beleidigung, uns zu entführen, nur damit wir beweisen, dass wir es wert sind, entführt zu werden.

Es macht keinen verdammten Sinn und wurde nur entwickelt, damit sich reiche, gelangweilte Leute weniger langweilen.

Sie werden nie die verdammte Chance dazu bekommen.

Tief einatmend, schleiche ich zur Tür meines Schlafzimmers. Die Grillen zirpen laut vor meinem Fenster, als würden sie mich anfeuern. Als würden sie mich zu einer gefährlichen Flucht anstacheln. Eine, die mich wahrscheinlich umbringen wird.

Aber ich sterbe lieber rebellisch, als mich zu unterwerfen.

Schweiß bildet sich auf meiner Stirn, als ich den rostigen Knauf langsam drehe, und ich zucke zusammen, als er quietscht. Ich schwöre bei Gott, dieses Haus wurde gebaut, als die Dinosaurier noch lebten, und es ist schmutziger als Francescas Sünden.

Die Scharniere knarren, aber das hält mich nicht davon ab, die Tür zu öffnen. Hier sind noch drei andere Mädchen, die in jeweiligen Räumen schlafen. Wenn mich eine von ihnen erwischt, besteht die Gefahr, dass sie Francesca alarmieren. Aber ich habe mich längst damit abgefunden, dass ich jeden töte, der sich mir in den Weg stellt.

Niemand wird mich von Layla fernhalten.

Mein Herz rast, wird schneller und schlägt gegen meinen Brustkorb, während ich den langen Flur entlangschleiche. Abgesehen von meinem eigenen Puls, ist es totenstill. Und verdammt, ist das unheimlich.

Ich hatte schon immer das Gefühl, dass es hier spukt, aber ich war überzeugt, dass es die Lebenden sind. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Oder vielleicht ist unsere Traurigkeit sogar in unseren Träumen stark.

Ich beiße mir auf die Lippe und halte den Atem an, während ich die Treppe hinuntergehe und dabei jede weiche, knarrende Stelle im Holz meide. Das Erste, worauf mein Blick fällt, sind die grünen Neonzahlen, die am Ofen leuchten.

2:30 Uhr. Perfekt.

Mondlicht fällt durch das Küchenfenster, aber ich lasse mich von nichts hier drin ablecken. Ich habe gelernt, tagelang ohne Essen und Wasser auszukommen. Aber ich habe nicht vor, lange darauf zu verzichten, denn ich bin sicher, dass es in der Nähe eine Stadt gibt.

Francescas Lieblingshelfer, Rio, fährt jede Woche in den Supermarkt und ist nur ein paar Stunden weg, bevor er wiederkommt, und sie kaufen nicht in großen Mengen ein. Es muss einen Ort geben, wo ich hinlaufen und um Hilfe bitten kann.

Ich schaue ins Wohnzimmer und finde mehrere Männer auf der Couch und auf dem Boden. Fünf von ihnen. Alle schnarchen und sind mit Sicherheit auf Drogen, ihre Adern sind mit Chemikalien so verstopft wie der Staub die Lüftungsschächte. Wahrscheinlich schwimmen auch ihre Organe in einem Meer aus Alkohol, schrumpfen in den Giftstoffen.

Ein Erdbeben würde sie eher noch tiefer in das verdorbene La-La-Land ziehen, in das sie sich verirrt haben, als sie zu wecken. Ich frage mich: Wenn Pädophile davon träumen, Frauen in ihrem Alter zu heiraten oder einen alten Menschen aus Nächstenliebe über die Straße zu begleiten, nennen sie das dann Albträume? Wachen sie schweißgebadet und mit einem flauen Gefühl im Magen auf?

Träume von süßen Welpen und Regenbögen sind sicher nicht angenehm.

Dennoch sind sie meine geringste Sorge, während ich durch das abgedunkelte Wohnzimmer schleiche, über verirrte Gliedmaßen und zerquetschte, leere Bierdosen stolpere.

Es ist der Wachmann, der vor dem Haus steht und mir den Schweiß über den Rücken laufen lässt.

Er würde besser als Felsbrocken im Hoover-Staudamm dienen, wenn man bedenkt, wie versteinert die Muskeln um seine Knochen sind. All die Leute, die den Damm gebaut haben, sind umsonst gestorben, während dieser Vollidiot einfach nur dasteht.

Aber wenn er sich an die Routine der letzten drei Monate hält, dann sollte er irgendwo in dem Wald seinen Schwanz halten und eine Pinkelpause einlegen. Normalerweise verbindet er diese mit einer Rauchpause und nutzt sie als Vorwand, um herumzulaufen und sich vom stundenlangen Stehen in derselben Position zu erleichtern.

Vielleicht würde es ihm auf dem Damm nicht so gut gehen.

Mit angehaltenem Atem greife ich mit zitternder, schweißnasser Hand die Klinke und reiße die Tür auf, wobei die rostigen Scharniere aufschreien.

Zusammenzuckend werfe ich einen Blick über die Schulter, vergewissere mich schnell, dass die Männer hinter mir noch immer bewusstlos sind, und schlüpfe dann durch die Tür.

Nur um direkt gegen eine harte Brust zu prallen.

»Wohin gehst du, Mama?«

Hoffnung, Euphorie, Freiheit … sie verpuffen wie ein feuchter Feuerwerkskörper. Meine Unterlippe zittert, als ich meinen Blick hebe.

---ENDE DER LESEPROBE---