White Fox (Band 1) - Der Ruf des Mondsteins - Jiatong Chen - E-Book
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White Fox (Band 1) - Der Ruf des Mondsteins E-Book

Chen Jiatong

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Beschreibung

Ein Geheimnis, mit dem Leben geschützt  Polarfuchs Dilah wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Mensch zu sein. Daher vermacht ihm seine Mutter etwas ganz Besonderes: den sagenumwobenen Mondstein, der seinen Wunsch erfüllen könnte. Dilah folgt dem Ruf des magischen Steins und macht sich auf eine Reise. Unterwegs muss er sich vor kaltblütigen Menschen in Acht nehmen, aber auch die Natur ist unberechenbar. Und im Dickicht lauern feindlich gesinnte Clans, die es auf Dilah und sein mächtiges Erbe abgesehen haben …  Start der berührenden und actionreichen Tierfantasy  Der erste Band einer großen neuen Tierfantasyab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestseller-Autor Jiatong Chen. Coolness und Magie treffen Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um einen Polarfuchs, eine große Mission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans von Woodwalkers und Animox.  Der Titel ist bei Antolin gelistet.  Alle Bände dieser Reihe: Band 1: White Fox - Der Ruf des Mondsteins Band2: White Fox - Suche nach der verborgenen Quelle Band3: White Fox - Auf dem Pfad der Bestimmung Band 4: White Fox - Die Pforte des Schicksals Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See

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Seitenzahl: 228

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INHALT

Geheimnisse und eine Legende

Der Mondstein

Der Wächter des Waldes

Ein Geistesblitz

Futterklau

Die eisernen Hufe aus dem Kviktal

Gefahr

Der Fluss

Der Prozess

KAPITEL 1

Geheimnisse und eine Legende

Weit, weit weg am Nordpol lag die Welt in nächtlicher Ruhe und Stille. Blaue Polarlichter flackerten über den samtig schwarzen Himmel und wanden sich wie ein zartes, schimmerndes Band zwischen den funkelnden Sternen hindurch. Das endlose Weiß der verschneiten Ebenen und Hügel erwachte aus seinem tiefen Schlummer, als eine sanfte Brise die glitzernden Schneekristalle aufwirbelte und in der Dunkelheit tanzen ließ.

Unter der dicken Schneeschicht befand sich ein unterirdischer Bau. Dort drin war es stockfinster, doch wenn man genau hinhörte, konnte man Stimmen vernehmen, die leise nach draußen drangen.

»Mama!«, rief ein Kind.

»Was ist, mein Schatz?«, fragte die Mutter lächelnd.

»Ich kann nicht schlafen.«

»Hat da jemand wieder zu lange Mittagsschlaf gehalten, hm?«, neckte die Mutter es sanft.

»Mama, kannst du mir eine Geschichte erzählen? Die von Merla?«

»Die habe ich dir doch schon so oft erzählt.«

»Trotzdem!«

»Wie du möchtest. Dann hör gut zu«, antwortete die Mutter zärtlich. »Es war einmal vor mehr als tausend Jahren, da lebte eine Polarfüchsin namens Merla. Sie war sehr weise und alle blickten zu ihr auf. Es heißt, dass ihr Körper ganz mit feuerrotem Pelz bedeckt war, was unter Polarfüchsen äußerst selten vorkommt …«

Der kleine weiße Fuchs, der sich dort unten im Bau an seine Mutter schmiegte, ist der Held unserer Geschichte: Dilah. Er lag zusammengerollt neben ihr und kuschelte sich in ihren weichen, buschigen Schwanz, während er ihrer Stimme lauschte. Hin und wieder berührte seine Nase ihr Kinn. Er war der glücklichste kleine Fuchs auf der ganzen weiten Welt.

Der Bau, in dem Dilahs Familie lebte, lag tief unter den verschneiten Ebenen des Polarkreises. Der Boden war mit weichem Heu bedeckt, sodass es dort immer warm und gemütlich war. Dilahs älterer Bruder Aljoscha hatte den Bau verlassen und sich einem Rudel umherstreifender Polarfüchse angeschlossen, als er ein Jahr alt geworden war (das ist das Alter, in dem Füchse erwachsen werden). Damals war Dilah noch gar nicht geboren. Inzwischen war er selbst schon fünf Monate alt, aber weil er das einzige Jungtier im Bau war, hatte er die Liebe und Zuneigung seiner Eltern ganz für sich allein. Abends, wenn es Zeit zum Schlafen war, bettelte er so lange, bis seine Mutter ihm eine Gutenachtgeschichte erzählte, und tagsüber sprang er auf den Rücken seines Vaters und ließ sich von ihm herumtragen. Der kleine Dilah kannte keinen Kummer und keine Sorgen.

Allerdings war seine Familie seit seiner Geburt schon dreimal umgezogen. Sie wechselten von einem gut versteckten Unterschlupf zum nächsten und mieden dabei jeglichen Kontakt zu anderen Tieren. Seltsamerweise wurden sie trotzdem früher oder später immer von ein paar anderen weißen Füchsen aufgespürt. Ganz egal, wohin es sie auch verschlug. Jedes Mal, wenn das passierte, schickte Papa Dilah weg. Dann ging er zu den Füchsen, um mit ihnen zu reden. Dadurch hatte Dilah noch keinen einzigen Freund gefunden.

Am Rande der verschneiten Ebene lag ein kleines Dorf namens Lapula. Die Menschen, die dort lebten, waren vom Rest der Welt praktisch abgeschnitten. Im nördlichen Teil des Dorfs stand ein kleines zweistöckiges Haus mit einem roten Dach, das jedoch meistens unter einer dicken Schneedecke verschwand, und einem Schornstein, aus dem dichter schwarzer Rauch aufstieg. Ein gepflasterter Weg führte von der Haustür zu dem weißen Lattenzaun, der das Grundstück umgab. Der Weg war vor Kurzem geräumt worden – links und rechts türmte sich der Schnee auf. Ein großes schwarzes Auto parkte in der Auffahrt neben dem Garten, in dem ein paar wackere Kiefern wuchsen, denen selbst das eisige Wetter nichts anhaben konnte.

Dilah stattete dem Haus fast täglich einen Besuch ab, wobei er sich von Mal zu Mal näher heranwagte. Auch an diesem Morgen sah er zu, wie der Mann mit dem Auto direkt vor dem Gartentor hielt und mit laufendem Motor wartete, während aus dem Auspuff dichte Rauchwolken quollen. Dilah schlich näher an den Zaun heran und ließ sich auf einer Schneewehe nieder. Von dort konnte er durch das Fenster ins Haus blicken, in dem zwei Kinder gerade die Treppe hinuntergepoltert kamen. Mit seinen feinen Ohren konnte Dilah das Knarren der hölzernen Stufen hören.

»Bella, du hast deine Mütze verkehrt herum auf!«, rief die Mutter der Kinder. Sie hatte blondes, lockiges Haar, bemerkte Dilah. »Und Peter, wenn du deinen Schal noch einmal so anziehst, stricke ich dir nächsten Winter keinen mehr, das schwöre ich! Jetzt beeilt euch, sonst kommt ihr zu spät zur Schule.«

Peter kicherte und wickelte sich den Schal fest um den Kopf.

Die Frau öffnete die Tür und die beiden Kinder stürmten hinter ihr aus dem Haus. Peter hatte dicke blaue Handschuhe, eine blaue Mütze, eine gelben Schal und einen flauschigen bunten Wintermantel an. Bella trug einen Rucksack über ihrem langen rosafarbenen Mantel und eine hohe weiße Mütze mit einem riesigen Bommel auf dem Kopf. Sie sah aus wie ein Schneemann.

Obwohl Papa ihn mehr als einmal gewarnt hatte, sich von den Menschen fernzuhalten, trieb die Neugier Dilah immer wieder dorthin. Auch jetzt konnte er den Blick einfach nicht abwenden: nicht von dem Haus, das dunkle Rauchwolken ausspuckte, nicht von dem tuckernden, brummenden Auto und erst recht nicht von den bunten Farben der Kleidung … Menschen waren so faszinierend!

Der Mann ließ das Seitenfenster herunter. »Jetzt steigt schon ein, Kinder!«, drängte er.

Die Mutter lief zum Auto und öffnete die Tür zum Rücksitz. »Peter, versuch diesmal, im Unterricht besser aufzupassen. Deine Lehrerin hat sich schon so oft bei mir beschwert!«

»Ja, Mam«, antwortete Peter genervt und stapfte auf die geöffnete Tür zu.

»Oh! Peter, guck mal da – schnell!« Aufgeregt zeigte Bella in Richtung Gartenzaun.

Peter folgte ihrem ausgestreckten kleinen Kinderfinger mit dem Blick. »Wow!«

Dilah erschrak, aber gleichzeitig verspürte er eine unbändige Freude. Er blieb vollkommen reglos sitzen, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. So, wie er da im Schnee saß, musste er ein wenig an ein magisches Winterwesen erinnern: zwei funkelnde, hellwache schwarze Augen, zwei kleine runde Ohren und ein buschiger Schwanz, der wie der Rest seines makellos weißen Körpers förmlich mit dem Schnee verschmolz.

»Wie wunderschön!«, hauchte die Frau.

»Was ist los?« Der Mann reckte den Kopf aus dem Autofenster und verrenkte sich schier den Hals, um herauszufinden, was die anderen entdeckt hatten. Die Kälte färbte sein Gesicht augenblicklich knallrot. »Oh, ein Polarfuchs … die sieht man tatsächlich nicht oft.«

Bella winkte Dilah freundlich zu und Peter stieß einen leisen Pfiff aus. Neugierig legte Dilah den Kopf schief.

»Na los, Kinder. Ihr kommt sonst wirklich zu spät. Ab ins Auto. Zack, zack!«, befahl die Frau mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

»Aber Mam«, wandte Bella leise ein, »können wir nicht …«

»Vielleicht ein andermal«, antwortete die Frau lächelnd. »Wenn ihr Glück habt, kommt unser kleiner Freund uns bald wieder besuchen.« Sie hob Bella hoch und küsste sie zum Abschied, dann drückte sie Peter einen Schmatzer auf die Stirn. Peter sah sie empört an.

»Tschüss!«, rief Bella Dilah freundlich zu, sprang ins Auto und winkte noch einmal. Peter kletterte widerstrebend hinter ihr her.

»Verabschiedet euch von eurer Mutter«, sagte der Mann.

»Tschüss, Mam.«

»Bis heute Abend«, erwiderte die Frau und zog ihren Mantel fester um sich.

Das Auto und mit ihm das Dröhnen des Motors verschwanden in der Ferne. Die Frau stand da und sah zu, wie es kleiner und kleiner wurde. Dann fiel ihr plötzlich der weiße Fuchs wieder ein. Sie drehte sich um, doch er war nirgends mehr zu entdecken. Nur eine Spur aus kleeblattförmigen Pfotenabdrücken im Schnee wies noch auf seine Anwesenheit hin.

Von da an fühlte Dilah sich wie eine Biene, die von einer Blume angezogen wurde – er konnte nicht anders, als immer wieder zum Haus hinüberzuschleichen und heimlich die Familie darin zu beobachten. Er mochte es, auf diese Weise an ihrem glücklich und zufrieden wirkenden Leben teilzuhaben. Seinen Eltern erzählte er allerdings nichts davon. Manchmal bemerkten die Kinder ihn. Bella geriet jedes Mal in Aufregung und rief ihre Mutter herbei, damit sie ihn zusammen bewundern konnten. Peter dagegen blieb lieber allein. Er kam aus dem Haus, schlich behutsam zum Zaun und streckte Dilah die Hand entgegen. Als es noch kälter wurde, machten die Kinder sich Sorgen, dass der kleine Fuchs dort draußen erfrieren könnte. Sie boten an, ihm ihre eigenen Mützen und Schals anzuziehen, um ihn warm zu halten. Doch Dilah dachte an Papas Warnung und achtete darauf, die Menschen nie zu nah an sich heranzulassen.

Schon bald ging Dilah die Familie gar nicht mehr aus dem Kopf. Er sehnte sich danach, ein Mensch zu sein, und träumte davon, wie wundervoll es wäre, wenn Mama, Papa und er in einem Haus leben würden, das Rauchwolken ausstieß. Dann könnten sie auch mit so einem brummenden Auto herumfahren und kunterbunte Kleidung tragen … was für ein erfülltes, abwechslungsreiches Leben das wäre! Außerdem müssten sie dann bestimmt nicht mehr so oft umziehen. Menschen waren die mächtigsten Lebewesen auf der Welt: Sie hatten vor gar nichts Angst.

Eines Abends saß Dilah auf seinem gewohnten Platz am Zaun und beobachtete wie immer fasziniert das Treiben der Familie im Inneren des Hauses. Im Westen versank die Sonne als glühender Ball hinter dem Horizont und tauchte die Schneeflächen ringsum in ein blutrotes Licht, während aus dem Schornstein des kleinen Hauses dichte weiße Rauchwolken aufstiegen. Erst als die Menschen die Vorhänge zuzogen, fiel Dilah auf, wie spät es geworden war. Er drehte sich um und lief eilig zum Bau zurück. Mama und Papa machten sich bestimmt schon Sorgen.

Doch als er in seinem Zuhause ankam, waren seine Eltern nirgends zu sehen. Wahrscheinlich waren sie auf Lemmingjagd gegangen. Dilah kauerte sich in den Eingang des Baus, sodass er die Umgebung im Blick behalten konnte, und wartete geduldig, obwohl sein Magen bereits hörbar knurrte.

Über ihm breitete die Nacht ihre dunklen Schwingen aus und die glitzernden Sterne zogen gemächlich über das Himmelszelt. Mama und Papa waren immer noch nicht zurück. Langsam wurde Dilah unruhig – offenbar hatte sich das Futter heute besonders rar gemacht. In dem Moment drang ein angestrengtes Keuchen an seine Ohren und er sah, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste und auf ihn zukam. Dilah sprang auf, um seinen Eltern entgegenzulaufen und ihnen mit der Beute zu helfen. Der Anblick, der sich ihm daraufhin bot, sollte ihn noch nächtelang in seinen Träumen verfolgen.

Seine Mama schleppte sich mit letzter Kraft auf den Bau zu. Das Fell an ihrem Bauch war blutbefleckt. Dilah schnappte erschrocken nach Luft. Die eisige Luft brannte tief in seiner Lunge. Was ging hier vor?

»Mama, was ist los? Wo ist Papa?« Dilah spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.

»Dein Vater … er …« Sie zögerte.

»Was ist mit ihm?«, fragte Dilah mit brüchiger Stimme.

Seine Mutter wich seinem Blick aus. Mühsam taumelte sie an ihm vorbei in die Schlafhöhle und ließ sich aufs weiche Heu fallen. Ihr Körper zitterte unkontrollierbar.

»Mama … was ist passiert?« Dilah wagte es nicht, auch nur daran zu denken. Er hoffte, dass das, was seine Fantasie ihm einzureden versuchte, viel schlimmer war als die Wirklichkeit.

Draußen vor dem Bau verdunkelte sich der Himmel weiter und ein bitterkalter Wind kam auf, der pfeifend über die Schneefläche strich.

»Dilah, wir sind einem Menschen begegnet …«

»Einem Menschen?« Dilah riss den Kopf hoch, als seine Mutter das Tabuwort aussprach.

»Ja, einem Jäger«, antwortete sie niedergeschlagen. Ein eisiger Windstoß fuhr in die Schlafhöhle und jagte Dilah einen Schauer über den Rücken. Gleichzeitig fühlte sich seine Kehle an wie zugeschnürt. Jäger. Das Wort hinterließ einen schmerzenden Stich in seinem Herzen.

»Wir haben am Strand nach Futter gesucht. Wer würde dort jemals mit einem Jäger rechnen?« Ein Hustenanfall schüttelte seine Mutter. Als sie weitersprach, kamen ihre Worte stoßweise und wurden immer wieder von rasselndem Keuchen unterbrochen. »Er hat sein Gewehr auf uns gerichtet. Wir haben sofort die Flucht ergriffen, aber dein Papa … er wurde getroffen … und mich hat es auch erwischt …«

»Kommt Papa bald nach?« Dilah konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Er fühlte sich klein und verloren.

Seine Mutter antwortete nicht. Eine Weile war nur ihr Schluchzen zu hören. Dilah spürte, wie eine schier übermächtige Verzweiflung über ihn hereinbrach. Sein Vater war tot. Nie wieder würde er mit Dilah auf Futtersuche gehen, ihn nie wieder beschützen und ihn auch niemals wieder auf seinem Rücken herumtragen. Das Heulen des Windes wurde lauter und klagender. Schneeflocken wirbelten durch die Schlafhöhle. Offenbar zog draußen ein Schneesturm auf.

»Dilah, mein Liebling, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Was du damit anfängst, liegt ganz allein bei dir.« Mama bereitete es sichtlich Mühe, die Schmerzen in ihrem Bauch zu unterdrücken.

»Nein, Mama! Du wirst wieder gesund.« Dilah versuchte sie zu trösten, auch wenn er wusste, dass ihre schwache Stimme nichts Gutes verhieß. »Sobald es dir besser geht, bringe ich dich nach draußen in die Sonne, damit du wieder zu Kräften kommst!«

»Mein Liebling, ich bin wie der Schnee: Wenn die Sonne aufgeht, werde ich nicht mehr sein.«

»Mama, sag so was nicht!« Erneut stiegen ihm Tränen in die Augen. Er blinzelte sie angestrengt weg und stupste seine Mutter sanft mit dem Kopf an.

»Dilah, kennst du den Unterschied zwischen Menschen und Tieren?«, fragte Mama.

Plötzlich überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Menschen. Da war es wieder, dieses Wort. »Ich …«

»Menschen sind die Herrscher der Welt – sie tun, was immer ihnen gefällt, und genießen jede Menge Privilegien. Wir Tiere hingegen haben es ungleich schwerer«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »In der Natur werden die Schwachen unweigerlich zur Beute der Starken, Grausamen und Gefährlichen. Wir leben in ständiger Angst. Und unser Schicksal liegt zu jeder Zeit in der Hand der Menschen, so wie jetzt bei deinem geliebten Papa und mir … Es gibt leider kein Entkommen …«

Dilah warf seiner Mutter einen befremdeten Blick zu. Er musste wieder an die Familie denken, die er über die vergangenen Wochen hinweg beobachtet hatte. Sie waren ihm so freundlich, so warmherzig vorgekommen … Und doch musste er sich nun mit der Tatsache abfinden, dass ein Mensch seine glückliche kleine Familie zerstört hatte. Ein Mensch hatte ihm den Vater genommen … und vielleicht auch die Mutter.

»Aber es gibt da etwas, das du wissen musst.« Der Tonfall seiner Mutter hatte plötzlich etwas Ernstes, Gewichtiges. Jedes ihrer Worte brannte sich tief in Dilahs Herz ein. »Hör mir gut zu, mein Kind: Es gibt einen Weg, unser Schicksal zu ändern. Der Legende nach hat Ulan, der Schutzpatron der Polarfüchse, einst einen geheimen Gegenstand von unermesslichem Wert erschaffen. Dieser verfügt über die magische Fähigkeit, Tiere in Menschen zu verwandeln!« Sie rang mühsam nach Luft und musterte Dilah eingehend. »Verrate mir, mein Kind – wärst du gern ein Mensch?«

Mit einem Ruck verdrängte Dilah die Menschenfamilie aus seinen Gedanken. Warum hatte er so viel Zeit damit verschwendet, die Menschen zu beobachten, statt sie mit seiner eigenen Familie zu verbringen? »Ich möchte nur, dass du wieder gesund wirst, Mama. Sonst nichts.«

»Ich weiß. Aber ich kenne deinen größten Wunsch. Ich habe gesehen, wie es dich zu dem Haus am Rand des Dorfes gezogen hat.«

Dilah machte große Augen. »Aber …«

»Ja, wir wussten von Anfang an Bescheid. Wir haben gesehen, wie du Tag für Tag zu dieser Familie zurückgekehrt bist. Mach dir keine Sorgen, mein Kleiner. Alle Tiere träumen davon, ein Mensch zu werden.« Sie bedachte ihren Sohn mit einem zärtlichen Blick. »Ich weiß, dass du diese Sehnsucht auch verspürst. Und das ist in Ordnung. Du sollst die Menschen nicht für das, was uns zugestoßen ist, hassen. Es gibt gute Menschen und böse Menschen: Das wirst du noch feststellen.«

»Mhm …« Dilah nickte, während er krampfhaft versuchte, nicht zu weinen.

»In der Erde im tiefsten Teil unseres Baus ist etwas vergraben, das dir den Weg zu Ulans Schatz weisen kann. Aber du musst vorsichtig sein – teile dieses Geheimnis mit niemandem, vor allem nicht mit anderen Füchsen!« Sie mühte sich mit aller Kraft, die Worte so deutlich wie möglich auszusprechen. »Beschütze es mit deinem Leben. Und vergiss niemals: Wenn alle Hoffnung verloren scheint, kannst du dich stets an unseren Schutzpatron wenden. Ulan wird wissen, was zu tun ist.«

»Ich werde es mir merken …« Dilah brach ab. Tränen schnürten ihm die Kehle zu.

»Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst. Deine Mama wird dich immer lieb haben. Jetzt würde ich mich gerne ein bisschen ausruhen, ich bin müde …«

»Mama, nicht einschlafen, ja? Erzähl mir eine Geschichte«, bettelte Dilah. Er war nicht bereit, sie gehen zu lassen. Noch nicht.

»Na gut, eine Geschichte schafft Mama noch. Eine, die du nie zuvor gehört hast. Sie handelt von zwei unserer größten Helden, zwei Polarfüchsen namens Nordwind und Eissturm.« Sie kniff die Augen zusammen, als fiele es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Obwohl sie lächelte, klang ihre Stimme matt und kraftlos, als sie weitersprach. »Vor einigen Jahren geriet Nicholas, der Patriarch der Polarfüchse, mit den Blaufüchsen in einen Streit über die Grenzen unserer Reviere, und erklärte ihnen den Krieg. Dieser Krieg dauerte zwei Jahre. Schließlich kam es zur finalen Schlacht und die Blaufüchse besaßen eindeutig die Oberhand. Wir Polarfüchse überlegten uns einen Plan, doch der war hochgefährlich. Als niemand sonst den Mut aufbrachte, in den Kampf zu ziehen, sprangen zwei Brüder heldenhaft in die Bresche. Sie setzten ihr eigenes Leben aufs Spiel, um die Streitkräfte der Blaufüchse abzulenken. Es gelang ihnen, zwölf ihrer erfahrensten Kämpfer zu bezwingen, während Nicholas die Gelegenheit nutzte, um das gegnerische Lager zu überfallen. Auf diese Weise gewannen sie den Krieg, ohne dass ein einziger Polarfuchs ums Leben kam. In Windeseile verbreitete sich die Legende der beiden in der gesamten Arktis. Als Zeichen ihrer Ehrfurcht tauften die Blaufüchse sie Nordwind und Eissturm.« Ihr Atem wurde schwächer und schwächer, während sich ihre Gesichtszüge entspannten. »Die beiden ließen jeden Gegner vor Angst erzittern. Vor allem Eissturm. Er war stark … mutig … ruhig … Mama wird sein bezauberndes … Lächeln … niemals … vergessen …« Tränen glitzerten in ihren Augen, als ihre Lider sich langsam schlossen.

»Mama, nicht einschlafen – sieh mich an! Erzähl mir noch eine Geschichte!« Dilah stupste seine Mutter sachte mit der Schnauze an, aber sie rührte sich nicht. Eine entsetzliche Trauer ergriff sein Herz.

»Bitte, Mama, mach die Augen auf. Bitte …« Tränen strömten ihm über die Wangen, als er sie erneut anstupste. Vergebens. Sie war endgültig fort.

Mit einem Schlag schien Dilahs Welt in sich zusammenzustürzen. Mama hatte ihn verlassen – nie wieder würde sie mit ihm raufen, ihm nie wieder eine Geschichte erzählen, nie wieder ihren buschigen Schwanz um ihn schlingen und ihm einen Gutenachtkuss geben.

»Mama …« Schluchzend kauerte Dilah neben seiner Mutter. »Was soll ich nur tun?«

Im Laufe eines Abends war Dilah vom glücklichsten kleinen Fuchs der Welt zur Waise geworden. Sein Herz war leer und seine Zukunft kam ihm ebenso leer vor. Hilflos rollte er sich an der Seite seiner Mutter zusammen, schmiegte sich in ihren weichen Schwanz und weinte sich in den Schlaf …

»Mama, wach auf!«

Am nächsten Morgen versuchte Dilah, seine Mutter mit seiner kleinen pelzigen Pfote aus dem Schlaf zu rütteln, doch ihr Körper war starr und kalt wie Eis. Er hatte nicht glauben wollen, dass sie wirklich von ihm gegangen war. Die Erkenntnis versetzte seinem Herzen einen schmerzhaften Stich und trieb ihm die Tränen in die Augen, bis alles in seinem Blickfeld verschwamm. Den Rest des Morgens verbrachte er damit, seine Mutter zu beerdigen. Es tat ihm in der Seele weh, dass er seinen Vater nicht neben sie betten konnte.

Als er fertig war, schleppte er sich erschöpft und schweren Herzens zurück in den Bau. In der Erde im tiefsten Teil unseres Baus ist etwas vergraben, das dir den Weg zu Ulans Schatz weisen kann, hatte seine Mutter gesagt. Widerstrebend begann er zu buddeln und förderte schließlich ein kleines Päckchen zutage, das mit gelblichem Leder umwickelt war. Darin befand sich etwas Hartes. Dilah war neugierig, aber er war noch nicht bereit, es zu öffnen. Immerhin war es das Einzige, was ihm von seiner Mutter geblieben war.

Er sah sich in dem kleinen Bau um, den er sich mit seinen Eltern geteilt hatte. Gestern noch hatte er sich hier so sicher und geborgen gefühlt, doch jetzt war davon nichts mehr übrig. Die Schlafhöhle fühlte sich nicht länger wie sein Zuhause an. Außerdem hatte seine Mutter ihm aufgetragen, das Päckchen zu nehmen und seinen Traum zu verfolgen, ein Mensch zu werden.

Dilah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, schloss die Zähne um das Päckchen und schoss wie ein Pfeil aus dem Bau, ohne sich noch einmal umzublicken.

Der Schneesturm tobte mit voller Wucht. Der Himmel war pechschwarz und ein beißender Wind fegte über die Ebene und wirbelte den dichten Schnee auf. Inmitten der heulenden Böen huschte ein kleiner, zierlicher weißer Fuchs umher und kämpfte sich unermüdlich vorwärts. Dilahs Atem ging schwer und keuchend, doch er ließ das kleine gelbe Päckchen zwischen seinen Zähnen nicht los. Er versuchte, den Gedanken an seine Eltern zu verdrängen, um nicht von der Trauer überwältigt zu werden.

Schließlich wurde er langsamer und schüttelte sich den Schnee aus dem Pelz. Trotz des Päckchens in seinem Maul hatte er nicht den Eindruck, dass es ihn irgendwohin zog. Führte es ihn wirklich zu Ulans geheimem Schatz, wie seine Mutter es ihm versprochen hatte? »Mama …« Ratlos sah er zum Himmel hinauf. Für einen Moment kam es ihm vor, als könnte er in den dicken dunklen Wolken ihr liebevolles Lächeln ausmachen.

Dilah rannte weiter. Er lief und lief, bis er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Nach einer Weile entdeckte er eine zerklüftete, vereiste Felskante, die die Landschaft vor ihm durchschnitt. Hier war er schon mal mit seinem Vater gewesen, allerdings hatte der ihn gewarnt, niemals allein hierher zurückzukehren. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Papa war tot. Es gab niemanden mehr, der sich darum scherte, wohin Dilah ging. Er lief zur Kante und ließ den Blick über die weiße Weite ringsum schweifen. Nirgends war auch nur das geringste Lebenszeichen zu sehen. Tief unter sich konnte er das Tosen und Rauschen des Meeres hören, auch wenn die Sicht wegen des Sturms nicht weit genug reichte, um die Wassermassen erkennen zu können. Hier oben war die Schneeschicht dick und hart. Der Wind hatte sie zu seltsamen Formen gefrieren lassen. Niedergeschlagen folgte Dilah dem Verlauf der Klippe, während der Sturm um ihn herum unvermindert wütete und an seinem Fell zerrte.

Die Wolkendecke wurde noch dicker. Es sah aus, als hätte sie jemand in dunkelblaue Farbe getaucht. Dilah nahm seine Umgebung nur noch als verschwommene Schemen wahr. Doch dann erspähte er eine Bewegung vor sich im Schnee. Er kniff die Augen zusammen, wurde langsamer und witterte. Ein Rudel Füchse kam aus dem Schneegestöber auf ihn zu. Es waren mindestens ein Dutzend und sie hatten ihn im Nu umringt. Mit der Klippe im Rücken blieb Dilah keine Möglichkeit mehr zu fliehen. Der Anführer des Rudels war ein Fuchs mit dichtem blassblauen Fell. Er wirkte wie eine Eisskulptur, nahezu durchscheinend, und strahlte eine ebenso kühle Arroganz aus. Über seinem rechten Auge verlief eine tiefe Narbe.

»Du musst Dilah sein«, sagte er mit grimmiger Miene. Sein Tonfall war schneidender als der eisige Wind.

»Wer … wer bist du?«, entgegnete Dilah nervös. Durch das Päckchen in seinem Maul fiel es ihm schwer, deutlich zu sprechen.

»Ich bin Joran, Patriarch der Polarfüchse«, verkündete der Blaufuchs mit heiserer Stimme und trat auf Dilah zu. »Das Päckchen muss der Mondstein sein. Karel, mein alter Freund, wie es scheint, hattest du recht.« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

Mondstein? War es das, was sich in dem Päckchen verbarg? Wie sollte ein Stein ihm den Weg zu Ulans Schatz weisen?

»Ich hab dir ja gesagt, ich war dabei, als Graumähne das alte Ding an Eissturm übergeben hat«, meldete sich eine listige Stimme zu Wort. Ein hagerer weißer Fuchs schob sich hinter Joran hervor. Das muss Karel sein, dachte Dilah ebenso verwirrt wie verängstigt. Karels Beine waren lang und dünn, seine gelben Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren von roten Äderchen durchzogen. Dilah schauderte. Der dürre Fuchs zog eines seiner Hinterbeine nach. Anscheinend war er früher einmal schwer verletzt worden.

»Was wollt ihr?«, fragte Dilah.

Joran schritt langsam auf ihn zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und sprach mit leiser Stimme: »Mein Junge, du bist noch so klein – und ganz allein hier draußen in der Wildnis. Du kannst mit dem Mondstein nichts anfangen, aber wir brauchen ihn. Komm schon, gib ihn uns. Im Gegenzug biete ich dir Sicherheit, Futter und Wärme.«

Dilah hielt das kleine Päckchen fest zwischen seinen Zähnen, während er den Blick über das Rudel der Blaufüchse schweifen ließ, die im Schneetreiben vor ihm aufragten. Ihre Mienen waren hart und kalt. Egal, was Joran auch behauptete, bei ihnen würde er sich garantiert niemals sicher fühlen. Außerdem hatte seine Mutter ihm das Päckchen – oder den Mondstein, wenn er Joran glauben konnte – anvertraut, bevor sie gestorben war. Was auch geschah, er würde es niemals einfach so hergeben. Der Gedanke verlieh ihm neuen Mut. Ein tiefes Grollen stieg in seiner Kehle auf. Er war bereit zu kämpfen, und wenn es ihn das Leben kostete. »Nein«, antwortete er. »Verzieht euch und lasst mich in Ruhe.«

»Ich bitte dich, Kleiner, stell dich nicht so an. Du hast bloß Angst – aber dafür gibt es keinen Grund«, erwiderte Joran langsam und gedehnt. »Als Patriarch der Füchse verspreche ich dir, dass niemand dir ein Haar krümmen wird. Du musst uns nur den Mondstein geben.« Er und die anderen Füchse kamen näher. Der Ring um Dilah zog sich enger und enger zu.

Dilah wich zurück. Sie würden den Mondstein nur über seine Leiche bekommen. Und wenn ich sterbe, schoss es ihm durch den Kopf, bin ich wenigstens wieder mit Mama und Papa vereint.

»Jetzt nimm ihm das Ding schon ab, Joran«, fauchte Karel. Er funkelte Dilah mit seinen blutunterlaufenen Augen mordlustig an.

»Das Päckchen hat mir meine Mama hinterlassen. Ihr bekommt es niemals!«, rief Dilah, während er weiter zurückwich. Er hatte nun beinahe den Rand der Klippe erreicht.

Wut loderte in Jorans Miene auf. Der Blaufuchs stieß ein Brüllen aus. Sein Zorn kam so plötzlich und mit solcher Macht, dass es Dilah den Atem verschlug. Gleichzeitig hatte sich der Halbkreis vor ihm fast vollständig geschlossen. »Wenn du da runterfällst, bist du tot«, knurrte Joran mit bemüht ruhiger Stimme, die seinen Ärger jedoch kaum verhehlen konnte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du freiwillig springst. Bevor ich Karel auf dich loslasse«, – der weiße Fuchs knurrte begierig –, »gebe ich dir noch eine letzte Chance. Gib uns den Mondstein, sonst reißen Karel und der Rest meines Rudels dich in Stücke.« Die Augen der Füchse funkelten bösartig, während sie sich zähnefletschend näherdrängten.

Dilah trat einen weiteren Schritt zurück und verlor dabei um ein Haar den Halt. Dicke Brocken von vereistem Schnee plumpsten hinter ihm in die Tiefe. Er warf einen schnellen Blick über seine Schulter: Die Klippe führte scheinbar ins Bodenlose. Ihm wurde ganz flau im Magen.

Im nächsten Moment kam eine weiße Gestalt auf ihn zugeschossen. Das alles ging so schnell, dass Dilah keine Zeit zum Nachdenken blieb. Er schloss die Zähne fest um das Päckchen, kniff die Augen zu und sprang. Karels zuschnappende Kiefer erwischten noch ein Büschel seines Nackenfells, doch zu spät: Zusammen mit Abertausenden Schneeflocken stürzte Dilah in die Tiefe. Über ihm verklang das überraschte Bellen der anderen Füchse, während der eisige Wind in seinen Ohren rauschte und durch das dicke Fell bis auf seine Haut drang.